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The Road

Street Soldier [SasuSaku]
von

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Schattenwelt I

Davenport, Iowa

15. Mai 2008
 

Ich habe Kopfschmerzen.

Der beschissene Regen draußen macht das auch nicht besser. Irgendwann fragte ich mich, ob es heute noch aufhören wird, weil ich die Nässe schon an mir spüren kann. Als ich meine Finger bewege, bemerke ich, dass sie wirklich nass sind, so wie auch meine Hose und dieses blöde Shirt von Tommy Hilfiger, dass Mum so mochte.

Ist jetzt auch egal.

Mum ist tot. Vater auch.

Ich weiß es. Ihr Blut klebt an mir und sie haben sich auch nicht mehr bewegt. Atmen tun sie auch nicht. Die rote Pfütze hat sich in den hellen Flokati um sie herum gesaugt. Ich will kotzen.

Vater liegt auf Mum. Er wollte sie retten. Schon komisch. Sonst hat es ihm nie interessiert, was mit uns war.

Es blitzt einmal. Kein Donner.

Alles ist egal.

Ich stehe auf und stelle fest, dass meine Beine höllisch wehtun. Wie lange hab ich da gesessen? Ein Blick auf die Uhr. Ich erinnere mich nicht mehr. Keine Ahnung wann Itachi ins Wohnzimmer gekommen ist.

Ich gehe durch den Flur nach draußen und ziehe vorher noch meine Schuhe an. Der Regen befreit mich von dem Blut, aber es brennt immer noch auf meiner Haut. Mums Blut. Vaters Blut. Alle tot. Itachi ist weg.

Der Vorgarten sieht mehr aus wie ein kleiner toter Park. Als ich durchgehe, blitzt es nochmal. Dann ein Donner.

Und plötzlich renne ich.
 

Der Regen peitscht mir entgegen. Es fühlt sich an, als würde er mir die Haut von den Knochen schälen. Es tut gut. Ich weiß, ich lebe noch.

Die Straßen sind leer, wie ausgestorben. Aber in diesem Viertel schlafen die Leute schon. Reiche Banker und Politiker, die Oberschicht. Die Kids von denen treiben sich in Diskotheken rum, schmeißen Geld zum Fenster raus und schlucken Drogen, meistens Ecstasy. Ich beschwere mich nicht. Zu denen hab ich auch gehört. Bis heute jedenfalls.

Ich laufe immer noch. Meine Lunge brennt.

Ich sehe das Bild von Mum in meinem Kopf. Sie lächelt und tätschelt mir den Kopf, obwohl sie weiß, dass ich es hasse. Ich hasse es nicht wirklich, aber ich bin 17, viel zu alt für sowas. Ich mag auch ihr Lächeln. Hatte immer etwas von nach-Hause-kommen. Dann blutet sie. Ihr weißer Pullover färbt sich rot. Sie hat aufgehört zu lächeln. Ein sauberer Schuss durch ihre Brust versaut mir den Tag. Sie lebt nicht mehr lange. Herzstillstand.

Ich erinnere mich, dass sie wirklich erschossen wurde. Heute.

Ich halte an und kotze in eine Seitengasse. Die Säure brennt in meiner Kehle und lässt mich diesen widerlichen Geschmack schmecken. Als ich mich an eine der Wände lehne, pocht mein Kopf wie ein scheiß Presslufthammer. Es wird nicht besser.
 

Ich sehe Vater vor mir. Er stürzt auf Mum zu und redet auf sie ein, dass sie durchhalten soll und alles gut wird. Von der Seite bekommt er einen Schuss in den Kopf. Sein Hirn verteilt sich auf dem Boden und er fällt auf Mum. Die ist schon tot.

Ich kotze wieder. In meinem Magen ist nichts mehr, nur diese beschissene Magensäure oder wie auch immer man das Zeug nennt.

Der Regen versteckt meine Tränen. Ich schluchze. Dann schreie ich.

In meinem Kopf sehe ich Itachi und ich renne wieder los.

Meine Lunge kratzt. Meine Beine zittern, fühlen sich an, als geben sie bald nach. Ich hab Seitenstiche.

Vom Weiten sehe ich ein Lagerhaus. Ich weiß nicht einmal mehr, wo ich bin. Der Teil der Stadt sieht herunterkommen aus, richtig schäbig. Die Autos, die hier rumstehen, sind alt, diese eckigen Kisten aus dem letzten Jahrhundert eben.

Egal. Ich will schlafen.

Das Lagerhaus sieht verlassen aus. Eingeschlagene Fenster in roten Mauern. Zum Reingucken sind die zu hoch. Der Eingang ist zugebrettert.

Ich will mich gegen die Wand lehnen und einschlafen, aber irgendwo hier muss noch eine Tür sein. Ich gehe die Wand entlang und finde eine Tür auf der anderen Seite des Lagerhauses. Sie ist angelehnt. Umso besser.

Ich gehe rein, sehe mich um und entdeckte gut versteckt ein altes, dreckiges Sofa.

Ich überlege nicht, sondern lasse mich einfach in die verschlissenen Polster fallen.

Meine Beine fühlen sich an wie Pudding und mein Atem rasselt in meiner Lunge. Ich glaube, ich sterbe. Das Beste, was mir passieren könnte.

Bevor ich das Bewusstsein verliere, sehe ich nochmal Itachis Gesicht. Er lacht wahnsinnig und kratzt sich mit dem Lauf seiner Pistole den Kopf. Er sagt, das muss sein. Dann schießt er Mum in die Brust.

Meine Augen fallen zu.
 

Warum Bruder, huh?

Rose

Davenport, Iowa

16. Mai 2008
 

Ein stechender Schmerz in der Seite reißt mich aus meinem traumlosen Schlaf und ich brauche einen Moment, bis ich weiß, wer ich bin. Als ich mich aufrichte, sehe ich nur diese kahlen, kalten Wände, deren Putz an den meisten Stellen bereits abgefallen ist und ich frage mich, ob man mich vielleicht entführt hat. Gleichzeitig spüre ich einen Funken Panik in mir aufsteigen. Dann aber sehe ich das ganze Blut auf meinen Sachen und irgendetwas, das sich in meinen Augenwinkeln bewegt. Und plötzlich weiß ich es wieder.

»Was suchst du hier?«

Ihre Stimme ist vorsichtig, aber hart. Ein bisschen, wie die von Vater, nur weiblicher. Als ich sie ansehe, sehe ich nur ein kleines, dürres Mädchen in meinem Alter. Alles andere als eine Bedrohung. Sie hat rötliches Haar, das in dem Licht mehr rosa aussieht und sie trägt einen viel zu großen, dunklen Männerpullover. Ihre Beine schauen wie Streichhölzer darunter hervor und die lockere Stoffhose lässt sie auch nicht fülliger wirken. Brüste hat sie wohl keine.

Sie bemerkt meinen musternden Blick und tritt instinktiv einen Schritt zurück.

»Ich hab gefragt, was du hier suchst!«

Ich zucke nur mit den Schultern und überlege, was ich jetzt eigentlich machen soll. Zurück will ich nicht. Nicht in dieses Haus und auch nicht zu den ganzen Leuten, die Fragen stellen.

Das Mädchen neben mir seufzt und ich setzte mich auf dem Sofa richtig hin. Sie mustert mich nochmal. Es ist nichts Neues für mich, dass Mädchen mich anstarren. Mir laufen viele hinterher. Sogar Ältere. Aber dann fällt mir das Blut wieder ein und ich überlege, wie ich wohl gerade aussehe.

»Verschwinde einfach«, verlangt sie.

Sie dreht sich um und geht die Treppen rauf. Eine Pennerin, schießt es mir durch den Kopf. Die wohnt wahrscheinlich hier. Ich sehe mich um und betrachte diese hässlichen Wände, den dreckigen Boden und den Berg Müll, der hier abgeladen wurde. Irgendwann glaube ich, eine Ratte gesehen zu haben. Es wundert mich nicht einmal.

Ich denke an mein Zimmer zu Hause. An das große weiche Bett und den hellen Teppich, den Naruto schon so oft versaut hat.

Naruto. Wenn man so aufwächst wie ich, hat man keine Freunde. Alles, was man unter den Leuten hat, sind Verbündete, mit denen man sich während langweiligen Geschäftstreffen und sinnlosen Festen abgibt. Aber sobald die Zusammenkunft beendet ist, zerreißen sie sich hinter deinem Rücken ihre Mäuler, um beliebter zu werden. Beim nächsten Treffen ist das alles wieder egal. Mit dem Rest hast du nichts zu tun.

Irgendwann hab ich dann Naruto getroffen. Der Idiot ist in unsere Gegend gezogen. In der Schule wurde er dann neben mich gesetzt und irgendwie wurden wir Freunde. Er nimmt das alles mit Vertrauen und Loyalität ziemlich ernst. Wahrscheinlich deshalb.

Ich sollte ihn vielleicht anrufen. Mir fällt auf, dass ich weder mein Handy noch Geld in der Tasche habe. Gar nichts eigentlich. Wahrscheinlich weiß Naruto sowieso schon, was los ist. Er würde nur dumme Fragen stellen.

Das Mädchen kommt wieder runter. Ihre Schritte gehen in dem Lärm der scheppernden Autos draußen unter und ich bemerkte sie erst, als ich ihren bunten Kopf sehe.

»Du bist immer noch da«, stellt sie nüchtern fest. Ich stehe auf und bemerke, dass ich fast einen Kopf größer bin, als dieses dürre Ding.

»Ich weiß nicht, wohin«, gebe ich zu. Mein Hals ist trocken. Mit dem Blut auf meinen Sachen muss ich aussehen wie ein Wahnsinniger.

»Mir egal.«

Sie bleibt hart. Mir fällt auf, dass sie grüne Augen hat. Sie sehen matt aus und machen sie alt.

»Mir auch.« Ich lasse mich wieder auf das Sofa fallen und lehne mich zurück. Er quietscht unter meiner Last und ich kann die Sprungfedern deutlich spüren. Ich frage mich, wie man so etwas ein Sofa nennen kann, aber da höre ich schon wieder das Mädchen.

»Ich mein’s ernst, Wichser. Verpiss dich!« Sie ist sauer.

Mein Kopf fängt wieder an, wehzutun. Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf meine Knie und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare.

»Lass mich einfach in Ruhe«, höre ich mich selbst murmeln. Sie atmet geräuschvoll aus.

»Soll das ein Witz sein? Such dir deine Ruhe zu Hause.«

Ich sehe Mum tot vor mir liegen. Vater auch. Itachi lacht. Meine Nerven reißen.

»Halt‘ die Klappe, verdammt!«

Sie zuckt zusammen wie ein verschrecktes Reh und mir tut es sofort leid. Hab nicht einmal bemerkt, dass ich aufgesprungen bin. Ich senke meinen Blick und weiß nicht, was ich tun soll. Ich kenne sie nicht. Irgendwie ist das wohl ihr zu Hause. Aber ich will nicht gehen. Ich will nicht zurück.

Ich seufzte erschöpft und lasse mich zurück in die Polster fallen wie ein nasser Sack. Mein Gesicht vergrabe ich in meinen Händen.

»Sorry«, murmle ich leise. »Ich weiß nicht, wohin.«

Ich merke, dass ich mich wiederhole. Egal.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagt sie dann. Sie versucht, versöhnlich zu sein. Es klingt wie eine stille Bitte.

»Ich habe niemanden mehr.« Niemanden außer Naruto. Naruto zählt nicht. Er weiß Bescheid.

Sie seufzt fast schon ergeben. »Wie heißt du?«

Ich blicke auf und sehe sie an. Bin ihr irgendwie sogar dankbar. Keine Ahnung warum.

»Sasuke.«

»Hör mal, Sasuke«, fängt sie an. »Das Leben hier ist schwer. Das hier«, sie deutet auf die verrottete Halle. »Ist alles, was ich habe.« Sie atmet tief durch. »Geh einfach nach Hause. So schlimm kann es da gar nicht sein.«

Ich mag es, wenn sie so ruhig spricht. Fast als wären wir Freunde oder mehr. Es gibt mir ein sicheres Gefühl.

Ich sehe sie an und sie scheint zu verstehen, dass ich nicht gehen werde. Sie schüttelt resigniert den Kopf.

»Dann bleib.« Aber? »Aber erwarte ja nicht, dass ich dir irgendwas gebe. Es ist schon alleine schwer genug.«

Ich muss fast schon spöttisch lächeln. Ich kenne das Mädchen nicht, aber sie ist unglaublich berechenbar.

»Wie heißt du?«, frage ich. Ich bin neugierig geworden.

Sie zögert, tritt fast unbewusst einen Schritt zurück und mustert mich mit diesem stechenden Blick.

»Die Leute nennen mich Rose.«

Ich mustere sie genauer. Der Name ist amerikanisch. Sie sieht mehr asiatisch aus. Vielleicht hat sie auch japanische Wurzeln.

»Rose«, wiederhole ich und deute auf ihre Haare. »Passt.«

Sie steht da und ich glaube, sie kommt sich etwas fehl am Platz vor. Dann dreht sie sich einfach um und geht wieder die Treppe rauf.

Ich weiß nicht, was ich tun soll, also folge ich ihr einfach.

Oben ist ein kleiner Flur mit nur einer Tür. Sie ist offen, weil Rose mich ansieht, als würde ich gleich über sie herfallen.

Ich zucken mit den Schultern, trete ein und sehe mich um. Auf dem kahlen Betonboden liegt eine Materatze, darunter geplättete Pappkartons. Wahrscheinlich, damit es nicht so kalt ist. Auf der Materatze liegen ein Haufen Decken. Sie sind dünn und sehen teilweise wie diese grässlichen Patchwork-Dinger aus. Auf der anderen Seite steht eine Art Kommode, darauf ein Beutel.

»Wenn du hier bleiben willst, dann schläfst du unten.«

Ihre Stimme holt mich zurück und ich sehe sie einen Moment lang an. Plötzlich wird mir klar, dass ich hierbleibe. Ich werde auf einem Sofa in einem heruntergekommenen Lagerhaus - im Dreck - schlafen. Einen kurzen Augenblick sehne ich mich nach meinem Zimmer und dem weichen Bett mit den dicken Decken und fülligen Kissen. Aber das ist nicht mein zu Hause. Es ist nur der Ort, an dem im gewohnt habe. Ein zu Hause hab ich nicht.

Ich widerspreche mir selbst. Mum’s Lächeln war mein zu Hause. Jetzt ist sie tot.

Ich drehe mich um, gehe wieder runter und lasse mich auf das Sofa fallen.

Ich will nur noch schlafen. Schlafen und hoffentlich dabei sterben.
 


 

17. Mai 2008
 

Als ich das nächste Mal aufwache, weckt mich die Sonne. Einen Moment frage ich mich, wo ich bin. Dann fällt mir alles wieder ein und ich erinnere mich auch an die dürre Rose.

Neben mir höre ich ein Geräusch. Ich schrecke auf und starre die mageren Beine an.

Rose steht in dem Haufen von Müll und wühlt darin rum. Sie bemerkt mich gar nicht.

Ich frage mich, wie lange ich geschlafen habe.

Als ich mich aufsetzte, stöhne ich gequält. Mein Rücken ist die stechenden Sprungfedern nicht gewöhnt.

»Du bist wach«, höre ich Rose sagen. Sie schaut mich nur kurz an und wühlt dann wieder im Schrott.

Ich richte mich auf und komme näher, frage sie, wie lange ich geschlafen habe.

»Ein Tag«, antwortet sie und dreht sich zu mir. »Gestern bist du nicht mehr wach geworden.«

Ich seufze. »Super.«

Mein Magen knurrt und Rose sieht mich an, als würde sie etwas von mir erwarten.

Ich versteh gar nichts. »Was?«

»Für dein Essen bist du selbst verantwortlich.«

»Hab grad kein Geld dabei.«

Sie zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder dem Müll zu. »Ich hab dich gewarnt.«

»Und jetzt?« Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, der nichts alleine kann. Ich mag das Gefühl nicht, aber ich will nicht gehen.

Sie seufzt genervt und steigt von dem Schrottberg. »Wie hast du dir das vorgestellt, Sasuke?«

Ich zucke mit den Schultern. Ich hab wirklich noch nicht darüber nachgedacht. Ich schimpfe mich einen Idioten und sehe sie an. Sie scheint zu wissen, dass ich nicht antworten werde.

Rose fasst sich an die Stirn und seufzte tief. Statt zu antworten, wie ich es erwartet habe, schüttelt sie nur den Kopf. Sie geht an mir vorbei und verschwindet die Treppe rauf nach oben.

Ich denke, sie ignoriert mich, doch dann kommt sie wieder und hält mir ein trockenes Brötchen hin. Als ich es nehmen will, zieht sie ihre Hand wieder zurück. »Es ist eine Ausnahme, kapiert?«

Ich nicke nur und nehme das Brötchen entgegen. Es ist alt und wie Gummi. Ich frage nicht einmal, was das soll. Sie ist eine Pennerin, sage ich mir immer wieder. Für sie ist das sehr viel.

Während ich auf dem Brötchen herumkaue, stelle ich mir vor, wie ich in unserem Haus zu Frühstück esse. Es gibt jeden Morgen frisch aufgebackene Brötchen aller Art und Kaffee.

Rose würden die Augen ausfallen.

Ich frage mich, ob sie schon immer auf der Straße gelebt hat oder auch einmal ein richtiges Zuhause hatte, weil sie für einen Penner noch so jung ist. Sie scheint mit dem allem irgendwie gut klarzukommen.

Ich höre, wie sie wieder auf den Haufen Schrott steigt und darin herumwühlt.

»Was suchst du?«

»Alles, was brauchbar ist.«

Ich beiße wieder von dem Brötchen ab. Es kaut sich schwer und trocknet meinen Mund aus, aber es füllt meinen Magen und nur das zählt.

Als ich fertig bin, bin ich immer noch hungrig, aber ich sage nichts.

Rose zieht eine dreckige Cappy aus dem Müll und begutachtet sie. Das bisschen Staub, was sie verdreckt, klopft sie ab. Das Teil scheint gut erhalten zu sein. Sie wirft sie mir zu und wühlt weiter herum.

»Was soll ich damit?«, frage ich. Ich bin verwirrt.

»Anziehen.« Sie schnauft erschöpft. »Wenn du sie nicht brauchst, lass sie einfach auf dem Sofa liegen.«

Ich sehe mir das Teil genauer an und stelle fest, dass das so gar nicht mein Fall ist. Keine Marke und dazu auch noch abgetragen. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich jetzt keine Wahl mehr habe. Ich habe weder Geld, noch Kleidung und zurück in dieses riesige Haus will ich auch nicht.

Die Cappy schmeiße ich trotzdem auf‘s Sofa. Ich entschließe mich kurzerhand, Rose zu helfen und steige zu ihr auf den Schrotthaufen. Im Gegensatz zu ihr bleibe ich nahe am Rand, um gleich abzuspringen, wenn es kracht.

»Wie alt bist du?«, höre ich mich fragen und versuche irgendetwas Brauchbares zu finden. Anfassen tue ich nichts.

»Ist egal.«

Ich sehe sie an und runzle die Stirn.

»Und warum?«

»Weil’s egal ist.« Rose richtet sich auf und wischt sich über die Stirn. »Du musst nichts über mich wissen. So, wie ich auch nichts über dich.«

»Warum so freundlich?«

Sie stöhnt genervt auf und dreht sich zu mir um. »Ganz ehrlich?«

Ich nicke nur und bin gespannt, was sie sagt.

»Du siehst aus wie ein kranker Psycho. Ich mein, schau dich mal an.«

Rose triff mich direkt ins Mark, als sie mich an das Blut erinnert, das jetzt ganz dunkel und trocken aussieht. Ich springen von dem Haufen Müll und bleibe erst mal mit dem Rücken zu ihr.

Ich sehe Mum und wie das Blut sich um sie herum in den Teppich saugt. Mir wird schlecht und einen Moment glaube ich, dass alte Brötchen kommt mir wieder hoch.

»Das Blut ist von meinen Eltern«, höre ich mich sagen. Ich weiß nicht einmal, wieso.

Ich sehe meine Hände an und da ist noch Blut zwischen den Fingern. Ich fühle mich dreckig, will nur noch sterben.

Rose ist still. Ich weiß nicht, ob sie mich ansieht. Ist egal.

»Mein Bruder hat sie umgebracht. Einfach erschossen.« Meine Stimme ist rau und ich habe das Gefühl, sie bricht gleich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

»Ich bin 17«, höre ich sie sagen. Dann höre ich wieder, wie sie sich auf dem Schutt bewegt. Sie sucht weiter.
 

Danke, kleine dürre Rose.

Neues zu begreifen

Davenport, Iowa

17. Mai 2008
 

Am Abend regnet es wieder.

Rose hat mir von einer Tonne erzählt, die das Regenwasser aus den Dachrinnen auffängt. Sie steht draußen und das Wasser ist einigermaßen sauber. Es reicht, um das Blut loszuwerden, rede ich mir ein. Wasser ist Wasser.

Die Tonne ist blau und erinnert mich an ein Bierfass, nur ohne Holz. Sie hat keinen Deckel, aber das ist egal. Anders würde das Wasser auch nicht reinlaufen können.

Ich ziehe mein Shirt aus und tunke es ins Wasser, um das Blut darauf rauszubekommen. Mum mochte das Shirt immer. Aber das ist ihr Blut. Das gehört da nicht hin.
 

Irgendwann, als ich feststelle, dass von dem Blut nur noch ein leichter Schatten zu sehen ist, brennen meine Augen. Ich weine. Der Regen versteckt die Spuren.

Ich komme mir schwach und nutzlos vor. Nichts hilft.

Ich schmeiße das Shirt zur Seite und wasche mir das restliche Blut vom Körper.

Das Wasser ist eiskalt. Ich fange an zu zittern und verfluche diesen beschissenen Wind. Tagsüber ist es noch angenehm.

Als das Blut endlich ab ist, wringe ich mein Shirt nochmal aus und trockne mich damit etwas ab.

Es ist immer noch saukalt.

Ich gehe rein und suche nach irgendetwas, dass einer Decke ähnlich ist. Mir fällt ein, dass Rose oben ein paar hat. Ich nehme die Treppe in den kleinen Raum und sehe die kleine Rose auf der Materatze sitzen. Sie starrt mich wieder so an, als würde ich ihr irgendetwas Böses tun wollen, und steht dabei langsam auf. Mir fällt wieder ein, dass ich kein Oberteil mehr anhabe und wie das jetzt wohl aussieht.

»Hab’s sauber gemacht«, meine ich nur und zeige ihr das nasse Shirt.

Sie seufzte leise und fasst sich an die Stirn.

»Häng es zum Trocknen auf. Aber nicht draußen.«

Sie geht wieder rüber zur Materatze und greift sich zwei Decken, die sie mir in die Hände drückt.

»Morgen zeige ich dir, wo du etwas zu essen bekommst«, sagt sie.

»Ich hab kein Geld«, antworte ich. Ich fühle mich schwach und ausgehungert.

Rose grinst schwach. Das erste Mal, dass sich ihre Mundwinkel nach oben bewegen. Hübsch sieht es nicht aus.

»Das Essen dort ist umsonst«, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. »Vorausgesetzt du bekommst überhaupt etwas.«

»Kostenloses Essen?« Einen Moment denke ich, Rose verarscht mich nur.

Sie schaut mich an, als wäre ich zurückgeblieben. Dann glaube ich ihr. Keine Ahnung warum.
 

»Es ist spät«, sagt sie irgendwann. Sie sieht nicht müde aus, eher alt und kaputt. Aber sie will, dass ich gehe.

»Hn«, mache ich. »Um wie viel Uhr morgen?«

Einen Moment lang glaube ich, ein hübsches Lächeln gesehen zu haben. Jung und frisch.

»Stell deinen Wecker auf sechs Uhr.« Ihre Stimme klingt lebendig. Menschlicher als sonst.

Erst als ich unten auf das Sofa sitze, verstehe ich, warum sie grinsen musste.

Nach einem Wecker hab ich mich tatsächlich einen Moment lang gesucht.
 


 

18. Mai 2008
 

Rose ist auf ihren dürren Beinen schnell. Das traut man ihr gar nicht zu. Sie läuft vor mir, trägt eine schlabbrige Mütze, die ihre Haare versteckt, und hält ihr Gesicht gesenkt. Sie sieht ein bisschen aus wie ein Verbrecher.

Einen Moment frage ich mich, ob sie vielleicht auch kriminell ist. Manchmal jedenfalls.

Aber ich merke, dass die Leute uns nicht beachten.

Es ist ganz anders, als ich es gewöhnt bin.

Aber es ist besser, sage ich mir immer wieder.

Ich trage die Mütze, die Rose vor ein paar Tagen aus dem Müll gezogen hat. Toll finde ich das nicht. Das ist aber auch egal. Die Leute sollen mich nicht erkennen.

Zurück will ich nicht.
 

»Ey.« Rose ist genervt. »Mach schneller.«

Als sie mich geweckt hat, hat sie gesagt, wir müssten uns beeilen. Irgendwann ist mir auch eingefallen, warum. Rose ist bestimmt nicht die einzige Pennerin auf der Straße.

Ich zögere kurz. Dann hole ich sie ein.

»Gehst du da immer hin?« Sie versteht nicht. »Zum Essen.«

Sie lacht trocken. »Nein. Nur wenn ich muss.« Sie seufzt leise und wischt sich übers Auge. »Die Essensausgabe da ist die reinste Hölle. Die Freiwilligen sind nett. Irgendwelche Kirchenleute. Aber die, die das Essen holen, sind das Problem. Nicht für alle ist was da. Die Dreckskerle werden sauer, wenn sie nichts bekommen.«

Ich verstehe nicht ganz, was sie damit meint. Wütende Leute kann man ignorieren. Nachfragen tue ich nicht.
 

Als wir da sind, hat sich schon eine Gruppe von stinkenden Pennern bei einem roten Van versammelt. Das Auto ist alt und sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenklappen.

Die Horde ist unruhig, ihre Kleidung abgenutzt und alt. Sie sehen widerlich aus.

Dann stelle ich fest, dass Rose gar nicht dazu passt.

Als ich mich umsehe, ist sie weg.

Irgendwann erkenne ich sie unter der Menge von Pennern an ihren Haaren. Ihre Mütze hat sie nicht mehr auf. Als sich die Seitentür vom Van wieder schließt, rennt Rose wie aufgestochen aus dem Haufen von Pennern. Einer packt sie von hinten und zerrt sie zurück.

Ich denke nicht nach. Rose braucht Hilfe.

Ich renne zu ihr und schlage dem Arm von dem Penner weg. Er stinkt und sieht richtig schäbig aus. Seine Mütze versteckt seine fettigen braunen Haare kaum und sein Gesicht ist von zwei langen Narben entstellt. Ich merke mir das Gesicht. Jetzt verstehe ich, was Rose meinte.

»Ey du kleiner Wichser«, schreit er und hustet.

Rose hinter mir zerrt mich von ihm weg. Sie zittert. Ich glaube, sie hat Angst.

Sie reißt mir fast den Arm aus und rennt mit ihren dürren Beinen schon wieder so schnell.

»Rose.« Sie ignoriert mich. Bemerkt mich vielleicht nicht mal. »Rose!«

Sie zerrt mich noch schneller weiter. Die Menschen, an denen wir vorbeilaufen, beachten uns nicht. Es ist okay.

»Rose!« Dieses Mal stoppe ich und reiße sie zu mir. Sie fällt mir gegen die Brust und keucht erschrocken.

»Tut mir leid.« Ihre Stimme klingt schwach und gebrechlich. Sie lässt meine Hand los und geht auf Abstand. Dann sehe ich die Tränen. Sie wischt sie weg und dreht sich um, bevor ich etwas sagen kann. Oder bevor mir einfällt, was ich überhaupt sagen könnte.

Dass Rose weint, überrascht mich. Plötzlich sehe ich sie nur noch ein kleines, schwaches Mädchen. Dass sie auf der Straße lebt, zählt nicht mehr.

Wir gehen weiter.

Rose presst das Essen, das sie ergattert hat, an sich, wie einen Rettungsring im Ozean.
 

Irgendwann sind wir wieder in dem alten Lagerhaus. Rose verschwindet mit dem Essen in das kleine Zimmer. Ich komme mir übergangen vor.

Mein Magen knurrt schon wieder und tut dabei furchtbar weh. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.

Rose kommt runter und drückt mir ein belegtes Brötchen und einen Apfel in die Hand.

»Dann haben wir für später und morgen früh noch was.«

Sie selbst nagt an einem trockenen Brötchen.
 


 

Am Abend gibt Rose mir noch ein Brötchen. Ich fühle mich immer noch ausgehungert, bin müde und schlapp.

Die kleine Rose sitzt neben mir auf dem Sofa. Ich glaube, sie beobachtet mich.

Irgendwann spricht sie mich an. »Das ist nichts für dich, Sasuke.«

Ich sehe sie an, dieses dürre Mädchen, dass viel zu schutzlos in dieser Welt ist. Früher hätte ich sie nie beachtet. Früher wäre sie nicht mehr als Dreck.

Ich schüttle den Kopf. »Lass es.«

»Egal, was passiert ist, wenn du dich jetzt zu Tode hungerst, wird es auch nicht besser.«

Ihre Stimme ist wieder leise, fast schon vorsichtig.

»Das geht dich nichts an«, höre ich mich fast tonlos sagen.

»Wenn ich dich jetzt schon mitversorgen muss, geht es mich ’ne ganze Menge an«, zischt sie.

Ein kaltes Lächeln überkommt mich. Ich brauche sie nicht, denke ich wütend. »Sei still.«

Sie zuckt wieder zusammen.

»Dann mach doch, was du willst.«

Rose steht auf und verschwindet in das kleine Zimmer.

Ich seufze. Mit einer Hand fahre ich mir durch die Haare.

Als ich mich auf dem Sofa hinlege, fällt mir auf, dass die Decken von letzter Nacht weg sind. Rose hatte sie zur Sicherheit in dem Zimmer oben versteckt.

Ich glaube nicht, dass sie sie mir zurückgibt.

Dieses Mal ist mein Seufzen erschöpft.
 


 

In der Nacht werde ich durch einen Schrei geweckt. Erst weiß ich gar nicht, was los ist. Dann denke ich an Rose und springe auf.

Meine Beine tragen mich kaum, aber ich zwinge mich die Treppen rauf und reiße die Tür auf. Es ist dunkel.

Rose starrt mich mit aufgerissenen Augen an. Sie leuchten panisch und zittern.

»Was ist passiert?« Ich versuche neutral zu klingen. Vielleicht auch ein bisschen wütend, weil sie mich geweckt hat.

Ihr Atem rasselt. »Nichts.«

So wie sie aussieht, hat sie schlecht geträumt. Ich mache einen Schritt vor und Rose presst sich noch im selben Moment gegen die Wand, als hätte ich ein Messer nach ihr geworfen.

»Verschwinde«, haucht sie. Sie hat Angst vor mir, fällt mir auf.

»Ich bin’s. Sasuke.«

»Hau ab.« Plötzlich bin ich verwirrt. Ich frage mich, ob sie mir noch böse ist. Aber das kann es nicht sein.

Ich komme noch näher und starre sie einfach an. Irgendwann wird sie nachgeben, sage ich mir.

Es kommt anders als geplant. Sie wird noch unruhiger und schiebt sie an der Wand hoch.

»Bitte geh einfach«, fleht sie.

Ich bleibe noch einen Moment so stehen.

Dann gehe ich. Einschlafen tue ich erst, als die Erschöpfung siegt.
 


 

19. Mai 2008
 

Als ich das nächste Mal aufwache, ist Rose nicht da. Jedenfalls sehe ich sie nicht.

Einen Moment kommt es mir vor, als hätte ich nur geträumt. Aber es war viel zu real.

Ich stehe auf und zwinge meine Beine die Treppe rauf.

Oben ist die Tür zu. Klopfen tue ich nicht.

Es ist auch egal. Rose ist nicht da.

Ich bin so erschöpft, dass ich mich einfach auf die Matratze fallen lasse. In der Nacht habe ich schlecht geschlafen.

Mein Rücken tut mir weh. Ich stöhne und irgendwie kommt mir alles unecht vor.
 

Irgendwann kommt Rose in den kleinen Raum. Ich setzte mich nicht auf. Kann ich gar nicht mehr. Keine Kraft.

»Was machst du hier?«, höre ich sie überrascht fragen.

Ich sehe sie an, versuche nicht so fertig auszusehen. Ihre Frage übergehe ich.

»Was war das gestern?«

Sie zögert. Dann schmeißt sie die kleine Plastiktüte in ihren Händen auf die Kommode. Ich sehe nur noch ihren Rücken.

»Ich weiß nicht, was du meinst« Die Lüge aus ihrem Mund schreit mir fast entgegen.

Ich sage nichts, stehe einfach auf. Es ist anstrengend.

Als Rose sich umdreht, stehe ich schon direkt vor ihr. Sie zuckt panisch zusammen. Dann stößt sie gegen die Kommode hinter sich. Ich packe sie an den Armen. Jetzt kann sie nicht mehr weg.

»Hör auf!«, kreischt sie. Sie hat Angst. Mir egal. „Lass los!“

Sie zieht ihr Knie hoch und versucht mich zu treten.

Sie wehrt sich noch eine ganze Weile.

Irgendwann wimmert sie. Ihr Körper zittert. Mir tut es leid.

Ich lasse sie los. Ihr Körper fällt wie ein nasser Sack auf den kalten Betonboden. Sie krümmt sich zusammen, weint und schluchzt, als hätte ich sie geschlagen.

Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Mit weinenden Mädchen kenne ich mich nicht aus.

Ich seufze, setzte mich wieder zurück auf die Matratze und lasse mich nach hinten fallen.

Rose wimmert immer noch. Irgendwann hab ich das Gefühl, einzuschlafen.
 

»Tu das nicht nochmal.« Plötzlich sehe ich Rose neben mir auf der Matratze sitzen. Sie hat die Arme um ihre dürren Beine gelegt und zeigt mir ihren Rücken. Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen.

»Dann lüg nicht.« Ich starre die Decke an.

Die Matratze ist angenehmer, als das Sofa unten. Ich bin immer noch unglaublich müde.

Lange sagt sie gar nichts. Ich lasse sie in Ruhe. Meine Knochen tun weh.

»Ich kenne dich nicht«, sagt sie dann. »Du bist ein Fremder und erwartest, dass ich dir vertraue.« Sie stoppt kurz. »Aber ich kann dir nicht vertrauen. Auf der Straße kann man niemandem vertrauen.«

Ich versuche etwas zu sagen, aber ich weiß nicht, was. Vielleicht, weil mir diese Situation neu ist oder aber, weil ich mich kaum konzentrieren kann.

»Ich habe Angst«, sagt sie. Dann: »Du solltest noch etwas schlafen.«

Dann wird es dunkel.
 

Vielleicht ist das alles nur ein dummer Traum.

Zeit

Davenport, Iowa

20. Mai 2008
 

Mir ist heiß.

Meine Knochen fühlen sich an, als würden sie brennen.

Manchmal, wenn ich meine Augen aufkriege, sehe ich kaputte Wände und losen Putz. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich hierher komme.

Ich denke daran, dass ich vielleicht träume. Vielleicht wache ich gleich auf.

Irgendwann spüre ich kleine Finger an meinem Gesicht, etwas Kühles auf meiner Stirn. Meine Augen lassen mich nur etwas Rosafarbendes sehen.

Ich höre eine Stimme. Sie flüstert meinen Namen und ich glaube, es ist Mum. Ich versuche ihr zu antworten, aber mein Mund bewegt sich nicht.

Plötzlich ist mir kalt.

Dann wird alles wieder schwerer.
 


 

21. Mai 2008
 

In dem kleinen Raum ist es ungewöhnlich warm. An den Wänden tanzen Schatten und das hohle Knistern von Feuer drängt sich an meine Ohren.

Mein Nacken tut mir weh, aber ich schaffe es trotzdem, den Kopf zu drehen.

Am Boden in der Ecke steht ein großer Behälter, in dem das Feuer brennt. Er ist kniehoch und nicht breiter als 40 Zentimeter.

Ansonsten ist alles wie immer. Nur Rose ist nicht da.
 

Ich richte mich auf und merke, wie sich mein Magen zusammenzieht. Mir ist schwindelig und mein Hals fühlt sich so trocken an, wie lange nicht mehr.

Neben der Matratze steht eine Flasche Wasser. Ich nehme einen Schluck und spucke die Hälfte gleich darauf wieder aus. Es ist eiskalt und kitzelt im Hals.

Die Flasche stelle ich zurück, bevor ich mich wieder zurücklehne.

Meine Knochen tun immer noch weh.
 


 

Irgendwann kommt Rose wieder. Sie hat eine Plastikschüssel in den Händen und schaut mich überrascht an. Sie sieht aus, als hätte sie kaum geschlafen und ihre Haare sind vom Wind durcheinander.

»Wie geht’s dir?«, fragte sie leise. Fast höre ich sie nicht.

»Hn.«

Sie seufzt und kniet sich neben mich auf die Matratze. In der Plastikschüssel ist Suppe. Jedenfalls sieht es so aus wie eine.

»Hier.« Sie drückt mir die Brühe in die Hände und fasst mir gleich darauf an die Stirn. Es fühlt sich fast vertraut an. »Das Fieber ist gesunken.«

»Fieber«, wiederhole ich. Die Suppe ist warm und riecht ungemein gut. Mein Magen knurrt wie auf Kommando und fast erwarte ich, dass Rose lacht. Aber sie ist nicht so wie Naruto. Hunger kann sie umbringen.

»Iss.« Sie hält mir einen Plastiklöffel hin. »Du warst ’ne ganze Weile krank. Ich dacht‘ schon, du stirbst mir weg.«

»Wie lange?«

»Zwei Tage. Wohl eine schlimme Erkältung.«

Ich sehe sie an und frage mich, ob eine Erkältung wirklich so schlimm werden konnte. Andererseits ist es mir auch egal. Hauptsache es geht mir jetzt besser.

Dann fange ich an zu essen.

Rose steht wieder auf, nimmt eine der Decken und setzt sich in die Nähe des Feuers auf dem Boden. Sie sagt nichts mehr. Es ist okay. So ist es angenehmer.

Das Feuer knistert unnatürlich. Im Kamin klingt das anders. Viel ruhiger.
 

Als ich fertig bin, lege ich die Sachen zur Seite und greife nach der Wasserflasche. Dieses Mal trinke ich langsamer. Angenehmer macht das aber nichts.

»Willst du auch?«, frage ich Rose, aber sie schüttelt nur den Kopf

»Du solltest dich noch ausruhen«, sagt sie dann. »Das Schlimmste ist vorbei, denk ich, aber trotzdem.« Ich nicke.

Dann ist da wieder das Schweigen.
 


 

Juni 2008
 

Das Jahr findet gerade seinen Höhepunkt. Es fühlt sich jedenfalls so an. Die Nacht ist angenehmer, als der Tag. Das Essen schimmelt schneller. Die Herumtreiber sind störender denn je.

Aber man lebt, das zählt.

Manchmal frage ich mich noch, ob ich das überhaupt will. Aber dann sehe ich da Rose. Sie ist klein und dürr und hasst das Leben – irgendwie jedenfalls – aber sie kämpft. Das bewundere ich. Vielleicht ist es auch nur Neid. Ich weiß nicht genau.

Aber ich weiß, dass ich Rose nicht mehr alleine lasse.

Mittlerweile ist ihr das auch egal. Ich denke sogar, dass sie es irgendwie sogar begrüßt, mich bei sich zu haben. Die Penner machen leichter einen Bogen, wenn sie sie nicht alleine sehen. Und das ist auch gut so.
 

Inzwischen ist alles einfacher geworden. Rose hat mir gezeigt, wie man überlebt. Wie man wo und um welche Uhrzeit am besten Essen herbekommt. Wir sind eingebrochen, haben geraubt und dabei nie Spuren hinterlassen – jedenfalls keine Offensichtlichen, wie zerbrochene Fensterscheiben oder eine übermäßig große Ausbeute.

Rose ist in sowas erstaunlich kreativ. Sie weiß, worauf ’s ankommt.
 

»Träum nicht.«

Plötzlich steht Rose neben mir und drückt mir einen Apfel in die Hand. Hab sie gar nicht bemerkt.

»Tu ich nicht«, höre ich mich selbst brummen. Die meiste Zeit bin ich schlecht gelaunt. Einen Grund gibt es nicht wirklich. Oder vielleicht doch. Das Leben hier ist scheiße. Entweder die Polizei sammelt dich am Tag ein oder ein Penner will dich in der Nacht abstechen. Ist auch schon vorgekommen. Rose hat ihm eins mit ‘nem Rohr übergehauen und die ganz Harte gemimt. Ich saß da noch auf dem Sofa und wusste gar nicht, was los ist.

Seit dem hab ich das scheiß Lagerhaus mit Fallen vollgestellt. Neben dem Sofa liegt ein Brecheisen.

Das war das erste Mal, dass ich diesen Haufen Müll im Lagerhaus sinnvoll fand. Rose meinte irgendwann mal, dass das Zeug bei der Räumung hier gelassen wurde – alles, was nicht mehr gebraucht wurde und wofür ein Container zu teuer wäre.

»Jetzt tust du’s schon wieder.«

Ich stehe kurz davor, Rose mit dem Apfel in meinen Händen abzuwerfen.

»Nein. Und hör auf mich zu beobachten.«

»Es war nicht zu übersehen.«

»Hn.«

Wir stehen in einer Seitengasse. Es ist warm und die Sonne nervt. Der Apfel schmeckt gut. Richtig süß. Dabei hasse ich Süßes.
 


 

September 2008
 

Früher hatte ich nie bemerkt, ob es wärmer oder kälter wurde. Jedenfalls nicht, wenn es um ein oder zwei Grad ging.

Jetzt spüre ich es deutlich.

In der Nacht jagt es einem die Gänsehaut über den Körper. Mittlerweile trage ich einen Pullover. Besser macht es das alles nicht unbedingt.
 

Rose läuft neben mir. Wir gehen irgendeine Hauptstraße entlang. Schuhläden und Elektronikgeschäfte zwischen widerlich-bunten Fresstempeln.

Den Weg gehen wir selten. Eigentlich nur, wenn der Schrottplatz Arbeit gegen Geld bietet. Meistens alle zwei Wochen. Es ist nicht viel, aber besser als nichts. Und die Straße führt direkt hin.

»Wir haben noch Zeit«, meine ich irgendwann und bleibe stehen.

In den Schaufenstern der Elektronikläden zeigen sie Fox News in den Fernsehern.

Gretchen Carlson berichtet über die erschreckend hohen Vermisstenanzeigen Amerikas der letzten Jahre. Sie zeigen Bilder von kleinen Kindern im Hintergrund, hauptsächlich Mädchen. Dann auch Ältere. Irgendwann ein Bild von einem Mädchen, das Rose zum Verwechseln ähnlich ist. Sie nennen sie Sakura Haruno. War zwölf oder dreizehn, als sie verschwand. Dann ein anderes Bild.

Ich drehe mich um, suche Rose, aber die ist nicht da.

Ein letzter Blick auf den Fernseher. Gretchen Carlson zählt betrübt die Namen auf. Dann kommt mein Bild. Ein langer Bericht folgt, aber ich gehe.
 


 

Ich bekomme das Bild von dem Mädchen nicht mehr aus dem Kopf. Selbst, als wir schon wieder in der Lagerhalle angekommen sind. Rose hab ich beim Schrottplatz wiedergetroffen. Geredet hat sie nicht. Aus dem Weg geht sie mir auch.

Es ist, als würde sie damit antworten, ohne dass ich überhaupt gefragt habe.

Vielleicht weiß sie es nicht mal.

Ich gehe die Treppen zu dem kleinen Raum hoch. Wie eine Maschine.

Die kleine Rose sitzt auf der Materatze und starrt Löcher in die Luft. Dann bemerkt sie mich. Sie erschreckt sich nicht mehr – wusste wahrscheinlich sowieso, dass ich komme.

»Rose«, sage ich. Eine Aufforderung. Sie schaut weg. »Sakura Haruno.«

Sie zuckt. Ich weiß Bescheid.

»Warum machst du daraus ein Geheimnis?«

Ich weiß, ich sollte nicht fragen. Neugier ist keine Eigenschaft, die ich mag. Naruto war immer neugierig.

Sie steht auf und geht zu der Kommode. »Woraus?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Tu ich das?«

Ihre Stimme ist nicht überzeugend. Ich hätte ihr auch nicht geglaubt, wenn sie es gewesen wäre.

»Mach keinen Scheiß. Antworte!«

»Wozu verdammt?«, fragt sie sauer und dreht sich um. Ihre Katzenaugen strahlen vor Angriffslust.

»Mich nervt ‘s.« Stimmt sogar.

»Ach und deshalb soll ich dir meinen scheiß Lebenslauf in den Arsch schieben?«

Sie versucht sich an mir vorbei zu quetschen, aber ich halte sie fest und drücke sie gegen den Türrahmen. Sie zuckt. Dann kommt die Angst.

»Lass das.«

»Nein.« Sie versteht, dass ich es ernst meine. Ich verstehe, dass sie Angst hat.
 

Noch vor ein paar Monaten hätte ich das ausgenutzt. Ich hätte mit ihrer Angst gespielt und sie manipuliert, bis ich hatte, was ich wollte. Aber das ist Rose. Sie ist anders.

Ich seufze leise, lockere gleichzeitig meinen Griff. Ich will ihr nicht wehtun.

»Sag’s einfach.«

Es dauert nicht lange, bis sie redet.

»Ich mag den Namen nicht. Er gehört nicht mehr zu mir.«

Danach lasse ich sie in Ruhe.
 


 

Dezember 2008
 

Der Winter kommt spät dieses Jahr, dafür aber verdammt kalt.

Ich liege auf dem Sofa, eingewickelt in mehrere Decken und trotzdem fühlt es sich an, als würden tausend stumpfe Nadeln sich in meine Haut rammen.

Rose liegt oben. Fast beneide ich sie. In dem kleinen Zimmer oben gibt es keine Fenster; keine Möglichkeit für den Wind, sich einzuschleichen.

Einen Moment denke ich darüber nach, mir eine Unterkunft zu suchen, aber ich verwerfe die Idee schnell wieder. Camps für Obdachlose gibt es keine und die Kirchen sind überfüllt. So wenige Wohltätige es in dieser Stadt gibt, ist das auch kein Wunder.

Irgendwann ist es, als würde ich einschlafen.
 


 

»Sasuke.«

Ich spüre kleine warme Finger an meiner Wange. Höre eine Stimme, die nicht mehr als ein Flüstern ist. Fast glaube ich, es ist ein Engel.

»Sasuke, wach auf.«

Rose schüttelt mich leicht, zwingt mich die Augen zu öffnen.

»Hm?«

»Komm. Steh auf.«

Ich verstehe nicht, was sie will, spüre aber die Taubheit in meinen Beinen. Es ist eisig kalt. »Du holst dir noch den Tod. Komm.«

Ich lasse mich von ihr vom Sofa ziehen. Meine Beine halten mich kaum, aber ich versuche, sie nichts merken zu lassen.

Sie klaubt die Decken zusammen und geht die Treppen rauf. Ich folge ihr.

Oben brennt das kleine Feuer und es ist angenehmer als unten.
 

Die dürre Rose wirft die Decken auf die Materatze und verkriecht sich darunter. Sie verschwindet fast ganz. Ihre Stimme klingt gedämpft. »Mach die Tür zu.«

Ich folge ihrem Befehl mehr aus Eigennutz.

Erst weiß ich nicht, was ich tun soll. Rose rührt sich unter den vielen Decken nicht mehr, aber ihr rosa Schopf ist noch zu sehen.

Dann lege ich mich zu ihr auf die Materatze.

Rose rückt vorsichtig von mir weg. Ich sehe ihren schmalen Rücken - will ihr Rückgrat fast mal nachfahren.

Die Versuchung ist groß.

»Rose«, höre ich mich leise sagen.

»Schlaf einfach«, bittet sie. Es ist, als würde sie sagen, mach es nicht noch schlimmer.

Sie hat Angst.

Und ich lasse sie in Ruhe.
 


 

Es ist angenehm warm.

Ich erinnere mich nur langsam daran, dass ich in dem kleinen Zimmer liege. Rose schläft. Sie liegt mit ihrem Gesicht zu mir auf der Seite. Ihr Mund ist einen Spalt weit offen, ihre Züge entspannt.

Fast mechanisch streiche ich ihr mit meinen Fingerkuppen über die Wange. Ihre Haut ist weich. Rose zuckt.

Ihre Augenlieder flattern, aber meine Hand ist schon längst wieder bei mir.

Als sie mich sieht, kreischt sie erschrocken.

»Was machst du hier?«

»Du hast mich hergeholt.« Einen Moment zweifle ich an ihrem Verstand. Rose glaubt mir nicht. Dann die Erleuchtung.

»Oh.«

»Hn.«

Ich rolle mich auf den Rücken und starre die Decke an. Irgendwo drängt sich mir die Frage auf, warum ich sie angefasst habe – oder besser, warum es schön gewesen war.

Ich versuche mir einzureden, dass es an der Einsamkeit liegt. Hier ist niemand, dem man trauen kann; niemand, der mich erkennen darf. Und Rose ist keine Alleinunterhalterin.

»Worüber denkst du nach?« Rose beobachtet mich. Stören tut es nicht.

»Ob ich wahnsinnig werde.«

»Ja.« Ich schaue sie an. »Wirst du irgendwann.«

Sie lächelt nicht, meint es wahrscheinlich sogar ernst.

»Wie kommst du darauf?«

»Irgendwann wird doch jeder wahnsinnig. Auf seine Art.«

»Und du?«

»Ich auch. Jeder. Ich hoffe, ich sterbe vorher.«

Ich stocke. »Du willst aufgeben? Plötzlich?«

»Ich habe doch schon aufgegeben, Sasuke.« Plötzlich wirkt sie traurig. Ihr Lächeln hat etwas von einem geschlagenen Hund. »Ich bin nur zu feige, um es richtig zu beenden.«

»Angst vor'm Tod«, stelle ich nur fest. Das hatte ich nicht erwartet.

»Ja.«

Ich sage nichts mehr. Rose ist auch still.
 

Aber etwas ist anders.

Andere Welten

Davenport, Iowa

Dezember 2008
 

Die Tage verschwimmen ineinander. Sie auseinanderzuhalten ist mir fast unmöglich. Rose hat den Kalender im Kopf. In der Hinsicht ist sie wie ein Pit Bull; lässt einfach nicht locker.

Selbst bei der Kälte.

Es fühlt sich täglich schlimmer an. Vor allem der Wind draußen zerrt an meinen Kräften. In den Nächten ist es kälter – auch ohne den Wind.

Mittlerweile schlafe ich jede Nacht bei Rose. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, sie in den Arm zu nehmen – wegen der Körperwärme versteht sich. Aber Rose hat Angst.

Nicht vor mir als Person, sondern mehr vor mir als Mann. Das ist mir aufgefallen. Ich denke mir, vielleicht hat man sie misshandelt; vielleicht vergewaltigt.

Irgendwo steigt mir dabei immer wieder Hass auf.

Ich mag Rose – irgendwie.

Sie behandelt mich nicht besser als andere. Sie behandelt mich so, wie ich es in ihren Augen verdient habe.

Und irgendwo will ich auch, dass sie so von mir denkt.

Fast lache ich. Ein Mädchen. Sonst waren die Begegnungen meist oberflächlich. Nettigkeiten austauschen und sowas – alles um die Geschäfte nicht zu gefährden. Intim ist es nie so richtig geworden. Ein paar Küsse und ein bisschen Fummeln. Eine hat mich bis an ihre Titten gelassen. Riesen Dinger. Dann ist ihr Freund reingeplatzt.
 

»Das wird Eisregen.«

Rose friert. Ihre Lippen sind blau, teilweise auch lila. So dürr, wie sie ist, wundert es mich nicht einmal.

»Ja. Vielleicht.«

»Nein. Ganz sicher.« Sie deutet mit ihren schmalen Fingern in den Himmel. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Im Wetterbericht kam’s auch.«

Fast muss ich grinsen.

Rose nimmt sich einen Moment, um einem hupenden Auto hinterher zu sehen. Nichts Besonderes. Hab es auch gar nicht richtig gesehen, da liegt Rose schon am Boden.

»Kannst du nicht aufpassen, Schlampe?«

So ein kleiner Möchtegern-Hip-Hopper schaut auf Rose runter, wie auf ein Stück Dreck. Er ist nicht älter als 16 und sieht mit seiner weiten Hose in den Kniekehlen mehr als lächerlich aus.

Ich stelle mich vor Rose.

»Reiß deine Fresse nicht so weit auf.« Reiner Instinkt.

»Sonst was, Penner? Willst mich mit Müll bewerfen?« Seine beiden Begleiter lachen darüber. Es ist nicht witzig.

Rose steht auf und versucht mich nach hinten zu ziehen. »Komm schon. Hör auf deine Hure. Zieh ab!«

Irgendwo brennt mir eine Sicherung durch. Ich breche seine Nase mit einem sauberen Schlag. Es knackt eklig, aber es fühlt sich gut an. Seine Freunde brauchen einen langen Moment, bis sie verstanden haben, was los ist.

Feiglinge, rede ich mir ein, als die den Wichser von mir wegzerren.

Ich dreh mich um zu Rose. Sie hat Angst, dann schreit sie.

Ich werde an der Schulter zurückgerissen und dann ist da der Schmerz, der sich von meiner Lippe über meinen Kiefer zieht. Kurz bin ich betäubt.

Als er nochmal zuschlagen will, reiße ich ihn an den Schultern zu mir und trete ihm in den Magen. Er fällt. Ich trete nochmal zu. Er krümmt sich.

Rose zerrt mich mit einer unglaublichen Kraft von ihm weg, immer weiter von der Straße weg, in der wir gerade noch waren.
 

Irgendwann sind wir wieder in dem kleinen Zimmer im Lagerhaus. Rose zittert und starrt die Wand an. Ich sehe ihren Rücken.

»Rose.«

»Halt die Klappe!« Sie sieht mich aus ihren matten Augen an – irgendwo ist auch ein bisschen Wahnsinn. »Bist du verrückt? Völlig bekloppt?« Plötzlich laufen ihr Tränen über die Wangen. Erst zwei, dann vier, dann kommen keine mehr. »Die waren zu dritt. Die-Die hätten sonst was machen können.« Ihre Stimme überschlägt sich.

»Rose.«

»Nein! Verdammt, du bist nicht alleine. Du kannst nicht rumrennen und-und-«

»Sakura!«

Sie starrt mich an wie ein verschrecktes Reh, aber nicht weil ich sie angeschrien habe. Ich habe den Namen nicht mehr erwähnt, seit damals.

Sie lässt die Schultern fallen; vergisst, was sie gesagt hat.

»Ich hätte dich beschützt.«

Sie schaut zu Boden, an die Wand, dann zu mir. »Du blutest.«

Aus der Kommode zieht sie ein kleines Leinentuch. Es sieht mehr grau aus und etwas dreckig. Mich stört es nicht mehr.

Rose wischt mir das Blut vom Gesicht. Sie ist vorsichtig, tut fast so, als wäre es ihre Schuld. Es erinnert mich an Mum. Der Gedanke tut weh. Das erste Mal seit langem frage ich mich, wo sie beerdigt wurden.

»Ich hatte Angst.« Sie zögert einen Moment. »Nicht nur um mich.«

Sie schenk mir einen Blick – offenbart mir ihre Angst und Sorge. Es beruhigt mich. Ich bin ihr nicht egal.

Sie leckt das Tuch an, um das trockene Blut wegzubekommen. Ich starre sie einfach an, die kleine, süße Rose.
 


 

Am Abend liegen wir wieder nebeneinander auf der Materatze unter den vielen Decken. Rose starrt an die Decke und denkt nach. Es ist nicht wie sonst. Sie denkt an etwas anderes. Plötzlich rollt ihr eine Träne über die Wange.

Ich denke nicht nach. Mit einer Fingerkuppe fange ich den Tropfen auf. Sie dreht ihren Kopf zu mir und sieht mich an.

Die Minuten verschwimmen wie zuvor die Tage. Irgendwann redet sie.

»Meine Mutter hat auf der Straße gearbeitet, weißt du?« Sie flüstert. Ihr Blick heftet sich wieder an die Decke. »Sie hat’s versucht. Mich lieb haben, für mich da sein, eine gute Mutter sein eben. Irgendwann hat mich das Amt da weggeholt. Dachten, ich wär’n Opfer von Kinderhandel. Da war ich zehn.« Sie atmet tief durch. »Die Leute im Heim waren schlimm. Alle eigentlich, außer Heather. Sie war Studentin. Hat da Unterricht gegeben. Als ich 13 wurde, fand man sie tot im Mississippi River. Abgestochen wegen 15 Dollar 90. Ich bin dann weggelaufen. Ich wollte meine Mutter suchen. Ich hab sie nie gefunden.«
 

Ich drehe mich in ihre Richtung auf die Seite. Meine Hand berührt ihre Schulter. Rose zuckt. Dann ist es okay.

Meine Finger gleiten zu ihrem Hals, fühlen ihren Puls. Ihre Haut ist kalt, aber weich. Ich drehe ihren Kopf zu mir und lasse meine Hand auf ihrer Wange liegen. Wir sind uns so nah wie nie.

Ihre Augen füllen sich mit Tränen und fangen an zu glänzen. »Ich bin schmutzig«, flüstert sie. »Ich bin ganz schmutzig.«

Ich versuche sie zu beruhigen, aber die Tränen kommen und gehen nicht mehr. Ich ziehe sie zu mir, erinnere mich gleichzeitig, dass Mum das früher auch immer gemacht hat, um mich zu beruhigen.

Sie weint laut, lässt sich gehen. Es ist okay.

»Du bist nicht schmutzig.«

»Doch, doch. Ganz dreckig.«

»Du bist nicht dreckig.« Ich wiederhole es wie ein Mantra. Immer wieder. Küsse ihren Scheitel, als wäre sie das Wertvollste der Welt.
 


 

Ich bin eingeschlafen. Keine Ahnung, wie spät es ist.

Rose liegt zwischen meinen Armen. Ihr Gesicht hat sie meinen Pullover gepresst.

Es ist ungemein angenehm, so mit ihr aufzuwachen.

Mit einer Hand fahre ich ihr durch die Haare.

»Tut mir Leid.« Dass sie wach ist, überrascht mich.

»Was meinst du?«

»Hab die Kontrolle verloren. Vergiss es einfach.«

Ich ziehe ihr Gesicht hoch und lehne meine Stirn an ihre.

»Nein.« Ich streichle ihr vorsichtig über die Wange. Will sie nicht verschrecken.

Sie versucht ihr Gesicht runter zu drücken, aber ich lasse sie nicht.

»Sasuke.« Es ist wie ein leises Flehen. Ich schüttle den Kopf. Es geht nur schwer, weil wir so nah beieinander liegen.

»Wer hat dir wehgetan, Sakura?«

»Nenn mich nicht so.« Sie weint nicht.

»Erzähl’s mir.«

Ich lasse zu, dass sie ihr Gesicht wegzieht. Es ist nicht leicht, rede ich mir ein. Sie hat Angst.

»Sakura«, hauche ich rau.

Plötzlich stößt sie mich von sich und es fühlt sich an, wie ein Tritt in den Bauch. Mir wird kurz schwindelig.

»Fass mich nicht an!« Sie ist hysterisch und schubst mich von der Materatze, bevor sie sich an die Wand zwängt. »Lass das.«
 

Der Boden ist kalt und mein Kopf tut weh. Bin wohl aufgeschlagen. Die Bilder drehen sich vor meinem Auge.

»Sasuke?«

Ich will antworten, weiß nur nicht so recht, was. Ich verstehe nicht, warum sie mich plötzlich weggeschubst hat. Es ergibt keinen Sinn.

»Sasuke?« Ihre Stimme klingt fast weinerlich. Ihr Gesicht schiebt sich vor meine Augen.

Sie zittert.

Irgendwo neben mir knistert noch das letzte bisschen Holz in dem Zylinder.

»Sag was«, fordert sie. Einen Moment glaube ich, dass sie Angst um mein Leben hat.

Dann sehe ich sie direkt an.

Ich nehme mir die Zeit, sie zu mustern. Ihre glatte Haut. Die matten Augen. Selbst ihre spröden Lippen. Sie ist alles andere als perfekt – auf eine merkwürdige Art und Weise aber trotzdem schön.

»Sasuke?« Es ist nur noch ein Hauchen.

»Der Boden ist kalt.«

Sie schluchzt. »Tut mir leid. Tut mir leid.«

»Hn.« Ich hebe meine Hand zu ihrem Gesicht. »Warum hast du sie nicht gefunden?«

Ihr Wimmern verstummt fast ganz. Sie zieht ihren Kopf weg und starrt an die Wand.

Mir ist nicht nach Aufstehen, auch wenn es kalt und unangenehm ist.

»Sie war nicht da.« Wieder ein Schluchzen. »In ihrer Wohnung waren andere Leute.«

Ich sehe an die Decke über mir.

»Dann?«

»Zwei Tage.« Sie wimmert lauter. »Zwei Tage, dann gab es keine Schulden mehr.«

Ich frage nicht weiter. Zwei Tage Hölle. Vorstellen will ich mir nichts.
 

Irgendwann stehe ich auf. Rose ziehe ich mit mir auf die Matratze, drücke sie fest an mich. Zuerst wehrt sie sich. Eine Umarmung ist ungewohnt – für uns beide. Dann ist es okay.

Sie weint noch leise.

Ich denke an Mum. Sogar an Vater.

Zwischendrin sehe ich auch Itachi vor mir. Ich weiß nicht, wo er ist; warum er das alles getan hat.

Ich sehe wieder das Blut vor mir und wie es an mir klebt. Es ist wie ein Wahn. Am liebsten würde ich irgendwas kaputt machen.

Plötzlich schwenkt alles in Trauer um.

Und ich halte Rose nur noch, um mit ihr zu weinen.
 


 

31. Dezember 2008
 

Plötzlich ist alles was wir tun und auf das wir hoffen auf eine Weise intim, die ich nicht verstehe. Jemanden zu halten und sich dabei selbst fallen zu lassen, mit ihm zu weinen und sogar mit ihm zu schweigen, hat plötzlich etwas von Fliegen.

Ich habe mir nie Gedanken darum gemacht.

Jetzt, wo dieses Jahr langsam zu Ende geht, lässt es mich aber nicht mehr los.
 

Letzte Nacht habe ich von Mum geträumt.

Sie hat gelächelt und mir durch’s Haar gestrichen und irgendwie war es mir nicht einmal unangenehm. Als ich aufgewacht bin hab ich Rose gesehen und ich hab mir gedacht, dass es okay ist, so aufzuwachen, auf diese intime Art.

Ich habe sie beim Schlafen beobachtet und als sie dann wach wurde, hatte sie keine Angst.

Jetzt stehen wir nebeneinander auf dem Dach des Lagerhauses, um dabei zuzusehen, wie etwas Altes zu Ende geht und etwas Neues beginnt.

Irgendwo zwischen diesen beiden Dingen schwebt die Hoffnung auf ein neues Leben auf einer Seifenblase.

»Meinst du, es wird besser?« Sie sieht mich nicht an. »Irgendwann?«

»Weiß nicht.«

»Und wenn?«

»Weiß nicht.«

Das Feuerwerk geht los. Es ist dunkel und einen Moment sieht es aus, als wäre es noch Tag. Dann sieht sie mich an.

»Und jetzt?«

»Irgendwann«, fange ich an. In ihren grünen Augen spiegelt sich das bunte Meer wieder. »Ich schwöre dir«, und ich sehe sie auf diese intime Art und Weise an. »Irgendwann bringe ich dich an einen sicheren Ort.«

Ich verspreche es nicht nur ihr. Von einem Wir will ich noch nicht sprechen, aber sie weiß es.
 

Irgendwann finden wir ein zu Hause.

Solange du da bist

Davenport, Iowa

März 2009
 

Langsam wird es wärmer. Nicht viel, aber es reicht, um die Nächte erträglicher zu machen.

Abends drücke ich Rose immer an mich und schlafe so mir ihr ein. Mittlerweile ist es okay für sie.

Selten erzähle ich ihr dann von meinem alten Leben; von meinem großen Bett und den vielen weichen Kissen, in denen sie versinken würde.

Sie lächelt dann immer, sagt, sie stelle es sich bildlich vor. Und ich folge ihrem Gedanken.

Manchmal sehe ich sie dann im Bett liegen, zwischen den weißen Kissen und Decken, und ihre Haare liegen dort, wie ein breiter Fächer. Sie lächelt mich an.

Aber es gibt auch Momente, in denen sie einfach in der Küche steht und Frühstück macht. Der Gedanke, dass sie nur ein Hemd von mir trägt, wie in diesen dummen Filmen, lässt mich dabei nicht los.

Fast komme ich mir dumm vor.
 

»Worüber denkst du nach?«

Rose streicht mir über den Arm, den ich um ihren Bauch gelegt habe. Sie schaut zur Decke. Uns ist nicht nach Aufstehen.

»Hm?«, macht sie nochmal.

»Über dich.« Ich lege keine Gefühle in die Stimme. Sie weiß, es ist nicht böse gemeint.

»Und was genau?«

Ich muss grinsen. Ich weiß, es sieht verzerrt aus. So richtig will es nicht mehr funktionieren.

»Wie es wäre, hätten wir uns anders kennengelernt.«

»Du hättest mich wahrscheinlich gar nicht beachtet.« Ihre Stimme klingt normal. Irgendwo spüre ich aber ein bisschen Bitterkeit.

Ich stütze mich auf meinen Unterarm. »Vielleicht hätten wir uns auf einer Abendgala getroffen.«

Jetzt sieht sie mich an.

»Du hättest ein Kleid getragen.« Ich streiche ihr über die Wange. »Hättest dich an ein Fenster gestellt und rausgeguckt.«

Einen Moment halte ich inne.

Sie schaut mich neugierig an - ihre Augen so groß und grün.

»Und dann?«

»Dann hätte ich dich angesprochen.«

»Warum?«

»Weil du etwas Besonderes bist.«

Es ist plötzlich, als hätte ich eine Grenze überschritten.

Sie weiß es. Ich weiß es. Es hätte uns vorher schon klar sein müssen.

Ich bin ihrem Gesicht nah. Sie liegt einfach da und sieht mich an. Sie ist so wunderschön.

Mein Daumen streicht über ihre Lippen. Meine Augen segeln über ihrer Miene hin und her.

Sie hebt ihrem Kopf und küsst mich. Mein Gehirn schaltet sich aus. Ich fühle mich wie ein wildes Tier über seiner Beute. Ich kann nicht anders.

Ich stemme mich über sie. Meine Handflächen halten ihre Wangen und drücken sie so auf die Materatze.

Meine Lippen bewegen sich auf ihren. Sie ist noch schüchtern, aber es ist wie Heroin.

Irgendwann drückt sie mich zurück – schnappt Luft.
 

»Sakura.« Sie schließt die Augen.

»Nicht.«

»Es ist dein Name. Er gehört zu dir.«

Sie zögert - nickt still. Dann: »Warum ist es dir so wichtig?«

»Mum sagte immer, der Name ist der Titel der Geschichte.«

»Dann kann ich auch zwei Geschichten haben.«

»Nein.« Ich küsse sie kurz. Einen Moment ist sie verwirrt. »Es gibt nur eine Geschichte und die ist das Leben.«

»Es ist aber, als hätte ich zwei Leben. Das Eine ist eben schon vorbei.«

»Nein.« Ich wiederhole mich.

»Wieso?«

Ich muss einatmen. Wir flüstern. Meine Stirn lehnt sich gegen Ihre.

»Alles, was du bist«, fange ich an. »Das bist du, weil das alles passiert ist. Das ist deine Geschichte. Das wird immer deine Geschichte sein. Und sie heißt Sakura.«

Dann küsst sie mich.
 


 

April 2009
 

An einem Abend - ein paar Wochen später – liegen wir wieder nebeneinander. Dass wir uns wärmen, uns streicheln und sogar küssen, ist fast schon normal.

Aber manchmal will ich mehr als das. Manchmal will ich ihre Brüste anfassen und ihren nackten Körper. Manchmal will ich wissen, wie es wäre, mit ihr zu schlafen.

Aber ich halte mich zurück – ich muss mich zurückhalten.

»Sasuke?«

»Hm?«

»Ich denke, wir müssen morgen nicht raus.«

»Wir haben genug. Das reicht auch für die nächsten Tage«, sage ich dann. Mir ist auch nicht nach Rausgehen. Der Gedanke, im Bett zu bleiben, ist verlockend.
 

Sie drückt sich näher an mich – ihr Kopf liegt jetzt auf meiner Brust, daneben ihre Hand.

Meine Finger spielen mit ihren Haaren.

Früher hätte ich nicht gedacht, einmal mit einem Mädchen einfach dazuliegen und sie wirklich zu mögen. Ich dachte, es würde immer nur oberflächlich sein.

Ich gebe zu, Sakura ist nicht die beste Wahl; sie ist nicht die Hübscheste, sie hat viele Macken, sie kennt meine Schwächen – aber für mich ist sie perfekt.

Ich kann mir vorstellen, mein ganzes Leben mit ihr zu verbringen.

Es ist komisch.

Dann kommt mir ein anderer Gedanke: Ich bin bereit, für sie zurück zu gehen. Ich bin bereit, für sie das Blut von Mum aus dem Teppich zu waschen. Ich bin bereit, ihr ein Leben zu bieten, dass sie wirklich verdient.

Verdammt, ich würde alles tun.

Und mir wird klar, dass ich Sakura wahrscheinlich mehr brauche, als sie mich.
 


 

Mai 2009
 

Es ist jetzt ein Jahr her.

Ich habe viel nachgedacht. Sakura macht sich Sorgen deswegen, denkt wohl, ich will verschwinden. Sie hat auch recht, nur wird sie mitkommen.

Manchmal fragt sie mich, ob sie etwas falsch macht, ob sie mich verscheucht. Ich schüttle dann immer nur den Kopf, hoffe sie versteht.

Manchmal sagt sie aber auch einfach, ich wär der wichtigste Mensch für sie. Es kommt aufs Gleiche hinaus – ihre Angst mich zu verlieren.

Sie weiß nicht, wie groß meine Angst ist, sie zu verlieren.
 


 

23. Juli 2009
 

Wir hatten Sex.

Es war das beste Gefühl seit langem – ich weiß nicht genau, ob es das Beste meines Lebens war. Sie ist wunderschöner als ich dachte. Sie wird es wohl immer sein.

Ich sage ihr oft, bald wird alles besser. Wahrscheinlich glaubt sie mir nicht.
 

Heute ist der 23. Juli. Mein Geburtstag.

Heute bin ich ein Stück weit reich.

Ich stehe auf und verstecke Sakuras nackte Haut unter den Decken. Wecken tue ich sie nicht. Es soll eine Überraschung werden.

Ich schleiche raus. Wahrscheinlich bin ich zu spät. Es ist egal, Kakashi Hatake wird warten. Er ist der Anwalt meiner Eltern gewesen, eigentlich der ganzen Familie. Er verwaltet mein Erbe, bis ich einundzwanzig bin und ab achtzehn lässt er mich über geringe Summen selbst verfügen.

Besser so, sage ich mir immer wieder. Ich muss ihm nicht sagen, was ich damit mache – jetzt nicht mehr. Heute ist mein Geburtstag.

Seine Nummer steht in jedem Telefonbuch der Stadt. Das Gespräch war kurz, aber seine Termine hat er schnell verschoben.
 

Ich sehe ihn, bevor er mich sieht. Er trägt einen schwarzen Anzug, eine blaue Krawatte und Hochglanzschuhe. Fast muss ich lachen: Er sieht aus, wie er immer schon aussah, aber heute hätte ich ihn als Arschkriecher bezeichnet – einen Mann, der nicht weiß, was wichtig ist, der nicht weiß, was Hunger bedeutet.

Er bemerkt mich erst, als ich fast direkt vor ihm stehe. Es ist klar. Ich sehe auch aus wie ein Penner.

»Mr. Uchiha.« Er sieht geschockt aus, seine Stimme nur ein Windstoß.

»Sasuke reicht.«

»Du hast dich verändert.«

Natürlich habe ich das, will ich ihm fast schon entgegen schreien. Ich lasse es. Er seufzt.

»Wo warst du das letzte Jahr? Die ganze Welt sucht dich.«

»Sie haben meine Leiche gesucht.«

»Das ist nicht wahr.«

Auch wenn er es so sagt, er weiß, dass ich richtig liege. Mit meiner Leiche würde das Erbe verfallen. Dann ginge meine Hälfte an Itachi. Mit seinem Verzicht ginge alles an die Stadt und die wissen, wie man sowas anstellt.

»Ich bin wegen dem Erbe hier.«

»Du siehst aus, als könntest du es auch dringend gebrauchen.« Er macht eine kurze Pause, denkt nach und streicht sich durch die Haare. Sie sind grauer geworden, seit dem letzten Mal. »Du hättest mich auch früher fragen können. Du weißt genau, dass ich dir genug überlassen hätte.«

»Ich brauchte die Zeit.« Ich will mich nicht rechtfertigen.

Er schweigt einen Moment. »Du kehrst also zurück unter die Lebenden?«

Ich sehe ihn an. Einen Augenblick ist es so, als würde sich in seinen Augen der ganze Luxus widerspiegeln, der mal so selbstverständlich war. Es ist fast verlockend.

»Nicht direkt. Ich will keine Aufmerksamkeit. Mir reicht eine Wohnung und genug Essen.«

Er muss lachen. Ich brauche vier Sekunden, bis ich verstehe, warum.

»Es sieht so aus, als wüsstest du, was wichtig ist im Leben. Du bist erwachsen.«

»Es hat sich viel getan.«

»Das sehe ich.« Seine Stimme senkt sich. In seinen Augen spiegelt sich sowas, wie väterlicher Stolz wieder. »Das sehe ich.«

Wir schweigen. Er vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und schaut mich an, dann in die Ferne.
 

»Sieh es so: Halte ein paar Wochen durch, dann werden sie dich bestimmt vergessen haben.«

Ich schüttle den Kopf. »Es geht weniger um mich.«

Er ist überrascht, das weiß ich, ohne hinzusehen. Wir stehen in einem öffentlichen Park im Armenviertel. Die Bänke hier sind heruntergekommen und das Grünzeug wurde schon länger nicht gepflegt.

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich hab ’ne Freundin.« Ich zögere. »Sie ist ziemlich ängstlich.«

»Ah.«

Er schweigt. Als Anwalt stand er unserer Familie nah. Er war schon immer sowas wie ein Onkel.

»Können Sie da was machen?«

»Ich kann die Namen von der Liste streichen lassen. Der Rest liegt bei dir.« Er geht ein paar Schritte an mir vorbei. Sein Blick liegt abschätzend auf den brüchigen Bauten. »Du brauchst eine Wohnung in einer anderen Gegend. Vorzugsweise keine Vorstadtgegend. Ihr müsst unauffällig bleiben. Vielleicht auch neue Namen-«

»Nein, keine neuen Namen.«

Er mustert mich. Ich weiß, er macht sich Sorgen. Er ist ein guter Kerl.

»Okay, lassen wir das mit den Namen.«

»Was noch?«

»Für den Moment dürfte das genügen. Trotzdem musst du noch eine Menge Papierkram hinter dich bringen. Alles Finanzielle habe ich für dich geregelt, aber da bleiben noch schulische Angelegenheiten und die Verwaltung der ganzen Immobilien und Wertgegenstände.«

»Sie haben die Immobilien nicht verkauft?«

Ich bin verwundert. Ich habe damit gerechnet, dass er alles zu Geld gemacht hat.

»Nein. Ich habe vorerst alles so gelassen. Euer Haus steht auch noch, ist aber noch versiegelt.«

Ich habe das Gefühl, dass meine Stimme versagt. »Warum das?«

»Zu viele Unklarheiten angeblich. Du bist verschwunden und Itachi ist tot.«

»Er ist tot?« Plötzlich ist etwas anders. Mir wird ganz schwindelig und fast muss ich kotzen. Ich muss mich setzten.

»Ich nahm an, du wüsstest es. Es kam in allen Medien.«

»Ich hatte nicht den Zugang.« Ich lache leise. Der Wahnsinn zerfrisst mich und ich kann nichts dagegen tun.

Irgendwo kommen Zweifel in mir auf. Bin ich denn wirklich schon bereit, zurückzugehen? Ich hab Sakura – meine hübsche, kleine, dürre, mutige, unschuldige Sakura.

Ich spüre, wie meine Wangen nass werden. Ich wimmere.
 

Irgendwann ist da eine Hand auf meinem Rücken.

Kakashi versucht sein Bestes. Er ist nicht so der Gefühlsmensch.

Es reicht nicht.
 


 

Ich sitze stundenlang auf der Materatze. Sakura ist nicht da. Vielleicht denkt sie, jetzt bin ich wirklich gegangen. Sie wird mich hassen.

Ich höre Schritte, dann die Tür.

Sakura schaut mich an, ihre Augen sind rot und ich weiß, sie versteht gar nichts.

Ich sage kein Wort.

Ich erinnere mich an Kakashi und was er mir erzählt hat. Dass Itachi tot ist, mein Bruder, der Mörder meiner Eltern.

Ich hasse mich dafür, ihm nachzutrauern. Er hat es nicht verdient. Es tut so verflucht weh.

»Sasuke«, flüstert sie leise. Ihre Augen sind nass. Sie zittert.

Ich schüttle nur den Kopf. Mir kommen wieder die Tränen. Die Trauer zerfrisst mich, darüber, dass meine Eltern tot sind, dass mein Bruder tot ist, dass ich einen Mörder betrauere, dass ich jetzt ganz alleine bin.

Ich bin einer der reichsten Männer dieser Stadt.

Meine Familie ist tot.

Ich will sterben.
 


 

Ich verliere kein Wort über mein Verschwinden. Tagelang nicht.

Sakura macht sich Sorgen.

»Komm her«, bitte ich sie.

Sie schleicht zu mir, schüchtern und ängstlich, als wäre das hier ein Abschied.

Sie setzt sich vor mich. Ich streiche ihr mir der Hand die Haare zur Seite. Sie sind länger als am Anfang. Meine Fingerkuppen streichen über ihre Wange. Ich erinnere mich daran, dass die Haut ihres Bauches noch weicher ist. »Keine Angst. Ich werde nicht gehen.«

Ihre Augen werden groß und nass. Vielleicht hört es sich für sie wie eine Lüge an.

»Ich will, dass du mir ein paar Fragen beantwortest. Sei ehrlich.«

Sie nickt still, sagt immer noch kein Wort.

»Willst du, dass ich bei dir bleibe?«

Sie nickt. Fast hat es etwas Verzweifeltes an sich.

»Willst du keine Angst mehr haben?«

Sie stockt – und nickt.

»Vertraust du mir?«

»Ja.«

Ich sehe sie an. Ich denke mir, sie versteht vielleicht, dass sich etwas verändert hat, etwas Grundlegendes.

»Ich habe dir etwas versprochen. Ich will dir ein zu Hause geben. Willst du mich begleiten? Es wird alles besser.«

Sie nickt. Sie weiß nicht, was sie erwartet, aber sie vertraut mir.

Der Rest ist egal.
 

Kakashi hat mir Geld mitgegeben, bevor er gegangen ist. Es ist mehr als ich brauche.

Ich sage Sakura, dass wir nicht zurückkommen werden, dass da, wo wir hingehen, alles ist, was wir brauchen.

Sie nimmt nichts mit. Ich auch nicht.

Ich bringe sie in ein kleines Hotel in der Nähe des Mississippi River. Sie steht verloren in dem geräumigen Zimmer, traut sich nicht, sich aufs Bett zu setzen oder etwas anzufassen.

Ich sage ihr, das ist der Anfang.

Sie wird sagen, das ist die erste Nacht seit fast vier Jahren in einem richtigen Bett.

Dann weint sie.
 

Jetzt wird alles besser.

Schattenwelt II

Cedar Rapids, Iowa

7. Dezember 2010
 

Draußen schneit es. Die Flocken verfangen sich in meinen Haaren und schmelzen so schnell, dass ich mir vorkomme, wie ein Brennofen.

Ich denke an das Haus und an den Kamin darin. Sakura hat nicht verstanden, warum wir einen – eigentlich sind es sogar zwei – brauchen. Immerhin gebe es doch Heizungen in jedem Zimmer.
 

Wir leben in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Sie liegt im ersten Stock und die Nachbarn stellen keine Fragen – niemand tut das.

Es ist nicht meine erste Wahl gewesen, aber es ist auch nur vorübergehend, bis das Haus fertig ist. Ich habe Sakura versprochen, ihr ein Traumhaus zu bauen – eine kleine Festung, die nur uns beiden gehört. Es liegt in Wisconsin. Ein purer Neuanfang. Dieses Mal aber richtig.
 

Sakura ist zu Hause. Sie mag es immer noch nicht, wenn ich sie alleine lasse. Das wird nie anders sein, denk ich.

Sie sagt, sie ist trotzdem glücklich.

Manchmal frage ich mich, ob sie es nur sagt, damit ich mir keine Gedanken mehr mache.
 

Ich betrete das Wohnhaus. Die Treppen strengen mich nicht an. Die Monate in Schutzlosigkeit haben mich abgehärtet.

Manchmal bin ich stolz, robuster geworden zu sein. Manchmal schäme ich mich fast.

Ich öffne die Tür mit dem Schlüssel. Da ist kein Duft von frischem Tee oder dem Abendessen – mich begrüßt die angenehme Wärme, die Sakura verbreitet. Es reicht mir. Mehr brauche ich nicht mehr.

»Bin wieder da«, murmle ich, weiß genau, dass sie darauf gewartet hat.

Sie steht am Fenster und beobachtet den Nachthimmel.

Ich stelle mich hinter sie, warte, bis sie sich zurücklehnt. »War viel los heute?«

»Nein.« Eine Lüge. Auf dem Schreibtisch hatten so viele Akten und Unterlagen gelegen, dass die Hälfte ungeöffnet geblieben war.

»Da ist ein Paket gekommen«, flüstert sie. »Von Kakashi.«

»Was war drin?«

»Ich hab nicht nachgesehen.« Das tut sie nie, aber dieses Mal kann ich es verstehen.

Ich wende mich zum Küchentisch – er ist so klein, dass er nur für zwei Personen reicht.
 

Das Paket hat etwa die Fläche eines Din A3 Blattes und ist nicht höher als dreißig Zentimeter. Darin befinden sich mehrere wirtschaftliche Zeitungsartikel, Ausschnitte aus der Boulevardpresse und vier dicke Akten, in denen sich die Kopien diverser Ermittlungen befinden – eine über den Mord an meinen Eltern, eine weitere über Itachis Todesumstände, eine über Sakura und die Letzte über mich.
 

Sakura und ich haben vor einigen Monaten beschlossen, alles zusammenfassen zu lassen, was uns angeht. Kakashi ist dabei eine große Hilfe gewesen. Einiges konnte nur per Gerichtsbeschluss freigegeben werden.

Danach, hat sie an dem Abend gesagt, danach verbrennen wir alles und sehen dabei zu. Dann ist es vorbei.

Sakura hat Angst vor diesem Augenblick. Ich auch.

Aber es wird Zeit, abzuschließen.
 

»Sasuke?«

»Hm?«

»Können wir das Wochenende hier bleiben? Wenn es auf der Baustelle Probleme gibt, werden sie anrufen.«

»Gut.«

Ich ziehe sie mit mir auf das kleine Sofa. Es ähnelt dem im Lagerhaus kein bisschen, aber einen Moment denke ich trotzdem an den Jungen, der gerannt ist, bis ihm die Muskeln brannten, und kurz spüre ich sogar noch den Schmerz von damals.
 

Sakura kuschelt sich an meine Seite, küsst meine Wange und liebt mich.

Seit langer Zeit fühle ich mich endlich angekommen.
 

Ende gut, alles gut, ja?

Vielleicht ein andermal...



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Kommentare zu dieser Fanfic (64)
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Von:  Hay_Lin88
2017-12-09T18:55:58+00:00 09.12.2017 19:55
Es ist schön umschrieben und ganz anders als erwartet. Ich hab eine fanfiction en von sakura und sasuke erwartet und gelesen habe erwas komplett neues. Es war mitreißend und sehr wortgewandt geschrieben.


Hut ab für dich mit einer tiefen Verbeugung.
Von:  -Louise
2015-01-01T17:11:02+00:00 01.01.2015 18:11
Dickes fettes Lob! Ich liebe deinen schreibstil da er mehr als nur fesselt. Die Geschichte ist einfach Der Hammer
Von: abgemeldet
2012-10-18T13:48:22+00:00 18.10.2012 15:48
Gar nicht schlecht. Hat mir echt sehr gefallen. ;)
Großes Lob an dich.
LG Liz
Von: abgemeldet
2011-09-03T17:58:41+00:00 03.09.2011 19:58
ein perfektes ende zu der story. alles andere, kitschiger oder so, wäre unpassend gewesen denk ich.
super ende zu super geshcichte :)
ddanke fürs teilen mit uns ;D
lg
lolli
Von:  UrrSharrador
2011-05-22T14:39:33+00:00 22.05.2011 16:39
Thus ends ...

War wirklich eine schöne FanFic und wie gesagt, mit einem Ende, das ich nicht erwartet hab :)

Mich hätte nur noch interessiert, wie Itachi gestorben ist ;)

Großes Lob an dich, endlich mal eine FF, die ich gern und bis zuende gelesen hab! ;)

lg
UrrSharrador
Von:  UrrSharrador
2011-05-22T14:31:30+00:00 22.05.2011 16:31
Interessant^^ Hätte echt nicht gedacht, dass sie irgendwie die Kurve kriegen. Ich hätte eher erwartet, dass sie auf der Straße bleiben, aber halt glücklich sind.
Dass Sasuke etwas erben könnte, darauf bin ich gar nicht gekommen^^
Zuerst hat mich das ein wenig verwirrt, weil er dann ja eigentlich nicht so arm ist und schon früher zu Kakashi hätte gehen können, aber er hat ja erst mit sich selbst ins Reine kommen müssen. Das macht es dann nachvollziehbar; er war eben bis jetzt noch nicht so weit.
Überhaupt find ichs gut, dass jemand von den Naruto-Charas auftaucht^^ kakashi mit Anzug und blauer Krawatte und Aktenkoffer kann ich mir bildlich vorstellen^^ Und natürlich mit seinem Mundtuch XD
Überhaupt hast du ihn gut getroffen, finde ich.
So, ich les mal schnell den Epilog ;)
Von:  The-Sunn
2011-05-21T22:14:47+00:00 22.05.2011 00:14
super Kapitel
Von:  ZitroneneisSaly
2011-05-20T18:20:09+00:00 20.05.2011 20:20
hey :)

das war echt eine klasse ff :)
gut geschrieben und mit nettem hintergrund.
Freue mich wenn ich wieder so etwas tolles von dir lesen darf

Lg
Saly
Von:  DarkBloodyKiss
2011-05-15T16:38:00+00:00 15.05.2011 18:38
Toller Epilog ^^

glg DarkBloodyKiss ^^
Von:  Suzame
2011-05-15T12:41:24+00:00 15.05.2011 14:41
Ein toller Epilog! Sehr gelungen :)
Danke für diese tolle Geschichte :)

Liebe grüße
Suzame


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