Zum Inhalt der Seite

Schrott zu Schrott...

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Von der Jobsuche und einem Latte Macchiato

“Die Nachrichten. Es ist Montag der dritte Februar 2025.“ War es aus dem laufenden Fernseher zu hören.

Ein Café inmitten der Innenstadt, es war gerade 20 Uhr geworden und nur noch wenige Gäste waren da. Die wenigen Verbleibenden erwärmten sich zu dieser kalten Jahreszeit an einem Kaffee, Cappuccino oder einem Tee – Hauptsache warm. Kaum einer lauschte dem Nachrichtensprecher, die Meisten waren zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie noch den Problemen der restlichen Welt hätten zuhören wollen. Dennoch schalteten die Angestellten den Fernseher nicht ab, als Berieselung aus dem Hintergrund schien das Neuste aus aller Welt also doch noch gut genug zu sein.

Ein junger Mann mit blau gefärbten Haaren, einer schon abgetragenen Jeans und einer zerschlissenen Bundeswehr-Jacke stand an der Pinnwand nahe des Eingangs und betrachtete die bunten Zettel, die dort wild durcheinander angeheftet waren.

„2-Zimmer-Küche-Bad“ – „Erst mal brauche ich etwas Geld um bei Mutti aus zu ziehen.“

„Suche meinen Hund“ – „Hab’ ich nicht gesehen, dass hässliche Vieh.“

„Altes Fahrrad kostengünstig abzugeben“ – „Schrott auf Rädern – Na klasse!“

Teo graste alles systematisch von oben nach unten ab, fand aber nicht was er suchte. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hatte sich die letzten zwanzig Jahre zwar wieder gebessert, aber eine halbwegs gut bezahlte Nebenbeschäftigung für einen 17-jährigen Schüler war trotzdem schwer zu finden.

„Nix, nix, nix...“ murmelte er während er die Blätter überflog.

Teo strich sich mit einer Hand die dunkelblauen Haare aus dem Gesicht und wurde urplötzlich auf das TV-Gerät aufmerksam, dass er von seinem Standpunkt aus noch relativ gut sehen konnte.

„Wiesbaden – Heute Nacht gegen 2 Uhr wurde ein weiterer Standort der Firma Cyberstyle Systems überfallen. Bei der Flucht kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei der Möglicherweise einer der Täter verletzt wurde. Die Geschäftsleitung von Cyberstyle meldete einen Diebstahl von patentgeschützten Daten diverser Feinmotorik-Prothesen.

Seit Anfang diesen Jahres wurde Cyberstyle Systems nun schon das vierte Mal überfallen – Jedes mal in einer anderen Geschäftsstelle. Bei jedem dieser Überfälle wurden Daten gestohlen. Die Polizei spricht von drei oder mehreren bewaffneten Tätern.“

Durch einen eisigen Windstoß wurde Teos Aufmerksamkeit nun auch vom Fernseher abgelenkt. Jemand kam herein und mit dieser Person auch etwas von der winterlichen Kälte. Sogleich wurde die junge Frau, die sich nicht lange am Eingang aufhielt von Teo gemustert, der fand, dass sie mehr einem Kleiderberg als einem Menschen glich. Sie jedoch beachtete ihn nicht, huschte an ihm vorbei zur Bar und bestellte etwas.

Teo beobachtete sie weiter. Sie zog ihre Mütze, die Handschuhe und den Schal aus und machte es sich an der Bar gemütlich. Teo ärgerte sich, dass er sie so nur von hinten sehen konnte, sie hatte schulterlanges braunes Haar, trug eine alte weinrote Winterjacke, eine weite dunkelgraue Hose und dicke Männerstiefel. Die Abgelegten Kleidungsstücke hatte sie neben sich auf dem Tresen platziert, hierbei handelte es sich um Selbstgestricktes aus den grässlichsten Farben.

Die unbekannte Frau bekam eine Milch hingestellt, zahlte sofort und leerte das Glas mit einem Zug. Jetzt machte sie eine viertel Umdrehung auf ihrem Barhocker und sah in Teos Richtung und direkt in seine Augen. Sie hatte einen Milchbart und Teo starrte immer noch zu ihr hinüber, als ihm allerdings bewusst wurde, dass sie ihn ansah, richtete er seinen Blick ruckartig wieder auf die Pinwand und tat so, als würde er lesen.

Die Frau wischte sich über den Mund und drehte sich wieder zur Bar hin.

Immerhin hatte Teo so einen flüchtigen Blick auf sie werfen können und musste nun zugeben, dass sie ihm gut gefiel, auch wenn sie sicher ein paar Jahre älter war als er. Mit Mädchen in seinem Alter hatte er nur mäßiges Glück, an eine Frau wie diese würde er sich nie herantrauen, oder doch?

So versuchte er also weiter auf die Pinnwand zu achten um vielleicht doch noch Erfolg zu haben, dennoch hafteten seine Gedanken noch bei der unbekannten Schönen und keine Minute später folgten seine Augen. Die Jacke hatte sie anbehalten und den Kopf zum Fernseher gedreht. Teo hingegen stand immer noch am selben Fleck und beäugte diese Frau. Er hätte gerne etwas mehr von ihr gesehen als nur ihren Rücken. Wäre jetzt Sommer, so hätte er wenigstens ihre Figur sehen können, ob sie sehr schlank oder doch etwas fülliger war, muskulös oder doch eher zierlich. - So bekam Teo allerdings nur einen Hinterkopf und eine dicke Jacke zu sehen.

Einige Momente stand er einfach nur so da und dachte über Möglichkeiten nach, sie ansprechen zu können und hätte er darauf geachtet, wäre er sich sicher blöd vorgekommen, wie er seine Lippen bewegte und damit seine unausgesprochenen Gedanken stumm nachsprach. „Hast’e mal Feuer?“ war ja nicht nur schon seit über einem Jahrhundert total abgegriffen, Teo war auch Nichtraucher und zudem befanden sie sich in einem Nichtraucher Café.

Was gab es noch? Nach dem Weg fragen? Ein Kompliment aus heiterem Himmel? Über das schlechte Wetter reden? – Flirten war nicht gerade Teos Stärke, auch wenn er wenig Probleme damit hatte fremde Personen anzusprechen, bei hübschen Frauen allerdings wurden seine Hände feucht, sein Mund trocken und sein Gehirn führte ihm vor Augen, wie die Frau nackt aussehen könnte. Dies alles war für ein Gespräch eher hinderlich, bei dem es darum ging sich einfach nur nicht zu blamieren und vielleicht sogar die Handynummer der Angebeteten zu bekommen.

Doch eine Alternative zum Nichtstun und der kompletten Blamage sah der junge Teo dann doch noch, überlegte sich, dass er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, schüttelte die Nervosität förmlich von sich ab und ging auf die Bar zu. Er versuchte sich in einer lässigen Gangart, die ihn allerdings zu viel seiner Konzentration kostete und er somit an den nächstgelegenen Tisch stieß. „Pass’ doch auf!“ knurrte der Herr, dessen halbvolle Tasse zwar ins wanken geriet, aber wegen mangelndem Inhalt weit davon entfernt war, den noch enthaltenen Kaffee zu verschütten. Ein kleinlautes „Tschuldigung“ entfuhr Teo schreckhaft, worauf der Mann sich einfach von ihm abwendete ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren. – Zumindest kein an ihn gerichtetes, er zog es hingegen vor noch etwas vor sich hin zu grummeln, was Teo schon gar nicht mehr beachtete.

Zweimal atmete er tief durch und ging seinen Plan – falls man das so nennen konnte – noch einmal durch: „Ich setzte mich einfach zwischen sie und den Fernseher und wenn sie mich bittet die Sicht frei zu geben, entschuldige ich mich höflich und stelle mich vor.“ Weiter dachte Teo, dass sich dann ein Gespräch sicher von selbst ergeben würde.

Nicht ganz so lässig wie zuvor, dafür aber um einiges entschlossener ging Teo an die Theke, setzte sich auf den Hocker neben die Unbekannte und versuchte das lockere Verhalten neben ihr sitzend fort zu führen.

„Ich hätte gerne eine Latte.“ Sagte Teo ohne sich zunächst Gedanken über die Formulierung dieses Satzes zu machen, aber nachdem er ihn ausgesprochen hatte, dachte er, es wäre sehr missverständlich, was er da grade herausplapperte und ergänzte: „Ma.. Macchiato.“ Daraufhin kam er sich dann allerdings noch blöder vor, denn jetzt dachte der Barmann sicher, dass Teo ihn für etwas unterbelichtet hielt, war doch eigentlich jedem klar, dass mit „Latte“ ein Latte Macchiato gemeint war und nicht etwa eine Latte aus dem Baumarkt, oder gar die etwas schlüpfrigere Variante. Der blauhaarige Junge spürte wie sein Körper schlagartig den Befehl gab Schweiß ab zu sondern, weil ihm die Situation zunehmend Peinlicher wurde, worauf hingegen sein Verstand ihm anbot in Panik zu geraten oder am besten gleich die Flucht anzutreten. Vielleicht war es sein Bauchgefühl, das sagte: „Bleib sitzen. Bleib ganz ruhig.“ Wahrscheinlicher war allerdings, dass sein Bauch nur murrte: „Ich habe seit heute Mittag nichts mehr zum verdauen bekommen, jetzt will ich wenigstens diesen Latte Dingsda!“ und dass Teo wie erstarrt sitzen blieb verdankte er wohl dem Mann hinter der Theke und seiner eher dürftig ausformulierten Frage: „Hä?“

Zugegeben, war das Personal hier weder besonders schnell noch besonders höflich, weshalb es sicher ein Wunder war, dass der Laden sich solange halten konnte, war er doch immerhin mitten in der Innenstadt und auch nicht gerade klein, aufgrund dessen die Miete sicher auch nicht zu knapp ausfiel. Teo wiederholte sich und sprach dabei etwas langsamer: „Ich hätte gerne einen Latte Macchiato, bitte.“ Der Kellner nickte ihm zu und begab sich zur Kaffeezubereitung und ähnlichem. Nachdem Teo das Gefühl hatte jetzt fast alle nur erdenklichen Peinlichkeiten in nur wenigen Sekunden durchlebt zu haben, hatte er jetzt zu allem Überfluss auch noch Bedenken arrogant gewirkt zu haben, aber das versuchte er zu verdrängen, glaubte er außerdem aus den Augenwinkeln den Anflug eines Lächelns bei der hübschen Frau bemerkt zu haben. Er traute sich nicht sie direkt anzusehen, sah sie immerhin in seine Richtung. Sie sah genau genommen zwar an ihm vorbei auf den Plasmabildschirm, aber dennoch war es seine Richtung!

Er versuchte das kurze Grinsen einzuordnen. Machte sie sich über ihn lustig oder lächelte sie ihn eher an? Sie schien ihn jedoch nur kurz zu bemerken und im Bild schien er ihr auch nicht zu sitzen – irgendwie war der Winkel anders als er von der Pinnwand aus erschien. Aber der 17-jährige nutzte, dass sie den Nachrichten mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm und so versuchte er ihr Gesicht zu mustern, indem er so tat, als würde er in Erwartung seiner Bestellung dem Barmensch hinterher sehen, der in ihre Richtung verschwunden war.

Sie hatte weiche Gesichtszüge die sanft von ihren glänzend braunen Haaren umspielt wurden, ihre Haut hatte einen leichten hauch von bräune, was sie angesichts der Jahreszeit schon fast wie eine Südländerin aussehen ließ. Ihre Lippen wirkten so sinnlich und zart, als hätten sie der Kälte der letzten Wochen sprichwörtlich die kalte Schulter gezeigt und ihre geheimnisvollen, dunkelbraunen Augen rundeten das ganze ab. Vorher ahnte Teo nur, dass sie aus der nähe atemberaubend aussehen musste – jetzt wusste er es!

„Is’ was?“ fragte die jungen Frau und Teo erfreute sich sicherlich für die Zeit eines ganzen Wimpernschlages an ihrer wohlklingenden Stimme. Dann wurden ihm allerdings schlagartig zwei Dinge klar. Erstens: Er starrte sie an! Und zweitens redete sie mit ihm!

Teos Mund war geradezu bereit eine passende und glaubwürdige Antwort zu liefern, sein Verstand versagte allerdings vollends und so kam es, dass sich seine Lippen nach Worten ringend bewegten und ihm lediglich ein einziger Buchstabe zu seiner Verteidigung blieb: „Ääää...“

Die junge Frau neigte den Kopf etwas zur Seite und verstärkte ihren fragenden Blick. Der junge Mann hingeben suchte verzweifelt nach der perfekten Ausrede, jemanden absolut verträumt und freudestrahlend anzustarren. Selbst wenn es so etwas wie eine perfekte Ausrede gab, dann würde Teo sie sicher nicht vor dem nächsten Wochenende finden, ganz zu schweigen von zehn Sekunden. Was ihm hingegen einfiel, war der gut gemeinte Rat eines Freundes, der lautete: „Beantworte Fragen immer mit Gegenfragen!“ Dies war zwar damals auf ein Verhör von Polizeibeamten gemünzt, als besagter Freund Selbstexperimente mit leichten Drogen machte, aber so weit dachte Teo jetzt auch nicht mehr und als die fragend drein schauende Dame schon fast keine Antwort mehr erwartete, brach es aus ihm heraus: „Die Nachrichten! Wann kommen die?“ Und mit einem Blick der vermittelte, dass sie erkannte, dass das nicht der eigentliche Beweggrund war, zeigte sie lediglich auf den Fernseher und kommentierte: „Du kommst gerade noch rechtzeitig zum Wetter.“ Teo bedankte sich absolut übertrieben bei ihr und um den schein zu wahren drehte er sich zu dem TV-Gerät und begutachtete die Wölkchen auf der Wetterkarte. Innerlich biss er sich in Hintern, dachte sie würde ihn nicht mal aus großer Entfernung wiedersehen wollen oder vielleicht wollte sie sogar, dass er jetzt schon ging. War an diesem Flirtversuch noch irgendwas zu retten? Gab es vielleicht noch den Hauch einer Chance, dass sie ihn nicht für einen vollkommenen Idioten hielt? – Wenn „Ja“, dann würde er es versuchen. Teo war Optimist und wenn er noch so sehr auf Widerstand stieß – so schnell gab er nicht auf!

„Kühl und trocken“ wiederholte er die Wetterfee und fügte noch grinsend hinzu: „Wer hätte das gedacht?“ Doch als er sich umdrehte, war da nur noch der Barmann, der ihm sein Heißgetränk hinstellte und gelangweilt kommentierte „Ja, ja, wer hätte das gedacht?“

Sie war einfach gegangen und das obwohl Teo gerade dabei war den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen oder sich hätte zumindest für sein dämliches Verhalten entschuldigen können. Sich entschuldigen! Wenigstens das wollte er noch, beschloss er, stand auf und wollte ihr grade noch hinterher hasten, als er bemerkte, dass sich seine Jacke irgendwie an dem Barhocker eingeklemmt hatte und er diesen begann mit sich zu ziehen. In einer viel zu schnellen Bewegung drehte er sich, um sich zu befreien und stieß dabei gegen den Latte Macchiato, der nicht einfach um fiel, sondern schlingerte und sich in seine Richtung ergoss. Vor Schreck wich Teo zurück, weil er aber immer noch durch seine Jacke mit dem Hocker verbunden war zog er den zu sich und zielte damit tadellos auf seine Kniescheibe. Der Junge mit den blauen Haaren ging zu Boden und hörte noch wie nach ihm auch das Glas seiner Bestellung vom Tisch rollte, auf den Fliesen aufschlug und zerbrach.
 

Nach diesem Tag war eigentlich schon die ganze Woche gelaufen und Teo wollte nur noch nach Hause und sich ins Bett legen um am nächsten Tag nicht ganz so verschlafen auszusehen, wie er es jetzt vermutlich tat und vor allem Anderen wollte er diese ganze peinliche Geschichte vergessen. Vor dem Eingang blieb er stehen und blickte noch einmal zurück, wo der mürrische Kellner jetzt zur Putzfrau mutiert war und sich daran machte den Schaden zu beseitigen. Der Junge schüttelte den Kopf, kommentierte damit aber nur seine eigene Schussligkeit.

Grade wollte er sich aus der Tür herausschleichen, als ihm ein Zettel an der Pinnwand auffiel, der vorher noch nicht da war. Ein kleiner Notizzettel in Himmelblau mit vier roten Reißzwecken befestigt, exakt in der Mitte der Tafel, als hätte man ihn mit einer Wasserwaage ausgerichtet. Teo kam einen Schritt näher, streckte seinen Hals und kniff die Augen etwas zusammen, um zu lesen was auf dem Zettel stand. Normalerweise hätte man an so einer öffentlichen Pinnwand eine Beschreibung dessen erwartet, was der Schreiber dieser Notiz sucht oder loswerden möchte, doch auf diesem stand unerwarteter Weise nur eine Adresse und darunter: „Morgen 15 Uhr“ – „Wer schreibt denn sowas?“ murmelte Teo. Auf dem Zettelchen stand wirklich Morgen, und wenn jemand das erst Morgen liest, dann erscheint derjenige doch Übermorgen. Normalerweise schreibt man dann doch ein Datum, oder nicht?

Teo war auf der einen Seite sehr skeptisch, auf der anderen Seite konnte die Nachricht auch von der unbekannten Frau stammen und dann wäre es eine Schande, wenn er diese Gelegenheit nicht nutzen würde um sie noch einmal wieder zu sehen. Er fragte sich jedoch was sie wollte, ob sie privates oder doch eher berufliches Interesse an ihm hatte, oder ob sie gar nicht ihn persönlich damit ansprechen wollte. Dem allem vorausgesetzt war natürlich, dass sie es war, die den blauen Zettel schrieb.

Teo sah sich kurz nach allen Seiten um, dann riss er das kleine Stück Papier von der Wand, ging hinaus und verschwand in der Nacht.

Manche Dienstage kommen mir vor wie ein zweiter Montag

Als Teo an diesem Abend nach Hause kam war es gerade einmal 21 Uhr. Bis er seinen alten Stadtplan wieder aufgestöbert hatte, herausfand wo sich die Adresse auf dem geheimnisvollen Zettel der noch geheimnisvolleren Frau befand und eine gute Fahrradroute dorthin gefunden hatte verging noch etwas Zeit, doch selbst nachdem er sich seinen Weg markiert und den Plan in die Schultasche gesteckt hatte, konnte er nicht einschlafen. Er ging in Gedanken jedes vorstellbare Szenario durch, dass ihn Morgen erwarten könnte, auf jede Kleinigkeit wollte er vorbereitet sein, um seine Schussligkeit halbwegs unter Kontrolle zu haben. Leider war morgen Unterricht und Teo hoffte diesen so schnell wie nur möglich hinter sich bringen zu können.
 

Als Teo dann Stunden später doch endlich einschlief träumte er von der hübschen Frau.

In seinem Traum waren sie im Kino, es war dunkel, aber der Film spendete immerhin noch so viel Licht, dass er ihr Gesicht erkennen konnte. Teo erkannte nicht welchen Film sie sich da ansahen, aber wen interessierte das schon?

Ihre Hand lag auf der gemeinsamen Lehne und er konnte nicht anders als ihre Hand zu ergreifen. Sie drehte sich kurz zu ihm um und lächelte, sah dann aber wieder auf die Leinwand und nahm mit der noch freien Hand etwas Popcorn. Teo würdigte den Film keines Blickes – weshalb er wohl auch nicht wusste was da lief – und suchte weiter Augenkontakt mit seiner Begleitung. Als er mit seinen Fingern an ihrem Unterarm entlang strich grinste sie wieder, während sie noch etwas von dem Popcorn im Mund hatte und dies auch weiter kaute. Sie wich Teos Streicheleinheiten mit einer Flucht nach Vorne aus, indem sie ihren Arm an seine Schulter legte und sich ihm mit ihrem Kopf langsam näherte. Teo befeuchtete seine Lippen – jetzt würde er sie endlich küssen! Er wurde aufgeregter, atmete schneller und ihm wurde warm. „Ich kenne nicht einmal deinen Namen…“ bemerkte Teo in einem Flüsterton und sie hauchte ihm zu: „Den verrate ich Dir wenn Du mich küsst. Also los, küss mich Teo!“ Darauf hin schloss Teo die Augen, spitze die Lippen leicht und näherte sich seiner Herzensdame…

„Eiscreme! Wer möchte ein Eis!?“ Teo schreckte in seinem Sitz auf und sah die Eisverkäuferin an, die mit monotoner Stimme ihr Blöken fortsetzte: „Schoko, Vanille, Erdbeere, Himbeere, Banane – Schnee in allen Geschmacksrichtungen! Schnee! Wer möchte Schnee!?“ – Moment! Schnee? Müsste es nicht Eis heißen? Und warum klang die Stimme der Eisverkäuferin auf einmal wie die seiner Mutter?

Jetzt schreckte Teo nicht in seinem Sitz, sondern in seinem Bett auf, denn da war kein Kino, sondern nur sein abgedunkeltes Zimmer. Da war auch keine hübsche junge Frau, die neben ihm saß und es gab keine Eisverkäuferin, nur seine Mutter, die zum Fenster hinausstarrte und sich kopfschüttelnd zum Wetter äußerte: „Wer möchte denn diesen vielen Schnee?“

Teo fand diese Frage absolut überflüssig – Niemand mag Schnee! Man muss irgendwo hin, es schneit und man kommt nicht voran, weil die Straßen glatt sind und so muss man dann also in der Kälte stehen und warten. Niemand wartet gerne und Niemand friert gerne, deswegen mag auch niemand Schnee! Außer vielleicht an Weihnachten, da wollen ihn plötzlich Alle!

Es half jedoch auch nichts den Schnee zu hassen, denn nachdem Teos Mutter ihn aus dem Bett gejagt hatte, er eine Scheibe Toast im stehen gegessen und einen Kakao im gehen getrunken hatte jagte sie ihn auch schon zur Schule.

„Lauf lieber, es ist viel zu glatt.“ Ermahnte sie ihn dann noch, aber wie das mit jungen Leuten nur allzu oft ist, ignorierte Teo die Warnung seiner Mutter und nahm sein Rad – um nicht ganz fünf Minuten später auf die Schnauze zu fliegen. Zum Glück beherzigte er wenigstens einen anderen Rat, den er sich seit Mitte September anhören durfte.

„Junge, es ist kalt, zieh dir was Warmes an.“

Die dicke Kleidung machte seinen Sturz nicht erwähnenswert und so konnte er getrost weiterfahren… Nein, er hielt es jetzt doch für besser sein Fahrrad zu schieben und kam sogar noch pünktlich zur Schule.
 

Mathematik in den ersten beiden Stunden. Wer hatte sich bloß diesen saublöden Stundenplan ausgedacht? Nur Sozialkunde hätte Teo noch dösiger gemacht, aber die monoton reizlose Stimme des Mathematiklehrers tat sein Nötiges, um in Teo den Wunsch zu wecken, seine Bettdecke wieder von unten sehen zu wollen und so drapierte er die überkreuzten Arme mit seinem blauen Schopf.

Zu Teos Glück verließ seine Klasse den Saal nicht und weil er von niemandem gestört wurde, wachte er erst zu Herrn Gabriels Verlesung der Deutsch Hausaufgaben am Ende der sechsten Stunde wieder auf. Herr Gabriel war sehr bemüht Hochdeutsch zu sprechen, was ihm meistens auch gelang, auch wenn man hin und wieder merkte, dass er aus dem „hohen Norden“ kam. Irgendwie fragte sich Teo jetzt, wo die unbekannte Frau wohl her stammte und warum sie hierher gezogen war oder ob sie schon länger in der Stadt wohnte oder vielleicht nur beruflich hier zutun hatte. Irgendwie hatte er gehofft, sich wieder zu ihr in das Kino zu träumen – Leider vergebens.

Teo war nach seinem Nickerchen fast so erledigt, wie die Mitschüler, die nicht geschlafen hatten – außer Raffael vielleicht. Der saß nämlich neben Teo und war gerade dabei, ihren gemeinsamen Tisch mit einem Totenschädel zu verschönern und irgendwie schien der Lehrer auch das nicht zu bemerken. Teo rieb sich den schlaf aus den Augen – immerhin war er jetzt ausgeruht. Er sah zu seinem Tischnachbarn rüber und warf dann einen kurzen Blick auf den gesamten Tisch, auf dem Raffaels gesamte Kunstwerke des vergangenen Halbjahres zu bestaunen waren. Ein ganzer Haufen düsterer Motive, Namen von Metall und Gothic Bands und irgendwelche Kritzeleien, die Teo nicht deuten konnte. Was er allerdings ganz eindeutig sah, war, dass der Tisch bald mehr aus schwarzem Edding als aus Holz bestand.

„Meinste nich’ es is langsam genug?“ wollte er wissen und nickte mit dem Kopf in Raffaels Richtung, bekam aber als Antwort nur kurz ein verächtliches Schnauben und einen spöttischen Gesichtsausdruck zugeworfen, dann widmete sich der Künstler wieder seinem Werk. Raffael redete nie besonders viel, also zumindest nicht mit jedem, Teo war einer der wenigen, mit denen er sich gut verstand. Aber Raffael machte sich meist auch nicht viel aus Gesellschaft und diese Abwehrhaltung versuchte er auch zu zeigen, durch seine düstere Kleidung, den schwarz gefärbten Haaren und Piercings durch Nase, Ohren und durch die Unterlippe – Keiner wusste genau ob er nicht noch eins hatte, das man nicht sehen konnte.

Teo, der seine Haare selbst oft färbte – wenn denn das nötige Geld dafür da war – ließ sich von Raffaels Fassade nicht beeindrucken. Man könnte sogar behaupten, die beiden wären Freunde, allerdings war ihnen dieser Begriff zu wider und so beschloss man einfach nur zu sagen, man kenne den jeweils Anderen ganz gut.

Herr Gabriel war inzwischen mit seinen sehr ausführlichen Ausführungen fertig und wünschte allen Schülern noch einen schönen Tag, obwohl er eher so klang als würde er sie alle zum Teufel wünschen – was man angesichts einiger Schüler vollends verstehen kann.

„Kommste mit, was essen?“ fragte Raffael „Dienstags und Mittwochs is die Pampe in der Mensa noch halbwegs genießbar und ich brauch jetzt was Warmes.“

Teo hätte hier an sich einen Witz auf Raffaels kosten gemacht, immerhin bot sich „Ich brauch was Warmes“ nahezu maßgeschneidert für ihn an, aber irgendwie war Teo mit den Gedanken noch woanders und bestätigte ihn schlicht mit seinem Aufstehen und damit seine Tasche zu schnappen und Raffael zu folgen.
 

Während die beiden durch die Schulflure schlappsten machte sich Raffael Schuster wohl doch ein bisschen Geistige Arbeit wegen Teos Gemütszustand, weil dieser weiterhin total gedankenverloren neben ihm herlief. Er war zwar absolut nicht der Typ Mensch, der sich besonders um andere Sorgen machte, aber ein wenig neugierig war er doch und so begann er nach einiger Abwägung – er hatte Befürchtungen ihm würde wirklich ALLES erzählt werden – in der Mensa ein Gespräch einzuleiten.

„Sag mal wie heißt’n die Kleine?“

„Hm?“ war das Einzige, was Teo als Antwort geben konnte, weil er damit beschäftigt war den vorbereiteten Fahrplan im Kopf noch mal durchzugehen, dazu die Essensausgabe – er war maßlos überfordert!

„Hey Alter, ich kenn dich jetzt, seit der Siebten. So komisch bist Du nur wenn Du an etwas Arbeitest oder wenn’s ne Tussi is.“

„Bin ich das?“ hakte Teo nach und nahm sich von den Kartoffeln.

Raffael stieß ein ausatmendes kurzes Lachen aus, das genauso gut hätte ein niesen sein können und erläuterte: „Oh ja! Darf ich dich an Christin erinnern!?“

„Christina! Mit A! Ich muss Dich jedes Mal verbessern und da war ich nicht komsich!“ nörgelte Teo und fügte noch hinzu: „Außerdem war ich mit ihr fast 11 Monate zusammen, ich hab mir schon überlegt, was ich ihr zum Einjährigen schenken könnte, wer wäre da nicht schlecht drauf?“

„Also gibst Du’s zu. Du warst komisch!“ wollte ihn Raffael scheinbar aus der Reserve locken, doch dann hätte er Teo sicher nicht ignoriert und einfach weiter geredet „Und Heute bist Du auch wieder so komisch. Also wenn Du Gestern nicht noch einen Job gefunden hast und dort gleich ne Nachtschicht eingelegt hast, würde ich sagen Dich hat ne Frau wach gehalten.“

Teo sah ihn etwas verdutzt an, wären er sich – ohne darauf zu Achten – Soße auf den Tellerrand und somit auch auf das Tablett goss. Er war ein wenig verdutzt und versuchte sein Erstaunen in Worte zu kleiden. „Ich glaube fast Du solltest Ermittler werden.“ Dann erst bemerkte Teo sein mißgeschick und fluchte leise.

„Ha! Ich wusste es!“ stieß Raffael begeistert aus und fuhr – leider – fort: „Und? Hat sie Dich ordentlich geritten? Hast Du…?“

Teo griff gerade nach ein paar Servietten um die Soße dort zu entfernen, wo sie nicht hin sollte, als er Raffael voller schwindender Bewunderung unterbrach: „Ich ziehe meinen Berufsvorschlag, Dich betreffend, zurück!“

Raffael Schuster, der selbst grade kein Sexualleben zu haben schien, war irgendwie enttäuscht, nicht wenigstens ein paar schmutzige Geschichten zu hören. Doch Teo wollte ihn nicht ganz im dunkeln tappen lassen und verriet ihm einige Momente später am Tisch, dass er seit gestern Abend an diese Frau denken musste und erzählte in groben Zügen, wie er ihr begegnet war – natürlich verschwieg er den für ihn unangenehmen Teil mit dem Macchiato.
 

„Und wie alt sagtest Du ist sie?“ war die erste frage die Raffael beantwortet haben wollte, doch Teo konnte ihm da leider keine verbindliche Auskunft geben: „Ich sagte doch: So Mitte bis Ende Zwanzig, schätze ich.“

„Hey Alter, machste Dich jetzt auch schon an ältere Weiber ran!“ brach Raffael grinsend heraus und wurde sogleich zurückgepfiffen.

„Pssst! Muss doch nicht gleich jeder wissen!“

Teo blickte sich kurz um, ob jemand von den Beiden Notiz genommen hatte und als er sicher war, dass keiner der anderen Schüler seinen Tischnachbarn registriert hatten fuhr er fort: „Außerdem ist das gar nicht sooo viel älter. Und ich weiß ja nicht mal ob das ne Anmache war oder doch nur ein Jobangebot.“

Mit Beendigung dieses Satzes schien Teo wieder etwas trübsinniger zu werden und begann in seinem Essen herum zu stochern. Doch sein Gesprächspartner wollte ihn nicht so einfach wieder in seine Gedankenwelt flüchten lassen.

„Wenn es um Arbeit ginge, dann hätte sie doch drauf geschrieben um welche Art von Arbeit es sich handelt, oder?“ bekräftigte ihn Raffael und schaufelte sich darauf ein großes Stück Schnitzel in den Mund.

„Ja, irgendwie hast Du recht, aber ich bin trotzdem etwas verunsichert.“ Diesen Satz konnte Teo kaum zu Ende bringen, weil sein geschätzter Freund und Mitschüler ihn mit vollem Mund und voller Eile auf etwas aufmerksam machte.

„Fit, ef if fon einf!“ was in etwa so viel heißen sollte wie: „Shit, es ist schon Eins!“

Mit Raffaels Blick auf die Kantinenuhr ahnte aber auch Teo was gemeint war, fragte aber noch mal in einfach Ja-Nein-Fragen nach um Raffael zu Ende kauen zu lassen, ohne das dieser sich hätte großartig beeilen müssen, was er allerdings doch tat.

„Heute ist Dienstag?“ – Raffael nickte.

„Englisch?“ – Wieder ein nicken.

„Die Lehnhardt?“ – Diesmal nickte Raffael nicht nur, er verzog regelrecht das Gesicht. Und das, obwohl er noch mit schnellem kauen beschäftigt war.

An der Schule der beiden, die in den letzten Jahren stark an Schülern zugenommen hatte, beschloss man, eine Art „Schichtbetrieb“ einzuführen, um die Köche und das andere Personal etwas zu schonen. So konnten nie alle Schüler gleichzeitig in der Mensa sein. Allerdings wurde dadurch auch die Mittagspause auf eine halbe Stunde reduziert, was immer noch im gesetzlichen Rahmen lag, da man auch noch zwei viertelstündige Pausen zwischen den Doppelstunden davor hatte. Oft hatten einige Schüler jedoch das Nachsehen, wenn sie erst spät an die Essensausgabe kamen und somit wenig Zeit überhaupt etwas zu essen.

Dann hatten Teo und Raffael auch noch das Glück bei Frau Lehnhardt Unterricht zu haben. Mit ihrer Englisch-Lehrerin Ester Lenhardt war nicht gut Kirschen essen, sie bestrafte jeden noch so kleinen Fehltritt und sah einen Verstoß gegen die Hausordnung als eine persönliche Beleidigung an. Sie war einer der Lehrkörper, vor denen man keinen Respekt hatte, aber – zum Vorteil für Frau Lehnhardt – man hatte Angst vor ihr. Kein Wunder also, dass sich keiner ihrer Schüler gern verspätete, denn Pünktlichkeit war eines der Dinge, die sie am meisten schätzte.

Beide standen von ihren Plätzen auf, Raffael verschwand schnell in der Menge der Schüler, deren Unterricht erst später weiter ging. Teo jedoch schwang erst das eine Bein über die Bank, nahm dann das Tablett vom Tisch und mit einer Drehbewegung mit der er sich eigentlich nur vom Tisch entfernen wollte sah er das Unglück nicht kommen.

Das Unglück hieß in diesem Fall Nicole und hatte einen weißen Rollkragenpullover an – Das heißt natürlich, vorher war er weiß. Nach dieser Begegnung mit Teo war die Bezeichnung „Soßenbraun“ treffender.

„Du blödes Arschloch!“ schrie Nicole und sah dabei an sich hinab, was Teo natürlich nicht zu der Annahme bringen konnte, zu denken, er wäre nicht gemeint gewesen.

„Es.. es tut mir leid!“ versuchte er sie zu beruhigen, was allerdings nur mäßig bis überhaupt nicht klappte – im Gegenteil sie gab ihm sogar noch eine Ohrfeige bevor sie wütend davon stampfte und dabei eine Tropfspur hinterließ.

So ziemlich jeder der Anwesenden richtete seine Blicke auf die erzürnte Nicole, bis sie den Raum verlassen hatte, dann war Teo mit an anstarren dran, was ihn nicht weiter gestört hätte, wären unter diesen Blicken nicht auch die der Küchenhilfe gewesen. Diese stand nur wenige Sekunden später neben ihm und streckte ihm mit den einfachen aber dafür umso eindeutigeren Worten „Du wischst das auf!“ einen Mopp und einen Eimer entgegen. Diese Küchenhilfe hatte einen ekelerregend auffallenden Damenbart, aber Teo dachte daran, dass es ihm sicher nicht helfen würde sich darüber lustig zu machen und so begann er unter den Augen der bärtigen Dame – und unter denen seiner Mitschüler – den Boden von der Soße zu befreien, was ihm letzten Endes volle zehn Minuten Verspätung einbrachte. Seine eigene Hose und die Schuhe – die auch was abbekommen hatten – hatte er dabei nur flüchtig von der Soße befreien können, ohne sich noch mehr zu verspäten. Nun stand er da, außer Atem, total genervt und mit dürftig gereinigten Hosen.

Learning English is for the Cat

Zehn Minuten! Teo musste daran denken, dass mal ein Gerücht umher ging, nachdem Frau Lehnhardt einen Schüler wegen der Verspätung von zwei Minuten in ihrem Keller gesperrt haben soll und ihn dort nachsitzen ließ. Das war glücklicherweise nur dummes Zeug, dass sich einer ihrer Schüler hat einfallen lassen, weil er ihr eins auswischen wollte. – Tatsache ist allerdings, dass man herausfand wer das war und man ihn dann 4 Wochen lang nachsitzen ließ. Wer jedoch so blöd ist um mit dem verbreiten von Gerüchten auch noch auf seiner Website anzugeben, der hätte sogar 8 Wochen nachsitzen verdient!

Trotz dieser üblen Gedanken drückte Teo die Türklinke nach unten, betrat das Zimmer und wurde warmherzig empfangen: „Herr Teo Knubb, schön das sie uns auch noch mit ihrer Anwesenheit beglücken.“

Naja, warmherzig traf es nicht ganz, denn Teo hörte ganz eindeutig den Unterton in ihrer Stimme heraus.

„Es war nicht meine Schuld, ich…“ begann er den Satz und wurde von seiner Lehrerin unterbrochen, die mit strengem Blick nahezu auf ihn herab sah.

„Stören Sie nicht meinen Unterricht, Herr Knubb! Ich unterhalte mich später mit Ihnen.“ wies sie ihn an.

„Aber ich…“ setzte er erneut an, doch auch diesmal ließ sie ihn nicht zu Wort kommen.

Mit den Worten „Sie sollten inzwischen wissen, dass mich Ausreden nicht interessieren. Und jetzt setzen sie sich, bitte.“ winkte sie ihn auf seinen Platz, womit das Thema für sie vom Tisch war – Zumindest bis nach dem Unterricht. Aber wenigstens hatte sie „Bitte“ gesagt.
 

Die Englisch-Doppelstunde zog sich wie sonst ein ganzer Unterrichtstag an einem sonnig schwülen Freitag im Mai an dem man sich noch mit Freunden treffen oder Party machen wollte und Teo hatte jetzt auch noch die zweifelhafte Ehre bei cirka jeder dritten Aufgabe aufgerufen zu werden. Sogar Raffael neben ihm und die Beiden Mitschüler vor ihnen waren öfter an der Reihe als alle Anderen, als würde sie Teo bei jeder Gelegenheit ein klein wenig strafen wollen, indem sie ihn nicht einen Moment zur Ruhe kommen ließ, und damit dies nicht zu auffällig wurde entschied sie sich kurz bevor sie sagen wollte „The answer? Mr. Knubb, please!” manchmal eben doch für einen anderen Namen. Lehnhardtsches Streufeuer nannte Raffael dies abfällig. Doch sei es wie es sei, diese zwei mal 45 Minuten gingen letzten Endes auch vorbei und wie immer war Frau Lehnhardt die einzige Lehrerin, die ihre Hausaufgaben – absichtlich! – erst nach dem läuten der Schulglocke verlas.

„Wie ihr euch vielleicht noch dunkel erinnert, haben wir ja eine Klausur geschrieben…“ Einige Schüler, darunter Teo, erinnerten sich erst in diesem Moment wieder daran, weil sie diese unangenehme Erinnerung fast schon gänzlich verdrängt hatten.

„Ich teile euch die Arbeiten jetzt aus und möchte bis Freitag die Korrektur vorliegen haben, außerdem noch Englisch-Fachbuch Seite 63, die Aufgaben eins bis vier.“

Wogen der Begeisterung ergossen sich aus der Menge der Schüler. – Blanker Sarkasmus, falls Sie es nicht selbst bemerkt haben, lieber Leser/liebe Leserin.

Lehrerin Lehnhardt verteilte die Klassenarbeiten alphabetisch, nur Teos Arbeit verschwand kurzer Hand wieder unter dem Stapel, bis dieser geleert war und nur noch seine zwei voll geschriebenen A4-Seiten auf dem Lehrerpult lagen.

Raffael flüsterte Teo noch zu: „Du kommst alleine zurecht? Soll ich warten?“

„Keine Sorge, ich hab’ ja eh noch was vor.“ beruhigte ihn Teo und fügte hinten an: „Hoffe nur ich werde nicht zu lange aufgehalten.

„Herr Schuster, würden Sie sich bitte beeilen? Ich habe noch etwas mit Herrn Knubb zu besprechen.“ Ermahnte die Lehnhardt Raffael zum gehen und dieser verschwand auch sogleich mit großen Schritten. Jetzt waren Teo und Frau Lehnhardt alleine im Klassenraum.

„Ich wollte ohnehin einmal ein Gespräch mit ihnen führen, Herr Knubb. Wie schätzen Sie sich denn selbst ein?“ fragte die Frau auf dem Stuhl hinter dem Lehrerpult mit leicht genervt klingender Stimme, während sie ihre Lesebrille wieder absetzte.

„Naja, so ganz okay.“ Druckste Teo herum.

„Herr Knubb, ich wollte von Ihnen eine Einschätzung über sich selbst. Ich habe nicht gefragt, wie Ihnen Ihr Mittagessen geschmeckt hat, wenn ich das wissen wollte, hätte ich mir ihr Schuhwerk genauer angesehen.“ Warf sie ihm vor und es schien als würde diese Unterhaltung sie zutiefst langweilen. Teo wusste, wenn sie solch gehässige Bemerkungen machte, wollte sie den Schüler, den sie vor sich hatte – in diesem Falle er selbst – bloßstellen, was zumindest ein kleinwenig angenehmer ist, wenn keiner der Mitschüler mehr anwesend ist, die es teilweise genießen wenn andere von den Lehrern fertig gemacht werden. Das wusste Teo aus eigener Erfahrung, versuchte aber ruhig zu bleiben, denn er wusste auch, dass diese boshafte Frau irgendwie spürte, wenn jemand Angst vor ihr hatte.

„Ich denke es ist eine drei geworden“ riet Teo.

„Wenigstens im Schätzen sind sie besser als in Englisch. Und? Sind sie mit Ihrer Leistung zufrieden?“ hakte sie gleich nach.

Teo versuchte nicht lange nachzudenken, ließ aber als Lückenfüller ein langes „Hmmm…“ seiner Antwort vorausgehen.

„Es reicht aus.“

Frau Lehnhardt seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Wissen sie, dass sie vor einem Jahr noch einer meiner besten Schüler waren? Irgendwie hatte ich für Sie gehofft, ich kann ihnen dieses Jahr eine Eins geben, statt sie nur mit einer Zwei vertrösten zu müssen und jetzt rutschen Sie noch mehr ab. Sie sollten sich wirklich mal überlegen, wo Ihre Prioritäten liegen, und vielleicht bereiten sie sich für die nächste Klausur mal wieder etwas besser vor.“ Mit diesen Worten überreichte sie Teo seine Klassenarbeit, die er sich wortlos nahm und ging.

„Die Seiten 89 und 90.“ Hörte Teo einen Schritt vor der Türschwelle noch hinter sich und drehte seinen Kopf in Frau Lehnhardts Richtung.

„Die machen Sie mir noch zusätzlich! Oder glauben Sie, ich hätte ihre Verspätung vergessen?“ ergänzte sie mit schadenfreudigem Unterton.
 

Schnell durch den Flur!

Die Treppe hinunter gehetzt!

Durch den Haupteingang gestürmt!

Wie von Sinnen zum Fahrradständer gejagt!

Hektisch das Schloss geöffnet!

Letzter Blick auf die Uhr!

Schon 14:37!

Fremde Hand auf der Schulter!
 

Erschrocken und abgehetzt schlug Teo die Hand weg, drehte sich um und erblickte drei Typen, von denen er keinen mit Namen kannte. …Außer dem Einen … Naja, er fing mit „S“ an, vielleicht auch mit „U“ oder „O“ …Jedenfalls wusste Teo, das dessen Mutter mal mit seiner Mutter so einen Volkshochschul-Kurs besucht hatte – Aber er hatte keine Ahnung welcher Kurs das war.

Den Kerl, der vor ihm stand erkannte er erst einen Moment später, aber sein Name fiel Teo trotzdem nicht ein, er wusste nur, das es Nicoles Freund war, was schon erklärte was er hier wollte – Kann man sich ja nicht gefallen lassen, wenn Einer der eigenen Freundin Essen über den Pulli verteilt.

Drei Vollidioten wie diese gab es an jeder Schule, nur ihre Zahl war nicht immer die Selbe. Man konnte sie Sportler nennen oder Schläger oder Jugendliche mit nichts als abgestandenem Wasser im Kopf oder hirntotes Gesindel…

Diese Liste mit Bösartigkeiten wäre bis ins Unendliche fortzuführen und auch wenn Teo das jetzt lieber getan hätte, als sich mit ihnen Leibhaftig auseinander zu setzen, so blieb ihm wohl keine andere Wahl.

„Hey, haste Dich wohl versteckt?“ lautete die geistreiche Frage des Obervollidioten und weil Teo die Prozedur des „Schläge Anzettelns“ gut kannte versuchte er dem aus dem Weg zu gehen, indem er sie einfach ignorierte und sich auf sein Fahrrad schwang. Doch was Teo schon ahnte geschah, Nicoles Freund hielt den Lenker von Vorne fest und hinderte Teo am wegfahren. Teo hatte weniger Angst um seine körperliche Unversehrtheit, sonder eher um sein Fahrrad. Eine Platzwunde wird genäht, verheilt irgendwann und hinterlässt eine möglicherweise noch ganz cool wirkende Narbe, aber wenn dem Fahrrad was passieren sollte, so war sich Teo sicher, dann würde er Wochen für Ersatzteile sparen müssen, ganz zu schweigen von einem neuen Rad. Der Drahtesel bedeutete für Teo ein Stückchen Unabhängigkeit von seiner Mutter, die ihn sonst überall hinfahren müsste, bis er sich irgendwann ein eigenes Auto oder erst einmal den Führerschein leisten konnte.

„Ey, warum schlägst`n Du Frauen? Soll ich Dich mal schlagen?“ provozierte der überaus schlecht informierte Schläger, doch Teo blieb ganz ruhig, verbaler Dünnpfiff war die erste Phase einer Prügelei, leichtes schubsen, war die zweite. Dabei war es für den Blödmann immer wichtig möglichst pseudo-psychopathisch in die Augen des Opfers zu sehen. Gucken die sich das eigentlich bei Gangster-Rappern oder eher bei Aktionfilm-Schurken ab?

Bis zu Phase Zwei ging es auf reines einschüchtern oder provozieren hinaus. Ließ sich das Opfer provozieren, konnte ja immer noch behauptet werden, man hätte mit der Schlägerei nicht angefangen. Lässt sich jedoch jemand von diesem primatenhaften Getue unterbuttern – Ich möchte hier niemanden beleidigen, vor allem die Primaten nicht – dann ist er in der Tat das Opfer und dem Schlägerknaben ist es egal wer angefangen hat, man kann sich später ja immer noch rausreden: „Ey, der hat mich voll angekuckt!“

Teo atmete tief durch, setzte sich gerade hin und verschränkte die Arme ineinander. „Schlagt mich wenigstens schnell zusammen, ich habe noch was vor.“ Dachte er. Das er nichts sagte, machte den Kerl scheinbar erst recht wütend und da war sie, Phase Zwei!

Teo wurde leicht gegen die Schulter geboxt, gefolgt von der überflüssigen Frage, ob Teo taub wäre, und weil wieder keine Antwort kam musste natürlich nachgesetzt werden und so wurden jetzt schon beide Hände zum Einsatz gebracht, was natürlich bedeutete, dass keine Hand mehr am Lenker war, was wiederum bedeutete, dass Teos Hintern das Einzige war, dass das Fahrrad am Fallen hinderte. Wen selbstverständlich niemand am fallen hinderte, das war Teo, der die Eisglätte sicher überschätzt hatte, nach hinten das Gleichgewicht verlor und das Fahrrad am Sattel nach hinten Unten drückte, wodurch das Vorderrad des Zweirades Augenblicklich nach Oben schnellte, wo es mitten ins Schwarze traf, voll auf die Zwölf, genau an die Christbaumkugeln, mit einem Wort: Eiersalat!

Durch den raschen Stopp konnte sich Teo doch irgendwie wieder fangen und ergriff hastig den Fahrradlenker. Nicoles Freund, wie auch immer er hieß verdrehte die Augen, griff sich in den Intimbereich und ging in die Knie. Seine Beiden Kollegen waren für einen entscheidenden Moment abgelenkt, so dass Teo das Rad herum riss und kräftig in die Pedale trat.
 

Erst nachdem er ein paar Minuten gefahren und irgendwo in der Innenstadt war sah Teo wieder auf die Uhr: „14:49“

„Verdammt!“ dachte er „Ich komme zu spät.“ Und schaltete noch einen Gang hoch.

Vier Minuten vor Drei stand Teo vor einem hohen Gebäude, dass so aussah als wäre es verlassen. Er zögerte, glaubte man habe ihn womöglich für dumm verkauft und zu einem leerstehenden Haus geschickt. Bei dem Ärger, den er Heute schon wieder gehabt hatte wäre das mehr als nur ärgerlich gewesen.

Dann ging plötzlich die Tür auf und eine alte Dame mit einem Müllbeutel trat hervor, die ihn kurz musterte.

„Hier gibt’s nix zu klau’n! Hau ab!“ wurde Teo angepfiffen und rang sogleich nach einer Erklärung: „Nein, ich möchte hier nichts stehlen.“

„Ihr seid doch alle kriminell, hau’ ab oder ich ruf die Polizei!“

„Nein, hören sie, ich bin auf der Suche nach einer jungen Frau, die mir diese Adresse gegeben hat.“

„Das Flitchen aus der Dachwohnung mit Ihrem spastischen Freund? Willst Du da Drogen kaufen?“

„Nein! Diese Frau hat eventuell einen Job für mich.“

„Job? Englisches scheiß Gequatsche! Sag doch Arbeit, wenn Du Arbeit meinst! Aber ihr asoziales Gesocks wollt doch eh nicht mehr arbeiten! Oder sollst Du für die da Drogen verkaufen?!“

Teo musste hart schlucken, so wurde er von noch keiner 80-jährigen angemacht. Klar konnten nicht alle alten Leute Kekse spendierende Frohnaturen sein, aber gleich derart verbittert und mit Vorurteilen belastet?

Er hatte genug und drängte sich einfach an der Frau vorbei ins Treppenhaus, die ihn zwar nicht versuchte aufzuhalten, aber mit großem Gefluche und Gezeter hinter ihm her rief: „Ich hol die Polizei, Du elender Langfinger!“

Toe rannte die Treppen hoch ohne hinter sich zu Blicken und dachte nur, dass die arme Frau wahrscheinlich nie Besuch von ihren Enkeln bekam und als er acht Stockwerke höher war und die Dame immer noch wettern hörte, konnte er die Enkel sehr gut verstehen.
 

An der einzigen Tür im Obersten Stockwerk angekommen klingelte Teo völlig außer Atem. Keiner öffnete, also klingelte er wiederholt und sah dann kurz auf seine Uhr, die grade in diesem Moment 15 Uhr „schlug“.

Das Stockwerk, in dem sich Teo befand schien ebenso wenig gepflegt zu sein, wie der Rest des Hauses, in diesem Stockwerk fiel allerdings die schwarz gestrichene Tür auf, die irgendwie an eine Gefängnistür erinnerte. Sie war scheinbar aus Metall oder zumindest metallverstärkt und hatte einen Guck-Schlitz aus denen ein Paar Augen starrte, nur ein weiterer Schlitz für die Essenstabletts hätte gefehlt und…

Ein Paar Augen?!?

Der atemlose Teo, war etwas erschrocken, zumal er keinen Ton gehört hatte, zumindest hatte er ein paar Schritte erwartet, die den Hausherrn ankündigen.

„Ja?“ Fragte eine Stimme, die die Augen noch etwas eindeutiger als Mann identifizierten, eher noch als einen vom Militär.

„Mein Name ist Teo, ich hab… äh… diese Adresse bekommen.“ Brachte der 17-jährige hervor.

„Bist Du wegen der Beschäftigung hier?“ stieß der Mann hinter der Tür mit seiner einschüchternden Stimme hervor.

„Ja, denke schon…“ gab Teo etwas kleinlaut zurück und hoffte hier nicht wirklich an die Tür eines Drogenlabors geklopft zu haben, wie die alte Dame am Eingang schimpfte. Woher wollte er denn wissen, dass es die Frau in dem Café gut mit ihm meinte? Waren die vielleicht so eine Art Organhandel-Mafia, die junge Leute mit gesunden Organen anlockten und sie dann ausweideten? Oder Irgendwelche Psychopathen, die ihn nur zum Spaß ausweiden wollten? – Irgendwie blöd, aber über all das machte Teo sich erst jetzt Gedanken.

Die Warnung, sich nicht mit wildfremden Leuten aus dem Internet zu treffen, gab es seit es Chat-Room’s gab, aber warnte einen vielleicht einer, nicht in ein versifftes Rattenloch von Altbau zu gehen, dass am Ende der Stadt im schlimmsten Bezirk liegt, in dem Psycho-Omi den Müll rausbringt und hinter einer Metalltür irgendein Ex-General dubiose Jobs anzubieten hat? – Nein, natürlich nicht! Die Frage ist nur: Warum nicht?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück