Zum Inhalt der Seite

Aër

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog

„Wie viel, Weib?“

„Kein Geld, Sir.“

„Brot?

„Einen Laib.“

„Billig… Wie deine Leistung?“

„Natürlich nicht, Sir.“

Die beiden düsteren Gestalten schlichen durch das Dunkel der Nacht von dannen. Ein säuselnder Wind trug die Glockenschläge der Kathedrale selbst in jene verwinkelten Gassen, in denen die grau gekleideten Unbekannten miteinander gesprochen hatten. Dong, Dong, siebenmal konnte man das dumpfe Geräusch zunächst zählen. In einem kleinen, alten Haus nur wenige Schritte weiter wurde von einer Frau eine Kerze entzündet. Die Glocken verstummten nun, es war zwölf Uhr, Mitternacht. Durch die Stille nach dem Kirchengeläut hörte man in dem Haus Stoff zerreißen, dem folgte ein leises Quietschen. Dieses wurde immer lauter und bald setzte das leise Wimmern einer Frau ein. Das Quietschen endete, und alsbald wurde die Tür geöffnet. Die größere der Gestalten entfernte sich nun rasch. Als sie auf die Hauptstrasse einbog konnte im schwachen Schein des Mondes flüchtig ihr Gesicht ausgemacht werden. Es war ein Mann, dessen Antlitz auf zirka 35 Lenze schließen ließ. Es sah sehr Ernst aus und die Augen glitzerten, nach Blut dürstend, als wäre er fest entschlossen dem nächsten der das Pech hatte ihm zu begegnen das Herz herauszureißen oder ihm die Haut vom lebendigen Körper abzuziehen. Sein Mund jedoch sah so aus, das man meinen könnte er sei überaus erleichtert und rundum zufrieden, es wirkte, als hätte er sich soeben einer schweren Last befreit, die er schon zu lange mit sich hatte herumschleppen müssen.

Der sanfte Wind strich über die Flamme und ließ sie flackern. Das Kerzenlicht rang um Luft und es war, als ob es versuchte durch tänzelnde Bewegungen der leichten Böe zu entgehen. Vom Bett her kam ein leises Weinen, die zweite Gestalt war eingeschlafen, einen großen Laib Brot mit beiden Händen umschlungen. Nach wenigen Minuten des Ringens verlor das wärmeausstrahlende Licht den Kampf gegen die Düsternis. Die Schwärze verhinderte, dass man die geisterähnliche Rauchfahne sah, die vom Docht empor fuhr wie die Seele aus einem ersterbenden Körper. Für einen Augenblick ließ ein glühen im Docht sogar noch den Gedanken aufkommen, er könnte sich wieder entzünden, das Feuer neu entfacht von demselben Wind, der es zuvor noch zu löschen drohte. Doch das Glühen verschwand, und mit ihm die Hoffnung.

Dong! Der Schall der gewaltigen Glocken wanderte durch jede Gasse und drang in jeden Winkel der Stadt ein, nichts ungewöhnliches für ihre Bewohner, doch diesmal war der Klang der Glocken ein Anderer, obwohl es der selbe war; Er war leise und doch kaum zu überhören, dumpf, doch so schrill das es in den Ohren hätte schmerzen müssen; Es war das Geläut einer Hochzeit zugleich mit dem eines Begräbnisses, doch: Keiner schien es zu merken! Nur ein Säugling erwachte in einer kleinen Behausung und begann, seiner Mutter gleich, zu Weinen. Die Mutter erhob sich von ihrem Schlafgemach um zärtlich schützend die Arme um ihr Kind zu legen und beendete ihr Weinen. Sie machte ihre Brust frei und begann mit einem leisen, traurigen Gesang das Baby zu stillen.
 

„Die Sonne versinkt am Horizont, der Mond erhebt sich an ihrer statt,

Und mit dem Licht des Mondes fällt auch der Schlaf über die Stadt.

Er bleibt, und lässt sich nicht vertreiben,

Nur die Sonne vermag zu vermeiden

Dass die Stadt für immer im Schlafe verweilt,

Kein Vieh mehr schreit, keine Wunde verheilt,

Kein Arbeiter seinen Lohn erwirbt,

Und keiner mehr lebt, da keiner stirbt.

Doch sollte die Sonne einst nicht wiederkehren,

Wird sich das Dunkel in der Welt vermehren,

Der Schlaf wird kommen, für immer bleiben,

Bis das Sonnenkind ihn wird vertreiben.“

Einige Monate nach diesen Ereignissen wurde mitten in der Nacht die Tür zu jener Behausung in der sie Stattgefunden hatten von einigen Männern in braunen Kutten aufgebrochen. Im selben Moment begann ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter lauthals zu schreien. Die Eindringlinge hatten die Frau schnell umringt, so dass an Flucht nicht einmal mehr zu denken war. Ihr verzweifelter Blick strich von Einem zum Anderem, doch die Gesichter der Männer waren alle hinter grotesken, weinroten Masken verborgen, und unmöglich zu identifizieren.

„Was… Was wollt ihr?“

Die Stimme der Frau war zittrig und von Angst erfüllt, doch schienen die Maskierten es nicht zu hören.

„Seid ihr… von der Sekte? Himmel, Nein!

In ihrer Erkenntnis schrie sie laut auf, dennoch wurde ihr Schrei von den einsetzenden Gongs der Kathedrale überdeckt und verschlungen. Dem Wahnsinn nahe stand die Frau da, ihr Kind so fest umschlungen das sie ihm fast die Luft raubte, und schrie wie eine Verrückte.

„Weib! Her mit dem Kleinen!“

Durch eine plötzlich erschienene Schneise in den Reihen der Maskierten schritt rasch und stolz der scheinbare Anführer der Gruppe, in güldener Maske und schimmernder Kleidung in leichten Pastelltönen von grün und violett.

„Her mit dem Balg!“ wiederholte er mit scharfer Zunge, nachdem er vor der Frau zu stehen kam. Als diese noch immer keine Anstalten machte ihm das Kind zu übergeben rastete er aus, er riss sich die Maske vom Kopf, unter der ein völlig verblichenes, weißes Antlitz zum Vorschein kam. Jedoch nur ein halbes, denn anstatt des rechten Auges und der Nase klaffte ein schwarzes Loch, in dem man mit Mühe sogar das Gehirn ausmachen konnte. Er zog sein leichtes Kurzschwert und schlug zu, sein Hieb kam nur ein bis zwei Finger breit Oberhalb des Kopfes der jungen Mutter zum Stillstand.

„Gib… mir… das… K I N D !“

Er war außer sich vor Zorn, doch die Frau, die sich aus lauter Angst nicht mehr rühren konnte, während sich unter ihren Füßen eine Lache bildete, schüttelte nur leicht den Kopf. Da begann ihr zweites Kind zu flennen. Ihr Gegenüber nutzte den darauf folgenden Moment ihrer Unachtsamkeit aus, um blitzschnell sein Schwert zu drehen und mit der Breitseite zuzuschlagen – die Frau kippte sogleich nach hinten.

Als sie morgens in ihrer Schlafstelle aufwachte war sie erleichtert, sie hatte wohl nur wieder einmal denselben Traum geträumt, der ihr schon seit der Geburt ihres Sohnes den Schlaf raubte. Sie ging zum Bettchen ihres Sohnes um sich durch seinen Anblick selbst von seiner Anwesenheit zu überzeugen.

In dem Moment merkte sie: Es war kein Traum! Ihr Sohn war weg. Fort! Futsch! Dahin! Auf und davon – Nein, so konnte sie die gesamte Tragweite nicht erfassen, denn so war es noch nicht so schlimm, aber er war nicht mehr da! Und dieses nicht mehr da sein war Schlimm, nicht das fort sein. Sie fiel in Ohnmacht.

Im Untergrund

Unruhe brach zwischen den Reihen der Männer aus. Der Hohepriester, wie immer in der violett-grünlich schimmernden Kutte gekleidet und hinter seiner güldenen Maske versteckt, segnete die völlig entblößte, an einem Podest angekettete Jungfrau mit einer schwarzen, stinkenden Flüssigkeit, während eine Schar Pastoren einen gregorianischen Choral zum Besten gaben, der durch das Echo das die kalten Steinmauern der verwinkelten Katakombengänge zurückwarfen vielfach verstärkt wurde, so dass es sich ganz so anhörte als sei die ganze Stadt in dieser Nacht im Untergrund versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen.

Drei Gestalten schritten nun im Rhythmus der feierlichen Musik langsam auf den Hohepriester zu, jeder von einem anderen der drei Haupteingänge des düsteren Grabraums. Alle Drei hatten gelblichgrüne, giftig aussehende Kutten an, deren Kapuzen einen Grossteil der Gesichter in Schatten hüllten. Doch die Münder aller Drei waren sichtbar, und wenn man genauer hinsah konnte man erkennen, das die Lippen fest zusammengepresst waren, ein Indiz, das deutlich die Angespanntheit der Einzelnen zeigte, die durch einen ruhigen, langsamen Gang zu verbergen versucht wurde. Jeder der Drei trug auf einem mit beiden Händen fest umschlossenen tiefschwarzem Samtkissen je einen zeremoniellen Gegenstand vor sich her, die alle nacheinander von dem Hohepriester angenommen wurden.

Zunächst nahm er einen Dolch mit einem weißen Griff, wahrscheinlich Elfenbein, und einer schwarzen Klinge, in der goldbemalte Schriftzeichen eingraviert waren. Am Griffende war ein blauer Edelstein eingelassen, ob es ein Saphir oder etwas anderes, vielleicht sogar ein so seltener blauer Diamant war, das vermochte man im schwächlichen Licht der entweihten Krypta nicht wahrzunehmen. Der dunkle Kleriker hob die Waffe zunächst in die Höhe, drehte sich einige Male um die eigene Achse, so dass ihn alle sehen konnten, und sprach laut und deutlich eine Beschwörungsformel aus, bevor er seinen Arm wieder senkte. Anschließend setzte er ihn auf der rechten Brust der ängstlich schauenden Frau an, die jedoch nichts dagegen unternahm, da sie wusste sie würde nicht fliehen können. Langsam fuhr die scharfe Klinge über den vor Schweiß nassen, wohl geformten Körper, gerade so tief das das Blut hervorquellen konnte, ohne dass es zu bleibenden Narben führen würde. Der erste Schnitt führte von der rechten Brust quer über den Körper zur linken Seite wo er auf Höhe des Bauchnabels endete. Dabei verfehlte er die Brustwarze nur um einen Fingerbreit. Der zweite Schnitt steuerte vom Knöchel des rechten Fußes aus die rechte Kniebeuge an, die blutige Linie, die etwas tiefer war, klaffte am linken Oberschenkel, und zuletzt noch ein Schnitt, der, nachdem einige der Wächter die Maid umgedreht hatten, über den Rücken die Wirbelsäule entlang bis zwischen die Beine führte. Anschließend wurde das zerschundene Mädchen dazu gezwungen, ihr eigenes Blut vom Messer abzulecken. Sie tat es widerstandslos.

Das zweite Kissen trug einen Krug gefüllt mit einer rötlichschwarzen Salbe. Auch Dieser wurde den Männern dem Dolche gleich gezeigt und durch einen ähnlichen Spruch gesegnet. Dann begann der Priester die Vertreterin des schönen Geschlechtes damit einzureiben, wobei sich das Mittelchen mit dem Blut vermischte. Es brannte offenbar fürchterlich, denn die Frau schrie laut auf als es die Wunden berührte, doch sehr schnell wurde sie durch einige Hiebe wieder zum Schweigen gebracht. Von Kopf bis Fuß wurde sie gesalbt, auch das lange, pechschwarze Haar, das daraufhin verklebte. Die letzten Reste der Substanz musste sie sich wiederum einverleiben.

Der dritte Gegenstand, der dem Hohepriester dargebracht wurde, sorgte für Geraune unter denen, die der Zeremonie beiwohnten. Es handelte sich um eine etwa ein dutzend Finger lange und drei Finger breite Röhre aus Glas, deren eines Ende spitz in ein Metallröhrchen das nicht breiter war als ein Haar überlief, während das andere Ende durch einen verschiebbaren Metallzylinder abgeschlossen wurde. In dem Glasrohr befand sich eine gelblich-durchsichtige Flüssigkeit, die jedoch wiedererwarten nicht durch die Metallspitze heraus rann, obwohl diese ja ein Loch hatte. Der Hohepriester nahm den seltsamen zylindrischen Gegenstand und stach mit dem spitzen Teil in den Hals der Jungfer, während er mit der freien Hand die Metallhälfte tiefer in die Röhre schob, so dass die Flüssigkeit in die Halsschlagader der Frau gepumpt wurde. Als der Gottlose den Gegenstand wieder aus ihrem Blutgefäß herauszog hielt er bereits einen weißen Stofffetzen bereit, den er ihr zur Blutstillung über das Einstichloch band.

Es war wieder einer dieser Momente, die in ihrem Lärm verblassten und ganz still wurden, als würde alles in einen tiefen Schlaf verfallen. Die Überbringer der Zeremonieinstrumente drehten sich nun um und schritten, immer noch vom gregorianischen Choral begleitet, wieder auf die langen Gänge zu, durch die sie gekommen waren. Nur derjenige, der die Salbe überbracht hatte, sah noch einmal kurz zurück zu dem jungen Mädchen, das mit Tränenerfüllten Augen direkt in dessen Richtung blickte. Sie versuchte den dunklen Fleck unter der Kapuze zu durchbrechen, doch war es viel zu finster. In diesem Moment begann sich die Decke zu bewegen, und im nächsten Augenblick fielen schwarze Klumpen von oben herab. Doch es waren keine Gesteinsbrocken, sondern eine Unzahl an Fledermäusen, die kreuz und quer durch den Raum schwirrten. Eines der Tiere flatterte so dicht über die giftgelbe Kapuze der nun sichtbar erschrockenen Gestalt hinweg, dass diese nach hinten rutschte und ein Gesicht freigab, das Gesicht eines Jungens, kaum älter als 13 Jahre, doch mit der Mimik eines alten, erfahrenen Magiers. Besonders markant war eine Narbe direkt unter dem linken Auge, die die Form einer kleinen Träne hatte.

Doch zu schnell zog er die Kapuze wieder hoch, als dass man mehr hätte ausmachen können, und so schnell wie er gekommen war war der Schwarm der geflügelten Tiere auch wieder durch alle Gänge entwichen, so wie der Junge, der sich umgedreht hatte und ebenfalls verschwunden war. Der Fledermausschwarm unterbrach die Feier nur kurz, und noch von weitem konnte man die Stimmen der singenden Pastoren und die beschwörenden Worte des Hohenpriesters hören, manchmal auch die Schreie einer jungen Frau.
 

Die Zeremonie war immer noch in vollem Gange. Der Junge mit der Narbe hatte sich umgezogen und trug nun seine alte braune Kutte, abgewetzt und durchlöchert, die wohl schon seit Jahren von Hand zu Hand weitergereicht und getragen wurde. Müde setzte er sich in den Strohhaufen, der ihm schon seit jeher als Schlafstätte diente. Er war in dem ihm zugesprochenen Raum, einer kleinen Kammer an einem Seitengang gelegen, in der gerade so viel Platz vorhanden war um, den Umständen entsprechend, bequem schlafen zu können. Tür gab es keine, doch wäre diese ohnehin nutzlos, denn hier unten konnte man alles hören- und doch nichts, wenn man nicht aufpasste, denn die Stimmen wurden an allen Ecken und Enden reflektiert, so dass jedes Wort in jedem der verschlungenen Gänge des unterirdischen Labyrinths gehört werden konnte.

„Na ihr Ratten?“, Begann der Junge, “Gibt’s was Neues das ihr mir erzählen könnt?“ Für einen Moment rührte er sich nicht als würde er ernsthaft eine Antwort erwarten. Dann beugte er sich leicht zu ihnen vor und setzte leiser fort: „Hätte mich auch gewundert, wenn ihr einmal etwas Neues wissen würdet.“ Der Bursche drehte sein rechtes Ohr in Richtung Ratten und lauschte ihnen. „Wie mein Tag war? Nun, ich bin froh dass ich’s hinter mir habe, ihr wisst ja, für mich war es die erste Zeremonie dieser Art heute, und da war ich schon etwas angespannt… Aber ansonsten gibt es nicht viel zu erzählen. Wie? Vor euch kann man aber auch nichts verbergen, ja, es war noch was. Dieses Mädchen das in zwei Tagen geopfert werden soll... Ich weiß nicht, irgendwie hab ich das Gefühl das das nicht richtig ist. Ja, natürlich weiß ich was sie sagen aber ich… Ich möchte nicht dass sie stirbt! Und sie will es sicherlich auch nicht… Ich weiß nicht… Was ratet ihr mir?“ Der Junge starrte wie gebannt auf die zwei fetten Ratten, die vor seinen Füssen nach Futter suchten, doch außer ein paar Quiekern wollten und wollten sie nichts antworten.

„Na klar, sonst plappert ihr immer wie ein Wasserfall, aber kaum stellt man euch eine ernste Frage stellt ihr euch dumm! Pah, ihr seid echt zu nichts zu gebrauchen, aber ich weiß auch so was ich tun werde, ohne euere Hilfe! Ach, auf einmal seid ihr wieder ganz lieb und wollt wissen was ich zu tun gedenke? Das ist mal wieder so typisch! Aber ich will mal nicht so sein: Ich werde zu ihr gehen. Ich werde zu ihr gehen sobald die Festlichkeiten vorbei sind, und dann werde ich mit ihr reden. Verrät das aber keinem, verstanden? Sonst sag ich euch nie wieder etwas, und wenn ihr noch so bettelt!“ Die Ratten verschwanden durch ihre Schlupflöcher und ließen ihn allein zurück, woraufhin er sich hinlegte. Dabei fiel sein Blick auf eine Raupe im Stroh mit der er sogleich ein Gespräch begann, über dass er einschlief.

Währenddessen wurde die Jungfrau weiter zur Belustigung der Zuschauer gequält, indem der dunkle Kleriker ihr eine glühende Fackel gegen Bauch und Brust rammte während sie sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib schrie.

»Warum Quält ihr mich so sehr? Nun macht schon, bringt’s endlich hinter euch! Ahh… diese Schmerzen. Warum tut ihr das bloß? Am Ende tötet ihr mich ja doch. Ohh… Sollte ich lebend hier rauskommen greif ich nie wieder eine Fackel an! Bastarde! Uhh… Ich halte das einfach nicht mehr aus!«

Sie fiel in ein komplett traumloses Koma, und im selben Moment in dem ihr Folterknecht dies bemerkte gab er Befehl die Fesseln zu verstärken. Einige der Kuttenträger, die zuvor bewegungslos im Raum standen und eine Art Wache bildeten, traten näher an den Altar heran, jeder den Strick, der dazu gedacht war die Kleidung zu halten, in den Händen. Sie begannen die Seile um die Gelenke des Mädchens zu binden, während der Hohepriester den Raum verließ, woraufhin auch all die Schaulustigen durch die vielen Gänge in die verschiedensten Richtungen davon strömten. Bald darauf waren nur mehr Fetzen entfernter Gespräche zu vernehmen, und die Geräusche der Nacht, die sich von der Oberfläche ihren Weg durch den Pflasterstein bahnten.

„Wach auf.“

Sanft wurde an ihrer Schulter gerüttelt.

„Wach auf, ich möchte mit dir sprechen.“

Benommen öffnete sie halb ihre Augen, sah zunächst allerdings nur verschwommene bräunliche Schemen. „Bin ich… bin ich tot?“ fragte sie ängstlich, und eine ruhige, sanfte Stimme antwortete: „Nein. Nein du bist nicht tot. Bestimmt nicht.“ Ihre Augen weiteten sich, als ob sie jeden Moment in Freudentränen ausbrechen würde, und ihre Lippen formten deutlich ein erleichtertes Lächeln. „Dann… war das alles nur ein Traum? Ein Alptraum?“ fragte sie in einem ungläubigen Ton, und schon im nächsten Moment begannen die Worte aus ihr herauszusprudeln wie das Wasser aus einem gebrochenen Damm, unaufhaltsam. „Oh Gott, es war so schrecklich… Ich war nackt und… und angekettet und… und überall Männer und… und man hat mich eingeschmiert mit irgendeinem Zeugs, von Kopf bis Fuß!“ Sie hielt inne als sie die Schmerzen, die nun zurück kehrten zu spüren begann und sie wieder klarer sehen konnte. Sie blickte in ein von Mitleid getränktes Gesicht das zu einem zirka 13 Jahre alten Jungen gehörte. Unter seinem linken Auge befand sich eine tränenförmige Narbe.

„Es war kein Traum, nicht wahr?“

Man konnte deutlich die Verzweiflung in den verhältnismäßig ruhig gesprochenen Worten erkennen. Sie versuchte kurz aufzustehen, musste aber feststellen dass sie zu fest angebunden war um auch nur den Kopf hoch zu bekommen. Voller Furcht vor dem Anblick, der sie erwarten würde senkte sie die Augen um ihrem Leib entlang zu sehen. Der Junge schüttelte leicht den Kopf mit den Worten „Nein war es nicht.“, während er ihrem Blick über den zerschundenen Körper folgte. „Bist du gekommen um mich weiter zu quälen?“ Sie begann bei dem Anblick der Wunden, die als Andenken an die Grausamkeiten des Hohepriesters geblieben waren bitterlich zu weinen. „Nein. Ich bin nicht hier um dir wehzutun. Ich möchte dir nur helfen und mit dir reden.“

Sie weint immer noch, hatte sich aber so weit zusammen das sie ihm eine zittrige Antwort geben konnte. „Wenn du mir helfen willst dann binde mich hier los.“ Sie blickte ihn mit einem Ausdruck völliger Hilflosigkeit an, er jedoch setzte sich neben sie auf den Altar. Bedauernd begann er: „Ich darf nicht. Das verbietet mir der Orden. Ich habe mich bereits über die Regeln hinweggesetzt indem ich überhaupt hergekommen bin.“ Nach einem kurzem, kaum hörbaren Seufzer fuhr er fort: „Ich muss erst mit dir reden damit ich mir im klaren darüber werden kann was zu tun ist.“

„Ich liege hier nackt und gefesselt auf einem Altar, auf dem ich bald sterben werde und du möchtest reden?“ Während sie sprach wurde sie immer schneller und zorniger. „Hörst du mir zu? Kannst du dir überhaupt vorstellen wie man sich in so einer Situation vorkommt? Geschunden und Gedemütigt, wie ich bin?“ Sie brüllte ihn an wie eine Furie, alle Hilflosigkeit war aus ihrem Ausdruck entschwunden. Dafür aber begann sie sich in ihm breit zu machen. „Nein, ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung! Woher sollte ich das auch wissen?“ Sie zögerte kurz, denn sie hatte nicht mit solch einem Gefühlsausbruch gerechnet. Dann aber murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihm: „Ja, woher auch…“

Eine Ratte huschte mit einem alten Apfelstück im Maul über den Boden quer durch den Raum, wurde jedoch an der Mauer von einem Artgenossen aufgehalten. Ein heftiger Kampf um die kostbare Nahrung entbrannte, in dem bald noch weitere Nager verwickelt wurden. Schließlich konnte eine besonders große Ratte das verfaulte Obst für sich gewinnen, mit dem sie sogleich davonzulaufen versuchte. Doch sie war nicht schnell genug, denn dasjenige Tier, das den Apfel zuerst besaß, holte sie ein, schnappte ihr den Leckerbissen aus dem Maul und schlüpfte durch ein Loch in den Boden. Ein Schub hungriger Fellknäuel folgte.

„Warum tut ihr mir das an?“

Sie erhoffte sich nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage, aber das Schweigen war ihr unerträglich geworden. Nachdenklich blickte er an die Decke, als ob er dort die Antwort finden könnte. „Ich weiß es nicht sicher…“, begann er nach kurzem überlegen. „Das Ziel unserer Gemeinschaft ist es, den perfekten Menschen zu schaffen. Ich denke, du sollst als Opfer für einen der Götter dienen. Sæpatus vielleicht, oder auch Lætiata, unserer Fruchtbarkeitsgöttin.“ Er senkte seinen Blick nun wieder. „Deshalb darf ich dich auch nicht befreien. Du bist wichtig für unser Vorhaben. Vielleicht bist gerade du das Opfer, das über Erfolg oder Niederlage entscheidet, verstehst du?“ Ein fragender Blick durchbohrte sie, ohne das er es zu merken schien. „Den perfekten Menschen? Das sind doch nur Wunschträume! Der Mensch ist nicht perfekt. Wäre ein Mensch perfekt, dann wäre es kein Mensch, sondern ein… ein…“ „Ein höheres Wesen?“ schlug der Junge vor, und sie erwiderte: „Ein höheres Wesen, ja. Ein Gott!“

Er stand auf und ging strebsam im Raum auf und ab während er laut seine Meinung kundtat. „Und warum sollte die Welt von morgen nicht von Göttern bewohnt werden? Was spricht dagegen? Alles entwickelt sich. Sieh dich doch um! Merkst du nicht wie sich alles verändert? Wie sah die Stadt vor fünf Jahren aus? Sicher nicht so wie heute. Sie verändert sich! Alles verändert sich! Und dank uns wird sich auch der Mensch verändern!“

Er beendete seinen Vortrag als er merkte, wie wenig sie sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, dafür geopfert zu werden. „Willst du nicht an diesem großartigen Projekt mitwirken? Willst nicht auch du die Welt von morgen mitgestalten?“, fragte er, nachdem er sich wieder auf dem kalten Steinsockel Platz genommen hatte, mit einer nie zuvor da gewesenen Begeisterung.

„Nein! Ich will nicht sterben! Macht doch euren Supermenschen wenn ihr wollt aber lasst mich da raus! Ich will nicht sterben, für gar nichts, ich kann auch gut als Mensch leben und brauche kein Gott zu sein! Ich werde mich für gar nichts opfern lassen, weder für euch noch für die Welt noch für die Götter! Ich will… ich muss leben, denn das Leben… mein Leben ist zu wertvoll, um es für irgendetwas herzugeben, denn es gibt nichts wertvolleres!“ Kühl und abweisend hakte er nach: „Bist du davon wirklich überzeugt? Unabbringbar?“, und eben so kühl kam die Antwort: „Ja das bin ich! Für nichts werde ich jemals mein Leben lassen.“

In der linken Hand des Jungen blinkte ein Dolch auf, den er in einer Falte seines Gewandes versteckt hatte und nun drohen hochhielt, den Arm angespannt und bereit, jederzeit zuzustechen. Das Mädchen schloss die Augen und betete in Gedanken bereits ihr letztes Gebet, den Körper vor Angst angespannt und steif wie ein Brett. Die Klinge blitzte noch ein letztes Mal auf, bevor sie mit gewaltiger Kraft niederfuhr. Man hörte wie das Messer etwas durchtrennte. Gleich darauf fuhr der Dolch ein zweites Mal hinab und durchtrennte wieder etwas, diesmal ließ der Klang keinen Zweifel zu: Es musste sich um etwas Faseriges gehandelt haben. Noch zweimal glitt die scharfe Klinge durch die Fasern, dann erhob sich der Junge und drehte sich von ihrem bewegungslosen Körper weg. Er begann zu weinen, wie er es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Sie wagte nicht die Augen zu öffnen. Schützend legte sie ihre Arme über den Kopf, einen Hieb erwartend. Doch er kam nicht. Sie öffnete die Augen und blickte sich verwundert um. Immer noch lag sie auf einer steinernen Erhebung im inneren einer Gruft. Erst nach Sekunden bemerkte sie, dass sich ihre Fesseln gelöst hatten. Sie stand auf und stellte sich hinter den weinenden Jungen, der sich inzwischen niedergekniet hatte. Immer noch nicht ganz verstehend, jedoch zutiefst Erleichtert fragte sie: „Warum weinst du?“, doch sie bekam zunächst keine Antwort. Erst als sie sich wiederholte wimmerte er leise: „Bitte, geh jetzt. Du willst doch unbedingt leben also geh und lebe. Ich werde hier meine Strafe erwarten…“ Sie kniete sich zu ihm hinab, doch im selben Moment stand er auf und trat einen Schritt zur Seite. „Welche Strafe erwartet dich, weil du mich befreit hast?“ Er weinte nur noch mehr, und von einem Tränenstrom wurden alle seine weiteren Worte hervorgeschwemmt: „Die Verbannung… das Exil!“ „Wohin wirst du verbannt? In welches Exil?“ Man konnte an der Stimme deutlich erkennen dass sie sich Sorgen um ihn machte. „Das Exil von dieser Welt!“ Er brach zusammen und wandelte sich in ein Häuflein Elend. Das Exil von dieser Welt. Sie wusste um die Bedeutung dieser Worte, und ihr wurde nun auch klar, wie dumm sie doch war. Für nichts wollte sie ihr Leben geben. Auch nicht für ihre Freunde? Dieser Junge hatte es eben getan, trotz seiner Überzeugung hatte er sein Leben gegeben, um das ihre zu retten. „Es tut mir leid…“, begann sie, wusste aber nicht weiter. Statt weiterzureden packte sie ihn deshalb an beiden Schultern und drehte ihn zu sich um. Sie blickte nun direkt in seine nassen Augen. „Bitte… vergib mir...“ sprach sie noch aus, alles Weitere bedeutete sie nur noch durch Mimik und Gestik. Sie nahm seine Hände in die ihren und hielt sie ganz fest. Während er noch nicht wusste wie ihm geschah, legte sie seine Hände auf ihre Brust und drückte ihn liebevoll an sich.
 

Zur selben Zeit legte ein alter Chinese die Steine seiner zwei Ch’i Ch’ae pans, von denen eines aus Jade, das andere aus Elfenbein bestand, voller Konzentration so zusammen, dass sie Figuren ergaben. Es war die eigene Art des Asiaten, mit ihnen Vorhersagungen zu treffen. Zunächst bildete er einen Jungen Mann aus Elfenbein, der einer Jadefrau den Hof machte, indem er sich verneigte und ein Präsent in den Händen hielt. Sobald der Alte die Formen gesehen hatte, verwischte er die Steine auch schon wieder und machte sich daran, die nächsten Figuren zu legen. Er kannte tausende Bilder, die sich mit den Ch'i Ch'ae pans legen ließen, und anders als viele andere Meister auf diesem Gebiet legte er mit Mehreren zugleich. Die nächsten Figuren wurden langsam erkennbar, sie zeigten, dass die Person aus Jade auf dem Rücken lag, die Beine abgewinkelt, währen der Elfenbeinerne über ihr auf den Bauch lag. Ein leichtes Grinsen flog über das verrunzelte Gesicht des Chinesen, als er die Bedeutung erkannte. Er zerlegte die Figuren wieder und baute einen geflügelten Mann aus einem Gemisch beider Ch'i Ch'ae pans, wobei er jedoch rasch feststellte das eines der Spiele genügt hätte. Abwesend nahm er eine ältere Version aus ton, mit der er jemanden legte, der sich vor dem Geflügelten verbeugte. Und er nahm noch eines der Tongefertigten Spiele und wieder verbeugte sich die daraus entstandene Figur vor dem Mann mit Flügeln. Immer wieder nahm er eines seiner unzähligen Spiele und immer wieder war es dieselbe, gebückte Figur, solange bis er nichts mehr hatte, mit dem er legen hätte können. Er hetzte aus seiner Hütte in des grelle Licht der Nachmittagssonne und sprang zur Abkühlung in den Fluss der davor verlief, denn dieses Mal hatte ihn die Kraft des Ch'i Ch'ae pan überfordert.

„Wie lautet dein Name?“ fragte das Mädchen, deren Herz immer noch raste, den nun nackten Jungen, der, seine Kutte unter dem Arm tragend gerade darauf bedacht war unauffällig in seine Kammer zurückzukehren. Er drehte sich jedoch noch einmal um. „Ich hab keinen richtigen Namen, man nannte mich bisher immer nur Aër.“ Während er sich umdrehte und durch die Gänge davonhuschte rief sie ihm noch nach: „Rina. Ich bin Rina.“ Erst danach merkte sie, dass sie nicht wusste wie sie aus dem Gewölbe kommt. Kurzerhand betrat sie den ihr am nächsten liegenden Gang und lief über den kalten Stein, doch sie kam nicht weit. Ein Maskierter stellte sich ihr in den Weg und schlug auf ihren erschöpften Körper ein.

Sie wachte gefesselt auf dem Altar auf, der Hohepriester stand direkt vor ihr. Doch er machte keine Anstalten ihr auch nur ein Härchen zu krümmen, geschweige denn sie einem Gott zu opfern. Rina merkte jedoch schnell warum: In dem Raum war ein gigantisches Gerät aufgebaut, an dessen Vorderseite eine Scheibe angebracht war, auf deren Rand in gleich bleibendem Abstand Schriftzeichen angebracht waren. Sie konnte zwar nicht lesen, dennoch erkannte Rina das es sich um dieselben Zeichen handelte, die auch auf einer Sonnenuhr abgebildet waren. Also musste es eine Uhr sein, jedoch wie sollte sie ohne Sonne funktionieren? Doch da bewegte sich das Metallstäbchen, das sie für den Schattenwerfenden Zeiger hielt, und ihr wurde klar, dass sie erst dann geopfert werden würde wenn dieses Metallteil auf das Zeichen zeigte, das Mittag und Mitternacht markierte, ganz nach oben. Und das würde sehr bald sein. Doch, anders als sie gedacht hätte, begann der Kleriker schon viel früher mit den Feierlichkeiten, als der Zeiger nämlich erst genau zwischen den Zeichen stand. Er sprach zunächst ein Gebet und begann dann damit, seine Kutte abzustreifen. Rina schrie, doch die Wächter, die ihr zuletzt die Fesseln verstärkt hatten, hielten ihr den Mund zu und drückten ihre Beine auseinander. Der Priester, nun bis auf die Maske nackt, streckte seine Hand in ihre Richtung aus und führte langsam seinen Zeigefinger in sie ein. Plötzlich stutzte er, kurz darauf schlug er Wutentbrannt auf sie ein. Schließlich aber drehte er sich um und ging zornig aus dem Saal. Die Wächter ließen sie los und die meisten lösten die Stricke, während zwei von ihnen eine Kutte brachten und sie ihr anzogen. Anschließend verbanden sie dem Mädchen die Augen und führten sie lange durch die kalten Gänge, bis sie ihr die Augenbinde abnahmen und ihr bedeuteten durch eine Falltüre zu gehen. Sie öffnete sie, und stieg ohne Widerspruch hinab in die Dunkelheit.

Der Gang der Finsternis

Aër hatte den überraschenden Ausgang der Opferbringung aus der Menge beobachtet, immer Gefahr laufend sich durch eine unbewusste Körperhaltung oder einem auffälligen Gesichtsausdruck zu verraten. Nun saß er wieder im Stroh seiner engen Kammer und führte ein Gespräch mit den Ratten. „Wundervoll, wirklich, es war schöner als man es Träumen könnte. Ihr Körper war so zart, und ihre Haut so warm…“ Er blickte schief auf die Nager zu seinen Füssen. „Aber was erzähl ich euch das überhaupt, ihr wisst ja doch nichts damit anzufangen!“ Er drehte sich von ihnen weg, redete aber trotzdem noch weiterhin gegen die Wand: „Wo sie sie wohl hingebracht haben? Vielleicht in die Freiheit?“ Er verwarf den beinahe lächerlichen Gedanken sofort wieder, welchen Grund hätten sie sie freizugeben? Sie wusste zuviel, und wird deshalb wohl… „Hoffentlich haben sie sie nicht in den Gang der Finsternis gebracht. Dort wäre sie wohl verloren… und ich kann ihr nicht helfen.“ Eine kleine Träne entkam seinem linken Auge, und verschmolz mit der Narbe. „Rina… Welch wundervoller Name! Dieser Klang... ach, wo bist du nur? Haben sie dich wirklich in diesen furchtbaren, unendlichen Raum gesperrt? Ich… Ich muss zu dir! Wo immer du auch bist, ich werde dich finden! Aber wo soll ich zu suchen beginnen?“ Ihm schauderte als er in Gedanken seine eigene Frage beantwortete. Er sprang auf und huschte schattengleich durch die unzähligen Korridore, direkt hin zum „Gang der Finsternis“, wie ihn alle nannten.

Allerlei Gedanken zu den Ereignissen der letzten drei Nächte gingen ihm durch den Kopf, sowohl über die Schönheit der zweiten als auch das Grauen der dritten Nacht, und darüber, wie er die erste Nacht einschätzen sollte; War sie nun schrecklich, da Rina so sehr gequält wurde, oder war das alles nur nötig damit sie zueinander finden konnten? Er konnte keine der Fragen beantworten bis er bei der Falltür ankam, unter der sich der Gang der Finsternis befand, ein kreisförmiger Korridor in dem sich kein einziger Lichtschimmer befand, und dessen Krümmung so gering war, das man sie nicht wahrnehmen konnte. Ewig konnte man darin umherwandern, ohne einen Ausgang zu finden, der Gang erstreckte sich also in gewisser Weise in beide Richtungen ins unendliche, und auch die Falltür war in gewisser Weise ein Einseitiger Weg, denn von unten konnte man sie weder erkennen noch öffnen, eine Flucht aus dem Ring war daher beinahe unmöglich.

Aër hatte allerdings einen Plan. Dadurch, das er das Seil seiner Kutte beim Abstieg in einem Schlitz der Klappe stecken ließ, konnte er sie zum einem stets wieder finden, zum anderen auch öffnen, da sie sich nicht vollständig verschließen würde. Auch hatte er einige Fackeln dabei, während des Weges aus dem Warenlager gestohlen, die er nun entzündete um damit Licht in die Finsternis tragen zu können. Angsterfüllt sprang er hinab in die Dunkelheit des nur mannshohen Tunnels. Die brennende Fackel in der linken, das Bündel der frischen Fackeln in der rechten Hand, die Kapuze über den Kopf gestülpt und auf nackten Füssen gehend machte er sich daran den langen Schacht zu durchwandern. „Rina! Rina!“ rief er immer wieder „Bist du hier irgendwo?“ Doch er erhielt keine Antwort. Der Marsch war lang und beschwerlich, denn der Boden war nicht etwa eben, er war zerklüftet und stachelig, so dass er bereits nach einigen Dutzend Metern bei jedem Schritt einen blutigen Abdruck hinterließ. Dennoch dachte er nicht daran aufzugeben, er musste Rina finden, egal um welchen Preis!

Endlich, nach einer wohl stundenlangen Wanderung, konnte er vor sich eine braune Erhebung am Boden erkennen. Als er sie erblickte näherte er sich ihr mit schnellem Schritt und erkannte währenddessen, dass es sich um eine Kutte handelte, die eine auf dem Bauch liegende Person einhüllte. Aër kniete sich zu ihr hinab und rüttelte kräftig an ihren Schultern. „Rina! Wach auf, wir müssen weg hier, komm, raus aus diesem Loch!“ Doch sie rührte sich nicht. Er versuchte sie auf den Rücken zu drehen als er bemerkte, wie kalt ihr Leib war. Sie lag nun auf der Seite, und durch die dichten schwarzen Haarsträhnen konnte man eine totenweiße Haut erkennen. Der Junge begann bitterlich zu weinen, drehte sich um und rannte trotz der brennenden Schmerzen an seiner Sohle weg, weg von dieser unheimlichen Leiche. Schon nach wenigen Metern stolperte er jedoch und schürfte sich das Knie auf, stand aber sogleich wieder auf und hinkte weiter. Selbst als das Licht zu verlöschen drohte achtete er nicht darauf und humpelte so gut und schnell es ging den Tunnel entlang. Erst beim letzten Atemzug der Flamme wurde ihm bewusst, das er kein Feuer machen konnte und ihm die vielen weiteren Fackeln die er noch bei sich hatte nichts mehr nutzten. Im Dunkel ging er in die Knie und begann jämmerlich zu heulen, da er keine Hoffnung mehr sah jemals wieder die Klappe zu finden, jemals wieder Licht zu sehen, jemals wieder…

»Was hatte ich denn überhaupt von meinem Leben? Was ist es denn, das mein Leben ausmacht? Unterirdisch in einem engen Mauerspalt eingesperrt zu sein? Mit Ratten als einzige Freunde? Es gibt keinen Unterschied zwischen meinem bisherigen Leben und der kurzen Zeit die ich noch erleben werde! Dunkel. Feucht. Dreckig. Einsam. Mein Dolch! Ja, da ist er… mein Retter aus dieser üblen Misere die sich mein Leben schimpft? Nur ein Stich. Ein Stich genügt! Und niemand wird mich vermissen. Niemand. Nicht derjenige, der sich Vater nennen ließ; Nicht derjenige, der mir mein Essen brachte; Nicht diejenigen, die mich all mein Wissen lehrten… nur Rina… Rina! «

Er fuhr hoch, ging jedoch sofort wieder zusammen. „Nur Rina hätte mich vermisst… aber…“ Er streckte seinen Kopf in die Höhe, dem Himmel entgegen, breitete die Arme aus so dass er fast aussah wie ein lebendiges Kreuz und schrie laut und bitterlich trauernd: „Sie ist tot! Tot! Der einzige Mensch der mir je etwas bedeutete ist tot!“ er verfiel wieder zu einem Elendsbündel und schluchzte noch mehr als zuvor; Nur noch hie und da entkamen seinen Lippen Wortfetzen, meist „Rina“ oder „Tot“

Erst nach einer halben Stunde hatte er sich soweit zusammen dass er wieder in der Lage war einen klaren Gedanken zu fassen.

»Ich habe immer noch den Dolch… soll ich es wirklich tun? Was hätte sie getan? Was hätte Rina getan? Sagte sie nicht das Leben ist das wertvollste, das allerwertvollste das es gibt? Ja, das sagte sie, ich erinnere mich ganz klar. „Das Leben, mein Leben ist zu wertvoll, um es für irgendetwas herzugeben, denn es gibt nichts wertvolleres…“, das waren ihre Worte. Nein, sie hätte sicher nicht aufgehört zu Leben, sie nicht. Sie wäre weitermarschiert, immer weiter und weiter, bis sie… tot umgefallen ist. Sie würde wollen dass auch ich weitergehe, immer weiter, bis auch ich tot umfalle, aber es zumindest versucht hätte. Ich muss weitergehen! Für sie!«

Mit einer schier übermenschlichen Kraft erhob er sich und ging einen Schritt, erst ganz langsam, dann immer schneller, bei jedem davon ihren Namen sprechend, erst leise, doch dann immer lauter. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz in Bein und Sohle, und aus den blutigen Abdrücken wurde eine dünne Blutspur, eine rote Linie, die kaum unterbrochen war. Doch die Schritte wurden trotz dessen immer kraftvoller und schneller, bald wurde aus dem Gehen ein Laufen, und obwohl er zuvor mehrere Stunden mit voller Energie gewandert war, kam es ihm nun schon nach kurzer Zeit so vor als wäre er wieder an seinem Ausgangspunkt. Er sah sich um, konnte allerdings nichts in der Schattenwelt des Tunnels erkennen. Immer wieder griff er mit beiden Händen in alle Richtungen, um den Strick zu finden, den Strick zur Freiheit. Doch er fand ihn nicht.

Später, sehr viel später, seine Kraft war schon längst verschwunden und er kroch nur noch auf allen Vieren dahin, fühlte er plötzlich etwas Weiches vor sich. Er betastete es genauer, zunächst zu beiden Seiten hin, in die sich der Gegenstand krümmte und mindestens einen Meter lang reichte, weiter konnte Aër nicht tasten ohne sich zu bewegen. Dann fühlte er in die Höhe, schreckte zurück und wollte laut aufschreien, doch aus seiner Staubtrockenen Kehle kam nur ein leises Krächzen.

»Rina! Rinas Leiche! Ich muss den ganzen Schacht durchwandert haben! Aber das Seil habe ich nicht gefunden… Egal, ich darf jetzt nicht aufgeben. Ich muss weiter... aber ich sterbe fast vor Durst. Bitte… vergib mir Rina, aber ich muss leben! «

Er nahm seinen Dolch und schnitt tief in das Fleisch der toten Schönheit, so dass aus ihren Adern Wasser und Blut zu quellen begann. Er trank davon, und fühlte sich mit jedem Schluck stärker und fähiger, aus dem abzweigungslosen Labyrinth zu entkommen. Zudem trennte er einen Teil ihres Körpers ab und biss in das Fleisch, um seinen Hunger zu stillen, legte das Stück dann aber wieder zurück, denn es war kalt und nicht verzehrbar. Ihre Kutte riss er in Streifen, die er um seine von dem vielen Blut bereits klebrigen Füße wickelte, während er sich fragte, warum er das nicht schon längst mit seiner eigenen gemacht hatte. Anschließend versuchte er nachzurechnen, wie weit der Ausgang von ihm entfernt war.

»Hergegangen bin ich grob geschätzt fünf Stunden, zurück ist es schwer zu sagen, aber es werden wohl so um die sieben Stunden gewesen sein, bei Durchschnittlich wohl demselben Tempo. Dann müsste der Ausgang zwei Stunden von hier entfernt sein, da ich aber nun sicher besser zu Fuß bin muss ich nur eine bis eineinhalb Stunden gehen.«

Während er so überlegte lehnte er sich zurück und griff mit seiner Hand, mit der er sich hinten abstützen wollte, in seine eigene Blutlache. In dem Moment fiel ihm ein das er doch schon kurz nach-dem er den Gang betreten hatte auch zu bluten begonnen hatte, er musste also nur den Beginn der Spur suchen. Von dem Gedanken besessen rannte er los, in die Richtung von der er eben gekommen war, allerdings nicht weit, denn schon bald machte er sich daran den Boden genauestens zu untersu-chen. Erst nach einer Phase des Suchens, die ihm objektiv betrachtet wie von drei Stunden Dauer vorkam, fand er endlich die Ausläufer der Fußabdrücke auf dem rissigen Boden. Er entfernte sich einige Schritte von ihnen und begann die Decke nach dem Seil abzutasten. Jedoch fand er nur einen alten Tropfstein, der ihm wohl kaum weiterhelfen würde, weshalb er beschloss, sich darunter niederzulegen und schlafen zu versuchen, denn oft kamen ihm im Traum die besten Gedanken.

Der alte Chinese hatte sich längst wieder von seinem Schock erholt und saß an seinem Tischchen im Meditationsraum, doch wollten ihm die Ch’i Ch’ae pans heute keine Auskunft darüber geben was in der Welt vor sich geht. Deshalb schloss er die Augen und beendete all sein Denken, um sich nur noch auf die Klänge der Natur zu konzentrieren. Er lauschte dem übereinstimmenden Rauschen des nahen Flusses mit dem der Blätter eines alten Ginkobaumes der neben seiner Behausung stand, die sich im Winde wiegten und aneinanderschmiegten, als wäre ihnen kalt und sie würden versuchen sich gegenseitig zu wärmen. Auch die Schreie eines Vogels konnte der Asiate vernehmen, und selbst die Insekten, die unter seinem Heim wohnten blieben ihm nicht verborgen. Nach einiger Zeit mischte sich noch ein weiterer Ton hinzu, nämlich der eines Kindes und einer Frau, die sich unterhaltend das Haus betraten, nachdem sie ihre Schuhe abgelegt hatten. Der Alte öffnete langsam seine Augen, erhob sich und hieß die beiden mit einer väterlichen Umarmung Willkommen.

Nach ein paar kurzen Worten ging die junge Frau wieder, während das kleine Mädchen mit dem Hausbesitzer in den Meditationsraum ging, und dort eines der tönernen Spiele verwendete, um damit Figuren zu legen, die ihr der alte Chinese auf einem Pergament aufzeichnete. Es waren nicht allzuschwere Bilder, doch für das Kind, das sicherlich nicht älter als sieben Jahre war, waren es Meisterleistungen zu erkennen wie die einzelnen Silhouetten gelegt gehörten. Zwischendurch plauderten die beiden immer wieder und lachten über ihre Witze, bis das Mädchen eine Frage stellte, die dem Alten offenbar gar nicht recht war. Dennoch gab er ihr das Jade- und das Elfenbeinspiel, um das sie scheinbar gebeten hatte, bedeutete jedoch, sie solle vorsichtig damit umgehen. Sie nahm die beiden entgegen und legte zunächst nur wirre Formen, über die der Meister müde lächelte. Dann jedoch, zum erstaunen des Chinesen, legte sie in Kombination der weißen und grünen Steine eine geflügelte Person, die selben, die der Alte nur zwei Tage zuvor konstruiert hatte, nur waren die Farben der Steine ausgetauscht. Mit den restlichen Teilen der Ch’i Ch’ae pans formte sie ein Feuer, das unter der Person flackerte. Entsetzt fragte der Chinese knapp ein paar Worte, doch das Mädchen antwortete nicht. Es war bereits aus dem Geschehen entrückt, starrte nur noch mit leeren Augen auf die Steine.

Langsam bewegten sich ihre kleinen Hände über den Tisch, und ersetzten die wertvollen Stücke des Feuers durch die Tonteile, mit denen sie zuvor noch gespielt hatten. Die Figur war gerade fertig geworden, da begann aus den Handinnenflächen des Kindes Blut zu strömen, ohne jedoch das dort eine Wunde war, es schien eher so, als würde die rote Flüssigkeit erst wenige Millimeter über ihrer zarten Haut entstehen. Der Meister traute seinen Augen nicht, sein Körper war jedoch wie versteinert, so dass er nur zu den Ahnen beten konnte, ansonsten jedoch nichts. Die Tonstücke aus denen das Feuer bestand wandelten ihre Farbe, nicht aber in Blutrot, wie man der Flüssigkeit nach angenommen hätte, sondern in alle nur erdenklichen Feuerfarben. Erst als alle Teile feurig waren, endete der Blutstrom, und die kleinen Arme huschten erneut über das Tischchen, um aus dem nun roten Ch’i Ch’ae pan eine neue Figur zu legen; Einen Frau in der typischen Wandererkleidung der Region, ein langes, unten breites Kleid mit dem man gut gehen konnte mit breitem Kragen an dem eine Kapuze befestigt war, und ein gekrümmter, kleiner Wanderstock, genau die Richtigen Gewänder um eine weite Reise zu unternehmen.

Auch diese Figur hielt nicht lange, denn schon bald nach ihrem Erscheinen wurde sie durch ein Quadrat in dessen Mitte sich ein Pfeil befand ersetzt. Der Pfeil zeigte in Richtung Westen, nach Tibet, ebenso wie der ausgestreckte Arm des Mädchens, der sich langsam erhoben hatte. Der alte Mann wusste nicht was zu tun war, denn das Kind rührte sich nicht mehr. Er entschied, sie wachzurütteln, doch noch bevor er dazu kam rubbelte die Kleine ihre Augen und gähnte müde. Als sie den immer noch erschrockenen Meister sah, fragte sie ihn etwas, woraufhin er wild gestikulierte, was vorgefallen war. Doch das Mädchen gähnte nur wieder, und spielte weiter mit dem Ch’i Ch’ae pan, ohne sich darum zu kümmern, dass es nun eine andere Farbe hatte.
 

Ohne zu wissen wie er hierher gekommen war, wachte Aër auf dem Boden auf, mittig in einem weitem Saal, dessen Wände gänzlich aus Eis bestanden, ebenso wie auch der Boden und die Decke in erschwindelnder Höhe, auf der ein Fresko angebracht war, das eine in Fellen gehüllte Person darstellte die ein Tier erlegte, das dem Jungen gänzlich unbekannt war. Es hatte dichtes, weißes Fell und stark anmutende Pranken, es lief auf allen Vieren und war dadurch in etwa so Hoch wie ein Kind, allerdings waren seine Schultern breiter als die zweier Erwachsener Männer zusammen. Etwas unsicher stand der Knabe auf und ging auf die gigantische Eistür am Ende des Saales zu, in der die schönsten Muster gehauen waren, unter anderem auch die Furcht einflößende Kreatur die die Decke schmückte. Nach kurzer Bestaunung der kunstvollen Reliefs wurde die Tür mit Anstrengung aufgeschoben, der sich eröffnende Anblick raubte einem förmlich den Atem.

Eine schneebedeckte, leicht hügelige Landschaft erstreckte sich über den gesamten Horizont, und eisiger Wind ließ die Luft fahren, auf dass sie niemals zur Ruhe komme. Doch das eher raue Klima tat der Vegetation keinen Abbruch, überall blühte und grünte es durch die flaumige weiße Hülle hindurch, und ein Baum stand mitten auf dem Feld, allerdings war auch er ebenso sonderbar wie der Rest der Pflanzen, es handelte sich um eine Holzkonstruktion, deren Stamm in haarige Abschnitte gegliedert war und keine Verästelungen aufwies. Am oberen Ende wurde er zunächst breiter, und entfaltete sich dann in gefächerte Blätter, die mehr als zwei Arme lang waren und die angeordnet waren wie die Blüte einer Blume. Unterhalb dieser Blätter hingen einige braune, kopfgroße Kugeln, die Obst sein konnten, doch konnte Aër das nicht beeiden. Einige Vögel flogen über das Land, und vielerlei Getier weidete sich an den Variationen der hiesigen Flora.

Noch einmal erwachte Aër, doch dieses Mal im Dunkeln. Er erhob sich und schlug sich den Kopf an der Decke an, so dass er fast wieder zu Boden gesunken wäre. Benommen tastete er an dem Tropfstein, „Ich hätte mich wohl doch weiter weg hinlegen sollen.“ murmelnd. Der Schlaf hatte ihm nicht die erhoffte Wirkung gebracht, er wusste auch weiterhin nicht wie er dem ewigen Gang, dem Gang der Finsternis entkommen konnte. Deshalb probierte er einfach wieder aus die Klappe zu suchen. Doch ging er diesmal anders vor, denn hatte er zuvor nur versucht mit seinen Händen ein Seil zu finden, so nutzte er diesmal seinen Geist, er ging einfach immer in die Richtung, die ihm am sympathischsten erscheinte, ohne dabei darauf zu achten, was ihm der logische Teil seiner selbst einzureden versucht.

Er ging stets nur ein paar Schritte, hielt kurz inne und ging weiter, oftmals wieder zurück und im Grunde völlig ineffektiv, doch schon nach wenigen Minuten fand er sein Seil. Am Boden liegend. Jemand musste es gefunden und entfernt haben, um ja niemanden heraus zu lassen. Doch nun wusste Aër wo der Ausgang war, und im Gegensatz zu all den anderen, die hier ihr Ende gefunden hatten, war ihm zum einen Bewusst das er nur hier dem Schacht entfliehen konnte, zum anderen hatte er ein Werkzeug zur Hand, nämlich seinen Dolch. Diesen nutzte er auch sogleich und bearbeitete damit das alte Eichenholz, aus dem die Falltür bestand. Langsam, ganz langsam wurde das Holz immer dünner und der Dolch immer stumpfer. Er brauchte viel Geduld um nicht Aufzugeben, doch sein Lebenswille war so stark, dass er sogar einen ganzen Wald mit dem Messer gerodet hätte, wäre es nötig gewesen. Nach langer Zeit konnte er endlich schwaches Licht durch die Klappe ausmachen. Deshalb band er sich das Seil um die Hand, dachte kurz an Rina und sprach ein Gebet für sie, ballte die Hand zur Faust, legte sie an sein Herz, atmete tief durch, schloss die Augen, dachte zurück an jene Nacht, riss plötzlich seinen Arm in die Höhe und durchdrang mit einem markerschütternden Schrei das Holz. Die Falltür zerbarst in der Mitte und er konnte sie hochheben sowie hindurchklettern. Seine Hand schmerzte höllisch und blutete wie verrückt, doch das waren für ihn nur Nebensächlichkeiten. Er hatte es geschafft! Wie oft wollte er aufgeben weil er dachte es wäre unmöglich dieser grässlichen Teufelsbaute zu entfliehen, und trotzdem hatte er es geschafft! Nur dank ein paar Worten eines für die Welt unbedeutenden Mädchens, das leben wollte, nur leben.

Maris

Tapp, Tapp, Tapp. Durch die alten Korridore hallten schnelle Schritte, von stoffumwickelten Füßen verursacht und immer näher kommend. Bald konnte man auch den Verursacher der Geräusche ausmachen, es war Aër, der verzweifelt nach einem Weg ins Freie suchte. Wild rannte er durch all die von Fackeln beleuchteten Gassen tief unter dem Erdreich, sich stets umschauend, um ja nicht auch nur den kleinsten Spalt zu übersehen. Hier war einer - konnte er der Ausgang sein? Der Knabe zwängte sich hindurch und landete in einem weiteren Hohlweg, den er nicht kannte. Er eilte weiter, so schnell ihn seine Beine trugen, fand Orte, die er sich nicht erträumt hätte, zum Beispiel einen Raum in Kugelform, der zur Hälfte mit sauberem Wasser gefüllt war und von einem kleinen Steg von kaum zwei Fuß Breite umgeben war, an dem man entlanggehen konnte zu einer der sechs symmetrisch angeordneten Pforten, von denen aus sich die gewölbte Halle erschließen ließ. In der Mitte der Decke war ein Loch bis zum gepflasterten Steingrund hinauf führend, durch das ein Lichtkegel direkt auf eine Art Insel im Wasser schien, auf der sich eine Skulptur aus feinstem Marmor befand. Diese stellte einen alten Mann dar, der einen voluminösen, mit Wasser gefüllten Topf über seinem Haupt hielt, welcher sein Gesicht in Schatten hüllte. Er war leicht bekleidet, nur eine lichte Toga die sich gleich seinem langen Bart im Wind wellte, und ein Gürtel aus einem edlen Metall der irgendetwas an sich hatte, dass ihn erscheinen ließ als bestünde er aus reiner Energie.

Doch war dies nicht der einzige Raum den Aër entdeckte, ein weiterer, quadratischer war gefüllt mit Flächen, die ein Abbild irgendeines Teiles des Raumes zeigten, scheinbar ohne jegliches System. Das Problem war nur, dass sie oft Öffnungen zeigten, die nicht vorhanden waren, wie der Junge schmerzhaft feststellen musste. Es war ein verflixter Irrgarten, nur deshalb so schlimm, weil man etwas nicht Vorhandenes sah, eine Stätte reinster Illusion, wie sie der Jugendliche nur von Erzählungen kannte über den alten Magier Treht, der auch „Herr der Geister“ oder „Seelenmeister“ genannt wurde, und der die Menschen durch hinterlistige Scheinwahrheiten in seinen Bann zog und ihnen vorgaukelte, er sei Allmächtig, wie auch sein Name Allmacht in einer vergessenen Sprache bedeutete. Doch wusste Aër sich zu helfen, denn es waren rein visuelle Täuschungen so dass es genügte die Augen zu schließen und Blind durch den Raum zu eilen, der ohnehin nur zwei Einlässe aufwies.

In dem Dritten unter den erwähnenswerten Räumen befand sich absolut nichts. Nicht einmal die sonst überall vorhandene Fackelreihe war vorhanden, nur komplett weißer Stein, Alabaster vielleicht, der glatt an Boden und Wänden verlief. Dennoch war es in dem Raum taghell, scheinbar fluoreszierte die mehr als stickige Luft in der Räumlichkeit von sich aus, so dass es nicht nötig war Lampen anzubringen. Um nicht an dem Gas zu ersterben verließ er jedoch schnellstens den Saal und irrte weiter.

Zuletzt wanderte er in eine scheinbare Sackgasse, in der es kein Licht mehr gab, so dass er sich eine der an der Wand hängenden Fackeln bemächtigte. Er wusste zunächst nicht weiter und suchte nach Spalten in dem Mauerwerk, die er jedoch nicht fand. Aus Versehen entwich seiner Hand der Leuchter und fiel zu Boden, woraufhin sich dort eine in den Grund eingelassene hölzerne Klappe entzündete. Aër wich einen Schritt zurück um den Flammenzungen zu entgehen und wollte zunächst warten, bis die Falltüre vollständig durchgebrannt war, doch unerklärlicherweise wurde es in der Nähe des Brandes immer stickiger, deshalb musste der Knabe den Gang zurückgehen und dort auf ein Verlöschen warten. Lange brauchte er nicht zu harren, denn schon nach einigen Minuten erstickten die Flammen an ihrer eigenen Gier.

Die Klappe war noch nicht verschwunden, doch bereits weitaus lädierter als die zum Gang der Finsternis, und da Aërs Hand sich bereits erholt hatte konnte sie auch dieses Mal das Holz durchtrennen. Nur die Hitze hatte er nicht bedacht, welche leichte Verbrennungen mit sich führte. Unter ihm war es wiederum gänzlich düster und schwarz, dennoch stieg er hinab und durchquerte das Dunkel um schließlich zu erkennen, dass er vor einer hohen Türe stand. Er hob seine linke, noch nicht schmerzende Hand und legte sie auf die kalte, metallene Klinke, die er mit einem Ruck hinunterdrückte. Das Türblatt schwang auf, so dass er vor sich Licht erkennen konnte. Tageslicht.

Nachdem sich seine Augen an den ungewohnten Anblick gewohnt hatten trat er hinaus und konnte erkennen, dass er sich auf einem Hügel unweit der Stadt befand, auf die er zuzugehen begann. Zuvor band er sich jedoch noch den Stoff von den Füßen, denn er hatte noch nie zuvor Gras unter seinen Füssen gespürt, so weich und feucht, eine echte Wohltat für seine Blutverklebten Sohlen. Alles um ihn herum war so friedvoll und freundlich, so warm, so einladend wie er es gar nicht kannte. Langsam und unbeschwert konnte er wandern ohne bedrückende Enge kalter Steinmauern, doch der Friede war trügerisch! Schon bald konnte er hinter sich die tiefen Stimmen von Männern hören, die offenbar darauf aus waren ihn zu erhaschen. Er rannte los um nicht von ihnen erwischt zu werden, doch waren seine Kräfte zu erschöpf um wirklich schnell zu sein, er hatte einfach zu lange die unterirdischen Gemäuern durchsucht. Er war kaum hundert Meter von dem Tor entfernt, da entkam diesem auch schon der erste Schub weinrot maskierter Männer, die mit ihren langen Skimitars eine Hetzjagd auf ihn veranstalteten. Aër sah nur eine Chance zu entkommen, den Wald. Nur dort konnte er sie abhängen. Eine zweite Gruppe erschien in der Tür, sie hatten jedoch Speere als Waffen, mit denen sie sogleich nach ihm zu werfen begannen.

Aër hatte den Wald endlich erreicht ohne von dem Speerregen erwischt zu werden, doch seine Verfolgergruppe war auch nur noch einige wenige Schritte von ihm entfernt. Es hatte keinen Zweck, er würde sich ihnen stellen müssen um überhaupt eine winzige Chance zu haben. Dennoch drang er tiefer in den Hain ein, um nicht von allen zur gleichen Zeit angegriffen zu werden. Ein Speer verfehlte nur knapp seinen Schädel und blieb in einer Birke stecken, der zweite Schub hatte die zuvor geworfenen Speere erreicht und versuchte erneut ihn damit zu erwischen, ohne Rücksicht auf Verluste an der Vorhut. Aër zog seinen Dolch und drehte seinen Oberkörper nach hinten, während er immer noch fortschritt. Den ersten Hieb des vordersten Mannes konnte er noch mit der stumpfen Seite des Dolches abblocken, der darauf folgende Stich eines Nachkommenden verfehlte aus Zufall nur knapp seine linke Seite. Ein Speer erlegte einen der hintersten Angreifer, doch das nutzte ihm nicht viel. Aër war viel zu geschwächt und überdies im Kampf völlig ungeschult, so dass es nur eine Frage der Zeit war bis er geschlachtet werden würde. Hieb von rechts! Speer von oben! Ein Schwungschlag riss ihm schließlich den Dolch aus den Händen, so dass er nur noch ausweichen konnte. Schwerthiebe von beiden Seiten! Er konnte nichts tun außer sich zu Boden fallen lassen um dem Angriff zu entgehen, und dort lag er nun, Schutzlos und Ausgeliefert. Er schloss die Augen als er sah wie Einer weit ausholte um ihm den Kopf abzutrennen. So konnte er nicht sehen, dass dessen Schädel von einer heranschwirrenden Axt gespalten wurde, bevor er auch nur mit dem Schlag begonnen hatte. Ein Muskelbesetzter Holzfäller eilte durch den Forst auf die Gruppe zu, während er eine zweite, doppelschneidige Axt bedrohlich über seinem Haupt rotieren ließ. Mit ihr hackte er noch während des Laufens mit einem Schlag einen Baum um, der beim umfallen ein paar der Kuttenträger mit sich riss. Einige weitere bearbeitete er gründlich mit der Axt, während der Großteil schreiend davonrannte. Nur einen Speer übersah der mächtige Baumstutzer, jener bohrte sich tief in dessen rechte Schulter, wurde aber mit einem kräftigen Ruck der Linken abgebrochen.

Nachdem alle fort waren drehte sich der Athlet zu Aër um und bedeutete ihm, er solle mitkommen. Nach einer kurzen Wanderung durch den Wald kamen sie bei einer Holzhütte an, offenbar das Heim des unverhofften Retters. Vor der Tür wartete bereits ein junges Fräulein, das etwas irritiert war, sie hatte vermutlich nicht mit Besuch gerechnet. Sie sprach kein Wort und bedeutete einfach nur einzutreten, legte einen weiteren Teller auf den Tisch und versorgte die Wunde des Mannes. Aër saß währenddessen nur da und wartete, wie er es auch sonst immer getan hatte. Die Frau, etwa 16 Jahre alt, richtete sobald sie mit der medizinischen Versorgung fertig war das Essen an. Alle aßen ausgiebig, denn es war erstaunlich viel für eine Holzfällerfamilie. Erst nach dem Essen wurden ein paar Worte gewechselt.

„Ich bin Maris und das ist mein Vater. Er ist stumm musst du wissen, und meine Mutter starb bald nach meiner Geburt, deshalb weiß ich seinen Namen nicht. Wir wohnen hier im Wald, denn Vater würde in der Stadt nicht akzeptiert werden, man würde immer behaupten er hätte seine Stimme an den Teufel verkauft um Kraft von ihm zu erhalten, und von dem Holzverkauf kann man gut Leben.“ Marisas Stimme war stotterig und oft stimmten die Betonungen nicht, was nicht verwundern durfte wenn sie alleine mit ihrem stummen Vater wohnte. Des Weiteren sprach sie: „Du kommst doch von der Sekte, oder? Warum hat Vater dich mitgenommen und nicht getötet, wie er es sonst immer macht?“ Aër überlegte kurz ob er die Wahrheit sagen sollte, entschied sich jedoch die Einzelheiten zu verschweigen.

„Ich bin vor ihnen geflüchtet…“ „Vor wem?“, warf Maris ein, „Vor der Sekte?“ Aër wusste kurz nicht was sie meinte, nickte dann aber. „Ja, ich wollte vor ihnen fliehen deshalb jagten sie mich. Ohne deinen Vater könnte ich jetzt wohl nicht mehr mit dir sprechen. Wie kann ich mich wohl erkenntlich zeigen?“ Er blickte sie fragend an, doch ihr schien es nicht aufzufallen. Oder es wollte ihr nicht auffallen.

„Wie lange warst du bei ihnen eingesperrt?“ Ohne auch nur die Spur von Verlegenheit wechselte sie das Thema, als wäre das das natürlichste der Welt. „Sicherlich schon ein paar Jahre, wenn ich mir deine Haut so ansehe.“ Ihr Vater, der zuvor nur still mitgehört hatte grunzte in einer Form, die als Lachen zu deuten war, doch Aër wusste nicht was so lustig war und besah sich zunächst, um eventuelle Anzeichen für ein langes unter der Erde bleiben aufzuspüren, konnte aber nichts entdecken. Maris, die natürlich gemerkt hatte dass er nicht verstand, hielt ihre Hand neben die seine. „Du bist blass wie ein Toter, das kommt davon dass du zu lange nicht in der Sonne warst. Das Sonnenlicht ist wichtig für ein langes und gesundes Leben, ohne die Sonne geht alles zugrunde.“ Der Junge schämte sich für seine fahle Haut, ohne wirklich zu wissen warum. „Ich bin seit meiner Geburt in den Katakomben gewesen“ murmelte er in einem fast entschuldigenden Ton. Doch Maris war offenbar nicht in der Lage Stimmlagen richtig zu deuten, denn sie ging nicht darauf ein.

„Du wirst bei uns bleiben, nehme ich an. Oder weißt du schon wo du hin willst?“ fragte sie ihn abrupt, so dass er nicht gleich die richtigen Worte fand „Ja… Das heißt nein… ich kann doch nicht bei euch bleiben, das… das geht doch nicht, oder?“ Sie gab ihm keine Antwort sondern stand auf und ging zu einem Schrank, aus dem sie einen Strohsack holte und die Holztreppe hochging. Während Aër noch in einer gewissen Form verzweifelt nachschaute, kam von Seiten des Holzfällers wieder der lachähnliche Grunzer. Schließlich erhob er sich und deutete dem Jungen mit ihm hochzugehen. Es war schon längst Abend geworden denn dass, was Aër zuvor für die strahlende Mittagssonne hielt war nur ein halblichter Sonnenuntergang.

Wiederum träumte Aër diesen seltsamen Traum der Pflanzen in allen möglichen Formen, die in einer frostigen Gegend blühten als wäre es der wärmste Sommer. Er stapfte barfuss durch den kalten, ertaubenden Schnee, und betrachtete den seltsamen Blumenbaum genauer, die oben hängenden braunen Kugeln waren ebenso haarig wie der Stamm. Der Junge fror am ganzen Leib, und wünschte sich schon zurück in das warme Zimmer, in dem er eben noch gegessen hatte. Er wollte die Kugeln noch näher betrachten, hatte aber niemals klettern gelernt. Auch waren seine Hände und Füße viel zu steif dazu. Deshalb warf er sich mit seinem gesamten Körper gegen das Holz, in der Hoffnung so würden die Bälle herunterfallen. Es gelang ihm, jedoch taumelte er zurück als die Kugel seinen Kopf traf.

„Wach auf, du hast jetzt genug geschlafen!“

Maris weckte Aër am späten Vormittag: „Deine Flucht hat dich ziemlich mitgenommen. Vorgestern musste Vater dich sogar auf deinen Strohsack legen, weil du noch beim heraufgehen eingeschlafen bist.“ Der Junge gähnte verschlafen, erst nach einiger Zeit fragte er: „Vorgestern?“ Maris lachte. „Du hast gestern kein Glied gerührt. Nur manchmal etwas gemurmelt. Wer ist Rina?“ Plötzlich war der Knabe hellwach, sichtbar schockiert und zur gleichen Zeit den Tränen nahe, dass es einen wunderte wie viele Gesichtsausdrücke in ein Gesicht passen. Schnell beschwichtigte ihn die Holzfällertochter mit ein paar besänftigenden Worten, und wies ihn an nach unten zu gehen. Dort erwartete ihn schon ein hungriger Herkules, mit einer Miene als hätte er schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Maris ging zum Herd, während ihr Vater Aër an den Tisch bat. Er drückte ihm eine Axt in die Hand, nicht so groß wie seine eigene, aber dennoch so schwer dass sie der Junge beinahe hätte fallen lassen. Der Holzfäller grinste, wandte sich dann jedoch ab und wartete auf das Essen, das Maris auch alsbald brachte.

„Gestärkt für die Arbeit?“, fragte Maris nach dem Essen in die Runde, dann, nach einer kleinen Kunstpause wendete sie sich an den jungen Burschen: „Vater bringt dir jetzt bei wie man Bäume richtig fällt. Geh einfach mit ihm mit und mach ihm nach was er dir zeigt.“ Folgsam hängte Aër sich an ihren Vater an und marschierte mit ihm durch das Gehölz, bis dieser an einem besonders dicken Stamm stehen blieb. Er legte seine Hand auf den Baum und schloss seine Augen. Eine Art Traurigkeit legte sich über ihn, bis er schließlich losließ und kurz seufzte. Dann zeigte er auf einen kleineren Baum, kein junger mehr, aber dennoch nichts in Vergleich zu dem, dem er zuvor die Hand aufgelegt hatte. Aër schlenderte dem Baum entgegen. Ihm fiel der Baum in seinem Traum wieder ein, der nichts gemeinsam hatte mit dieser Birke. Der Junge nahm die Axt in beide Hände und wollte schon beginnen auf den Laubbaum einzuschlagen, doch er wurde von einem mächtigen Arm zurückgehalten. Marisas Vater blickte ihn Traurig an und schüttelte leicht den Kopf. Dann nahm er seine eigene Hacke und zeigte Aër zunächst wie man sie halten musste. Anschließend verriet er ihm die richtige Stellung zum Baum und zeigte ihm langsam die Richtung an, in die geschlagen werden musste. Der Junge machte es zunächst völlig verkehrt, aber nach ein paar Verbesserungen und Versuchen lag das Beil richtig in seiner Hand, und auch die Schlagrichtung stimmte. Nun wurde ihm noch ein richtiger Schlag an dem breiten Stamm einer alten Eiche gezeigt, bei dem die Holzsplitter geschickt nur nach unten stürzten. Aër versuchte es auch, bei ihm jedoch wurden die weißen Rindenteile in alle Himmelsrichtungen verteilt, ein kleines Stück schürfte auch sein rechtes Bein. Er wandte sich um, weitere Anweisungen erwartend, die er nicht bekam. Der Holzfäller hatte ihm den Rücken zugekehrt und arbeitete an der Eiche weiter. Irgendetwas sagte dem Jungen, die Unterweisungen würden erst dann fortgesetzt werden, wenn er den Baum gefällt hatte. So stellte er sich wieder zu der Birke, die Beine leicht gespreizt für einen sicheren Stand, die Axt nicht zu verkrampft, aber auch nicht zu locker in der Hand haltend, und schlug auf den Baum ein. Von allen Seiten, denn er wusste nicht in welche Richtung er ihn später stürzen wollte.

Die Junge Frau, die dem greisen Chinesen ein paar Tage zuvor das Kind gebracht hatte traf mitten in der Nacht wieder bei ihm ein, sichtlich erschöpft und mitgenommene Kleidung tragend. Noch vor der Tür fing der Ostasiate sie ab und fuchtelte wild umher ohne wirklich ein Wort herauszubringen. Die Frau zog ihn zunächst mit sich in das Haus, und setzte ihn an einen Tisch. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber auf den Boden und beschwichtigte ihn. Doch plötzlich sah sie hinter seinem Rücken eine geöffnete Tür, die in den Meditationsraum führte. Das kleine Mädchen spielte immer noch darin, wie in Trance bewegte sie die Teile eines Ch’i Ch’ae pans. So formten sich zunächst ein geflügelter Mann und dann eine Feuersbrunst. Als diese fertig geformt war, begann die rote Flüssigkeit wieder zu fließen, die den Flammen die passende Farbe geben sollte. Die junge Frau schrie hysterisch und versuchte in das Zimmer zu laufen, doch das Mädchen blickte kurz zu ihr empor, als sie durch die Tür kam, und legte dann weiter ihre Formen. Die Frau jedoch konnte sich weder rühren, noch schreien. Die roten Steine bildeten wieder eine Frau mit Wanderstab und Reisekleidung, und dann ein Quadrat mit einem Pfeil in sich, der nach Osten zeigte, ebenso wie die sich eben erhobene Hand des Kindes und die weiteren, zahllosen Spiele, die am Boden verstreut waren. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, schon spielte das Mädchen friedlich mit einem neuen Tonspiel, gähnte zwischendurch mal und schien nicht zu beachten, dass die Frau hysterisch schrie. Sie ging auf den Alten los, doch dieser wehrte nur ab. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Furie zurück zur Frau wandelte, und noch einmal so lange, bis ihr verstörter Blick durch ein stolzes Lächeln ersetzt wurde.

Nur noch ein dünner Keil hielt den Baum an den Wurzeln, man hätte ihn förmlich umblasen können. Der junge Bursche sah zu einer Esche, die Marisas Vater sanft streichelte, einen Blick als müsste er im nächsten Moment sein Leben opfern. Kurze Zeit später wandte er sich von dem Baum ab und besuchte einen weiteren, doch den Knaben sah er scheinbar nicht. Deshalb beschloss Aër den letzten Schritt alleine zu wagen und schlug unüberlegt auf eine der Seiten ein. Als der Baum umfiel, krachte er gegen einen nahe stehenden anderen Baum, der unter dem Gewicht einbrach und so ebenfalls stürzte. Der erfahrene Holzfäller kam kopfschüttelnd auf ihn zu, und zeigte ihm, wie man die kleinen Verästelungen richtig entfernte. Dafür brauchte Aër den restlichen Nachmittag.

Abends, als die beiden heimkehrten, bewegte sich der Bursche nur noch schleppend, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Kraft reichte aber noch mehr als aus, um die heiße Suppe zu verschlingen, die Maris für ihre Arbeiter gekocht hatte. „Vater hat dich ganz schön rangenommen, dabei sollte er eigentlich wissen dass nicht alle so stark sind wie er.“ Sie schielte zu ihrem Vater, der sich jedoch keiner Schuld bewusst zu sein schien und weiteraß. „Wenigstens bekommst du jetzt einen gesunden Schlaf. Vielleicht sogar einen zweitägigen.“ Noch immer schaute sie zu ihrem Vater, der jedoch nur mit ernster Miene seine Suppe essen wollte, ehe sie kalt wurde. Erst als sie sich von ihm abwandte konnte er sich einen breiten Grinser nicht mehr verkneifen.

Auch diese Nacht hatte Aër wieder diesen bizarren Traum. Er hob die behaarte braune Kugel auf und studierte sie eingehend, indem er sie drehte und in die Luft warf, um Form und Gewicht besser einschätzen zu können. Dann schüttelte er das Eiförmige Etwas, wobei er im inneren etwas gluckern hörte, wie Wasser in einem geschüttelten Krug. Dies war Aër bereits genügend Anreiz, das innere dieses Eis zu erforschen. Er schlug die Kugel gegen den Boden, mit aller Kraft gegen den Stamm des Baumes und schmetterte einen Eisklumpen, der auf dem Schneeboden gelegen hatte, dagegen. Doch trotz roher Gewalt gelang es ihm nicht, die braune Haarschicht auch nur anzukratzen.

In der Stadt konnten jene, die nicht schliefen, dem dumpfen Klang der Glocken lauschen. So auch eine junge Frau, die auf einem der zahllosen Dächer kauerte. In ihren zitternden, feinen Händen hielt sie ein Stilett, dessen Klinge im fahlen Licht des Mondes silbern glimmerte. Der Mond. Wie ein Gespenst ruht er über der Stadt. Diese Totenstille rundum die Häuser, die fest und unbeweglich wie Grabsteine stehen, und der Mond am dunklen Sternenhimmel, als wäre die Welt ein riesiger Friedhof erwecken den Anschein, der Erdball wäre gestorben, und der Mond als einziger Angehöriger zum Begräbnis erschienen. Die Wolken, die den Mond zur Hälfte verdecken sind sein Trauerschleier, und die Tropfen, die vom Himmel fallen, sind seine Tränen. Und als wäre sie die Mörderin, sitzt die Frau mit ihrem Dolch da, wie die einzige Überlebende des großen Sterbens. Auch sie weint, weint aus Mitleid mit der Welt, die gestorben ist, ohne es zu merken, und weint um ihre Einsamkeit. Doch als der Mond fürchterlich zu schluchzen begann, und die Nässe tief in die Kleidung der Evastochter eindrang, verschwand sie schließlich schutzsuchend in der Dunkelheit.

Aër erwachte, seltsamerweise ohne von Maris geweckt worden zu sein. Die Sonne erhob sich soeben am Horizont, so dass der Raum von einem schwachen, rötlichen Schein erhellt wurde. Der Junge sah sich um, er hatte bisher nur flüchtige Blicke des Obergeschosses einfangen können, entweder er war zu früh eingeschlafen oder aber er wurde von Maris nach unten zitiert. Nun aber schlief sie tief und fest auf der anderen Seite des Raumes, neben einem sich auf und ab bewegenden Hügel, der seltsame Geräusche von sich gab. Ein Grinsen huschte über Aërs Gesicht, als ihm diese Bezeichnung einfiel. Die Augen des Jungen strichen über die verschiedensten Holzstrukturen, die sich im oberen Stockwerk befanden. Fast alles hier war aus Holz, von verschiedensten Bäumen auf verschiedenste Weise verarbeitet, mal nur grob zurechtgehackt, bei manchen herumstehenden Skulpturen wiederum schien es als wären sie von feinster Klinge liebevoll bearbeitet worden. Langsam erhob sich Aër von seiner Bettstatt und schlich durch das Zimmer, um nachzusehen was die Holzplastiken darstellen sollten, von seinem Schlafplatz aus konnte er es nicht erkennen. Er wählte sich eine Statuette aus und betrachtete diese genauer, er befühlte sie auch, damit ihm auch nicht die kleinste Unebenheit entging. Die Figurine stellte Marisas Vater da, und im selben Moment da Aër dies erkannte, wusste er, warum alles hier so unterschiedlich bearbeitet war. Die groben Stücke waren schon viel früher von Marisas Vater hergestellt worden, später kamen fein ausgearbeitete Kunstwerke von Maris hinzu, als diese mit der Materie umgehen lernte. Erst nun bemerkte der Bursche, dass er nicht gewusst hatte was Maris tagsüber machte. Er hätte auch gar keine Gelegenheit gehabt darüber nachzudenken.

„Schon wach?“ Maris war aufgestanden und hinter ihn getreten, ohne dass Aër es bemerkt hatte.

„J…Ja“ stotterte er zur Antwort und fühlte sich ertappt. Er stellte den Holzholzfäller wieder an seinen ursprünglichen Platz und folgte Maris über die Treppe nach unten, während ihr Vater noch gegen den Schlaf strampelte.

„Maris, woher kennst du eigentlich deinen Namen, wenn du den deines Vaters schon nicht kennst?“ begann Aër ein Gespräch während er ihr half ein Frühstück anzurichten. Er erhielt keine Antwort. Die junge Frau setzte sich und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun.

„Du bist nicht dumm“ begann sie und legte eine kurze Pause ein, in der sie überlegte wie sie fortfahren sollte „Ich wüsste meinen Namen tatsächlich nicht, und noch seltsamer ist es, dass ich überhaupt sprechen kann, nicht wahr?“ Der Junge überlegte kurz und nickte dann. Zuvor war ihm das noch nicht bewusst.

„Es liegt an Godwin. Er kam kurz vor meiner Geburt in dieses Haus und blieb als er meine schwangere Mutter sah, um ihr zu helfen. Als sie kurz nach der Niederkunft verstarb versprach er meinem Vater für mich zu sorgen, deshalb baute er ihm eine Hütte nicht weit von hier.“

„Ach, so ist das“ meinte Aër dazu, „Dieser Godwin hat dir also einen Namen gegeben und dich sprechen gelehrt?“ Maris nickte: „Ja, aber das ist nicht alles. Sieben Jahre lang unterwies er mich und half meinem Vater das Holz zu verkaufen. Er selber durfte sich ja nicht in die Stadt wagen. Doch dann, eines Nachts, wurden wir geweckt weil jemand an die Tür pochte. Ich dachte es wäre Vater, sonst gab es ja niemanden der uns kannte, aber als Godwin öffnete standen da einige Männer in langen Kutten. Noch bevor Godwin etwas sagen konnte wurde er von einem davon erstochen. Ich schrie, und zum Glück hört mein Vater ziemlich gut. Sie hatten mich schon gepackt und wollten mich verschleppen, doch da kam Vater angerannt und… nun ja, du scheinst ihn ja in Aktion gesehen zu haben.“

Betrübt blickte der Junge zu Boden. Er wusste nicht, was er darauf hätte antworten können. Während er noch überlegte und sich dabei auf die Unterlippe biss, stand Maris auf. Ihr Vater stand am Fuß der Treppe, mit einer Träne die ihm über die Wange lief und die harten Konturen seines Gesichts erweichte. Sie umarme ihn und wischte ihm die Träne ab, während sie selbst zu weinen begann. Mit einer schluchzenden Stimme wandte sie sich wieder an Aër: „Ich bitte dich, erwähne es nicht mehr.“ Er würde es nicht mehr erwähnen.

Rina

Immer mehr Stadtbewohner erwachten, und so begann ein buntes Treiben auf den Straßen und Plätzen. Ein Mann folgte dem jungen, inzwischen getrockneten Mädchen durch die Gassen. Sie hatte sich, ohne dass es jemand bemerkt hätte, eine Birne an einem der Stände geklaut, welche sie nun genussvoll kaute. Ihr Verfolger hatte keine Augen dafür. Ihn interessierte Fleisch. Ihr Fleisch! Er hatte sie vor der Kathedrale ausgemacht und war ihr auf leisen Sohlen über den Marktplatz gefolgt.

Vorsichtig schielte er mit seinen eisblauen Augen um die Ecke, hinter der sie eben verschwunden war. Doch sie war nicht zu sehen. Vor ihm öffnete sich eine enge Passage ohne Abzweigungen, aber das Mädchen konnte er nirgendwo erblicken. Von Unglauben befallen rieb er sich mit seinen schmutzigen Händen die Augen, um noch einmal genauer hinzusehen. Doch es blieb dabei, eine enge, vielleicht einen Meter schmale Gasse, beiderseits von braunen Lehmziegelwänden begrenzt. Der Mann runzelte die Stirn und lugte langsam über seine Schulter hinter sich, nur um niemanden zu sehen und verstört den Kopf zu schütteln.

„Suchst du etwas?“

Die Worte wurden begleitet von einer eindeutigen Feindseeligkeit und einer Kälte, eisiger noch als seine Augen aussahen. Und sie kamen von oben. Über ihm, zwischen die Wände eingekeilt, hing das Mädchen und spuckte ihren Birnenstängel dicht an ihm vorbei.

„Suchst du etwa gar… mich?“

Er blickt nach oben und starrt sie mit weit geöffnetem Mund an. Seine Pupillen erweitern sich schlagartig und lassen die Iris zu einer schmalen Korona werden. Er hält sich die linke Hand an die Brust, in der sein Herz zu rasen begonnen hat. Auf seiner Stirn erscheinen kleine Schweißperlen. Er versucht noch seine Rechte zum Schutz zu erheben, doch zu schnell lässt sie die Wände los und bringt ihn durch ihren Sturz zu Fall. Im nächsten Moment berührt die scharfe Klinge ihres Stiletts seine Kehle. Mordlustig funkelndes Rehbraun trifft verängstigtes Eisblau.
 

Unter runzeligen Händen formten sich neue Figuren aus den Ch’i Ch’ae pans. Aus der Jade entstand erneut die Reisende, die schon das kleine Mädchen wiederholt gefertigt hatte. Schweiß tropfte dem Greis von der Stirn in konzentrierter Erwartung der nächsten Silhouetten. Langsam und zögerlich bewegten sich die Elfenbeinteile unter den zitternden Fingern, bis sich die Form eines Schwertes herauskristallisierte, dessen Spitze auf die Pilgerin zeigte. Der alte Mann seufzte hörbar aus. Er schloss die Augen und verwischte die weiße Waffe, nur um sofort wieder ein neues Bild zu formen- Eine Axt. Er wiederholte den Vorgang, und immer neue Waffen erschienen vor ihm, Messer und Wurfsterne, Hämmer, Bastardklingen und Sicheln. Ein Arsenal an Waffen mit dem eine Armee ausgerüstet hätte werden können. Der Atem des Alten wurde immer schneller, je mehr er legte. Die unterschiedlichen Mordinstrumente wichen den verschiedensten Tieren, Giftschlagen, Bären und Wölfe. Der Atem raste. Der Schweiß lief in Strömen vom Gesicht. Endlich wichen die Tiere einer Säule, von der der Ostasiate nicht zu sagen wusste, was sie darstellte. Erst als seine Linke einen Jadeteil aus der Wanderin löste und an die Säulenspitze setzte erkannte er diese als nun entflammte Kerze. Einige Augenblicke betrachtete er diese, dann kippte er völlig erschöpft darauf und schlief sofort ein.
 

„Angst?“

Das Wort durchbrach den ewigen Augenblick des Schweigens. Langsam stand das Mädchen auf und steckte ihren Dolch zurück. Dann streckte sie dem Mann die Hand hin um ihm beim aufstehen zu helfen.

„Willst du etwa hier liegen bleiben? Nimm meine Hand und guck nicht als sei dir ein Engel erschienen!“

Der Mann nahm vorsichtig ihre Hand und fixierte dabei seinen Blick auf ihrem Lächeln. Erst konnte er es nicht glauben und vermutete eine Falle, und entsprechend wachsam agierte er auch, stets einen Angriff erwartend. Als er mit beiden Beinen fest am Boden stand begann er jedoch langsam eine Miene zu ziehen, welche dem schüchternen Lächeln eines Kindes glich welches nicht wusste, wie ihm geschah.

„Mir ist aber ein Engel erschienen.“, murmelte er zu sich, unhörbar und mehr gedacht als gesprochen.

Erfrischendes, lebendiges Eisblau traf sanftes, warmes Rehbraun.

„Ich muss mich wohl entschuldigen und mich bei dir dafür bedanken dass ich noch leben darf.“ Er senkte dabei den Kopf und stotterte leicht.

„Musst du das?“

Der Mann dachte nicht recht verstanden zu haben und blickte auf, zögerte.

„Nun… Ja. Ich denke schon dass ich das tun sollte.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Was nützt es, wenn du behauptest es täte dir Leid oder dass du dankbar wärst? Wenn dem so ist, merke ich es an deinem Verhalten, eine Lüge jedoch wäre nur Salz für die Wunde.“

Der Mann mit den eisblauen Augen suchte nach einer passenden Antwort, doch er fand keine. Er musste erst über die Worte nachdenken, die er eben gehört hatte, und versuchen diese zu verstehen. Da er nichts sprach ergriff das Mädchen erneut das Wort.

„Mein Name ist Rina, und deiner?“

„Jason, nenne mich Jason.“
 

In einem kleinen, alten Haus, inmitten verwinkelter Gassen, saß eine Frau auf ihrem Bett und starrte mit leeren Augen in den kleinen Raum. Der sanfte Wind trug den Lärm der Straßen durch die Ritzen in den Wänden und verbreitete ihn in der kärglichen Behausung. Deutlich war zu hören, wie draußen ein lautstarker Streit begann. Zunächst hörte man nur die Stimmen zweier Kontrahenten, welche sich gegenseitig provozierten, anschließend Anfeuerungen und Wettangebote- offenbar waren den Worten Taten gefolgt.

Die Frau jedoch beachtete dies nicht, ihr faltiges Gesicht verzog keine Miene. Nicht nur weil diese Art von Geräuschen für sie beinahe zum Alltag gehörten, sie hatte schlichtweg keine Kraft für eine Reaktion. Lediglich bei dem Todesschrei des Unterlegenen schloss sie für einen Moment ihre tief liegenden, schwarz gesäumten Augen, senkte den Kopf und stieß einen stummen Seufzer aus.

Im nächsten Moment verließen alle Kräfte ihren abgemagerten Körper und sie fiel benommen auf ihr Schlafgemach.
 

„Wohin gehen wir?“

Rina folgte Jason auf Pfaden, welche sie nicht kannte. Er antwortete nicht. Stattdessen öffnete er einige Schritte später eine halbverfaulte Holztüre und bedeutete ihr, hindurchzugehen.

Der Innenraum passte zu der Türe und dem groben Stein der Mauer. Der einzige Lichtschimmer drang durch Spalten zwischen Brettern hindurch, die leicht vom selben Baum wie die Türe hätten stammen können und eine unförmige Wandöffnung bedeckten. Die Decke hing derart niedrig, dass beide nur gebückt stehen konnten, der beißende Geruch von Urin füllte jede schutzlose Nase, und die einzige Einrichtung bestand aus einer kleinen strohbedeckten Fläche am Boden und einer Schüssel schmutziges Wasser, welche einen gefährlich bruchversprechenden Riss hatte, sowie eine kleine, grob gearbeitete Schatulle.

Rina setzte sich auf das weichere Stroh, woraufhin sich einiges an Ungeziefer aus dem Staub machte, von dem ebenfalls einiges herumlag.

„Dein Unterschlupf?“

Jason nickte als Antwort. Auch er ließ sich nieder, Rina betrachtend, wie sie den Raum betrachtete.

„Es ist nicht viel, aber es schützt vor Regen, Sonne, Wind und sogar ein bisschen vor Kälte.“

Erneut trafen sich die unterschiedlichen Augenpaare. Nicht von Gefühlen gefüllt, sondern von der Unwissenheit erfüllt, was nun geschehen sollte. Es vergingen einige Augenblicke, ohne dass auch nur ein Wort fiel, in gegenseitiger Musterung.
 

Aër war an diesem Tag bereits deutlich besser im Umgang mit dem Beil. Ihm war, als hätte er nie etwas anderes getan denn Holz zu hacken. Er fühlte sich auf eine Art lebendig, die er zuvor nie gekannt hatte. Er spürte das vom Morgentau feuchte Gras unter seinen immer noch nackten, inzwischen verheilten Füßen, lauschte dem zwitschern der Vögel und meinte manchmal sogar, das Leben durch die Stämme der Bäume fließen zu spüren.
 

„Woher kommst du?“, fragte Jason plötzlich, um die Stille zu durchbrechen. „Hast du einen Schlafplatz?“

Rina zögerte. Der Stille wurden einige Sekunden längere Existenz geschenkt, doch schließlich begann die junge Frau zu sprechen.

„Ich wurde in dieser Stadt geboren und bin hier aufgewachsen. Früher wohnte ich bei meiner Mutter doch vor ein paar Tagen…“

Sie stockte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verriet, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Jason merkte wohl nichts davon.

„Ist sie gestorben?“

„Nein. Aber ich möchte nicht darüber reden, bitte.“

„Muss ich wohl akzeptieren. Schlafplatz wirst du wohl keinen haben, richtig? Aber du darfst gerne hier schlafen, wenn du möchtest. Immerhin…“

Er schluckte hinunter, was ihm eben noch auf der Zunge lag, und wartete stattdessen auf eine Antwort. Sie aber betrachtete ihn nun mit durchdringendem Blick, einem, der jedes Geheimnis aus den tiefsten Tiefen des Unterbewusstseins lesen konnte wie ein Buch. Rina konnte nicht lesen.

„Ich wäre dankbar, ich wüsste nicht wohin sonst.“

„Nicht der Rede wert,“

Eine abwertende Geste unterstrich Jasons Worte, bevor er weitersprach.

„Weißt du auch schon, wie du sonst über die Runden kommst? Hübsche Mädchen wie du haben da zwar eine starke Tendenz, aber…“

Kopfschüttelnd schnitt sie ihm den Satz ab.

„Ich weiß noch nicht, was ich mache, aber es wird sich auch etwas anderes finden lassen. Woher bekommst du dein Essen?“

Mit einem fast hämischen Grinsen zog Jason eine Waffe. Es war ihr Dolch, von dem sie nicht einmal bemerkt hatte, dass er ihr abging.

„Was ich brauche, das nehme ich mir einfach. Es ist recht simpel, wenn man einmal weiß worauf man achten muss.“

Mit schnellem Griff entriss Rina ihm den Dolch. Anschließend zeichnete sich auch auf ihrem Gesicht ein Grinsen ab. Und langsam, ganz langsam, wurde aus dem gemeinsamen Grinsen ein gemeinsames Lachen.
 

Das Leben der Bäume. Aër begann zu begreifen. Es wurde ihm bewusst, dass jeder Schlag seines Beils ein lebendes Wesen traf. Er wusste nicht, ob es Schmerz empfand, ob es den Tod fühlte, oder Angst davor, doch ihm wurde bewusst, dass er tötete. Betroffen blickte er zu Boden und sah auf die Wurzeln des Baumes, den er als nächster fällen würde. Ein junger Sprössling brachte ein Stückchen grün in den ansonsten von Brauntönen dominierten Waldboden. Aër bückte sich, um ihn näher zu betrachten. Es war eine junge Eiche, wie Aër an der markanten Form der kleinen Blätter erkennen konnte. Er berührte den zarten Stängel und beobachtete, wie sich der Jungtrieb wandte, wenn er auf ihn blies.

Aër wusste nichts von den Vorgängen in Pflanzen, fremd war ihm, dass sie Sonnenlicht benötigten um zu wachsen. Doch er erkannte, dass dieser junge Eichentrieb niemals wachsen können würde, solange er derart dicht an einem ausgewachsenen Baum stand. Eher noch würde er von seinem großen Nachbarn erdrückt und überwachsen werden. Es dauerte nicht lange, bis der Baum blankem Stahl nachgab und Platz für den jungen Trieb machte.
 

Eine abgemagerte Gestalt erwachte, setzte sich auf und starrte resigniert in die Leere. Sie zeigte keinerlei Regung und gab keinen Laut von sich. Nur wenn man genau hinsah konnte man im Halbschatten eine Träne erkennen, die sich unter einem braunen Auge bildete. Langsam sammelte sich die salzige Flüssigkeit zu einem Tropfen, bevor sie die Reise nach unten begann. Durch einen Wall feiner Härchen hindurch, über eine raue, zerklüftete Landschaft, hinab über die unendlichen Weiten einer Wange bis zum Kinn, von dort durch die Lüfte segelnd hinab auf ein schmutziges Tuch, das von zwei faltigen, ausgemergelten Händen mit aller aufwendbarer Kraft festgehalten wurde.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2008-05-07T17:49:04+00:00 07.05.2008 19:49
Hi (CfC Rückkommi),

Erst einmal zu deinem Kommentar. Ich war auch erst 14, als ich mein Adult Kapitel geschrieben habe.... oder 13? Das Problem mit den langen Pausen kenne ich ebenfalls, zumindest bei meiner längsten Geschichte, die 500 hangeschriebene Seiten umfasst.

Dann erst einmal allgemein zu Aer: Du hast einige Rechtschreib/Kommatafehler, die aber kaum stören, hauptsächlich Groß- und Kleinschreibung.

Der Stilwechsel, den du erwähnt hast ist schon eher störend: Inmitten von hochgestochenen Sätzen kommt plötzlich ein Wort wie "flennen" vor. Das ist mir in jedem Kapitel aufgefallen.

Die Geschichte gefällt mir, auch wenn der Stil für mich etwas gefühlsbetonter sein könnte, aber das ist persönlicher Geschmack. Zudem mag ich die Perspektivenwechsel, die die Spannung steigern, auch wenn sie im letzten Kapitel fast überhand nehmen.

Was ich teilweise witzig finde, sind deine Synonyme. Der Hohepriester wird zum Gottlosen (Kap 1), während ein Holzfäller plötzlich Athlet wird (Kap 4), als hätte er sich bei den olympischen Spielen eingeschrieben. Das mit dem Gottlosen kann ich nachvollziehen, aber eine kleine Erklärung wäre schon nett.

Außerdem habe ich das Gefühl, dass Aer mit dir älter geworden ist. Ich war nie ein dreizehnjähriger Junge, aber ich weiß, dass ich als Dreizehnjährige nicht ganz so vernünftig und "cool" gewesen wäre, wenn ich über ein Leiche stolpern würde oder plötzlich von einem axtschwingenden Hünen gerettet werden würde. Auch seine Verletzungen heilen erstaunlich schnell. Wenn er schon in seiner eigenen Blutlache saß, wie sollen seine Füße nach wenigen Tagen wieder verheilt sein? Im Allgemeinen haben Geschehenisse zu wenig Konsequenzen. Rina müsste dor halb verrückt geworden sein vor Angst und Schmerzen, aber sie unterhält sich völlig normal mit einem der verhassten Häscher.

Zum Inhalt: Ich mag das Rätsel des alten Mannes. Aber leider verstecken sich auch dort Rätsel, wo sie nicht sein sollten. Zum Beispiel verstehe ich den Übergang zwischen Kapitel drei ud viel nicht. Er hat doch die selbe Klappe genommen, durch die er hineingekommen ist, wieso irrt er dann umher?

Zum Prolog muss ich sagen, dass dort oft die Bezüge unklar sind. Es wird nicht sofort klar, ob du die ganze Zeit von demselben Haus, derselben Frau sprichst. Und der Sinn des Abschlusssatzes hat sich mir bis jetzt noch nicht erschlossen.

Aber es ist ja auch schon lange her^^

Im letzten, und vermutlich neusten Kapitel, ist mir allerdings ein Zeitwechsel aufgefallen, im zweiten Absatz. Darauf solltest du achten.

Zum Schluss noch eine kleine Bitte: Versuche die Welt, in der die Geschichte spielt mehr einfließen zu lassen. Die Bruchstücke, die man herausließt hören sich interessant an, aber im Gesamten habe ich die Stellung der Sekte, die Gesellschaftsform und die allgemeine Geographie nicht erfassen können. Vielleicht ist es Absicht, aber auf mich wirkt es etwas... mh, unfundiert? Als würdest du jedem Ereignis die passende Welt zuschneiden können.

Ich hoffe, das hört sich nicht allzu negativ an, denn es ist nicht so gemeint^^

Bye,

Naoki-chan

PS. Ich fand das Gedicht im Prolog toll. Vor allem für einen Vierzehnjährigen. Oder hast du es später hinzugefügt?
Von:  Taroru
2008-04-18T06:26:01+00:00 18.04.2008 08:26
hey ^^
so ich hab jetzt endlich mal geschaft alles zu lesen und ich bin begeißtert. vor allem schaffst du es so viele charaktere mit ein zubringen, die vom charakter her so verschieden sind. du schaffst es landschaften und handlungen gut in szene zu setzen ^^ deine story hat mich richtig gefesselt ^^ wann geht es weit???? XD

Von:  theDraco
2008-03-25T17:20:44+00:00 25.03.2008 18:20
Servus! ^^

Habe gerade die ganze Geschichte in einem Rutsch verschlungen! *_*
Eigentlich wollte ich sie nur mal kurz anlesen ... da kannst Du mal sehen, was für einen grandiosen Schreibstil Du hast!
Der Text hat mich total in seinen Bann gezogen! *_*
Es wäre schade, wenn Du ihn rausnehmen würdest, um ihn umzuschreiben ... ich wüsste auch nicht, was Du noch dran verbessern könntest.

So viele Rätsel, so viele ungelöste Fragen ... so viele Leute, von denen man noch nicht weiß, welche Beziehung sie einmal zu einander haben werden...
WOW!

Du schreibst einfach himmlisch gut!
Wenn wieder ein Kapitel fertig ist, gibst Du mir dann vielleicht bitte Bescheid? ^^

Deine Ideen reichen sicherlich für einen fantastischen Roman! Was sag ich, eine ganze Romanreihe! XDD
Wäre super, wenn Du dranbleibst und was draus machst. ^^

Diese Story ist jedenfalls in meiner Favoritenliste gelandet. ^^

Grüße,
Draco
Von: abgemeldet
2007-12-11T12:33:10+00:00 11.12.2007 13:33
Ich nutze die Kommentarfunktion mal Schamlos aus, um noch ein paar Dinge dazu zu sagen:
Ich habe in der Entwicklung immer wieder lange Pausen eingelegt. um genau zu sein: Kapitel 3 entstand etwa 2 Jahre nach den ersten beiden, Kapitel 4 ist jetzt, ein Jahr später, am entstehen. Ich hatte mir, als ich mit zarten 14 Jahren begann, die Story in groben Grundzügen für mehrere Generationen zurechtgelegt und dachte mir, es wäre ein leichtes, das alles zu schreiben- Denkste, 14jährige sind viel zu naiv xD Deshalb sollte sich keiner allzuviel Hoffnung machen, dass er jemals den Schluss erfährt... vielleicht schreiben ihn ja mal meine Enkel ;)
Apropro 14... sollte das erste Kapitel auf Adult gestellt werden fände ich das echt zum schießen^^

Zudem ist es so, dass sich natürlich auch mein persönlicher Geschmack mit der Zeit ändern wird, das erkennt man ja auch an allerlei anderen Jungautoren, zB. bei Eragon. Jetzt bin ich im Zwiespalt, denn ich will nicht den Anfang neu schreiben, kann aber auch nicht schlicht wechseln... kann also immer wieder passieren, dass Stilelemente einfließen, die da schlichtweg nicht hingehören^^ Kurze Sätze zum Beispiel. Wie dieser. Während einer Stimmungsbeschreibung.

Hoffe mal ihr habt trotzdem Spaß an der Sache^^


Zurück