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The New Shinobi

Season One
von

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Gai's Rückkehr

„Die Rückkehr der Freunde aus dem Kampf

zu erwarten, das ist das Härteste an jedem Krieg.

So bin ich lieber bei ihnen,

wo immer sie hingehen.

Und sei es durch die Hölle.“

- Mija Maneko
 

Es war eine schwere Zeit für Konohagakure.

Sarutobi, der Hokage, war tot. Er hatte sein Leben gegeben, um das wandelnde Grauen, den scheinbar unsterblichen Orochimaru, zumindest zu schwächen.

Das Dorf selbst teilweise zerstört, zahllose Bewohner ermordet.

Hoffnung würde nur langsam aufkeimen, aber auch das erst dann, wenn es Jiraiya gelingen würde, Tsunade dazu zu überreden, den Titel der fünften Hokage anzunehmen und zurückzukehren.
 

Iruka, der soeben seinen täglichen Besuch bei Sasuke und Kakashi absolviert hatte und sich nun wieder den ihm zugewiesenen Verwaltungsaufgaben widmen wollte, hörte plötzlich den von glücklicher Zuversicht getragenen Ruf einiger seiner Schüler, die ihn auf der Straße vor dem Krankenhaus entdeckt hatten: „Meister Gai ist zurück! Er hat Sasuke mitgebracht!“

Iruka wandte sich freudestrahlend in die Richtung, die ihm die Kinder wiesen und blieb wenige Schritte weiter erstaunt stehen.

Gai wankte – umringt von zahllosen Dorfbewohnern – in seine Richtung, Sasuke auf dem Rücken. Sasuke und eine weitere Person.

Iruka war zu erleichtert, als dass er völlig ernst hätte bleiben können, also verschränkte er die Arme und grinste gerührt: „Was hast du denn da aufgesammelt? Wäre es nicht leichter gewesen, eine Schleppbahre zu bauen?“ – „Kinderspiel.“, japste Gai kurz angebunden.

Während er die Menschenmenge verscheuchte, fuhr Iruka fort: „Und? Wer ist das?“

Gai blieb im Foyer des Krankenhauses stehen und sah sich um, ohne zu antworten.

„Und hast du Jiraiya und Naruto getroffen? Geht es ihnen gut? Wie steht es um Sasuke? Und...“

„Iruka?“

„Ja?“

„...warum nimmt mir niemand die beiden ab, häh?“

„Oh, entschuldige!“ Iruka errötete beinahe und hievte mit Hilfe einiger Pfleger den Fremden und Sasuke von Gais Schultern.
 

„Sasuke?“

„Itachi. Mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich lege all meine Hoffnung in Tsunade. Vertrauen wir auf Jiraiya, er war wie stets optimistisch, als wir uns trennten.“

„Naruto geht es gut, ja?“

„Alles bestens. Er ist gut drauf.“ Gai grinste zuversichtlich und streckte einen Daumen gen Himmel. „Die machen das schon.“ Iruka nickte seufzend. „Und? Der andere da?“

„Keine Ahnung, woher er ist, oder wer... er trägt kein Stirnband. Nur eines könnte Aufschluss darüber geben, woher er kommt. Er trägt links einen winzigen Ohrstecker. Ein schwarzer Totenschädel auf rotem Grund.“

„Wenn es ein Landes- oder Stammeszeichen ist, kenne ich es nicht.“, murmelte Iruka. Gai nickte: „Ich auch nicht, aber es kommt mir bekannt vor.“

„Aber er ist nicht schwer verletzt?“

„Nein, zumindest äußerlich nicht, aber er scheint eine lange Reise hinter sich zu haben. Und irgend jemandem ist er in die Quere gekommen. Würde mich nicht wundern, wenn es einer unserer Feinde gewesen wäre.“

In diesem Moment schob eine Krankenschwester den Kopf zur Tür herein: „Entschuldigung, Meister Gai?“

„Ja, schönes Kind?“

Leicht verwirrt von Gais zuckender Augenbraue stammelte die Schwester: „Der Fremde hat Besuch bekommen...“

Entwurzelt

„Dienen wir nicht mehr unserem Herrn,

dienen wir der Gerechtigkeit.“

- Senshu Angiri
 

Gai und Iruka eilten den kurzen Gang entlang und stolperten in den Raum, in dem man den ohnmächtigen Neuankömmling untergebracht hatte. Es war ein schlaksiger Junge mit zerzaustem, grellrotem Haar. Zerschunden, mit schmutzigen Kleidern.

Noch bevor die Krankenschwester den beiden Shinobi in den Raum folgen konnte, entdeckten sie ein Mädchen, das gerade an das Bett des Fremden trat. Ihr langes, glattes Haar, das eine eigentümlich purpur-violette Farbe hatte, stand wirr in alle Richtungen, als wäre sie die letzen paar Stunden oder gar Tage hektisch umhergeirrt.

Die Augen, die sie jetzt an Gai heftete, waren von einem seltsamen Amethystton, die Pupillen waren schmale Schlitze, wie die einer Katze. Nicht weiter ungewöhnlich, man ist seltsame Augen ja gewohnt.
 

Die Krankenschwester flüsterte vom Türrahmen herüber: „Sie ist durch das Fenster gekommen...“

Sofort fiel Gai auf, dass auch das Mädchen den Ohrstecker mit dem Schädelzeichen trug.

„Habt ihr ihn hierher gebracht?“, fragte sie mit ruhiger, freundlicher Stimme.

Iruka deutete auf Gai: „Er war’s. Ganz allein.“

„Ich danke Euch vielmals.“

„Kein Problem!“ Gai schmiss sich in Pose und wackelte fröhlich mit den Hüften. „Das schöne Biest von Konoha war zur rechten Zeit zur Stelle!“

„O.o...wer?“

„Maito Gai! ...das ist Iruka.“

„Ach. Ja.“ Das Mädchen lächelte liebenswürdig – so als wäre sie nicht hungrig, durstig, todmüde, womöglich verletzt und eventuell angewidert von Gais seltsamen Possen. „Mein Name ist Mija Maneko.“ Das erklärte so einiges. Maneko. Die Dämonenkatze.

Sie sah sich noch einmal nach dem anderen um. „Sein Name ist Nemaru Endan.“

Bevor Iruka oder Gai weitere Fragen stellen konnten, tauchte noch eine dritte Person auf, die sie noch niemals in Kohohagakure gesehen hatten. Ein weiteres Mädchen trat kaum hörbar in den Fensterrahmen und kletterte mit einem prüfenden Blick zu dem rothaarigen Jungen in den Raum. Auch sie trug den Ohrring.

„Sie erinnert mich an jemanden...“, flüsterte Iruka bestürzt. Unbarmherzig kribbelnde Gänsehaut überzog seine Arme, der Anblick des Mädchens war ihm nicht geheuer, obwohl er noch nicht sagen konnte, woran das lag.

Gai wusste es sofort, doch bevor er etwas sagen konnte, wandte sie sich ihnen zu, und nun musste auch Iruka erkennen, wem sie so sehr ähnelte.

Die Augen.

Diese fürchterlichen Augen, die er im ersten Moment sah, waren die von Orochimaru.

Aus den Augenwinkeln sah Gai, wie Iruka einen Schritt zurücktrat. Er hörte, wie er selbst vor Entsetzen die Luft durch die Zähne einsog.

Dann sah das Mädchen Mija an, und ihr Blick wurde weicher, normaler. Iruka und Gai stellten fest, dass die im ersten Moment so erschütternde Gleichheit mit Orochimaru durch die dunklen Ringe um ihre Augen, das schwarze Haar und die ähnliche Gesichtsform entstanden war. Wich die starre Kälte, war dieses ernste Antlitz gar nicht mehr so sehr wie das seine. Ihre Augen waren überdies nicht von Orochimarus stechendem gelb, sondern grün. Ansonsten völlig normal, auch die Pupillen. Sie ließ den Blick zur Seite gleiten und flüsterte atemlos, als wäre sie hierher gelaufen: „Schläft schon wieder?“

Mija lachte: „Ja.“

„Auch gut.“ Das müde Flüstern wurde etwas lauter: „Es tut mir leid wegen der Umstände. Er musste wahrscheinlich Tanukineiri einsetzen.“ [tanukineiri = sich schlafend stellen]

Gai stellte sich und Iruka noch einmal vor und sagte dann verwundert: „Seltsam, normalerweise erkenne ich den Unterschied zwischen Schlaf und Ohnmacht gleich...“

Mija lächelte: „Er hat eine Kunst verwendet, die er immer wieder unterschätzt, denke ich. Danach muss er sich selbst schnell in einen besonderen Tiefschlaf versetzen, ansonsten wären seine Nerven gefährdet.“

„Was für eine Kunst ist das?“, wollte Gai wissen, aber Mija zuckte nur mit den Schultern. Das andere Mädchen trat an das Bett und betrachtete Nemaru noch einmal kurz, bevor sie sich den Männern zuwandte: „Dafür ist jetzt keine Zeit.“

Iruka kratzte sich am Hinterkopf: „Erklärt doch mal, was überhaupt geschehen ist und wer ihr seid, bitte!“

Das schwarzhaarige Mädchen nickte: „Mein Name ist Senshu Angiri. Wir kommen aus Mokugan.“ [moku = Baum, gan = Kugel]

Gai’s Augen weiteten sich erstaunt. Iruka hingegen runzelte die Stirn: „Du weißt, wo das ist?“

„Aber ja, es ist ein Dorf, weit von hier. Es liegt in einem Land nordöstlich des Nebelreiches, das nicht zu den Ninjamächten gehört, vielleicht kennst du es trotzdem. Es heißt Kijukai.“

„Oh! Das! Der Inselstaat in dem riesigen Wald? [ki = Teufel, jukai = Urwald] Das ist echt verdammt weit weg! Warum kennst du dieses Dorf?“

„Ganz einfach: obwohl es in ganz Kijukai kein Ninjadorf wie dieses gibt, werden dort Shinobi ausgebildet. Aber nicht in einer Schule, sondern von Meistern, die immer einen oder mehrere Lehrlinge annehmen. Einer von ihren Fürsten – ein berühmter Mann – ist hierher gekommen, um im Namen seines Landes bei der Ju-Nin-Prüfung zuzusehen und darüber zu entscheiden, welchem Land ihre offiziellen Aufträge erteilt werden. Ninja in Kijukai dürfen immer nur innerhalb eines kleinen Bereiches arbeiten. Brauchen sie zum Beispiel Begleitschutz für längere Reisen wichtiger Persönlichkeiten, müssen sie zugelassene Ninja aus einem unserer Reiche anfordern. Um nicht durch Konkurrenzkampf Unruhen hervorzurufen.“

Mija nickte: „Ja, die Politik macht alles reichlich kompliziert...“

Iruka meinte trocken: „Das beantwortet immer noch nicht, warum IHR in dieser Gegend seid? Urlaubsreise? Sightseeing in Konohagakure? Schlechter Zeitpunkt...“

Senshu schüttelte den Kopf: „Wir sind die Begleiter des Fürsten, der hierher kam. Aber er starb vor Aufregung, als hier alles drunter und drüber ging... er war alt, exzentrisch und reich. Er konnte es sich leisten, seinen eigenen Koch, seine Kräuterkundige und eine Studentin mitzunehmen.“ Sie warf Mija einen seltsam eindringlichen Blick zu, bevor sie weitersprach. „Wir flohen aus dem Dorf, als wir bemerkten, was geschehen war. Immer noch geschwächt von der mühsamen Anreise waren wir keine große Hilfe...“ Mija senkte den Blick und starrte zu Boden.

Gai musterte Senshu eingehend. Iruka machte sich währenddessen seine eigenen Gedanken. Interessant, dass der alte Shinobi nur seine jungen Gehilfen und keinerlei Begleitninja eingestellt hatte. Die Mädchen mochten so um die zwanzig sein, der Koch noch jünger.

Gai unterbrach sein Spekulieren: „Das war wohl nicht ganz so...“

Senshu erwiderte seinen stechenden Blick und sagte nach einer ganzen Weile seufzend: „Gut, es war klar, dass ich Meister Gai nicht belügen kann.“

Er nickte nur.

„Was-?“, setzte Iruka an. Senshu lächelte jetzt: „Es gibt so viele Anzeichen, woran habt Ihr es erkannt?“

Gai strahlte von sich eingenommen: „Zunächst habe ich die Überreste eurer Ausrüstung gesehen, als ich den jungen Endan aufgesammelt habe. Es waren Energieperlen dabei, die er höchstwahrscheinlich selbst hergestellt hat. Das kann ein normaler Koch nicht. Aber das war noch nicht eindeutig. Nur... ich erkenne Shinobi, wenn ich sie sehe. An ihrer Muskulatur, an vom Gebrauch bestimmter Waffen verdickten Hautstellen an den Händen. An zahllosen Dingen. Aber – eure Stärke einschätzen kann ich nicht...“ An dieser Stelle wurde sein Blick durchdringend.

Mija meldete sich zu Wort: „Wir kamen nicht in unserer Funktion als Ninja mit ihm hierher! Wirklich! Wir sind, was sie gesagt hat. Wir haben nicht damit gerechnet, dass das passieren würde. Wir wissen, dass wir keine Begleitninja sein dürfen, und das waren wir nicht. Als es hier losging und unser Herr starb, folgten wir Orochimaru und sahen den Kampf zwischen ihm und dem Hokage. Nemaru folgte einem der Oto-Spione, der das Dorf vorübergehend verlassen hatte. Aber der entdeckte unseren Freund wohl. Offenbar war er in Eile, immerhin ist Nemaru noch am Leben.“ Mija seufzte und schüttelte den Kopf. Ihre Kameradin schluckte hart bei dem Gedanken daran, was wohl geschehen wäre, hätte der Spion sich eingehender mit Nemaru beschäftigt.

Gai betrachtete die drei Fremden genau und versuchte, dadurch mehr über sie herauszufinden. Es war schwierig. „Eine Frage, wenn ihr erlaubt...“

Senshu fuhr sich mit beiden Händen durch das wirre Haar und setzte sich dann mit dem Rücken zur Wand auf den Fußboden. Schwere Müdigkeit hatte sie erfasst. Eine Müdigkeit, die sie erst jetzt, da sie ihren Kameraden gefunden hatten, zulassen durfte. Dennoch wusste sie, dass sie diesen Leuten gegenüber jetzt so aufrichtig wie möglich sein musste – sie würden zukünftig von ihnen abhängig sein.

„Orochimarus Großvater war mein Urgroßvater, er ist der Sohn des Cousins meines Vaters, was uns wiederum zu Cousin und Cousine mehreren Grades macht – kompliziert. Wir haben im Endeffekt nur beide die Züge eines Mannes, der längst tot ist.“

„Ach so. Nur ein Zufall, dass ihr hier aufeinandergetroffen seid?“, hakte Gai nach.

„Ja... obwohl ich nicht glaube, dass er von meiner Existenz weiß. Wirklich aufeinandergetroffen sind wir ja nicht... Wie dem auch sei, der Tod unseres Gönners bedeutet, dass wir nicht zurückkehren können.“

„Warum nicht?“

Mija berührte mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand das winzige Schmuckstück an ihrem Ohr. Es hatte einen Verschluss, der bei seinem Anlegen mittels eines Werkzeuges so versiegelt worden war, dass es nicht mehr so einfach abgelegt werden konnte. „Der Mann hat uns zu seinem Gefolge gemacht, nicht nur für diese Reise. Wir haben schon länger für ihn gearbeitet. Er war wie gesagt exzentrisch, viele wollten für ihn arbeiten, aber er hatte eine seltsame Art, seine Sympathien zu verteilen...“

Senshu nickte: „Er hat uns viel gelehrt, aber uns nie in unserer Funktion als Ninja eingesetzt oder zugelassen, dass wir von anderen eingesetzt werden. Wir waren, was wir waren. Mija studiert allerhand alte Geheimkünste und die Kultur unserer Reiche, Nemaru ist Koch und Zuckerbäcker, und ich war die Floristin und Kräuterkundige unseres Fürsten. Wir waren seine einzigen Untergebenen, davon zeugt sein Familiensiegel, das wir nicht ablegen dürfen, bis sein Tod gerächt ist.“ Sie blickte Gai eindringlich an: „Wir wissen nicht, wie stark wir sind. Und was wir gelernt haben, haben wir gelernt, um ihn zu rächen. Ohne Gelegenheit, uns zu messen. Er war stets davon überzeugt, dass sein Tod nur der Begleitumstand eines noch weit größeren Übels sein würde.“ Mija nickte nachdenklich: „Damit hatten wir nicht gerechnet. Aber wir haben es geschworen.“

Iruka versuchte, alles noch einmal durchzudenken. Dann sagte er: „Was habt ihr also vor? Gegen Orochimaru könnt ihr wahrscheinlich nicht...“

„Ob wir können oder nicht, ist nicht entscheidend.“, beharrte Mija mit sturem Unterton. „Unsere erste Pflicht besteht darin, herauszufinden, was geschehen ist. Wir entsenden regelmäßig Boten nach Kijukai, aber die Leute dort wissen, dass sie mit unserer Rückkehr nicht zu rechnen haben. Vorläufig bleiben wir hier und werden beim Wiederaufbau der zerstörten Gebäude helfen, während wir Informationen sammeln. Die Hilfe bei der Beseitigung der Schäden, die bei seinem Tod entstanden sind, gehört ebenso zu der Aufgabe, die sich uns durch unseren Schwur stellt. Wir werden herausfinden, was hier gespielt wird, und werden versuchen, es zu unterbinden. Und wenn der Drahtzieher Orochimaru ist, dann ist er am Ende unser Gegner. Aber erst dann, wenn alles geklärt ist und hier getan ist, was getan werden muss, um die Lage zu stabilisieren.“

Gai verschränkte die Arme und nickte anerkennend, auch wenn es offensichtlich war, dass er die drei nicht als ernsthafte Gegner Orochimarus ansehen konnte. Wahrscheinlich würden sie ohnehin während ihrer Ermittlungen ins Stocken geraten und ihre Rache aufgeben müssen. Um genau zu sein machten sie keinen sonderlich wehrhaften Eindruck... nein, eigentlich wirkten sie wie drei absolut hirnrissige Spacken, die der Wahnsinn ihres Arbeitgebers angesteckt hatte. Herrlich, noch ein paar Idioten. Aber dankenswerterweise waren ihm Idioten grundsätzlich sympathisch. „Er mag exzentrisch gewesen sein, aber euer Herr hat sich zumindest sinnvolle Gedanken darüber gemacht, was aus seinen Untergebenen wird. Ihr habt jetzt eine Aufgabe...“

Mija schüttelte den Kopf, obwohl sie selbst stets von dem Gedanken begeistert gewesen war, den ihr Herr ihnen vermitteln wollte – sobald sie ihm nicht mehr dienten, sollten sie der Gerechtigkeit dienen und das Böse, das ihn vernichtet hatte, beseitigen. „Er hat nicht bedacht, dass das unser Tod sein wird. Ich glaube nicht, dass das, was er uns beigebracht hat, gegen ein solches Monster ausreicht .“ Ihre Worte fielen ohne Bitterkeit, Wut oder Angst in den Raum. Senshu erhob sich von ihrem Platz und legte Mija kurz die Hand auf die Schulter. Letztere fuhr lächelnd fort: „Noch ist es aber nicht so weit. Alles fängt hier an, und es ist viel zu tun. Wir werden helfen, wo wir können, um dieses Dorf wieder aufzubauen und zu schützen.“ Senshu fuhr fort: „Wir gehören jetzt Konohagakure, und dienen nicht nur unserem Fürsten, sondern allen Gefallenen als Rächer, um die Ursache dieser Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Wir wissen, wie aussichtslos das vielleicht ist. Aber bestimmt sind eure Leute ebenso hinter ihm her – und wir wollen helfen, nicht im Weg sein. Aber das beginnt mit einer Bitte. Dürfen wir auf euer Vertrauen hoffen und erwarten, dass ihr euer Wissen mit uns teilt? Und habt ihr vielleicht eine Unterkunft für uns? Bevor wir irgend jemandem helfen, müssen wir selbst erst zu Kräften kommen.“

Gai und Iruka sahen einander kurz an und nickten dann. Beide hatten eine gewisse Schwäche für pathetische Loser.

Misstrauen

Gai und Iruka saßen in Kakashis Krankenzimmer und unterhielten sich über die drei Neuankömmlinge aus Kijukai. Gai war besorgt: „Orochimaru hat Kontakt zu vielen Informanten – es würde mich nicht wundern, wenn er bereits wüsste, dass seine Verwandtschaft in der Gegend ist.“

„Glaubst du, dass das wichtig ist? Ich meine... es ist eine Floristin. Vielleicht kennt sie die eine oder andere Kunst, aber dennoch ist sein vorrangiges Ziel Sasuke. Und sollten die drei versuchen, sich mit ihm anzulegen, werden sie nicht weit kommen, glaube ich...“ Gai nickte, blieb aber ernst: „Ja. Aber wenn Orochimaru immer wieder seinen Körper wechselt... vielleicht verspürt er irgendwann den Wunsch, zu seinem eigenen Blut zurückzukehren.“

„Interessanter Gedanke... dass ein solches Biest wie er auch eine Art von Sentimentalität entwickelt.“

„Na ja, behalte sie im Auge.“ Iruka nickte und verließ den Raum mit einem letzten Blick auf Kakashis reglose Miene.
 

Währenddessen saßen Mija und Senshu in Nemarus Zimmer und aßen, was die Krankenschwester ihnen gebracht hatte. Ein Arzt hatte die beiden untersucht, hier und da einen Verband angebracht, und sich dann wieder verzogen. Mija wirkte nachdenklich: „Was tun wir als Nächstes? Eine Unterkunft haben wir... aber um von Nutzen zu sein...“

„Keine Sorge.“, meinte Senshu gelassen. Sie saß rittlings auf einem Stuhl und kaute versonnen an einem Apfel. Sie war müde, aber erleichtert. Immerhin war ihre Gruppe wieder versammelt, vorläufig waren sie in Sicherheit.

„Es wird sich alles zu seiner Zeit geben. Natürlich brauchen wir eine Einnahmequelle – dafür habe ich mir schon etwas überlegt. Gleich morgen werden wir einen kleinen Spaziergang im Dorf machen.“

Mija warf einen Blick aus dem Fenster, ohne nach Senshus weiteren Plänen zu fragen – sie würde es ohnehin früh genug erfahren. „Ja, heute ist es zu spät. Die Arbeiten für diesen Tag werden gerade eingestellt. Eine Nacht ruhiger Schlaf wird uns schon helfen – es war eine unruhige Zeit...“ Sie dachte an die vergangenen Tage und Nächte. Seit Orochimarus Angriff waren sie gemeinsam mit den anderen Shinobi aus Konohagakure damit beschäftigt gewesen, Verletzte und Tote zu bergen. Bis sie einem Oto-Spion auf die Schliche gekommen waren, der sich immer noch in Konohagakure herumgetrieben hatte. Nemaru hatte die Verfolgung aufgenommen, als er dessen letzte Spur gefunden hatte, ohne die beiden anderen zu sich zu rufen. Zwei volle Tage hatten sie die umliegenden Wälder nach ihrem Freund abgesucht. Mija erinnerte sich mit Bestürzung an die Sorgen, die sie sich um Nemaru gemacht hatte. Und an die brutale Härte, mit der Senshu jeden, der sich ihnen bei ihrer Suche in den Weg stellte, behandelt hatte.

Diese erhob sich nun und warf die Reste ihres Apfels aus dem Fenster, wo ein vorbeifliegender Vogel sie sich schnappte, als hätte er nur darauf gewartet. Sie streckte sich, gähnte ausgiebig, schlenderte dann zu Nemarus Bett und sagte in harschem Plauderton: „Okay, aufwachen, du Sack!“ Mija trat ebenfalls an das Krankenlager, legte den Kopf schief und betrachtete den immer noch schlafenden Nemaru: „Zwei Tage müssten aber reichen, find’ ich.“

„Vorsicht, sonst rächt er sich...“

„Ach was.“ Mija streckte den Zeigefinger aus und drückte auf eine durch einen Bluterguss sichtbare Prellung an Nemarus Hals.

„UWAAAAAAAAH!“

Mija grinste zufrieden, während sie und Senshu synchron einen Schritt rückwärts machten. Nemaru sprang auf, schwankte kurz und setzte sich zurück auf das Bett. „Oh! Ihr Schweine! Brutale Schicksen!“, moserte er, während er ein Kreislauftief überwand.

Die Mädchen sahen einander kurz an, hoben jede eine Hand, die sie wie zu einem plappernden Entenschnabel formten, und machten sich bereit, zu gehen, während sie Nemaru erklärten, was sich ereignet hatte.

Schließlich packten sie ihn an den Ellenbogen und schleiften ihn in die Richtung ihrer Unterkunft, ohne auf irgend welche Proteste zu achten. Mija forderte ihn auf, zu berichten, was ihm widerfahren sei, woraufhin er erschöpft murmelte: „Der elende Schwanzkopf hat mich ausgelacht! Den blöden Kerl hab ich so dermaßen...“

„Er hat dich fertiggemacht, was?“, meinte Senshu.

„...ja.“

„Aber du warst ihm immerhin egal genug, dass er dich nicht umgebracht hat...“

„Ja, toll. Er ist abgezogen, kurz bevor ich hinüber war.“

Mija lehnte Nemaru gegen eine Wand, während Senshu an einem Marktstand Lebensmittel kaufte. Während sie das wenige Geld, das sie besaßen, zusammenkratzte, sagte sie: „Das nächste Mal rufst du uns, wenn du die Situation nicht alleine einschätzen kannst.“ Sie sah Nemaru nicht an und er erwiderte nichts. Er wusste, dass sie Recht hatte, sie wusste, dass es nicht nötig war, das noch durch Vorwürfe deutlich zu machen. Mija wiederum wusste, dass die Härte in Senshus Stimme nicht böse gemeint war, aber sie sagte nichts.

Dann setzten sie ihren Weg fort. Wenig später waren sie bei einem kleinen, leerstehenden Häuschen angekommen. Senshu sah sich nach allen Richtungen um und ließ ihren Blick dann an der Terrasse eines weit entfernten Hauses hängen. Mija bemerkte es, als sie nicht gleich das Haus betraten, und sah in die selbe Richtung, konnte aber nichts entdecken: „Was?“

„...nichts.“, murmelte Senshu und öffnete die Tür.

Die Kunst der Dämonenschlange

Der nächste Morgen dämmerte mit den Geräuschen arbeitender Dorfbewohner herauf.

Nemaru blinzelte in die in den Raum fallenden Sonnenstrahlen und seine sonst fast schwarzen Augen zeigten so ihre eigentlich dunkelrote Farbe. Die Fähigkeiten, die seine Familie an ihn weitergegeben hatte, schienen sich in seinem Äußeren wiederzuspiegeln, als lägen die Künste in seinen Genen. Als wäre sein ganzes Wesen davon durchdrungen. Mija runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, wie oft sie dieselben Gedanken schon gedacht hatte – aber stets war es in ihrem ehemals gewohnten Umfeld gewesen. Zu Hause, in Mokugan.

Ihr Training war ein harmloses Spiel gewesen. Die täglichen Aufgaben oft mühsam, aber an der Seite ihrer Freunde voll stiller Freude. Weder ihre Kräfte, noch ihre Loyalität waren damals wirklich auf die Probe gestellt worden.

In Sicherheit. Wie wenig von einem menschlichen Charakter wurde in Sicherheit offenbart? Wie viel trügerisch verborgen?
 

Aber diese Zeit war vorbei, und jetzt würde sich herausstellen, wer sie wirklich waren. Und ob ihre Freunde auch wirklich bedingungslos und selbst um den Preis ihres Lebens zu ihr stehen würden. Doch wer konnte wissen, ob die Zukunft nicht auch noch etwas Glück für sie drei bereithielt, wenn sie standhaft waren? Es hatte also keinen Zweck, die Waffen zu strecken und in Hoffnungslosigkeit zu versinken. Mija rief: „Steh auf, du wandelndes Klischee, anstatt in die Sonne zu schauen!“

„Häh?“

Senshu schien den Sinn ihrer Worte erfasst zu haben und lächelte vor sich hin, während sie ihr Bett machte. Dann betrachtete sie ihre Kleidung: „Mija?“

„Okay.“, nickte diese nur. „Was besonderes?“

„Nur meine Alltagsklamotten, bitte.“

„Jop.“

Nemaru schüttelte seine Bettdecke und rief zu ihnen herüber: „Hey, ich auch!“

„Einer nach dem anderen, dreh dich um!“

„Ja, ja...“

Nemaru wandte sich wieder seinem Bett zu, während Senshu die Arme zur Seite ausstreckte, um Mija ihre Arbeit zu erleichtern. Diese schloss kurz die Augen, um sich in Gedanken zu rufen, was Senshu als „Alltagsklamotten“ bezeichnete, dann schlug sie ihre Lider hoch, schloss ihre Hände schnell zu einer Kombination aus von der Norm abweichenden Fingerzeichen, um gute Arbeit zu leisten, und flüsterte: „Kotangiri!“ [kotan = Geburt, giri = Nebel]

Senshu schloss die Augen fast vollständig, als ein kühler Dunst von zu plasmisch umhertreibenden Molekülen gewordenen Kleidungsstücken wie ein milchiger Schleier um sie herumwirbelte und sich dann in Form ihrer Alltagskleidung wieder manifestierte.

Nachdem auch Endan neue, saubere Kleidung bekommen hatte, besserte Mija ihre eigenen Gewänder aus. Diese seltene und besondere Kunst nannte sich auch „Schlangenhäutung“, und war ihnen schon häufig von Nutzen gewesen.

Und wenn Senshus Pläne für diesen Tag sich umsetzen ließen, würden sie ihnen heute noch einmal helfen müssen. „Bist du gut drauf?“, fragte sie also. Mija nickte. Sie wusste noch nicht, was sie tun sollte, aber sie ahnte, dass Senshu ihre Ninjaalchemie einsetzen wollte. „Bin wieder fit.“

„Nemaru?“

„Passt.“

„Gut. Dann mal los.“
 

Ihr erster Weg führte sie zu einigen Imbissbuden im Dorf. In einer davon war einer der Köche bei Orochimarus Angriff verletzt worden, somit war zumindest Nemaru bereits untergebracht. Die Mädchen ließen ihn an seiner neuen Arbeitsstelle zurück und versprachen, Mittags bei ihm vorbeizuschauen.

„Damit hast du gerechnet, was?“, grinste Mija, während sie an Senshus Seite die Hauptstraße des Dorfes entlang schlenderte. „Na ja, war ja sehr wahrscheinlich.“

Plötzlich sah sich Senshu mit düster zusammengezogenen Augenbrauen um. Mija folgte ihrem Blick, sah aber nichts: „Was ist?“

„Hm... nichts. Aber das nächste ist, Arbeit für uns zu besorgen. Sieh mal.“ Sie war stehen geblieben und deutete auf eine Stelle etwa hundert Meter weiter die Straße entlang. Einige Läden dort waren zerstört. Ein Obstladen, ein Waffenschmied, eine Bäckerei – ein Blumenladen. Mijas Augenbrauen hoben sich: „Oh! Dein Hauptziel, was?“

„Ja. Ich bin hier gestern entlanggelaufen, auf dem Weg zum Krankenhaus. Ich möchte mit den Leuten erst mal reden... aber wenn es für die Verhandlungen förderlich wäre – könntest du die wieder hinkriegen? Ich will deine Fähigkeiten nicht über Gebühr strapazieren...“

„Och, keine Sorge. Einen oder zwei traue ich mir auf Anhieb zu, aber das wird mühsam. Besser, erst mal einen, es bringt nichts, mein ganzes Chakra aufzubrauchen. Die anderen kann ich in den nächsten Tagen erledigen.“

„Würdest du?“

„Klar, warum nicht?“

Senshu lächelte: „Danke.“

„Ist ja selbstverständlich.“

Senshu und Mija stiegen über die Trümmer vor dem Blumenladen und Senshu bedachte die zerquetschten Pflanzen auf dem Boden mit einem mitleidigen Ausdruck. Dann kam ihr ein alter Mann entgegen. „Guten Tag!“, sagte sie, und auch Mija grüßte freundlich. „Was wollt ihr, Kinder? Ihr seht ja, dass wir im Moment nichts zu verkaufen haben...“

„Ja... äh... haben Sie keine Hilfe hier?“

„Meine Töchter, aber die helfen erst mal im Krankenhaus.“

„Nun äh... wir würden gerne für Sie arbeiten, wenn das möglich wäre.“, lächelte Senshu.

„Wie stellst du dir das vor, Dummerchen?“

„Dummerch...? Äh, ja, darüber wollte ich mit Ihnen reden. Mir ist klar, dass sich das seltsam anhört, wenn jetzt jemand wegen eines Arbeitsplatzes zu Ihnen kommt, aber ich kenne mich ein wenig mit Pflanzen aus und... der Wiederaufbau wird kein Problem sein. Das... ist jetzt nichts Bindendes, aber... sehen Sie es sich einfach an, kommen Sie.“ Sie führte den inzwischen etwas verwirrten Mann am Arm aus dem Laden und drehte sich mit ihm um. Dann nickte sie Mija zu, die sich diesmal etwas länger sammeln musste.

„Was habt ihr vor?“, fragte der Alte misstrauisch.

„Keine Sorge. Sie analysiert die Grundstruktur des Gebäudes und, ach... warten Sie ab.“ Senshu verschränkte die Arme und wartete zuversichtlich.

Mija öffnete die Augen, formte eine scheinbar endlose Abfolge von Fingerzeichen und löste dann die Moleküle des Gebäudes in einen schwebenden Urzustand auf, der sich seinerseits schnell zurück in die Form des alten Hauses fügte. Während dies geschah, entstanden kleine Schweißperlen auf Mijas Stirn. Ihre Knie begannen, kaum merklich zu zittern.

Senshu murmelte: „Übernimm dich nicht.“ Mija lächelte angestrengt und schüttelte nur den Kopf, während Schutt und Staub sich auflösten und zu sauberen, glatten Wänden und rotleuchtenden Dachziegeln wurden.

Der Alte riss erstaunt die Augen auf und wenig später sah Senshu Tränen der Rührung darin. Mija wandte sich um und keuchte: „Wenn Sie ein Schild über der Eingangstür haben möchten, muss ich wissen, wie es aussehen soll...“

„Oh, das kann doch nur eine Illusion sein...“, stammelte der Alte. Senshu nickte, als hätte sie mit dieser Reaktion gerechnet: „Oh, nein, nein. Überzeugen Sie sich selbst.“ Sie folgte dem Alten auf Schritt und Tritt, während er die Wände mit zitternden Händen inspizierte. „Ähm... wir sind neu im Dorf und wollen uns hier niederlassen und beim Wiederaufbau helfen. Wir verlangen wirklich nicht viel, gerade so viel, dass wir davon leben können. Und wir werden schuften wie die Henker, um Ihnen nicht zur Last zu fallen. Nur wollen wir eben etwas arbeiten, wovon wir etwas verstehen, und das ist das hier.“ Sie blieb stehen, als der Alte sich umwandte. „Bitte. Können Sie uns brauchen?“ Mija hatte sich auf einen Steinbrocken vor der zerstörten Bäckerei niedergelassen und beobachtete von dort aus das Geschehen. Sie wusste, warum Senshu so beharrlich war. Je schneller sie eine Arbeitsstelle fanden, desto schneller kamen sie nicht nur an Geld, um für eventuelle Reisen auf der Verfolgung von Orochimaru gewappnet zu sein, sondern sie würden auf diese Art und Weise auch schnell viele Leute kennen lernen. Das wiederum bedeutete Informationen. Und das war, was sie vorwiegend wollte. Die Leute kennen und wissen, was sie wussten.

Der Alte musterte Senshu eingehend, dann blickte er zu Mija: „Geht es ihr gut?“

„Ja, es war nur anstrengend, sie muss sich erst erholen.“

„Mädchen, ich kenne euch nicht, aber als Dank für das hier... will ich es mit euch versuchen.“

„Danke!“

Iruka und die Philosophie der Anerkennung

Iruka saß wenige Wochen später gemeinsam mit Senshu Angiri bei seinem Lieblings-Nudelimbiss. Es war ein angenehm warmer Frühlingsabend.

Er hatte die drei Fremden schnell ins Herz geschlossen und sie, anstatt sie weiter zu beobachten, unter seine Fittiche genommen, um an sie weiterzugeben, was er wusste. Er hatte sie im Dorf vorgestellt, ihnen Stammbäume und Bräuche erklärt.

Während er eine dampfende Schale in Empfang nahm, sagte er: „Mir fehlt es, mit Naruto hier zu sitzen. Ich mache mir Sorgen um ihn.“ Senshu hatte sich schnell ein Bild über Irukas zwischenmenschliche Beziehungen gemacht – er war so offen und aufrichtig wie selten ein Mensch, das machte ihn für sie überaus sympathisch. Was er sagte, galt. So einfach war das.

Sie nickte: „Ja, man gewöhnt sich schnell an so etwas. Mit manchen Menschen ist es einfach... besonders. Egal, was man tut, selbst, wenn man nur nebeneinander sitzt.“ Iruka stocherte nachdenklich in seiner Schüssel: „Ja, du hast Recht.“ Er lächelte: „Ich bin froh, dass ihr da seid. Das ist das einzig positive an alledem.“ Er seufzte tief. Senshu warf ihm einen Seitenblick zu und widmete sich dann lächelnd ihrer Mahlzeit: „Du machst dir um so viele Leute Sorgen...“

„Was meinst du?“ Iruka begriff eigentlich sofort, was sie meinte, aber er war erstaunt, weil er sich bisher darüber keine Gedanken gemacht hatte. Ja, er machte sich Sorgen... doch wer sorgte sich um ihn?

„Dein Schützling Naruto, Sasuke... die anderen Schüler, sowohl die ehemaligen, als auch die jetzigen. Dann... die Sorgen um die Seele des Hokage, die er selbst diesem Totengott ausgeliefert hat. Und nicht zuletzt Kakashi Hatake.“

Irukas Blick senkte sich noch ein wenig tiefer über sein Essen. „Er ist jetzt der Lehrer einiger meiner Schüler... seit sie dem, was ich ihnen lehren konnte, entwachsen sind. Vielleicht...“ Senshu blickte ihn kauend an. „...vielleicht bewundere ich ihn. Er ist einfach...“ Senshu blies in die dampfend heißen Nudeln und sagte beiläufig: „Er ist ein großartiger Ninja. Und er spielt sich nie in den Vordergrund, trotz seiner herausragenden Fähigkeiten. Ich habe viel über ihn gehört und daher weiß ich es... nur solltest du dich nicht hinter ihm zurückgesetzt fühlen.“

„Aber das tue ich doch gar nicht!“

Senshu sah ihn mit einem Blick an, der Iruka verblüffend stark an den von Kakashi erinnerte. An jemanden, der viel durchschaute, auch ohne das Sharingan. Und wenn sie so dasaß, ganz sie selbst, sah sie Orochimaru wirklich kaum ähnlich. „So sähe er vielleicht aus, wenn er kein komplett wahnsinniger Psychopath wäre.“, dachte Iruka bei sich.

„Nein? Dann ist es gut. Ich wollte damit nur sagen... ihr seid gleich viel wert, und vielleicht bewundert er dich ja auch für deine herausragenden Fähigkeiten. Ja, er hat den höheren Rang, aber das macht ihn sicher nicht bedeutender in den Augen von... na, sagen wir beispielsweise Uzumaki. Auch wenn er im Kampf stärker ist, im Herzen seid ihr gleich stark. Und was er Naruto an Kampftechniken beibringt, das hast du ihm an Menschlichkeit beigebracht. Kakashi arbeitet auf Grundlagen, die du geschaffen hast. Und jemand, der so geradlinig ist wie dieser Naruto, der unterscheidet grundsätzlich nicht nach Autoritätswerten...“ Iruka hörte fasziniert zu. Als Senshu bemerkte, wie er sie anstarrte, schluckte sie ihre weiteren Ausführungen mit einem Fischbällchen hinunter und errötete etwas: „Ach, genug davon. Ich bin schon wieder am philosophieren...“

„Nein, äh... das... darüber hab’ ich so noch nie nachgedacht, aber... es ist vielleicht wahr. Es... ich bin froh, es zu hören.“ Die beiden lächelten und prosteten einander mit Sake zu. Iruka schien jetzt etwas besser gelaunt zu sein und fragte: „Wo bleiben deine Freunde?“

„Nemaru wollte mit seinen Kollegen in ein Gasthaus gehen, sie haben ihn eingeladen.“

„Er findet schnell Freunde.“

„Ja, er ist ja auch ein fröhliches Gemüt. Außerdem ist er immer hilfsbereit. Die Leute merken es, wenn sie einem anderen nicht egal sind. Vielleicht sind nicht alle Freunde... aber zumindest ist so jemand immer gern gesehene Gesellschaft. Wah... ich bin schon wieder am philosophieren...“ Iruka lachte: „Das macht nichts. Und Mija?“

„Ich glaube, sie wollte etwas einkaufen. Wir haben ein paar Ausrüstungsgegenstände verloren – Hah?“ Verwundert warf Senshu einen Blick zu ihrem rechten Fuß hinab. Ein kleiner Hund schnupperte daran, blickte zu ihr auf und ließ ein kurzes, freundliches Bellen ertönen. „Wer bist du denn?“, fragte Senshu und sah sich um, während Iruka den Hund musterte: „Das ist doch Akamaru...?“

„Akamaru!“ Ein Junge mit struppigem Haar kam völlig außer Atem den Weg entlang. „Gut gemacht!“

Iruka sog eine einzelgängerische Nudel durch die Lippen und brachte hervor: „Kiba? Was ist los?“ Der Junge namens Kiba wandte sich atemlos an Senshu: „Ihr Freund braucht Sie.“ Sie hob die Augenbrauen und warf kurz einen tragisch-komischen, sehnsüchtigen Blick auf ihre Schüssel: „Wo?“

„Immer mir nach!“

Das Mädchen erhob sich und eilte Kiba hinterher, ohne weitere Fragen zu stellen.

Loyalität

„So was vergess’ ich nicht!

Euch würd’ ich nie vergessen.

Ihr seid die einzigen

wirklichen Freunde, die ich hab’...“

- Nemaru Endan
 

„Lasst ihn los!“

Eine Stimme, die es nicht gewohnt war, Anweisungen zu erteilen, ertönte vom Eingang des Gasthauses, woraufhin sich einige der Gäste ihr zuwandten.

In dem großen, gut besuchten Raum war es schon vor einigen Augenblicken stiller geworden, als eine Gruppe Jugendlicher auf die drei Köche eines anderen Lokals losgegangen war – der Grund war noch nicht bekannt, aber unter Letzteren befand sich der rothaarige Endan aus Kijukai. Der vorwitzige Kerl von der Waldinsel. Natürlich hatte schon fast jeder von ihm und seinen Kameradinnen gehört.

Noch einmal ertönte die Stimme: „Hey! Ihr sollt ihn loslassen!“

Und jetzt wandten sich ihr auch endlich die fünf oder sechs etwa achtzehnjährigen Kerle zu, die sich ganz offensichtlich besonders auf Nemaru konzentrierten. Seine beiden Begleiter hatten sie in eine Ecke gedrängt, wo sie von einem ihrer Leute in Schach gehalten wurden.

Der Rädelsführer der Jugendlichen, ein zerraufter Bursche mit einer schweren Lederschürze und schmutzigen Arbeitskleidern, hatte Nemaru, der von den anderen festgehalten wurde, am Kragen gepackt und ihm, wie es aussah, bereits einen sauberen Schlag ins Gesicht verpasst, denn Nemarus linker Mundwinkel blutete ein wenig. Der rote Fleck auf seiner Wange zeigte, wo wenig später eine anständige Schwellung entstehen würde.

Jetzt hob Nemaru seinen von diesem betäubenden Schlag und vielleicht ein wenig zu viel Alkohol schweren Blick und sah Mija in der Tür stehen. Sie hatte den groben Stoffvorhang, der im Eingang hing, mit einer Hand beiseitegeschoben, um erst einmal einen Blick in die Wirtsstube zu werfen. Jetzt ließ sie den Vorhang hinter sich zufallen und trat zwei Schritte vor.

Sie warf dem Wirt einen kurzen, strengen Blick zu, den er gleichgültig von sich abprallen ließ. Er stand hinter seinem Schanktisch und beobachtete die Sache missmutig, aber offenbar ohne das Vorhaben, etwas dagegen zu unternehmen. Mija schlussfolgerte daraus, dass die Jugendlichen zu seinen Stammkunden gehörten und er daher zuließ, dass sie dem „Neuen“ eine Lektion erteilten – wofür auch immer. Sie wusste, dass Nemaru vorlaut sein konnte, wenn ihm das Verhalten anderer zuwider war. Aber sie war sich sicher, dass es für einen derartigen Aufstand keinen triftigen Grund geben konnte.

Beinahe verächtlich blickte sie in den inzwischen stillen Raum und zu dem Jungen, der eben noch zu einem weiteren Schlag in Nemarus Gesicht ausgeholt hatte, sie jetzt aber belustigt ansah. Dabei dachte sie daran, wie verhasst es ihr war, dermaßen im Mittelpunkt zu stehen. Die auf sie gerichteten Blicke machten sie wütend, eine gute Vorraussetzung dafür, vor all den Fremden zu sprechen.

„Ziemlich feige – nur traurig, dass du vier Leute brauchst, die ihn festhalten.“

Das Grinsen des Jungen wurde zu einer zornigen Fratze. Er stieß Nemaru grob in die Arme seiner Kameraden, von wo dieser sich in seinem momentanen Zustand nicht befreien konnte. Er wollte seinem Gegner etwas hinterher rufen, wurde aber durch einen brutalen Schlag in den Magen daran gehindert, woraufhin Mija forsch sagte: „Lasst ihn sofort in Ruhe! Was soll der Scheiß hier eigentlich?“

Anstatt irgend etwas zu erklären, legte der Junge mit der Schürze diese mit einem Schwung ab und ließ sie auf den alten, abgenutzten Holzboden fallen.

„Dann eben zuerst du, Miststück! Wenn du genauso frech sein willst...“ Er lächelte siegessicher und begann damit, einige Schlüsselpositionen seiner Ninjutsu zu zeigen, die wohl bedrohlich wirken sollten. In der Tat waren seine schnellen, kraftvollen Bewegungen beeindruckend, aber Mija unterbrach schließlich eine Kombination von Fingerzeichen, die endlich einen ernsthaften Angriff einleiten sollten, indem sie vollkommen überraschend in die Falten ihrer Kleider griff und daraufhin ungerührt eine Waffe auf ihn richtete.

Noch während des Ziehens hatte sie die kleine Muskete entsichert, und ohne weitere Verzögerung schoss sie.
 

Die abgefeuerte Kugel schlug, kaum hörbar durch ein kollektives, entsetztes Aufschreien der Gäste, in der Wand auf der anderen Seite des Raumes ein.

Während aufgeregtes Gemurmel durch die Menge wogte, tastete der Junge in schmutziger Arbeitskleidung fassungslos nach seinem Ohr, wo er immer noch die Hitze des vorbeirasenden Geschosses spürte. Als er seine Finger betrachtete, sah er nicht einen einzigen Tropfen Blut daran. Aber er fühlte die verräterische Wärme, die sich an der Vorderseite seiner groben Hose ausbreitete.

Sein Kinn zitterte, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er die Stimme des Mädchens. Die Waffe war immer noch auf ihn gerichtet, trotzdem riss er den Blick vom Ende des qualmenden Laufes und sah ihr bedauernd wirkendes Gesicht an, während sie sprach: „Es wäre mir unangenehm, jemanden auf diese Weise zu verletzen. Aber du solltest dir zumindest der Möglichkeiten bewusst sein. Nicht jeder teilt meine Einstellung.“ Dann steckte sie die Waffe wieder weg und blickte ihn erwartungsvoll an.
 

Der Junge bebte vor Wut und Scham darüber, hier unter seinen Bekannten und Freunden von einem ungefährlich wirkenden Mädchen gedemütigt zu werden. Als einer seiner Freunde von Nemaru ablassen und ihm zu Hilfe kommen wollte, warf er ihm einen warnenden Blick zu und deutete ihm, zu bleiben, wo er war.

„Ich bring’ dich um...“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Doch als er sich auf Mija zu bewegen wollte, erfasste ihn plötzlich jemand am rechten Handgelenk. Was ihn jedoch an seiner Bewegung hinderte, war nicht die Kraft der Hand, die ihn hielt. Es war das Gesicht, das sich in sein äußeres Blickfeld schob, noch bevor er sich Senshu vollständig zuwenden konnte.

Wieder hob sich erstauntes Gemurmel, und mehr als einmal hörte man den Namen Orochimaru, nachdem die Dritte von den Leuten aus Kijukai durch die Hintertür gekommen war.

Ihre Stimme fiel schwer und trotz des Geschwätzes um sie herum deutlich hörbar in den Raum: „Nicht so leichtfertig.“

„Wa - ?“

„Wer sich das Recht anmaßt, ein anderes Leben zu nehmen, muss gut sein, oder lebensmüde. Er muss bereit sein, und dazu in der Lage, sein Leben zu verteidigen.“

„Was redest du da, verrückte Hexe?!“, stammelte der Junge jetzt verwirrt und noch zorniger. Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, aber sie ließ nicht los. Statt dessen trat sie näher an ihn heran und verzog dabei angewidert den Mund. Ihm selbst wurde der Gestank bewusst, den seine Angst von ihm ausgehen ließ.

„Du verstehst mich vielleicht nicht.“, fuhr sie mit erbarmungsloser Ruhe fort. Dann wurde ihr Blick grausam. „Ich meine, wer sich herausnimmt, zu töten – oder nur anderen mit dem Tod zu drohen – gibt ihnen das Recht, ihn zu töten, wenn sie es für erforderlich erachten.“

Der Junge zitterte jetzt merklich. „Du bist ja wahnsinnig...“, stotterte er. Mija stand immer noch mit verschränkten Armen am anderen Ende des Raumes und behielt von dort aus die Jugendlichen im Blick, die Nemaru immer noch festhielten. Sie wartete einfach ab, aber die ganze Angelegenheit schien sie ungeduldig und missmutig zu machen.

Senshu lächelte bitter und senkte den Blick – was der Junge als Gnade empfand: „Mag sein. Aber drohe niemandem zu leichtsinnig. Es gilt gleiches Recht für alle in einem fairen Kampf. Und ich nehme das, was mein Gegenüber sagt, immer ernst.“ Er dachte fieberhaft darüber nach, wie er aus dieser Situation entkommen konnte. Er stammelte: „Ich... verstehe.“

Sie nickte nur und murmelte desinteressiert: „Mhm...“ Dann ließ sie seine Hand los. Mija schob ihn grob aus dem Weg und trat gemeinsam mit Senshu zu den anderen, die jetzt, da ihr Anführer überwältigt schien, einfach zurücktraten, als die Mädchen Nemaru in ihre Mitte nahmen. Senshu wischte das gerinnende Blut von seinem Kinn, was ihm sichtlich Schmerzen bereitete, denn er verzog den Mund und riss die Augen auf.

„Lass das!“, fauchte er zornig.

„Was war los?“, fragte Mija, woraufhin Nemaru den Kopf senkte und die Lippen aufeinander presste.

Senshu dachte kurz daran, den Wirt oder sonst jemanden danach zu fragen, unterließ es aber dann.

„Wir gehen besser.“, meinte sie und Mija nickte: „Ja. Der Abend scheint ja zumindest für euch gelaufen zu sein.“ Sie bedachte Nemaru und seine beiden Begleiter, die sich nun erleichtert aus der Bewachung ihres Gegners befreit sahen, mit einem Blick, der eine Mischung aus Bedauernd und Belustigung war.

Sie verließen das Gasthaus zu fünft und auf der inzwischen dunklen Straße erläuterte einer der beiden jungen Köche: „Es war nichts... die waren einfach auf Ärger aus und haben ihn provoziert. Sie hatten es ohnehin auf ihn abgesehen. Wir haben schon öfter Ärger mit denen gehabt, aber wir sind ihnen aus dem Weg gegangen – Nemaru nicht.“ Der andere nickte schwerfällig – sie waren alle drei nicht wirklich betrunken, aber sie hatten sich auf einen lustigen Abend eingestellt und waren von den anderen kalt erwischt worden. „Er hat nur eine Kleinigkeit erwidert, aber das war alles, worauf Tonma gewartet hat.“ [ton = Versteck, ma = Dämon]

Senshu stand mit verschränkten Armen daneben, während Mija sagte: „Ach so... na... hoffentlich kriegt ihr jetzt deswegen keinen Ärger.“

„Nein, bestimmt nicht. Nach dem, was da heute vorgefallen ist – und Tonma meiden wir sonst ohnehin. Wir waren nur unvorsichtig.“

Endlich meldete Nemaru sich zu Wort. „Manchmal kann man eben nicht vorsichtig sein!“, brummte er unwirsch. Er war immer noch wütend darüber, dass man ihn in einem unachtsamen Moment so überrumpelt hatte. Als er bemerkte, dass er vielleicht etwas zu heftig gesprochen hatte, sah er sich prüfend nach den anderen um, aber sowohl Mija, als auch Senshu nickten nur. Die beiden stellten keine Fragen. Sie verabschiedeten sich von Nemarus Mitarbeitern und machten sich mit ihm auf den Heimweg.

Senshus Schatten, Part I

„Man braucht zehn Jahre,

sie zu kennen.“

- Numa Jushin,

Geschichtsschreiberin aus Mokugan,

über Senshu Angiri
 

Senshu blieb plötzlich stehen. Mija und Nemaru, der sich mit beleidigtem Gesicht die Wange hielt, wandten sich nach ihr um. Nemaru fragte nuschelnd: „Waf ift?“ Senshu blickte mit gerunzelter Stirn umher, ihr Blick streifte über die in Stein gemeißelten Abbilder der Hokage.

„Nichts.“, sagte sie nur. „Aber geht schon mal voraus, mir ist eingefallen, dass ich Iruka zurückgelassen hab. Er fragt sich sicher, was los ist. Außerdem will ich ihn nicht auf der Zeche sitzen lassen.“

Mija runzelte die Stirn, nickte aber nur. Nemaru war ebenso verwundert. Iruka würde sowieso davon erfahren, noch ehe sie ihm am nächsten Tag begegnen und ihm alles erzählen konnten. Es war schon spät und zu dem Imbiss war es ein großer Umweg.

„Na los, ich komme gleich nach. Und legt etwas von meinen Heilkräutern auf.“ Damit verschwand sie.

Noch verwirrender.

Normalerweise hätte Senshu sich selbst um Nemarus Verletzung gekümmert – vielleicht mit kritischem Blick, aber dennoch hätte sie es gern getan, und sie hätte es vor allem gleich getan, bevor sie zu Iruka ging. Ihre beiden Freunde, vor allem Mija, kannten ihre Verhaltensweisen gut genug, um zu wissen, dass sie sich immer zuallererst um so etwas kümmerte, auch wenn es sich nur um eine Kleinigkeit handelte. Und sie überließ die Ausführung der dazu nötigen Maßnahmen nur anderen, wenn es ihr gleichgültig oder wirklich notwendig war. Vielleicht, um den Überblick über alles zu behalten, vielleicht aber auch, weil sie in ihrem tiefsten Innersten einfach nicht dazu in der Lage war, anderen – selbst ihren engsten Gefährten – vollkommen zu vertrauen.
 

Senshu ging angestrengt lauschend den dunklen Weg zurück und fühlte wachsende Unruhe in sich. Ihr Instinkt verriet ihr, dass da etwas lauerte. Und weil sie nicht wusste, was es war, war es ihr lieber, allein zu sein, sollte sich offenbaren, was da im Dunkeln um sie herumschlich.

Was immer es war. Ein Feind oder ein Ereignis.

Aber sie hatte einen Verdacht. Und sollte der sich bestätigen, dann – oh ihr Götter, bitte! – war es ihr wirklich lieber, dem Schatten, der sie umschlich, alleine zu begegnen.
 

Sie blieb stehen und blickte zum Abbild von Hokage dem Dritten empor. „Komm heraus.“, murmelte sie, ohne zu erwarten, dass daraufhin tatsächlich etwas geschehen würde.

Plötzlich jedoch trat Gai hinter ihr aus dem Schatten eines Hauses. „Und schon bin ich da!“, strahlte er.

Senshu drehte sich um und sagte entnervt: „...das hab’ ich nicht gemeint...“

„Ähm... ja. Der da oben versteckt sich nicht wirklich perfekt... nicht schlecht, wirklich nicht schlecht... aber na ja. Ich mache mir keine besonderen Sorgen wegen ihm. Du hast ihn ja schon bemerkt, und ich fühle keine bösen Absichten von ihm ausgehen.“

Auf Senshus Stirn bildete sich eine steile Falte und ihr Herz klopfte mit einem Mal etwas zu schnell.

Also doch.
 

Gai setzte sich mitten auf die Straße und zeichnete fröhlich Strichmännchen in den Sand: „Du freust dich nicht sonderlich über deinen Besuch, was?“

„...könnte man so sagen.“

Senshu seufzte und verschränkte dann die Arme: „Aber warum seid Ihr mir gefolgt, Meister Gai?“

„Nicht so förmlich!“, meinte er erstaunt.

„Verzeiht. Ich bin es gewohnt, Respekt zu zeigen, wenn mich jemand an Weisheit und Fähigkeit überragt.“

„Ach, na dann.“ Gai kicherte, als er ein Kakashi-Strichmännchen vollendet hatte. Dann blickte er zu Senshu auf: „Hab’ gehört, ihr habt Ärger gehabt?“

„Nicht der Rede wert...“

„Worum ging’s?“

„Nur ein paar Stänkerer, die sich Nemaru vornehmen wollten. Hoffentlich begegnen sie ihm nicht, wenn er nüchtern ist, dann sind sie alle miteinander keine Gegner für ihn.“

„Du traust ihm ja einiges zu.“, meinte Gai ehrlich erstaunt. „Es hat bisher nicht so auf mich gewirkt. Eher so, als würdet ihr ihn schützen.“

Senshu starrte demonstrativ gelangweilt zu Boden: „Weil er der Jüngste in der Gruppe ist und man uns beigebracht hat, uns um unsere Leute zu kümmern vielleicht? Aber kommen wir zum Thema, bitte.“

Gai verwischte das Kakashi-Männchen vor sich und zeichnete einen Totenschädel: „Wir sind bereits dabei. Mir ist etwas aufgefallen.“ Er deutete auf ihr linkes Ohr. „Anfangs dachte ich, das Zeichen wäre bei euch allen gleich, aber das stimmt nicht. Es zeigt euren Reifegrad, wenn man so will, oder?“

Senshu nickte wenig beeindruckt.

Die unterschiedlichen Symbole waren aufgrund ihrer Winzigkeit kaum sichtbar, aber dennoch vorhanden.

Hinter ihrem Totenschädel kreuzten sich zwei Hände mit gespreizten Fingern, wobei eine der Hände ein wenig blasser war. Hinter Mijas Schädel befand sich nichts, aber er war umgeben von einem Rahmen aus winzigen Kirschblütenpunkten, die kaum sichtbar waren. Hinter dem Schädel von Nemaru war – noch – nichts, aber der Schatten eines Schwertes wäre mit einer Lupe erkennbar gewesen.

Gai fuhr fort: „Ich bin nur neugierig, weil die Bräuche in eurem Land so anders sind... ihr seid nicht registriert, eure Ausbildung hat keinen gegliederten Aufbau... nur dieser Ohrring.“

„Solche Ohrringe tragen aber nicht viele Leute in Kijukai.“, meinte Senshu.

„Ich weiß. Weil das Material, aus dem sie bestehen, selten ist, nicht wahr?“

„So ist es.“

„Um genau zu sein, ist es ein unbekanntes Material, es hat keinen Namen. Und viele sind danach auf der Suche, weil es die Fähigkeit hat, den Träger zu erkennen und sich nach dem Willen desjenigen, der es geschafft hat, das Material zu formen, zu verändern – selbst nach seinem Tod. Ist es nicht so?“

Senshu nickte nur. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen: „Ihr wisst ohnehin alles darüber, was wollt Ihr von mir noch?“

„Mich interessiert, warum ihr es tragt. Ich weiß, dass euer Herr das Material bearbeiten konnte. Aber warum hat er das bisschen davon, das sich in seinem Besitz befand, seinen Bediensteten überlassen und es nicht für sich selbst genutzt? Er muss einen bestimmten Zweck damit verfolgt haben...“

Senshu seufzte. Sie hatte genug zu bedenken, auch ohne langwierige Erklärungen. Noch dazu über Angelegenheiten, die sich schwer in Worte fassen ließen. Obwohl sie das Gefühl hatte, dass viele der Dinge, die jetzt noch im Verborgenen lagen und zudem durch die sich überschlagenden Ereignisse überschattet wurden, bald zumindest teilweise offenbart werden mussten. Es war – mal wieder – eine Zeit des Umbruchs für sie.

„Es tut mir leid... ich weiß nicht, ob er wollen würde, dass ich all das verrate, was er mir anvertraut hat. Vieles davon wissen nicht einmal Mija oder Nemaru. Außerdem,... wie gesagt, er war exzentrisch.“

Gai nickte nachdenklich: „Ich weiß. Aber es gibt da jemanden, der versucht, das Geheimnis des Materials und seine Mächte zu ergründen – allerdings nicht durch Fragen. Und er wird sich besser verstecken als dein aktueller Verfolger, wenn er erst weiß, wo ihr seid.“

„Wen meint Ihr?“

„Ein alter Bekannter. Egal. Was ich eigentlich fragen wollte, ist... kennst du die ganze Macht dieses Materials?“

Senshu lächelte den Sternen entgegen: „Ich kenne sie vielleicht, aber nur in den Momenten, in denen ich mich selbst kenne.“

„Wie meinst du das?“

„Schwer zu beschreiben. Aber wenn man vollkommen man selbst ist, wenn man klar denken, klar hören und sehen, aber vor allem klar fühlen kann, dann kann man in Einklang damit sein. Aber nur, wenn es auf die Person geprägt ist, die es verwenden soll. Dabei geht es nicht ums Wollen.“ Senshu sah immer noch zum Himmel hinauf und ihr Blick wirkte entrückt. Ihre Stimme war auf einmal so leise und sanft, wie man sie sonst nie hörte, als hätte sie vergessen, dass Gai anwesend war.

„Das Material öffnet sich nur, wenn man ganz klar die Kraft in sich spürt, die das Schicksal beeinflusst. Meist tut diese Kraft, was sie will, weil wir nicht genug wir selbst sind, um sie zu berühren. Wir sind mit so vielem beschäftigt, dass es einfach nicht geht. Aber manchmal legt man diesen unterirdischen Fluss frei, und dann kann man das Material vielleicht nutzen. Wenn es dafür geprägt ist. Die Schlüssel dazu sind vielfältig. Und nicht jeder Träger denkt so viel darüber nach. Die wenigen Male, die Nemaru es benutzt hat, waren vielleicht unbewusste Instinkthandlungen. Und Mija hat durch ihre Ausgeglichenheit oft Zugang dazu – was wiederum bedeutet, dass sie recht gut erkennt, wann sie es verwenden kann. Und sie geht sehr natürlich damit um.“

Gai erhob sich und verwischte mit dem Fuß den Totenschädel. „Dieses Material ist also für niemand anderen als euch von Wert, oder?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht besteht die Möglichkeit, die eingeprägten Informationen zu löschen oder zu ändern.“, überlegte Senshu.

Gai klopfte den Sand der Straße von seinen Kleidern und meinte: „Ich ziehe mich jetzt besser zurück, ich habe noch zu tun. Außerdem will noch jemand etwas mit dir besprechen...“

Senshus Blick zuckte fragend hoch: „Wer?“ Ihre Gedanken flatterten panisch zu ihrem Verfolger auf dem Steindenkmal.

„Iruka wollte dir noch etwas sagen.“

„Ach so...“ Ehrliche Erleichterung schwang in ihrer Stimme mit. „Meister Gai! Eine Bitte, bevor Ihr geht.“

„Ja?“

„Bitte... verratet niemandem etwas von...“ Ihr Blick wies hinauf zu Hokage dem Dritten und heftete sich dann wieder an Gai, der verstehend nickte: „Deine Angelegenheit.“ Dann verbeugte er sich grinsend und war kurz darauf verschwunden. Allerdings so, dass er nicht mehr erfühlbar war, wie vorhin. Er war eben doch um Klassen besser als sie und ihr Verfolger.
 

Erleichtert ging Senshu ein paar Schritte weiter und wartete auf Iruka. Was für ein ereignisreicher Abend.

Iruka kam ihr bald entgegen. „Choji Akimichi hat mir erzählt, was passiert ist.“

„Wer?“

„Ein ehemaliger Schüler, der in dem Gasthaus war. Alles in Ordnung?“

„Natürlich. Solche Dinge kommen doch immer wieder vor, oder?“ Iruka nickte nur.

Senshu kramte ein paar Münzen hervor und reichte sie ihm, er lehnte sie jedoch mit einer bescheidenen Handbewegung ab. „Du bist eingeladen.“, lächelte er.

Sie bedankte sich und war froh über diese freundliche Geste, die ein willkommener Ausgleich dazu war, dass ihre Anwesenheit zu Streitereien Anlass gegeben hatte. „Gai sagt, es gäbe noch etwas?“

„Ja, er hat vorhin kurz mit mir gesprochen und mir gesagt, dass der Ältestenrat beschlossen hat, euch – sobald Zeit dafür ist und Prüfer freigestellt werden – einem Test zu unterziehen, um eure Stärke und euren Rang festzustellen, falls ihr in Konohagakure bleiben wollt. Wir brauchen zur Zeit jeden Ninja, den wir haben, um Aufträge zu erfüllen. Und da ihr helfen wollt...“

Senshu verstand sofort. Sie sollten, wenn sie gut genug waren, auch als Ninja für Konohagakure arbeiten. „Wir sollen offiziell registriert werden?“, fragte sie erfreut. Diese Entscheidung beruhte wahrscheinlich vor allem darauf, dass das Dorf sich in einer Notlage befand, dennoch bestätigte sie eine gewisse Akzeptanz.

„Aber ja. Gai hat euch beobachtet und beim Rat empfohlen. Ich auch.“

„Danke, wirklich! Wann, glaubst du, wird die Prüfung stattfinden? Und wie sieht sie aus?“

„Darüber weiß ich noch nichts, aber nur die Ruhe. Die nächste Zeit ist ohnehin mit Organisation und Wiederaufbau verplant. Bei Gelegenheit.“

„Klasse!“, grinste Senshu und vergaß über ihrer Freude für einen Moment ihren Verfolger.
 

Iruka hingegen deutete in eben jenem Moment zum Denkmal hinauf: „Äh, da oben...“

„Raaah, ich weiß!“, stöhnte Senshu resigniert und ließ den Kopf hängen. „Bitte, erwähne ihn niemandem gegenüber.“

Iruka lachte lauthals: „Keine Sorge. Ein alter Bekannter?“

„So könnte man sagen, ja. Nah...“

„Schon in Ordnung. Es ist schon spät, was? Ich muss morgen früh raus. Mach’s gut!“

„Wird gemacht. Danke.“

Sie schüttelten einander kameradschaftlich die Hände und Iruka zog ab.
 

Senshu seufzte tief: „Genug für heute.“

Sie machte sich auf den Heimweg. Jetzt, wo sie wusste, dass ihre Ahnung sich bewahrheitet hatte, konnte sie sicher sein, dass dieser Verfolger sich nur zeigen würde, wenn sie alleine war. Er würde sie nicht vor ihren Freunden behelligen. Immerhin.

Schlange in der Hand, Katze im Nebel

Als Senshu die kleine Hütte betrat, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, saß Nemaru allein am Tisch und blätterte mit missmutiger Miene in einem alten Buch, das er irgendwo gefunden haben musste. Dabei hielt er ein grünfleckiges Tuch an seine Wange, das offenbar mit einem Kräutersud getränkt war.

Als er hörte, wie die Tür sich öffnete, fragte er ohne aufzublicken: „Wo warst du? War was?“

„Nein, nichts. Wo ist Mija?“

„Im Badehaus drüben.“, antwortete er lakonisch, dann wandte er sich wieder schmollend dem Buch zu. „Schon gut, du brauchst es mir ja nicht zu sagen – nett, dass du mich für dämlich hältst.“

„Was?“ Senshu hielt beim Ausziehen ihrer Schuhe inne. Sie war ehrlich verwundert über Nemarus eingeschnappten Tonfall.

„Ich bin vielleicht nicht so erfahren wie du, aber ich weiß, wenn dich etwas beunruhigt. Aber schon okay!“ Aufgebracht klappte er das Buch zu, stieß den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, grob zurück, warf das fleckige Tuch in eine Ecke und zog seine Schuhe mit ruckartigen Bewegungen an.

„Nemaru...“, begann Senshu mit verbissenem Kopfschütteln. Aber wie sollte sie fortfahren?

Der junge Koch öffnete heftig die Tür und rannte fast Mija über den Haufen, die soeben zurückgekehrt war und jetzt erstaunt fragte: „Was ist denn hier los?“

„Nichts.“, fauchte Nemaru und stapfte in die Dunkelheit davon.

Mija sah ihm nach und wandte sich dann überrascht und etwas bestürzt Senshu zu: „Hattet ihr Streit?“

„...nein.“

Nach einer gedankenverlorenen Pause fügte Senshu hinzu: „Ich fürchte, an diesem Ausbruch ist mein Verhalten schuld.“

Mija überlegte kurz, ob es nicht besser wäre, Nemaru zu folgen, dann beschloss sie, es zu unterlassen. Für heute hatte er bereits einen Denkzettel verpasst bekommen. Jetzt würde er ausreichend wachsam sein – außerdem war er schon genug gedemütigt worden – sollte sie ihm etwa hinterherlaufen wie eine Glucke? Er war natürlich der Jüngste von ihnen, aber er war alt genug, auf sich selbst aufzupassen.

Sie schloss also die Tür und verstaute ihre Badesachen in einem Schrank, dann setzte sie sich neben Senshu, die sich erschöpft auf den Boden gehockt hatte.

„Er ist nur ein bisschen durch den Wind und etwas angeheitert... du kennst ihn, er wird sich schnell beruhigen.“, meinte Mija beschwichtigend. Sie mochte derlei Unruhe nicht, aber was sollte man machen?

Senshu schüttelte den Kopf, sagte aber: „Ich weiß. Seine Stimmung ist wie ein Jojo... aber er... ihr habt nicht verdient, dass ich in manchen Dingen so streng bin. Und vielleicht bin ich manchmal überheblich. Du weißt hoffentlich, dass ich es nie so meine.“

Mija nickte und lächelte. Sie wusste es natürlich. Wundersamerweise verstanden sie und Senshu sich trotz ihrer Unterschiede vollends. Sie waren wahrhafte Seelenverwandte – mehr als Freundinnen, mehr als Schwestern. Manchmal war es, als teilten sie all ihre Gedanken. Dass es mit Nemaru nicht so einfach war, war verständlich...

Mija verschränkte die Arme: „Ich weiß es. Und er nimmt es dir bestimmt nicht so übel, wie es aussieht. Ich weiß, dass du seine Äußerungen ernst nimmst – aber du musst akzeptieren, dass er anders ist. Bei ihm ist vieles, was er sagt, einfach nicht so gemeint. Und vor allem, wie er es sagt.“ Mija grübelte kurz. „In der Hinsicht... seid ihr vielleicht gar nicht so verschieden. Obwohl du geradliniger bist. Nimm es einfach nicht so schwer. Mit der Zeit verstehen die Menschen einander immer besser. Aber er ist eben impulsiv. Er lässt heraus, was er gerade fühlt, und was er fühlt, ist ein ewiges Auf und Ab.“ Die beiden mussten lachen.

Mija seufzte schließlich und machte sich daran, das Abendessen zuzubereiten. Dabei sagte sie: „Du nimmst es einfach zu ernst – alles, was diejenigen, die dir nahe stehen, sagen. Aber er ist nicht kompliziert. Diese Sache muss man vielleicht nicht klären. Ich wette, wenn er zurückkommt, lacht er wieder.“

Senshu nickte und hob das Tuch auf, das Nemaru zu Boden geworfen hatte. Während sie ein wenig aufräumte, war ihr Blick gesenkt. Mijas Worte hatten sie erleichtert, aber immer noch nicht wirklich beruhigt.

„...er hat bemerkt, dass ich etwas nicht sagen wollte.“

Mija nickte. Ihr war es auch aufgefallen. Und wie hätte sie nicht ahnen sollen, was ihre Freundin beschäftigte? Sie wusste fast immer, worum sich Senshus Gedanken drehten. Die bedeutsamen Ereignisse, die Personen, die sie beeinflusst hatten (und umgekehrt). Sie mochte vielleicht auf alle anderen verschlossen wirken, aber ihren engsten Vertrauten, und vor allem Mija, konnte sie wenig vorenthalten.

Mija biss in ein Reisbällchen: „Nenshin Sanguchi ist wieder aufgetaucht, oder?“

Senshu seufzte und nickte langsam: „Ja. Und ich dachte, ich wäre... grausam genug gewesen. Aber jetzt holt mich meine Schwäche erneut ein.“

„Sei nicht so hart zu dir.“, meinte Mija. „Es war damals eine schwere Zeit für dich. Er wusste das, und es ist ja nicht so, als hättest du ihm jemals etwas vorgemacht...“
 

Senshu schwieg mit zusammengekniffenen Lippen. Von ihrer Warte sah das etwas anders aus. Mit Worten hatte sie vielleicht niemandem etwas vorgemacht, aber ihrer Meinung nach konnte man manchmal auch lügen, indem man gar nichts sagte.

Und wenn man gerade schwach oder müde genug war, konnte man sich sogar selbst ganz gut belügen, indem man gar nichts sagte. Indem man Dinge einfach zuließ, die einen seltsamen Beigeschmack hatten.

„Diesmal werde ich es bereinigen – ein für allemal.“

Alles zu seiner Zeit/Senshus Schatten, Part II

Als Mija und Senshu am nächsten Tag nach der Arbeit die Hauptstraße entlang gingen, gesellte sich Nemaru zu ihnen, während er einem der Jugendlichen vom vorigen Abend fast kameradschaftlich heiter hinterher rief: „Pinguine sollen auf dein Grab pissen, du blöder Hund!“

Mija und Senshu sahen einander erstaunt an, als er lachend neben ihnen stehen blieb und sie beide angrinste, als wäre der Streit von gestern längst vergessen.

„Ihr habt die Sache aber schnell beigelegt.“ Mija meinte damit die Kerle, die sich gestern noch so bedrohlich gebärdet hatten. Dabei biss sie in einen gebackenen Tintenfisch, den sie sich eben am Imbissstand gekauft hatte.

„Och, der ist schon okay.“, meinte Nemaru.

„Und Tonma?“, fragte Senshu, indem sie ausdruckslos ein kleines Papierheftchen mit Kräutern aus der Tasche nestelte, es über ihren Fischbällchen am Stiel schüttelte und dann wieder verschwinden ließ.

„Der Schmied ist ein blöder Kerl, aber mit dem werd’ ich schon fertig, hehe.“, meinte er zuversichtlich.

„So, na dann is’ ja gut, nicht?“ Mija sah Senshu an, als wollte sie sagen: „Siehst du, so schnell ging das. Wie ich’s gesagt hab.“

Senshu wollte gerade in ein Fischbällchen beißen, als ihr plötzlich etwas auffiel, ihr Blick blieb starr an einem Dachvorsprung hängen.

„Was?“, fragte Mija.

Und Sekundenbruchteile später, bevor Senshu etwas erwidern konnte, sagte sie gemeinsam mit Nemaru – sie belustigt, er entnervt: „Nichts!“

Senshu sah die beiden beinahe gekränkt an, dann gab sie die Fischbällchen an Nemaru weiter, legte ihm die Hand auf die Schulter und rang mit sich selbst, bis sie die richtigen Worte fand: „Ich muss mich um etwas kümmern, aber ich sage es dir, wenn dazu ein passender Zeitpunkt gekommen ist. Ich verspreche es.“

Sein überraschter Gesichtsausdruck ließ ihr Zeit, sich ohne weitere Diskussion über ein Wasserfass auf das nächste Dach zu schwingen und im Laufschritt über die rasselnden Ziegel zu verschwinden.
 

„Äh...“ Nemaru stopfte sich eines der Fischbällchen in den Mund, anstatt etwas zu sagen und blickte Mija fragend an, die lächelnd mit den Schultern zuckte: „Sie kümmert sich um etwas, das für uns nicht von Belang ist. Ab heute ist die Geschichte wahrscheinlich ohnehin erledigt. Mach dir keine Gedanken. Sei froh, jetzt hast du gratis Futter!“

Nemaru kaute kurz, spuckte das Fischbällchen dann aus: „Buäks! Die kannst du haben, ich kann mit diesen Kräutern nichts anfangen.“

„Oh, na ja, mir schmecken sie. Und sie kann ohne die Kräuter ja nicht leben.“

„Das ist mir schon klar, aber wie sie den Geschmack aushält... und ich hasse Fisch.“

„Ach verdammt, ich ja auch...“

Während die beiden mit dem Essen herumhantierten, bemerkten sie nicht, wie eine kleine Gestalt hinter ihnen auftauchte...
 

Senshu stellte währenddessen fest, dass auf den Tonziegeln unter ihren Füßen dunkle Punkte erblühten. Es begann zu regnen, während sie der Person, die ihr gefolgt war, nun selbst hinterherlief. Offenbar hatte ihr Schatten beschlossen, ihre Unterredung nicht mitten im Dorf zu führen – das sollte ihr nur Recht sein.

Der milde Frühlingsregen wurde stärker und bald klebte ihr Haar schwer und triefend an ihrem Kopf. Sie folgte dem Pfad, der zur Felswand der Hokage führte, die das Dorf überragte. Dahinter, auf einem von im strömenden Regen kalt aufragenden Steinen umgebenen Plateau, wartete ihr Schatten.

Ein neuer Freund?

„Dat sin’ also die Gestalten da, wat?!“, quäkte eine Stimme hinter Mija und Nemaru, die sich sofort überrascht umdrehten. Vor sich sahen sie ein rebellisch zu ihnen aufblickendes Kind, das trotzig die Unterlippe vorschob.

Mija stellte auf den ersten Blick fest, dass die Augen des kleinen Jungen von anhaltendem Weinen rot gerändert waren. Sein Blick war müde, verletzt und wütend. Aber ebenso deutlich war sichtbar, dass dieses Kind sich von seinem sicherlich großen Schmerz erholen und irgend wann Kraft daraus schöpfen würde.

Sie lächelte, obwohl sie für Kinder normalerweise nichts übrig hatte.

Nemaru sah zwei Freunde des Knirpses, die sich ungeschickt hinter einem Haus versteckten, und grinste breit: „Wer bist du denn?“

Der Kleine plusterte sich zu voller Größe auf und rief mit empörter Stimme: „Ihr kennt mich nich’!? Wat seid’n ihr für Spackn, ey! Ich bin Konohamaru!“

„Häh?“

„Keine Ahnung, kenn ich nicht...“, erwiderte Mija. „Aber der da schaut so aus, als würde er es uns gleich mitteilen wollen...“
 

Ein hektischer Kerl mit dunklen Brillen und unauffälligem Äußeren kam wie der Blitz auf sie zugewuselt und kreischte in wilder Hysterie: „Ehrwürdiger Enkel des Hokage, schon wieder! Wir sind mit dem Unterricht heute noch nicht fertig, und...“

„Laber ma’ nich’ so viel! Ich hab die da gesehen und dachte mir, ich muss auch ma’ mit denen quatschen. Also!? Wat wollt’n ihr hier eigentlich?“

Der hektische Mann fuchtelte unkontrolliert umher und schob Konohamaru hinter sich: „Um unsere Gäste kümmert man sich bereits, Enkel. Ihr solltet lieber dem Unterricht folgen.“

Er funkelte Mija und Endan an, offensichtlich erbost über das Interesse, das sie in seinen Schülern geweckt hatten. Dennoch verneigte er sich entschuldigend: „Es tut mir leid, er ist unglaublich frech!“

Nemaru grinste noch breiter: „Halt mal die Füße still, wo liegt das Problem?“

Konohamaru plärrte hinter seinem Lehrer hervor: „Aus’m Weg, du Sack! Ich unterhalt’ mich hier! Ich will wissen, ob die was damit zu tun haben!“

Augenblicklich wirkten Mija und Nemaru bestürzt. Glaubte der Kleine etwa, sie wären am Tod seines Großvaters mitschuldig?

Der Lehrer wurde – was man kaum für möglich gehalten hätte – noch hektischer, hielt dem heftig strampelnden Konohamaru den Mund zu und sagte: „Na, na, sollte das der Fall sein, wird jemand anderer sich ihrer annehmen, nicht wir!“

Nemaru sah sofort rot, als er diesen Ton hörte: „Was soll’n das!? Soll das ne Verleumdung sein, oder was?! Wenn du ein Problem mit uns hast, sag’s mir gleich ins Gesicht!“

Mijas Blick lag schwer und zornig auf dem Lehrer, dennoch sagte sie regungslos: „Nemaru, sachte.“

Der Lehrer schob seine dunkle Brille hoch und grinste verächtlich: „Ich wollte gewiss niemanden beleidigen, aber...“

Die Brillengläser funkelten kurz, dann begann es zu regnen.

Konohamaru starrte verwirrt zu den beiden aus Kijukai hoch.

Mija grollte: „Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand, der keine Ahnung hat, jemand anderen vor einem Kind mies macht. Sollte sich nicht jeder eine eigene Meinung bilden? Die auf Tatsachen gestützt ist?“

Nemaru ließ seine Fingerknöchel knacken und nickte: „Ganz genau! Dich hab ich ja noch nie gesehen, was soll also der Mist, hah?“
 

Der Lehrer lachte kurz abgehackt: „Verzeiht. Ich bin der Lehrer des Hokage-Enkels, Ebisu. Mein Misstrauen ist lediglich eine Vorsichtsmaßnahme.“

„Mir egal, wer du bist!“, meinte Nemaru.

„Etwas mehr Respekt, bitte.“

Mija meinte: „Scheiß-unhöflich ist das, soviel zum Respekt.“
 

Ebisu rückte erneut seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden. Er war durchnässt, war mal wieder seinem problematischen Schüler und seinen Freunden hinterhergerannt, und die beiden Fremden, die so überhaupt keine Ahnung zu haben schienen, wer er war, machten ihn wirklich ärgerlich.

Er machte sich bereit, ihnen eine kleine Lektion zu erteilen...

...woraufhin Mija und Nemaru sich belustigt ansahen.
 

„Das is’ nicht sein Ernst, oder?“, meinte Mija kichernd.

„Da bleibt uns nur eins, wir wollen ja auch kein schlechtes Vorbild für die Knirpse da sein.“

„Okay... mit dem geht’s auch zu zweit...“

Die beiden warfen die Fischbällchen und die Tintenfische am Stiel hinter sich und stellten sich in Angriffspose: „Karaoke-no-jutsu!“
 

...

Wenig später war Ebisu vollkommen entnervt abgezogen. Scheinbar war der Unterricht für heute beendet.

Konohamaru hielt sich lachend den Bauch und blickte bewundernd zu den beiden auf: „So stinkig hab ich den noch nie geseh’n, ey.“

Mija grinste vielsagend und hockte sich vor dem Kind hin: „Wenn wir das zu dritt machen, ist es noch viel schlimmer... aber was wichtiger ist: wir sind auf eurer Seite. Hätten wir es gekonnt, hätten wir verhindert, dass deinem Opa etwas passiert. Aber genauso wie dein Lehrer und alle anderen hier waren wir machtlos. Ich hoffe, du kannst mir das glauben.“

Konohamaru sah sie zweifelnd an und dicke Tränen schwammen dabei in seinen Augen, die er schließlich tapfer wegzwinkerte, als er scheinbar beschlossen hatte, dass die beiden in Ordnung waren.

„Okay! Ich vertrau’ euch, aber nur, wenn ihr uns Karaoke-no-jutsu beibringt!“

Jubelnd kamen seine Freunde aus ihrem Versteck gerannt und die drei umzingelten Nemaru und Mija bittend und bettelnd.

Stay on your island

"Es wurde nur schwer[...], wenn man versuchte,

den Schlüssel zu finden, der einem das Herz aufschloss,

ohne es in blutende, schmerzende Stücke zu reißen."

- Stephen King, "Needful Things"
 

Senshu sah den jungen Mann am anderen Ende des Plateaus, der ihr mit seinem altbekannt offenherzigen und doch tieftraurigen Blick entgegentrat. Der Pfeil schlechten Gewissens stach in ihr Herz. Es war hart, jemanden zu verletzen, der ein so schweres Schicksal zu tragen hatte. Noch schwerer war es, wenn derjenige dabei auch noch lächelte.

Schweigend trat sie in den Felsenkreis und blieb mehr als fünfzehn Schritte von ihrem Gegenüber entfernt stehen.

Der Regen strömte immer noch heftig vom Himmel und auf dem Plateau bildeten sich große Pfützen, in denen sich der wolkenverhangene Himmel spiegelte.

Senshu strich dicke Strähnen schwarzen Haares aus der Stirn und sah zu, wie der junge Mann näher kam. Als er nah genug herangetreten war, um trotz des plätschernden Regens eine Unterhaltung führen zu können, deutete sie ihm mit einer knappen Handbewegung, stehen zu bleiben.

„Angiri.“, sagte er und neigte mit wehmütigem Blick den Kopf. „Regen erinnert mich immer an dich.“

Er kramte vorsichtig in seiner Tasche und wollte dann mit einem Gegenstand, den er daraus hervorgeholt hatte, auf sie zugehen.

„Bleib lieber wo du bist.“

„Bitte. Ich wollte dir nur bringen, was ich versprochen habe.“, meinte er hartnäckig lächelnd. Er warf ihr einen kleinen, gläsernen Zylinder zu. Darin lag eine frisch erblühte, dunkelviolette Orchidee.

Senshus erster Gedanke war, dass die Blume Mija gut gefallen hätte.

Den zweiten Gedanken sprach sie aus, und er war nicht neu: „Sie passt nicht zu mir. Das hab ich dir schon gesagt, als du sie gesät hast.“

„Und ich sagte dir, dass sie es für mich durchaus tut.“

Senshu stellte den Zylinder vorsichtig auf dem Boden ab und trat davon zurück.

„Die Orchidee ist ein edles Gewächs. Sie ist wunderschön. Sie steht für Leidenschaft und Verspieltheit. All das... hat nichts mit mir zu tun.“

„Für mich schon.“, blieb er beharrlich.

Trotziger Zorn flammte in Senshus Blick auf. Er hatte schon früher versucht, sie mit Komplimenten zu erfreuen. Aber Worte, mit denen sie sich nicht identifizieren konnte, waren für sie wertloser Tand.

„Ich dachte, mein Brief hätte alles geklärt.“
 

Der junge Mann holte eine Schriftrolle aus seiner Tasche: „Er hat sehr widersprüchlich auf mich gewirkt und ich wollte ihn beantworten, aber...“

Senshu lächelte bitter: „Lass gut sein. Was willst du?“

„Die Orchidee. Bitte, nimm sie an.“

Sie schüttelte den Kopf mit aufrichtigem Bedauern. „Es tut mir leid. Wie ich es dir bereits hundert Mal gesagt habe. Es tut mir leid, dass ich damals den Anschein erweckt habe...“

Hellsehen

„Es war ein Stück vom Himmel,

dass es dich gibt.“

- Herbert Grönemeyer, „Der Weg
 

Es war ein Frühsommertag im ersten Dienstjahr Senshus beim Fürsten von Mokugan, einem der mächtigsten Ninja in Kijukai. In kürzester Zeit hatte sie unerwartet viel gelernt, und der Fürst hatte bald auch ihre beste Freundin, die Studentin Mija, in seine Dienste genommen.

Die beiden Mädchen saßen wie so manchen Abend gemeinsam auf der Dachterrasse des kleinen Fürstenpalastes und tranken Sake. Mija hatte den Tag in der Bibliothek verbracht und Senshu, die am frühen Nachmittag die Bonsais im Innenhof beschnitten hatte, führte das Wort.

„...es war beeindruckend, wie er mit ihm gesprochen hat. Der Typ ist viel jünger als ich, aber er quatscht mit dem Meister, als sei er ein Gleichaltriger.“

„Er kennt ihn schon länger, oder?“

„Seit der neue Palast fertig ist. Er hat eine andere Art als wir... so offen. Er hat mich gleich an Raikumo erinnert.“

Senshu lächelte beim Gedanken an ihren jüngeren Bruder. Er befand sich zur Zeit in einem Kloster, weit entfernt von Mokugan. Sie vermisste die Tage ihrer Kindheit, in denen sie entweder mit ihrem älteren Bruder -, oder aber – was häufiger vorkam – mit Raikumo durch die Wälder gestreift war.

„Er kommt alle paar Tage bei uns vorbei.“, meinte Senshu. „Letztens hat er eine Torte für den Meister gebracht und wäre dabei fast auf die Schnauze gefallen. Wir haben so viel gelacht... es ist wirklich wie mit Raikumo. Irgendwie hab’ ich das Gefühl, dass – obwohl wir uns eben erst kennen gelernt haben – wir gute Freunde werden. Vielleicht ist das familiäre, das dabei mitschwingt, aber einfach nur diese Ähnlichkeit.“

Mija nickte lächelnd. Sie wusste, dass Senshu wählerisch war, was Sympathiezuteilungen betraf. Und sie kannte die Ahnungen ihrer Freundin.

„Bei Gelegenheit musst du ihn mir vorstellen. Wie heißt er?“
 

„Nemaru Endan.“, sagte eine ruhige Stimme hinter ihnen. Ein hoch gewachsener Mann mit grauem Haar trat auf die Terrasse und sah lächelnd, wie die beiden Mädchen überrascht aufstanden und sich vor ihm verneigten.

„Es ist schon nach Feierabend, setzt euch ruhig wieder.“

Mija bot ihrem Meister Sake an, den er dankend akzeptierte.

„Der Junge ist in einem Waisenhaus aufgewachsen.“, sagte er. „Er ist wirklich anders... Maneko, du bist ein Einzelkind, und Angiri... du weißt, die Vorsicht der Leute aus den nördlichen Wäldern habe ich immer geschätzt. Aber er ist so aufgeweckt, dass man ihn gern haben muss. Ich mag den Kleinen... und ich möchte, dass er von nun an auch für mich arbeitet. Er kocht ausgezeichnet.“

Die Mädchen sahen einander erstaunt an. Trotz seines Reichtums waren sie die einzigen Untergebenen ihres Fürsten – obwohl sie keine großartigen Spezialisten waren. Sie erledigten alles. Vom Putzen bis zum Einkauf, von Botengängen bis zur Vollstreckung fürstlicher Beschlüsse. Sie hatten mit Bauern und Händlern, Beamten und Ortsoberhäuptern zu tun, was sie für eine ausgezeichnete Schule hielten. Mühsam, aber abwechslungs- und lehrreich.

Die beiden folgten dem Fürsten schließlich in sein Studierzimmer, wo er einen kurzen Blick auf ihre Ohrringe warf. Ohne ein Kommentar nickte er zufrieden, dann setzte er sich, während die Mädchen mit hinter dem Rücken ineinander gelegten Händen dastanden und warteten. Mija bemerkte, wie außerordentlich vorsichtig er einige Papiere vor sich hin- und hersortierte. Nun ja, er war alt. Sie hielt die von Zeit zu Zeit auftretende Steifheit seiner Finger für eine rheumatische Erscheinung.

Der Fürst reichte ihnen schließlich drei kleine Schriftrollen. „Diese Formulare werdet ihr brauchen. Ich möchte, dass ihr Endan morgen bei seinem Arbeitgeber auslöst. Meldet ihn bei mir an und sorgt dafür, dass er das Siegel bekommt.“ Er reichte ihnen unbefangen einen Ohrring wie ihren. Wie so oft war Senshu von seinem scheinbar grenzenlosen Vertrauen ihnen gegenüber erstaunt.
 

Noch ehe das Jahr zu Ende gegangen war, waren Nemaru und Senshu gute Freunde geworden. Mija, die damals noch das Studium bei einer Sprachmeisterin zu vollenden hatte, hatte bislang selten die Gelegenheit gehabt, Zeit mit den beiden zu verbringen.

Nemaru war froh, jemanden gefunden zu haben, der verstand, was ihn bewegte. Er hatte als Neugeborener seine Mutter verloren, von einem Vater wusste er nichts, und seine Gefährten waren bislang nur gleichaltrige oder jüngere Kinder gewesen, die bei weitem nicht so waren wie Senshu, die ihn mit liebenswürdiger Schroffheit behandelte – wie einen Bruder vielleicht.
 

Noch vor Anbruch des Winters, als bereits kalter Nebel die Wälder Kijukais durchzog, erfuhr Senshu vom tragischen Tod ihres geliebten Bruders Raikumo.

Mija tat ihr möglichstes, ihre Freundin auf andere Gedanken zu bringen, und Nemaru bemerkte trotz der beherrschten Fassade Senshus, dass der Schmerz sie zu verzehren drohte.

Sie schien sich nicht an ihre Eltern zu wenden, um Trost zu finden. Ihre Arbeit nahm ohnehin zu viel Zeit in Anspruch, und als Allzweckkraft ihres Fürsten lebte sie schließlich auch im Palast.

Als sie dort eines Abends mit Nemaru beisammen saß, der sich an diesem Tag erboten hatte, ihr bei aufwendigen Arbeiten in den Gewächshäusern des Fürsten zu helfen, wurde ihr klar, wie tief die von ihr bereits erahnten Bande zwischen Nemaru und ihr wirklich reichten.

Als er sich nach einer ganzen Weile, in der sie beide nur geschwiegen hatten, für diesen Tag verabschieden wollte, brachen endlich bittere Tränen aus ihr hervor, die ihm bisher so unnahbar erschienen war. Das war die Möglichkeit, auf die er gehofft hatte, um sie endlich trösten zu können.

Er legte einen Arm um sie und drückte sie an sich, dabei war ihm selbst beinahe zum Weinen zumute. Wie groß musste der Schmerz sein, den dieses sonst so beherrschte Mädchen zu tragen hatte, dass er erst jetzt nach außen dringen konnte, mehr als einen Monat nach Raikumos Tod.

„Ich weiß...“, hatte er gesagt, als sie schluchzend den Kopf an seiner Schulter barg. Und obwohl ihr Schmerz so anstreckend war, war er gleichzeitig froh.

Sie so nah bei sich zu haben, war ein klein wenig so, als käme man nach langer Zeit endlich nach Hause.
 

Doch für junge Menschen gibt es nach jeder Heimkehr wieder einen Aufbruch.

Mehr Platz in gebrochenen Herzen

“And yes,

I know how lonely life can be,

the shadows follow me,

and the night won’t set me free.”

- Don McLean, “And I love you so”
 

Senshu wusste genau, dass Nemaru längst nicht reif genug war, sie ganz zu verstehen – das war sie ja selbst nicht. Und trotz der tiefen Zuneigung, die zwischen ihnen herrschte, waren sie nicht in der Lage, unbefangen miteinander umzugehen.

Senshus starre Aufrichtigkeit, ihr vorsichtiges Misstrauen und Nemarus wankelmütige Lebendigkeit vertrugen sich nicht. Sie verstand seine Flatterhaftigkeit nicht, er verstand ihre komplizierte Denkweise nicht. Mija war stets das vermittelnde Glied, denn sie begriff auf ihre großmütige Art beide Seiten.

Die Aufträge der drei Bediensteten des Fürsten waren oftmals grundverschieden, und die Art, wie Senshu die ihren erfüllte, war Nemaru manchmal unbegreiflich. Wenn die drei zusammenarbeiteten, war er stets derjenige, der versuchte, die einfachste Lösung zu finden, während sie zeitaufwendig irgendwelchen Details hinterher jagte.

Nichtsdestotrotz half er Senshu aus dem Gefühl trauriger Ziellosigkeit, nachdem ihr engster Gefährte aus Kindertagen gestorben war.
 

Eines Tages wurden sie alle drei gemeinsam von ihrer Arbeit weggerufen. Ein Nachbar lief schreiend durch das fürstliche Anwesen und trommelte sie zusammen. Als sie in die Eingangshalle stürmten, trugen zwei junge Männer den Fürsten auf einer Bahre herein.

Wortlos eilten sie an seine Seite. Der Nachbar kreischte immer noch: „Der Fürst ist verunglückt!“

Mija packte ihn und sagte: „Wenn das Geschrei so weitergeht, dann machen Sie bitte draußen weiter!“ Daraufhin verstummte er.

Einer der jungen Männer, den die drei in diesem Moment gar nicht wirklich wahrgenommen hatten, sagte: „Er kommt darüber hinweg.“

Nemaru starrte ihn an: „Worüber? Was war denn überhaupt!?“ Von ihnen allen war er derjenige, der am meisten Sorge zeigte.

„Wir haben ihn zufällig im Wald gefunden. Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat...“

„Er hat trainiert.“, sagte Mija barsch, fast vorwurfsvoll. Ihr Meister war schon über sechzig Jahre alt, trainierte aber immer noch täglich. Und sie bewunderte seine Konsequenz.

„Dabei muss er einen Anfall gehabt haben, er hat eine...“ Der junge Mann verstummte abrupt, als der Fürst ihn mit halb geöffneten Augen am Arm packte und flüsterte: „Nicht. Ich werde es ihnen später sagen.“ Seine Stimme war kaum hörbar und brach an mehreren Stellen. Die kläglichen Versuche, sich aufzurichten, scheiterten.

Senshu spürte herbes Mitleid in sich aufsteigen, als wüsste sie bereits jetzt, welch grausame Krankheit seinen Körper befallen hatte.

Der junge Mann riss sie aus ihren Gedanken: „Ein wenig Ruhe, und er wird wieder zu Kräften kommen.“

Senshu sah ihn nicht an, als sie voranging und sagte: „Folgt mir, wir bringen ihn in sein Gemach. Mija?“

„Ja?“

„...nein, warte. Ich brauch zu viel verschiedenes... sprich mit den Männern. Ich will wissen, wer sie sind und was genau war. Ich mache schnell etwas, das ihn stärken wird. Nemaru, was kannst du...?“

„Ich gehe schon. Energiekugeln würden jetzt seinen Kreislauf überlasten, aber ich bringe ihm zu Trinken und koche eine Suppe.“

„Guter Mann.“

Die drei trennten sich in verschiedene Richtungen. Mija sorgte dafür, dass der Fürst auf sein Lager gebettet wurde und sprach mit den Männern, die ihn gefunden hatten.

Es waren zwei Sanitätsninja aus einem Nachbardorf, Nenshin und Sajin Sanguchi. [sajin = Sandstaub] Anscheinend hatte der Fürst einen Schwächeanfall erlitten, sie hatten ihn gefunden und hierher gebracht.

Mija ließ beiden per Bote vom Schatzmeister des Dorfes eine Belohnung für ihre Hilfe aushändigen und schickte sie nach Hause. Der Nachbar hatte inzwischen einen Arzt gerufen, der den Fürsten eingehend untersuchte. Auch ihn bat der Fürst, nichts weiter zu sagen. Es sei ein Schwächeanfall. Sonst nichts.

Nur wenige Stunden später, die seine Bediensteten damit verbracht hatte, ihm Kräutertränke einzuflößen, war der Fürst bereits wieder so weit bei Kräften, dass er an ein Kissen gelehnt dasitzen und fließend sprechen konnte. Am nächsten Tag war er bereits wieder auf den Beinen, hielt sich aber vorwiegend allein in seinem Studierzimmer auf.

Schließlich rief er Senshu zu sich. Sie trat ein und stellte sich in üblicher Erwartungshaltung auf, ohne sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

„Angiri, es ist an der Zeit, dir einige Dinge zu offenbaren, die deinen Aufgabenkreis erweitern.“

Senshus Blick wurde fragend, aber sie schwieg.

„Ich habe euch bisher ausgebildet, so gut ich konnte. Maneko ist eine ausgezeichnete Schülerin, und Endan ist ein vielversprechender Junge. Du bist am Längsten bei mir und ich weiß, wie du lernst. Du bist selbstständiger als Endan... und das ist, was er lernen soll.“

Er legte mit der linken Hand ein Buch auf den Tisch. Auf dem Einband zeigte sich das Familiensymbol des Fürsten, der Totenschädel – in Kijukai Symbol für die Demut vor der Sterblichkeit des Menschen.

„Eure Künste?“

Ein unsicheres, fast sentimentales Lächeln umspielte den Mund des Fürsten: „Laut einer Prophezeiung ist er „der Schlüssel zum ersten Tsuchikage unseres Reiches“. Eine Priesterin hat kurz vor seiner Geburt vorausgesagt, dass zu seiner Zeit Kijukai zu einer Ninja-Macht werden würde – dem Do-Reich, auf das ich und meine Anhänger stets hingearbeitet haben.“

Senshu fragte sich, woher er all das wusste und warum er Nemaru dann nicht schon früher unter seine Fittiche genommen hatte.

Der Fürst senkte lächelnd den Blick, als lese er ihre Gedanken: „Alles hat einen Grund, Angiri.“

„Warum zeigt Ihr dann mir das Buch, und nicht ihm?“, fragte sie schließlich.

Das Lächeln des Fürsten erstarb. Er hob ihr die rechte Hand entgegen, die Finger reglos gekrümmt.

„Angiri... ich kann sie nicht mehr bewegen. Die Krankheit ist längst in mir, und ich hatte Glück, dass es nicht früher begonnen hat. Aber mit der Zeit kommen mehr solcher Anfälle. Und mit jedem Mal wird ein weiterer Teil von mir gelähmt bleiben. Es ist unheilbar. Und bevor etwas passiert, will ich, dass du deine Pflichten kennst.“

Senshu verneigte sich kurz. Beinahe wurde ihr vor Aufregung schwarz vor Augen.

„Du wirst diese Künste lernen. Er lernt nur, was man ihm vormacht, wie du weißt. Du wirst ihn lehren.“

Senshus Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

„Ich weiß, wie ihr zueinander steht.“, meinte der Fürst, und Senshu wandte den Blick zur Seite. „Angiri.“

Sie begegnete seinen durchdringenden Augen.

„Angiri, er ist mein Sohn.“ Die Stimme des Fürsten zitterte. „Er war nicht der Einzige, aber der Einzige meiner angetrauten Frau. Sie starb bei seiner Geburt. Um ihn vor den Fallen eines fürstlichen Lebens zu bewahren, habe ich ihn in ein Waisenhaus bringen lassen.“

Senshu verstand den Sinn dieser Handlungsweise natürlich, auch wenn es sicherlich schwer gewesen war, seinen Sohn gleich nach dem Tod seiner Frau ebenfalls zu verlieren – wenn auch, um ihn jetzt wieder zu finden.

„Solltet Ihr ihm nicht...“

„Nein, Angiri. Du wirst es ihm sagen, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn er stark und erfahren genug ist. Wenn er... keinen Blödsinn macht, nur weil er erfährt, dass er der höchste Fürst in Kijukai ist. Niemand darf etwas davon erfahren.“

Die Augen des Fürsten brannten von unterdrückten Tränen. Senshu ahnte, dass er die verbotene Kunst des Sehens eingesetzt hatte. Er wusste höchstwahrscheinlich, was geschehen würde.

„Angiri. Bitte, unterrichte ihn. Und bleib bei ihm, so schwer es dir auch fallen mag.“ Jetzt weinte er, und es war erschütternd, denn so hatte sie ihn noch nie gesehen.

„Beschütze ihn, denn ich werde es nicht können. Angiri, versprich mir, dass du meinen Sohn begleitest.“

Senshu war mal wieder erstaunt über das Vertrauen ihres Fürsten – und noch erstaunter über ihre eigenen geringen Erwartungen in ihre Mitmenschen. Er verstand viel zu gut, was sie für ihre Geheimnisse hielt.
 

„Meister...“

„Ich weiß, dass ihr es nicht leicht habt... dass es, er...“

„Meister, ich verspreche es.“

Der Fürst verstummte und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

„Nicht, weil er ein Fürst ist. Auch nicht, weil er „der Schlüssel zum Tsuchikage“ ist. Wir sind Kameraden, und wir drei werden zusammen unser Schicksal erfüllen. Ich kann das Band nicht erklären, das uns hält, aber ich werde es nicht ignorieren.“

„Obwohl er der einzige Mensch ist, der dich wütend macht...?“

„Meisteeeer...“

„...der Einzige, der dich so dermaßen auf die Palme bringt, dass du...“

„...ich kann mein Schicksal auch einfach vergessen.“

Der Fürst lachte schniefend, schnäuzte sich ausgiebig in ein seidenes Tuch und klopfte Senshu auf die Schulter. „Deine Treue und Aufrichtigkeit werden dich noch mehr als einmal in schwierige Zeiten treiben, aber bleib so. Wer auch immer dir sagt, dass das, was du tust, oder wie du es tust, falsch ist – vergiss es. Du bist ein guter Mensch. Und die einzige, der ich meinen Sohn anvertrauen kann.“

Das Taumeln

„The book of life is brief,

and once a page is read

all but love is dead.

That is my believe.”

- Don McLean, “And I love you so”
 

Nur Monate nach diesem Tag hatten einige weitere Anfälle den Fürsten schwer gezeichnet. In Mokugan bemerkte man nichts von seiner fortschreitenden Lähmung, und auch Mija und Nemaru wussten nicht um das gesamte Ausmaß der Behinderung ihres Meisters. Er hielt sich vorwiegend in seinen Privaträumen auf. Wenn er nach draußen ging, dann nur mit Gefolge. Meist begleitete ihn die junge Kräuterkundige, die seit dem Tod ihres Bruders fast immer ernst und verbissen wirkte.

Sie war inzwischen diejenige, die ihren Kameraden Trainingsanweisungen geben musste. Mija, die selbst daran arbeitete, ihre Künste zu verbessern, hatte damit weniger Probleme als Nemaru, der durch seine Zerstreutheit mehr als einmal einen Wutausbruch der damals sonst meistens in ruhiges, ernstes Brüten versunkenen Senshu herausforderte. Nachdem sie an die Stelle seiner Lehrmeisterin gerückt war, wirkte sie nur noch unnahbarer, langsam aber sicher fürchtete er es, ihre Ungeduld heraufzubeschwören.

Senshu hingegen verzweifelte beinahe an ihrer neuen Aufgabe. Sie war keine gute Lehrerin – zumindest nicht für Nemaru. Sie verabscheute es, wie seine Gegenwart ihr jegliche Sicherheit raubte, sie ungeduldig und zynisch machte. Sich so selbst nicht wiederzuerkennen und denen, der ihr wichtiger waren als der Rest der Menschheit, ihre hässlichsten Seiten zu zeigen, war schier unerträglich.
 

Als der Fürst Senshu an einem Herbsttag einmal mehr zu sich rief, sah er durch all seine eigenen Schmerzen die dunklen Schatten unter ihren Augen, die müde und leer auf den Boden starrten.

Nenshin Sanguchi war gerade bei ihm. Er hatte ihn zu seinem persönlichen Krankenpfleger gemacht, der regelmäßig Untersuchungsergebnisse an Ärzte überbrachte und therapeutische Maßnahmen durchzuführen hatte. Der aufopfernde junge Mann hatte trotz der täglichen Anreise nicht widersprochen, als er darum gebeten worden war. Jetzt begrüßte er Senshu freundlich und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

Sie erwiderte pflichtbewusst: „Danke, alles in Ordnung.“ Sie zwang sich ein Lächeln ab, ohne ihn anzusehen. Dann verließ er auf den Befehl des Fürsten den Raum.
 

„Angiri... auch er ist mein Sohn.“

„Was?!“

„Och... nur, falls du dich gefragt hast, warum ich ausgerechnet ihn zu meinem Pfleger gemacht habe.“

„Oh...“

Senshu dachte wie so oft etwas erheitert, dass ihr Meister ein Freak sein musste. Schlicht und ergreifend. Freak.

Der Fürst lachte müde und setzte sich schwerfällig. Der schwere Mantel, der seinen ganzen Körper bedeckte, wenn er aus seinem Raum kam, lag jetzt über einem Stuhl.

„Ich weiß, dass es eine harte Zeit ist, Angiri. Aber es wird besser werden.“

Senshu lächelte dankbar. Dieser von einer todbringenden Lähmung befallene Mann hatte das Lachen nicht verlernt, wie sollte sie sich erlauben, in Trauer zu versinken?
 

„Angiri, ich ernenne dich hiermit zu meiner Leibwache.“

Das erste Mal seit Wochen wich der leere Schleier aus Senshus Blick. Er hatte sein Leben lang jede Art von Kampfbegleitung oder dergleichen abgelehnt. Aus Stolz vielleicht, aber er hatte es nie nötig gehabt.

„Im späten Frühling nächstes Jahr findet in Konoha die Chu-nin-Prüfung statt. Meine Pflicht ist es, dorthin zu reisen und für unser Land Verbündete zu wählen. Dazu wird es nicht kommen, aber ich werde dennoch hinreisen. Ich kann nicht kämpfen. Schon jetzt nicht mehr. Sollte irgend etwas geschehen, bist du von nun an berechtigt, deine Künste einzusetzen.“

Das hob ein schwerwiegendes Verbot ihrer gesamten Ausbildungszeit auf. Und sie, die sich nie ernsthaft hatte bewähren können, sollte die Kampfkraft eines Großmeisters ersetzen?

„Und wenn ich sterbe, will ich, dass ihr zusammen eure Pflicht erfüllt. Du kennst sie.“

Sie nickte nur. Fassungslos.

„Angiri. Du bist jetzt meine Ninjutsu.“
 

Damit begann die Zeit nervenaufreibender Umstellungen erst recht. Der Fürst war schwer krank, und das musste verheimlicht werden. Die Folgen einer Offenbarung seiner Schwäche wären politische Umstürze, Erbfolgefragen und womöglich Mordversuche gewesen. Senshu befand sich neben der Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete, in einem schrecklichen Gefühlstaumel, der sie schließlich in die nur allzu gern zum Trost bereiten Arme des jungen Nenshin Sanguchi trieb. Obwohl sie ihm gestand, dass ihre Gedanken stets um andere als ihn kreisten, war er bereit, ihre Einsamkeit zu lindern.

Nach etwa zwei Monaten beendete sie diese von Anfang an durch das Gefühl der Falschheit geprägte Geschichte.

Am Abend darauf ging sie mit hängendem Kopf zu Mija, die in der Küche war und die Katzen des Fürsten fütterte.

Senshu beichtete alles und Mija, die vielleicht nicht erwartet hatte, dass ihre Freundin sich so in ihrer Schwäche verfangen hatte, meinte großmütig: „Nun, mach dir keine Vorwürfe. Man kann eben nicht immer stark sein, was soll’s?“

Senshu tätschelte halbherzig eine der um Mija herumschnurrenden Katzen.

„Ja, aber... so etwas wollte ich nie. Und du hättest es nicht getan...“

„Das kann man nie wissen, oder?“, lächelte Mija.

Senshu nickte zwar, fuhr aber fort: „Nie wieder... ich möchte nie wieder etwas tun, wovon ich weiß, dass es falsch ist. Aber ich glaube... jetzt kann ich langsam wieder ich selbst werden. Und mit der einzigen Entschuldigung, die mir wirklich etwas bedeutet, fange ich bei dir an. Verzeihst du mir... diesen Schwachsinn?“

Mija betrachtete das geknirschte Gesicht ihrer Freundin.

„Natürlich. Du musst dich gar nicht entschuldigen. Es ist in Ordnung. Das Wichtigste ist, dass ich bemerke, dass du wieder mehr die Alte wirst.“

Senshu lächelte: „Ich will mich bemühen. Nenshin wird seine Entschuldigung erhalten.“

Senshus Schatten, Part III

„Shot through the heart,

and you’re to blame.

You give love a bad name.”

- Bon Jovi
 

Senshu fuhr mit missmutigem Blick fort: „Es war nicht leicht, auf deinen Trost zu verzichten, aber ich wollte immer aufrichtig sein. Ich kann niemandem aus Einsamkeit und Anerkennungsbedürfnis Zuneigung vorgaukeln, wenn keine vorhanden ist.“

Nenshin erwiderte: „Es hat nicht so ausgesehen, als wäre es gespielt...“ Er trat trotz ihrer abwehrenden Gesten näher.

Senshu erstarrte: „Zwing mich nicht, dir noch mehr weh zu tun.“
 

Nenshin ließ den Schleier geduldiger Freundlichkeit fallen und rief verzweifelt durch den strömenden Regen, obwohl er direkt vor ihr stand: „Er ist es nicht wert! Du bist so...“ Seine Stimme erstarb zitternd, als er seine Hand an ihr Gesicht heben wollte.

Senshu wich ruckartig zurück.

Ein Gefühl gemeiner Abneigung erfüllte sie, und sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Wie oft hatte sie sich das selbst gesagt? Wie oft hatte sie sich wider ihr Wissen einzureden versucht, dass es sinnlos war, ihr Herz an Menschen zu hängen, die... sie behandelten wie sie es jetzt mit Nenshin Sanguchi tat?

Zornige Tränen traten in ihre Augen und wurden im Regen fortgespült. Die Wut bezog sich einzig und allein auf sich selbst und ihre Wehrlosigkeit. „Ich kann es nicht ändern, Nenshin. Du bist so viel klüger, aufmerksamer und liebevoller als... ich. Und du warst damals bereit, dich neben meinem Herren auch noch um mich zu kümmern, obwohl ich dir damals gesagt habe, dass mein Herz bei jemand anderem ist.“

„Ich bin es heute noch.“, sagte er flehentlich.

„Aber ich will es nicht!“, schrie Senshu. „Ich will dich nicht! Es tut mir leid! Du hast das nicht verdient! Aber ich will dich nicht!“

Plötzlich war er hinter ihr und legte seine Arme um sie, drückte sie an sich und flüsterte: „Warum quälst du dich so? Komm doch mit mir zurück nach Kijukai... ich habe die Nächte in den Wäldern nicht vergessen.“

„Lass mich los.“, sagte Senshu mit schneidender Ruhe. „Egal wie schwer es wird, ich kann es nicht ändern, also lass mich los.“

Als Nenshin innerhalb der nächsten Sekunden keine Anstalten machte, sie freizugeben, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen: „Nikushi.“ [niku = Fleisch, shi = Zahn], woraufhin sich unbarmherzig harte Dornen durch ihre Kleider schoben und in Nenshins Haut eindrangen. Sie spürte angewidert, wie sein Blut träge die Dornen umgab und dann weggewaschen wurde.

„Lass los! Ich mag deine Berührung nicht. Ich mag nicht, wie du läufst, wie du mich ansiehst, wie du lächelst. Du gehörst nicht zu meinem Kreis, also bitte, geh!“

Die Dornen bohrten sich tiefer in Nenshins Arme, durchstießen Blutgefäße und Energiemeridiane.

„Du setzt die Rosenkunst gegen mich ein...?“, fragte Nenshin traurig, aber nicht überrascht. Er wich nicht zurück, obwohl die durch Chakratransfer hervorgerufenen Pflanzendornen schmerzhaft waren.

„Geh, bevor ich die Schattenhand benutze!“

Langsam löste sich Nenshin von ihr, dünne, blutige Rinnsale wurden vom Regen verwaschen. „Das würdest du nicht tun...“

„Ich würde. Hast du immer noch nicht begriffen, wie grausam ich bin? Nachdem ich dich benutzt hab’, nur um zu sehen, dass es noch jemanden gibt, der mich will? Es war Schwäche, mehr nicht. Ich hab es getan, kaltblütig. Und meine Entschuldigungen sind Vernunftsache, sie reichen nicht an mein Herz. Es gibt nur wenige Menschen, die meine Gefühle berühren können.“
 

Nenshins Wunden heilten nach drei kurzen Fingerzeichen, die er nachlässig formte. Er lächelte wieder dieses grausam wehmütige Lächeln, das ihr widerstrebte. „Du bist nicht so hart und kalt, wie du tust, Angiri.“
 

Nun wurde es Senshu endgültig zu viel. Sie war durchnässt, und der Wind auf dem Plateau erzeugte eine fürchterliche Kälte in ihr. Diese Unterhaltung war ihr nur noch lästig. Sie erinnerte sie an eine Zeit der Schwäche, Trauer und Verwirrung, die sie hinter sich lassen wollte. Endgültig.

Außerdem war sie nach einem langen Arbeitstag müde und hungrig. Sie wollte keine Gefühle. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum. Sie wollte nach Hause. Sie wollte Mija und Nemaru dabei zuhören, wie sie über Belanglosigkeiten quengelten, mit ihnen lachen. Sie wollte zu ihren Leuten. Auch wenn sie dort einfach nur daneben saß und vielleicht gleichgültig wirkte. Obwohl sie häufig Abstand suchte und einfach in einen anderen Raum ging. Sie wollte nur die Anwesenheit der beiden unter demselben Dach spüren, die Geräusche aus dem Nebenzimmer hören, nachsichtig lächeln, wenn einer von ihnen etwas brauchte und deswegen zu ihr kam.
 

„Eisho.“, murmelte sie flüchtig – natürlich war die Schattenhand keine ernsthafte, die Kunst war viel zu gefährlich, und schließlich war sie Nenshin immer noch dankbar dafür, dass er sie getröstet hatte, als sie verzweifelt gewesen war.

Senshu drückte die Augen zu, kreuzte die Arme über den Handgelenken, spreizte die Finger und beugte sich etwas vor. Ihre Lider flatterten ein wenig hoch und zeigten lediglich das Weiß in ihren Augen. Eine Hand aus weißlich schimmerndem Chakra, das vom abendlichen Regen durchbrochen wurde, drängte sich aus ihrer Brust und schwebte auf Nenshin zu.

„...Angiri...“

Die Hand drang zögerlich in Nenshins Körper ein. Jener erblasste sofort erschreckend. Trotz der einsetzenden Dämmerung erkannte man jedes Anzeichen deutlich. Die grauenhafte Übelkeit, die Nenshin jetzt erfasst haben musste, machte seine Knie zittern. Seine Hände krampften sich furchtsam an sein bebendes Herz.

Nenshins anklagender Blick schien zu fragen, ob sie ihn nun umbringen würde.

Dafür, dass er bereit war, alles für sie zu tun.

Dann löste sie die Kunst und sah zu, wie Nenshin erschöpft auf die Knie fiel und erleichtert feststellte, dass die Schmerzen und die Übelkeit sich verzogen.

„Geh zurück nach Hause, Sanguchi. Dein Platz ist nicht hier. Du hast besseres verdient.“

Ohne auf eine Antwort zu warten wandte Senshu sich um und verließ mit müden Schritten das Plateau.

Die stählerne Faust

“’Cause how can you give your love to someone else

and share your dreams with me?”
 

„Uaaaah...“ Senshu wälzte sich langsam auf den Rücken und konnte die Augen nur zögerlich öffnen. Das morgendliche Sonnenlicht brannte unbarmherzig in ihren Augen.

Mija, die Senshu wachgerüttelt hatte, sah sie prüfend an und grinste, obwohl ihr Blick besorgt war: „Wann bist du nach Hause gekommen?“

Senshu musste erst den bitteren Geschmack im Mund und das Schwirren in ihrem schmerzenden Kopf überwinden, bevor sie antworten konnte. Sie richtete sich träge auf.

„Sorry... ich weiß nicht.“ Sie sammelte sich noch einen kurzen Augenblick, dann murmelte sie mit heiserer Stimme: „Ich glaube, ich wollte euch nicht gleich direkt unter die Augen... nachdem...“

Mija nickte: „Nachdem du gewisse Maßnahmen ergreifen musstest, um Sanguchi loszuwerden, was?“

„Hm?“, stieß Senshu überrascht hervor. „Woher...?“

„Ist ja nicht wirklich schwer zu erraten... du hast ihn getroffen und das mit ihm geklärt, das ist das Wichtigste. Und natürlich musstest du nachdrücklicher werden. Das hat dir ein schlechtes Gewissen gemacht und du hast beschlossen, noch einen zu trinken und zu warten, bis wir schlafen, bevor du nach Hause kommst.“ Sie grinste triumphierend, als Senshu nickte. Dann fuhr sie etwas harscher fort: „Und du denkst, wir würden einfach schlafen gehen, wenn du nicht da bist und wir nicht wissen, wo du dich herumtreibst?“

„Äh...“

„Nemaru hat sich im Dorf umgesehen, und er hat Sanguchi gefunden.“

Senshu riss erschrocken die Augen auf.

„Nur die Ruhe... Nemaru wollte ihm helfen, weil es ihm nicht so gut zu gehen schien... nichts ernstes zwar, aber trotzdem. Sanguchi jedenfalls – von dem ich das nicht wirklich erwartet hätte – hat ihn angeblich nur zornig angesehen und ihn ziemlich unfreundlich vertrieben.“

Senshu ließ sich zurück in ihr Kissen fallen: „Oh du meine Scheiße...“

„Keine Panik. Mehr haben sie nicht miteinander gesprochen. Wer weiß, ob Nemaru Sanguchi überhaupt mit dir in Verbindung bringt... er hat sehr verwundert darüber gewirkt, dass ein Bekannter aus Kijukai sich ihm gegenüber so schroff gezeigt hat.“

Senshu legte beide Arme über ihre Augen und jammerte theatralisch: „Mir is’ schlecht, ich will nicht mehr.“

Mija lachte: „Tja, bleib erst Mal besser im Bettchen, ich geh’ jetzt auch arbeiten. Nemaru ist schon losgezogen.“

„Okaaay, danke~“
 

Zur selben Zeit war Nemaru bereits bei der Arbeit und fleißig am Kochen, als jemand ihn aus der Küche rief. Es war die Wirtin, für die er arbeitete, die mit kräftigen, in die Hüften gestemmten Pranken in der Tür erschien und mit ihrem durchdringenden Organ sagte: „He! Endan! Da ist jemand, der dich sprechen will!“

Nemaru befürchtete schon, es sei Tonma oder ein anderer Unruhestifter, doch das war nicht der Fall.

„Keinen Ärger!“, flüsterte die Wirtin zischend hinter ihm, als er in die Wirtsstube blickte. Zwei junge Männer standen an der Theke und tranken Kaffee. Beide waren gut fünf Jahre älter als Nemaru, der eine ein drahtiger Kerl mit kantigem, ernstem Gesicht, der andere ein stämmiger Bursche, der mit spöttischem Lächeln das Wort führte und ganz offensichtlich gerne den Chef markierte. Nemaru wusste es bereits, aber ein genauer Beobachter hätte auch ohne Vorwissen schnell festgestellt, dass der andere, der schlankere junge Mann, eigentlich das Sagen hatte.

Letzterer blickte jetzt auf und erkannte Nemaru. Man sah die Enttäuschung deutlich, obwohl er versuchte, es sich nicht zu sehr anmerken zu lassen. Er war zu ehrlich, zu aufrichtig. Genau wie seine Schwester.

„Ach, du.“, meinte er nur, während Nemaru zögerlich näher trat. „Wo sind die anderen?“ Er und sein Begleiter hatten nur gehört, dass hier einer der drei Neuankömmlinge arbeitete.

Nemaru war darauf gefasst, dass es wichtige Neuigkeiten aus Mokugan gab. Warum sonst sollten die beiden wohl den ganzen Weg hierher gekommen sein? Und es waren ja nicht irgend welche Boten. Steele Angiri und Hekimaru Horyo waren bekannt und vor allem Steele hatte schon öfter von sich sprechen gemacht, indem er – oft unter Zuhilfenahme seiner bemerkenswerten Kampfkunst – Unruhen oder Streitereien geschlichtet hatte. Sie waren Allzweckkräfte. Boten, Sucher oder Söldner für besondere Fälle.

Nachdem Nemaru den beiden gesagt hatte, wo seine Freundinnen beschäftigt waren, zogen sie ab. Hekimaru bezahlte gönnerhaft den Kaffee und meinte: „Wir bequatschen das mal lieber mit Senshu. Jedenfalls müsst ihr zurück nach Mokugan.“

Nemaru überlegte kurz, ob er protestieren sollte, weil sie ihm nicht gleich sagten, was das Ganze sollte. Doch er unterließ es. „Fein, gut, ich werd’ ja dann hören, worum’s geht.“

Steele stieß nur einen bejahenden Laut aus und verließ mit Hekimaru das Lokal.
 

Die kleine Schwester des besagten Steele Angiri tappte währenddessen mit unsicheren Schritten in die Küche. Es war nicht der Alkohol.

Sie hatte durchnässt und vor Kälte schlotternd in einem kleinen Wirtshaus gesessen, die ganze Zeit über bei einem einzigen Getränk – Tee, der schnell erkaltet war und schal geschmeckt hatte. Ein betäubendes Fieber hatte sie nun nachträglich befallen, aber das war nur möglich, weil sie mit dem Konsum ihrer Kräuter nachlässig gewesen war und dann sowohl die Rosenkunst-, als auch die Schattenhand verwendet hatte. Das war einfach zu viel, und obwohl sie wusste, dass das seltsame Ziehen in ihrer Brust noch nicht bedrohlich war, machte es ihr Angst. Die Schwäche erinnerte sie an ihre Abhängigkeit, und sonst war sie immer darauf bedacht, eine möglichst optimale Menge von Kräutern einzunehmen. Außerdem hatte sie es verabsäumt, Heilkugeln für den Notfall bei sich zu tragen. Derartige Fehler konnten leicht zum Verhängnis werden.

Es gab nicht viele, die die Kunst der Schattenhand beherrschten, und diejenigen, die sie erlernen durften, mussten sorgfältig ausgewählt werden. Und so manch Erwählter lehnte ab – aus dem einfachen Grund, dass die Kunst fast jedem, der sie erlernte, schweren Schaden zufügte.

Beim Erlernen der Schattenhand geschah es in den meisten Fällen, dass die Auswirkungen der Kunst zunächst auf den Anwender selbst zurückfielen. Manche Lehrmeister hielten das für ganz gut, so erfuhr man schließlich am eigenen Leibe, was die Chakrahand bewirkte. Auch, wenn einige der Schüler sogar beim Training ihr Leben ließen.

Die Schwäche der Überlebenden – die sicherlich auch mit der Zeit zum Tode geführt hätte, hätte man sie nicht zu behandeln gewusst – zog schließlich eine Art Fluch nach sich: die Abhängigkeit von bestimmten Kräutern, die das durch die Schattenhand geschwächte Muskelgewebe des Herzens intakt hielten. Auch wenn man die Schattenhand vollständig beherrschte, sie nur noch auf andere einwirken ließ, war man sein Leben lang von jenen Pflanzen abhängig, denn das Gewebe des Herzens war unheilbar in Mitleidenschaft gezogen.

Daher war es für Senshu zur Gewohnheit geworden, zu allen Speisen bestimmte Kräutermischungen einzunehmen, was sie eigentlich gar nicht störte, weil sie den Geschmack und auch die Arbeit mit den Pflanzen ganz gern mochte. Allerdings verbrauchte sich ein großer Teil der Pflanzenstoffe in ihrem Körper, wenn sie die Rosenkunst einsetzte, bei der diese durch Chakratransfer an die gewünschte Körperstelle getragen und dort zu Dornen geformt wurden. Dann auch noch die aufwendige Schattenhand, die Kälte, der Regen, stundenlang in nassen Kleidern...
 

Jetzt musste sie die Reserven ihres Körpers auffüllen, um ihre Beschwerden zu lindern.

Sie hielt sich kurz an einem Küchenschrank fest, um sich zu sammeln, als es an der Tür klopfte. Bevor sie sich jedoch dazu aufraffen konnte, hinzugehen, sah sie eine kleine Schale, die auf dem Küchentisch stand. Drei kleine, dunkelgrüne Kügelchen lagen darin. Ein nachlässig von einem Block gerissener Zettel lag unter der Schale. In krakeliger Schrift stand darauf: „Müsste fürs Erste reichen. Wenn du mehr brauchst, mach ich dir später welche.“

Mehr nicht.

Nemaru.

Senshu musste lächeln, erfreut über diese unerwartete Fürsorglichkeit. Doch während sie eine der meisterlich gepressten, herb duftenden Kugeln aus der Schale nestelte und dankbar betrachtete, überlegte sie bestürzt, ob Nemaru wohl bei Nenshins Anblick – seiner beängstigenden Blässe, die eine typische Folge eines derartigen Angriffes war – geschlussfolgert hatte, dass sie dem Sanitätsninja das angetan hatte. Ob er sich wohl wirklich zusammenreimen konnte, dass Nenshin ihretwegen nach Konohagakure gekommen war und sie ihn aus irgend einem Grund angegriffen und damit ihre Kräfte ausgereizt hatte.

Aber vielleicht hatte er die Kugeln ja nur als Katermittel zubereitet...?
 

Es klopfte erneut an der Tür.

Senshu schluckte die Kugel, genervt, weil sie in ihren Überlegungen gestört wurde. „Ich komme!“, rief sie, noch ein wenig heiser.

Brauchtum in Mokugan

„Grampa says they’re happy now,

they sit with god in paradise.”

- Chris Rea, “Tell me there’s a heaven”
 

Die Nachrichten, die Steele und Hekimaru aus Kijukai mitbrachten, waren unmissverständlich und nicht ganz unerwartet.

Der Rechtsverwalter des Fürsten hatte das Testament verlesen und dabei zuerst festgestellt, dass ein Teil davon versiegelt war.

Der lesbare Teil offenbarte zunächst, dass einigen wenigen Personen, unter anderem Nenshin Sanguchi, eine beträchtliche Geldsumme vom Vermögen des Fürsten ausgehändigt werden sollte, sollte sein Tod eingetreten sein. Dann, dass der Leichnam des Verstorbenen auf traditionelle Art von seinen folgend erwähnten Gefolgsleuten verbrannt und in der Heimat bestattet werden sollte. Des weiteren waren eben genannte Gefolgsleute zur Öffnung des Siegels vorzuladen, namentlich Nemaru Endan, Koch, Konditor, Ernährungsberater, Bote und Unterhalter, Mija Maneko, Studentin der Geschichts- und Sprachwissenschaften, Haushaltsvorstand sowie Besitzverwalterin und Senshu Angiri, Floristin, Gärtnerin, Ausbilderin, persönliche Beraterin und Leibwache.

Hekimaru unterbrach die Unterhaltung an dieser Stelle und bemerkte: „Eine unsichere Maßnahme, finde ich. Was wäre gewesen, wenn ihr bei Orochimarus Angriff ebenfalls ums Leben gekommen wärt? Oder nur einer von euch?“

Senshu schüttelte den Kopf: „Keine Sorge. Wären wir gestorben, hätte sich das Siegel von selbst gelöst. Der Fürst war bestimmt umsichtig genug, für diesen Fall eine Magieklausel einzubauen.“

Ein zustimmender Laut von Steele ließ das Gespräch weitergehen.

Die obersten Landesfürsten und Dorfvorsteher Kijukais verlangten nun natürlich eine rasche Rückkehr der drei, mit dem ordnungsgemäß verbrannten Leichnam ihres Herren.

Steele sagte eindringlich: „Die Verlesung des Testaments ist sehr wichtig, das ist euch sicher klar. Ich weiß, was ihr geschworen habt, aber...“

Seine Schwester winkte nur ab: „Keine Frage. Er hat uns die Lage seiner Prioritäten in jedem Fall sehr genau klar gemacht. Ich hab’ etwas derartiges ohnehin erwartet. Wir haben ihn leicht zugänglich begraben, weil wir vermutet haben, dass entweder er selbst oder die anderen Fürsten auf seine Verbrennung bestehen würden, um feindlichen Spionen keine Chance zu geben, seinen Körper für Studien zu benutzen. Die Entscheidung darüber den Landesoberhäuptern zu überlassen, war reine Formsache.“

Hekimaru lehnte sich schnaubend zurück: „Klar, sonst würden sich die Ältesten ja auf den Schlips getreten fühlen.“

„Wen kümmert das?“, meinte Steele, aber es war trotzdem klar, dass er die politisch korrekte Vorgehensweise für richtig und sinnvoll erachtete. Nur war seine Meinung über designierte Oberhäupter der Gesellschaft wohl nicht die Beste. Ohne eine Antwort auf seine Bemerkung zu erwarten erhob er sich.

„Normalerweise würden wir euch eskortieren, der Tod des Fürsten hat sich rumgesprochen, und wer weiß, was seine Feinde sogar aus seiner Asche herauszulesen in der Lage wären. Was sich noch nicht so sehr herumgesprochen hat, ist, dass ihr mehr als nur Diener wart.“ Er zwinkerte Senshu kaum merklich zu, aber sie bemerkte das unterschwellige Lob und errötete vor Freude. Bis zur Verlesung des Testaments hatte selbst ihr Bruder nicht gewusst, dass sie und ihre Freunde ausgebildete Ninja waren.

„Allerdings haben wir noch auf dem Weg hierher eine Nachricht bekommen, dass wir so schnell wie möglich nach Erfüllung des Auftrages umkehren sollen, um die Besitztümer des Fürsten zu überprüfen und die Spuren eines Eindringlings zurückzuverfolgen. Irgend jemand hat sich dort herumgetrieben.“

Senshu wirkte augenblicklich aufgebracht: „Was?! Hat derjenige etwas gestohlen? Wo waren die Wächter?“

Hekimaru hatte sich ebenfalls erhoben und antwortete ihr mit verschränkten Armen: „Die Wächter hat er geschickt umgangen, aber es wurde nichts gestohlen oder zerstört. Jemand hat sich Zugang zu den Unterlagen des Fürsten verschafft. Zu welchem Zweck ist noch unklar. Deshalb ruft man ja uns. Die wissen, wen sie holen müssen, wenn die normalen Ordnungshüter nicht reichen...“

„Wir müssen die Unterlagen sichten, die konnten bisher wohl nicht...“

„Niemand kann die wichtigen Schriften einsehen.“, sagte Senshu. Plötzlich war ihre Stimme viel zu ruhig und ihr Blick hatte einen gefährlichen Schimmer angenommen. „Vielleicht die Ländereien- und Ahnentafeln, all das, was öffentlich zugänglich ist und auch anderweitig aufliegt. Aber was seine Künste und dergleichen betrifft, ist versiegelt. Ihr werdet es nicht können, und wenn derjenige, der in meinem Revier herumwühlt, es geschafft hat, ist er ein unüberwindbarer Meister.“

Steele und Hekimaru sahen sie erstaunt an. Nicht wegen ihrer Worte, sondern wegen der Art, wie sie gesprochen hatte. Sie bemerkte ihre Blicke und erhob sich ebenfalls, während sie einräumte: „Es ist mein Arbeitsplatz, und ob das nun von den Ältesten anerkannt wird oder nicht, die Verwaltung obliegt bis zu einer Neuordnung durch das Testament Mija und mir. Der Gedanke, dass jemand den Besitz meines toten Herren schändet, macht mich wütend.“

Hekimaru sah Steele mit hochgezogenen Brauen an, was Letzterer aber einfach ignorierte. Er kannte seine Schwester. Sie mochte es nicht, wenn jemand in ihren Bereich eindrang, schon gar nicht, wenn sie Hunderte Kilometer davon entfernt war. Oh, aber es ging ja gar nicht so sehr um ihren Bereich. Es ging um den Bereich, für den sie zuständig war. Ihre Verantwortung, ihre Pflicht, und darum, sich des Vertrauens ihres Auftraggebers würdig zu erweisen. Auch wenn er tot war.

Kritik an ihrem Verhalten, selbst von seinem besten Freund, wollte Steele nicht akzeptieren. „Ich sorge dafür, dass das Haus bis zu eurer Rückkehr verschlossen bleibt und niemand mehr dort herumfingert. Wir werden den Palast bewachen und die regulären Wächter auf die restlichen Besitztümer verteilen.“

Senshu nickte dankbar und verabschiedete sich mit einem Händedruck von Steele und Hekimaru.
 

Als die beiden sich auf den Heimweg nach Mokugan gemacht hatten, setzte sie sich zurück an den Küchentisch und schluckte eine weitere Kräuterpille. Gedankenversunken faltete sie Nemarus Nachricht und steckte sie mit der letzten Kräuterkugel in eine kleine Tasche, die sie immer bei sich trug. Dann kramte sie ein Buch aus eben jener Tasche und begann damit, sich auf das Bestattungsritual vorzubereiten.
 

Als Nemaru nach der Arbeit bei ihrer kleinen Hütte anlangte, fand er dahinter die Leiche des Fürsten aufgebahrt, in weiße Tücher gehüllt, die in duftende Öle getränkt worden waren, um das Austreten von Verwesungsgerüchen zu verhindern.

Nemaru war im Rahmen der Hintertür stehen geblieben und betrachtete von dort aus die ganze Szenerie. Der Umriss seines verstorbenen Herren unter den Tüchern rührte seltsam an sein Herz. Eine Art von Trauer, die er bisher gar nicht verspürt hatte.

Er hatte den Fürsten wirklich sehr gemocht.

Das frische Grün des Frühlings hatte den verwahrlosten Garten in etwas freundliches, lebendiges verwandelt, und der Duft von Narzissen lag in der lauen Abendluft, die Dank des Regens der letzten Nacht rein und klar war. Der dunkler werdende Himmel war von leuchtend gelb und rot schimmernden Wolkenbänken durchzogen. Inmitten dieser seltsam leuchtenden Schatten saß eine gebeugte Gestalt in einem schlichten, weißen Gewand, eine weiße und eine schwarze Feder in den von der Exhumierungsarbeit wunden Händen.

Senshus schwarzes Haar hing lose auf die Schultern herab, es schien noch feucht zu sein – wahrscheinlich hatte sie die Arbeit erst vor Kurzem beendet. Die körperliche Arbeit zumindest.

Nemaru gestand sich selbst ohne weiteres ein, nicht sonderlich viel über die Bestattungsriten seiner Heimat zu wissen, aber er vermutete, dass Senshu eine Art Totenwache abhielt.

Die Wahrheit im Angesicht des Todes

“I never made promises lightly,

and there have been some that I’ve broken.

But I swear in the days still left

we will walk in fields of gold.”

- Sting, “Fields of Gold”
 

Nemaru trat aus dem Haus und ging ein paar Schritte um Senshu herum. Jetzt sah er undeutlich ihr Profil in der zunehmenden Dämmerung. Eine Stimme, die er nur als ihre erkannte, weil er sah, dass sich ihre Lippen bewegten, sagte leise: „Bereite dich vor, ihn würdig zu verbrennen. Der Brauch verlangt, dass du dich körperlich und nach Möglichkeit seelisch reinigst. Es klingt seltsam, aber mach dir keine Sorgen. Ich weiß, du hast so was noch nicht gemacht, aber ich sage dir, was du tun musst. Du musst es nur aufrichtig tun. Kannst du das?“

Nemaru schluckte irritiert und bejahte dann, obwohl er nicht wusste, was er zu tun hatte. Diesmal empörte es ihn nicht einmal, dass Senshu an seiner Ernsthaftigkeit in einer solchen Situation zweifelte. „Was...?“

Plötzlich stand Mija neben ihm. Sie war eben nach Hause gekommen und hatte ebenfalls erst den Eindruck ihres Gartens im Licht der untergehenden Sonne überwinden müssen. Sie legte Nemaru eine Hand auf den Unterarm, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann übernahm sie die Anweisungen, während sie ihn zurück zum Haus führte.

„Geh erst mal etwas essen und ins Badehaus. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, keine Hektik. Wasch dich gründlich. Und wenn du isst, freu’ dich daran. Versuch, ruhig zu sein, friedlich. So gut mit dir im Reinen, wie es geht. Wenn dich etwas ärgert oder belastet, versuch, es jetzt zu bereinigen. Auch, wenn du dazu Senshu oder mich in unseren Vorbereitungen stören musst.“

„Aber sie wird mich sprengen, wenn ich sie jetzt anquatsche.“

„Blödsinn.“ Mija lächelte nur. „Ich richte dir Kleider her. Es ist Brauch, ein schlichtes, weißes Gewand zu tragen. Hast du ja gesehen. Wenn du außer dem, was Senshu dir neben dem üblichen Ritual sagt, etwas persönliches dazu beitragen willst, dann mach das, ja? Na los, ich geh auch gleich zum Badehaus.“

Mija kannte nicht den genauen Ablauf des Rituals, es war ohnehin klar, dass Senshu als engste Vertraute des Fürsten es leiten würde, aber sie wusste, welche Bestattungsbräuche Kijukais der Fürst bevorzugt hatte. Dass die Rituale nicht sehr streng waren und persönliche Einflüsse zuließen, war ihm besonders wichtig gewesen.

Das bedeutsamste war die Aufrichtigkeit. Und die Echtheit.

Während Nemaru seine Badesachen zusammensuchte und dabei tief in Gedanken schien, trat Mija noch einmal in den Garten, wo Senshu auf einer Strohmatte saß und tat, was erforderlich war.

„Warum hast du nicht auf uns gewartet, damit wir die Arbeit gemeinsam machen?“

Senshu bewegte sich nicht, antwortete aber sofort, als hätte sie die Frage bereits erwartet. „Die Zeit drängt. Wäre es nicht so, hätte ich gewartet.“ Eine kurze Pause.

Ehrlichkeit.

„Aber ich bin froh, dass ich ihm diesen Dienst alleine erweisen konnte. Und ihn euch ersparen konnte.“

Mija nickte und bedankte sich mit einer Verbeugung, die Senshu nicht sehen konnte, aber höchstwahrscheinlich trotzdem spürte.

Nachdem Mija gegangen war, verging etwa eine Dreiviertelstunde, in der Senshu zweimal die tränennassen Augen aufschlug. Jedes Mal, wenn sich ihre Gedanken zu einer klaren Aussage formten. Manchmal war es überwältigend, sich mit eigenen Wahrheiten zu konfrontieren. Es war mühsam, aber gut, dass sie jetzt dazu gezwungen waren, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Morgen, wenn sie in ihre Heimat aufbrachen, würde es ihnen allen besser gehen.

Dann trat Nemaru wieder in den Garten. Mija war noch nicht da, aber er hatte weiße Gewänder vorgefunden und sie angezogen. Er bemühte sich sehr, ruhig zu sein, nicht nervös zu werden, weil er nicht wusste, was geschehen würde. Die Stille, die über dem inzwischen fast dunklen Garten lag, beruhigte ihn. An Kopf- und Fußende des aufgebahrten Leichnams knisterten jeweils vier kleine Fackeln, die sein Gesicht mit orangerotem Leuchten erhellten.
 

Nemaru setzte sich auf die Strohmatte zu Senshus linker Seite und betrachtete noch einmal alles mit stiller Faszination. All das erschien ihm unwirklich und auf eine traurige Art schön. Es war leise, aber mitreißend. Ein seltsames Gefühl.

Die Fackeln waren nicht nur Zeichen der Vergänglichkeit, sondern standen für das Element seines Herren – und sein eigenes, das wusste er längst. Ihm waren ja schließlich nicht umsonst die Feuerkünste beigebracht worden. Viel davon war bereits in ihm vorhanden – abgesehen von seinen tiefroten Augen, dem roten Haar und seinem energetischen Wesen. Das Feuer war sein Element.

Der Leichnam lag in seinen duftenden Tüchern auf einem aus kräftigen Birkenästen gefertigten Gestell. Darunter, inzwischen in der Dunkelheit kaum noch sichtbar, war ein kompliziertes Windspiel aus Fäden, Perlen, Federn und Klangkörpern gespannt worden. Es war kaum hörbar, weil sich die Luft selten regte, aber es war anzunehmen, dass der leise Klang des Spiels die Stille nicht stören, sondern sogar ergänzen würde.

Es war das Symbol für den Wind, der alle Elemente bewegt. Der die Erde voranträgt und das Feuer nährt. Mijas Element, obwohl sie überdies auch das Feuer in ihren Zeichen stehen hatte. Zeichen für ihre Freundlichkeit, die Lebensfreude, die sie ihren Gefährten schenkte, das Lächeln, das Menschen überkommt, wenn sie aufblicken und die Wolken über sich vorüberziehen sehen.

Das zweite reine Element ihrer Gruppe war Senshu. Die Erde. Die Beständigkeit der Wälder Kijukais, die der Fürst einst mitregiert hatte. Die Vernunft.

Die Ausdauer und der Rücken, der sie trug, wenn das Feuer sie verzehrte und der Wind sie in ferne Länder trieb.

Die Efeuranke auf dem Leichnam.
 

„Sag es mir jetzt. Was du mir bisher nicht sagen wolltest.“

„Beschäftigt dich so sehr, was ich nicht sagen kann, weil ich bezweifle, dass es dir wichtig ist?“

Nemaru schwieg verwirrt. Wie so oft verstand er nicht, was sie sagen wollte. Aber er wollte ruhig bleiben, also...

„Sag es mir einfach.“

Nemaru sah, wie die zwei Federn in ihrer rechten Hand, die rot und wund auf der Linken lag, sich bewegten. Dann waren sie wieder ruhig, und Senshu, die zwar die Augen geöffnet hatte, aber geradeaus auf den Leichnam blickte, wie um sich zu vergegenwärtigen, dass es im Angesicht des Todes nichts zu verheimlichen gab, seufzte.

„Nimm es, wie ich es dir sage und mach dir deine eigenen Gedanken dazu. Ich kann es nicht anders erklären. Ich habe meine Zeit mit jemandem geteilt, der mir egal ist, um zu vergessen, wen ich liebe. Sanguchi wusste die Wahrheit, aber das ändert nichts daran. Ich konnte nicht akzeptieren, dass man manchmal nicht bekommt, was man will. Für dieses Verhalten wollte ich mich bei meinen engsten Freunden entschuldigen. Bei Mija habe ich es getan, nur bei dir noch nicht.“ Ihre Augen schimmerten verdächtig im Schein der Fackeln, aber sie sah immer noch geradeaus. „Es tut mir leid.“

Dann wandte Senshu sich Mija zu, die gerade zu ihrer rechten Seite Platz nahm, ohne die Unterhaltung zu stören, nickte kurz und schloss dann wieder die Augen, um sich zu konzentrieren.

Nemaru ließ sich durch den Kopf gehen, was Senshu gesagt hatte, während er in die Flammen starrte.

Mija hatte sich wie Senshu im Schneidersitz niedergelassen und formte das Meditationszeichen für Wind, woraufhin Senshu, obwohl sie es nicht gesehen hatte, mit den Federn zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, das Erdzeichen formte.

Ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, schloss Nemaru die Augen und formte das Feuerzeichen. Er würde Anweisungen brauchen, ja. Aber manche Dinge musste man ihm nicht sagen. Schließlich waren sie vom Schicksal verbundene Kameraden.
 

Als die drei so dasaßen, ließ ein milder Windstoß das Klangspiel ertönen, woraufhin Mija mit tragender Stimme sagte: „Rein? Nemaru?“

„M-hm.“, antwortete er und spürte, wie ungewöhnlich ausgeglichen er sich in diesem Moment fühlte. Wie fest und sicher und richtig.

„Senshu?“

„Eins noch. Vor unserem Fürsten, der im Tod Zeuge ist. Weil ich sonst nicht dazu komme, manche Wahrheiten zu sagen, die mich ständig beschäftigen. Ich vermisse meinen Meister. Und meinen Bruder. Ich habe sie geliebt, ohne es ihnen je zu sagen, aber ich hoffe, sie wussten es trotzdem. Ich hoffe, ihr wisst es auch.“

Die Antwort war ein unterdrücktes Schluchzen von links und ein Lächeln von rechts.

Nemaru spürte eine Hand an seiner Schulter, doch als er einen kurzen Blick zur Seite wagte, sah er, dass Senshu sich nicht bewegt hatte.

Mijas Antwort hallte in Senshus Gedanken wider, woraufhin diese sich erhob und ans Fußende der Leiche trat.

Mija wirkte kurz verwundert, schien dann aber zu verstehen: „Er?“

„Ja. Nemaru, geh bitte zu seinem Kopf. Du stehst über seiner rechten Schulter, Mija über der linken. Nachdem die Federn gefallen sind, ist es deine Aufgabe, Kagyo anzuwenden.“ [ka = Feuer, gyo = gehen]

„Kagyo?“

„Die Kunst ähnelt der Yu-Sozo-no-jutsu.“ [yu = Öl, sozo = schöpfen]

„Verstehe. In Ordnung.“
 

Die Yu-Sozo-Kunst hatte er erst vor einigen Monaten erlernt. Es ging darum, das Chakra eines Gegners im Inneren seines Körpers so zu irritieren, dass er sich selbst entzündete. Eine Kunst, die Menschen, denen das Feuerelement im Blut lag, relativ leicht von der Hand ging, für andere Elemente aber schwer zu erlernen war, weil das Elementgefühl schwierig umzusetzen und dann in das Chakra eines Gegners zu transferieren war.

Es war weithin bekannt, dass nach dem Tod zumindest für eine gewisse Zeit Reste des Chakras im Körper blieben, trotzdem würde er wohl etwas von seinem eigenen in den Leichnam des Fürsten fließen lassen müssen. Aber eigentlich war Senshu die ranghöchste Angestellte ihres Herren gewesen, auch wenn sie keine Rangauszeichnungen besaßen. Und er wusste genauso wie Mija, dass sie Yu-Sozo-no-jutsu trotz ihrer Elementzugehörigkeit beherrschte. Da sie überdies die Abwandlung dieser Kunst kannte, die zur Leichenbestattung verwendet wurde (in eher persönlichen Fällen), wäre es eigentlich nicht naheliegender, wenn Senshu die Verbrennung vornahm?

Mija räusperte sich kurz: „Er würde wollen, dass du es machst.“

Senshu wartete, ob Nemaru etwas erwidern würde, aber ihre beiden Kameraden blieben still.

„Es dauert mit Kagyo nicht so lange wie normalerweise, einen Körper zu verbrennen. Unsere Aufgabe während der Verbrennung besteht vor allem darin, die Seele, die der Verbrennung beiwohnen soll, zu beruhigen.“

Mija und Nemaru nickten. Ihr Glaube besagte, dass Seelen verschieden auf ihren Tod reagierten, je nach Charakter des Verstorbenen und den Todesumständen. „Die Seele beruhigen“ hieß, ihr mitzuteilen, dass nichts unrechtes mit den sterblichen Überresten angestellt würde, dass der Tote würdig verabschiedet und geehrt wurde. Damit gab man der Seele Ruhe und löste sie (oder zumindest ihre negativen Einflüsse) vom Leichnam (oder der zurückbleibenden Asche). Es gab genügend Geschichten von den Seelen Verstorbener, die ihren Wirkungskreis, ihr Grab oder die Stelle, an der sie gestorben waren, heimsuchten. Es gab selbstverständlich auch Geschichten von guten Geistern, aber fraglos waren die von bösen um Einiges spektakulärer.

„Konzentriert euch auf die guten Wünsche für den Fürsten und darauf, was wir hier machen. Wie bei der ersten Bestattung, nur diesmal ist es ernst. Ihr wusstet, dass wir ihn noch Mal bestatten müssen. Aber wundert euch nicht, wenn jetzt unerwartete Gedanken auftauchen oder das Gefühl seiner Gegenwart – oder der eines anderen Geistwesens. So etwas passiert, vor allem, wenn eine Gruppe wie wir so ein Ritual abhält. Egal was kommt, nehmt es einfach an und konzentriert euch auf die Bestattung.“

Die beiden anderen nickten, woraufhin Senshu die rechte Hand über den Füßen des Toten ausstreckte. Die Federn schwebten kurz über den Füßen der Leiche, dann trat sie zurück und ließ sie fallen.

Ein Ritual, das den Weg der verstorbenen Seele zeigen sollte. Zeigte die Spitze der weißen auf den Leichnam, würde sie ein Glaubensäquivalent des Garten Eden erreichen, ein persönliches- oder religiöses Paradies, wer wusste das schon? Oder die Seele würde ein guter Geist, etwas wie ein Schutzengel oder dergleichen werden. Und die Schwarze Feder würde die andere Seite anzeigen. Eine Art Hölle, einen Rachegeist oder einen Fluch.

Nemaru beugte sich ein wenig zur Seite, um zu sehen, wie die Federn landeten. Mija tat es ihm auf ihrer Seite gleich.

„Und? Was bedeutet das?“, fragte Mija Senshu, die ebenfalls zu Boden starrte. Die Federspitzen zeigten von der Leiche weg.

„Hm, das heißt, er bleibt. Ob gut oder schlecht, er bleibt hier.“

Heimreise

Als sie das Dorf verließen, wurden sie von Iruka, Gai und Konohamaru verabschiedet. Zusätzlich zu ihrem leichten Reisegepäck hatten sie einen hölzernen Tornister bei sich, in den ein Tongefäß eingelassen war. Für die Asche des Fürsten. Beide Federn waren mit einer Lederschnur an den Tornister gebunden.

Senshu schüttelte Iruka als Letzte die Hand, während sie sagte: „Wir kommen so bald wie möglich zurück, ich hoffe, dass eure Hokage bis dahin auch wieder da ist.“

„Wir halten euch auf dem Laufenden.“

„Danke.“
 

Bevor die drei dem Dorf den Rücken zuwenden konnten, befehligte Konohamaru seine beiden Freunde in Position: „Drei, zwei, eins – Karaokeee-nooo-jutsuuu!“

Fassungslos ertrugen die fünf anderen das Gejaule, das daraufhin losging.

Nemaru feuerte die drei Kinder begeistert an, während Senshu Mija am Ärmel packte: „Wer hat ihnen das beigebracht?“

„Ähm, tja, das waren wohl wir...“

Die Kinder verstummten endlich und tollten ausgelassen mit Nemaru herum, bis Senshu die Stimme erhob und erbarmungslos kalt zu ihnen sagte: „Nicht schlecht, aber sie haben keine Chance.“

Fassungslos starrten alle Versammelten in Senshus hartherziges Gesicht.

„Gegen „Karma Chameleon“ Angiri kommt ihr nicht an! Üben, Kinder. Mwahahaaaaa!“

Damit wandte Senshu sich um und trabte mit großen Schritten aus dem Dorf, gefolgt von ihren lachenden Kameraden.
 

„Morgen oder übermorgen müssten wir den Hafen bei Hakke Mizu [hakke = Orakel, mizu = Wasser] erreichen, oder?“ Mija studierte im Gehen die Karte, die Iruka ihnen zum Abschied überlassen hatte. Mit den Worten: „Damit ihr auch schnell wieder zurückfindet.“ Netter Kerl. Schade, sie hatte ihn schwer im Verdacht, schwul zu sein. Alle guten Männer...

„Sicher!“, meinte Nemaru. „Wenn wir ein bisschen schneller gehen und uns nicht im Weg irren, sitzen wir noch heute Nacht auf der nächsten Fähre und schippern nach Kijukai!“

Er schlug enthusiastisch eine schnellere Gangart an, ließ sich aber kurz darauf mit etwas enttäuschter Miene wieder zurückfallen, als er bemerkte, dass niemand sein Tempo mitmachen wollte.

„Dann eben nicht...“

Er schien keine große Hoffnung zu hegen, die Mädchen mit Argumenten umstimmen zu können, also versuchte er es erst gar nicht.

Senshu, die jetzt die Karte von Mija entgegennahm, einen kurzen, aber nicht sonderlich interessierten Blick darauf warf und sie dann wegpackte, lächelte nachsichtig. „Vielleicht wäre das gar keine schlechte Idee. Nein, ich wär’ sofort dabei, je eher wir in Kijukai sind und wieder zurückkehren können, desto besser.“

„Also dann...“

„Aber ich finde, wir sollten vorsichtig sein.“

Mija sah sich um. Sie waren die letzten beiden Tage über Feldwege und Wiesen gewandert, durch kleine Wäldchen, über zwei Flüsse. Gerade jetzt, kurz vor Mittag am dritten Tag ihrer Reise, betraten sie einen überwältigenden Buchenwald, in dem es nach jungem, üppigem Frühlingsgrün und dem abgefallenen Laub vergangener Jahre roch. Sie band ihr Haar mit einer Lederschnur zu einem Pferdeschwanz, um ihr Blickfeld nicht damit zu beeinträchtigen. „Ja, wenn der Typ, der das Anwesen durchsucht hat, vermutet, dass das, was er vergeblich gesucht hat, sich beim Fürsten selbst oder seinen Dienern befindet, wird er sicher nicht warten, bis wir in Mokugan sind.“

Senshu nickte, sichtlich zufrieden damit, wie gut ihre Freundin die Lage einschätzte. „Genau. Wenn er uns angreifen will, dann tut er es, solange wir am schwächsten sind. Das heißt, ohne zusätzliche Unterstützung und auf unbekanntem Terrain.“

Nemaru verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen zusammen: „Wer sagt, dass es nur einer ist?“

Mija sah ihn kurz an, ließ ihren Blick dann aber wieder aufmerksam in den sie umgebenden Wald schweifen. „Stimmt, wer weiß.“

„Dann also nicht. Aber mir wäre es trotzdem lieber, jetzt schon zu Hause zu sein.“

Die Mädchen nickten nur. Es ging ihnen ganz genauso.

Shot

Für Mija war es gar keine Frage, ob sie angegriffen werden würden. Nur, wann. Jemand hatte etwas aus dem Besitz des Fürsten gesucht, es aber nicht im Palast gefunden. Mehr als naheliegend, bei der Leiche und seinen engsten Gefolgsleuten danach zu suchen.

Was hatten sie, was für andere von Bedeutung war? Ihre Waffen waren nur ihnen selbst zugänglich, und die wenigen bedeutsamen Gegenstände, die sie bei sich trugen... nun, darüber konnte niemand Bescheid wissen – überdies war deren Wert ohnehin mehr persönlicher Natur.

Ja, die Schriften über die Künste des Fürsten...

Aber da war der Fürst selbst! Zwar nur noch Asche, aber wer konnte wissen, welche Mächte diese zu Staub zerfallenen Überreste für jemanden bargen, der in der Lage war, sie zu lesen und zu extrahieren?
 

Senshu hingegen, die den Tornister mit der Asche ihres Herren gerade auf der linken Schulter trug, machte sich nur begrenzt Sorgen darum.

Sie dachte an ihr nächtliches Gespräch mit Gai.

Ein alter Bekannter...

Jemand, der auf der Jagd nach dem unbekannten Material war. Der es vielleicht von ihren toten Körpern nehmen würde, sollte es darauf hinauslaufen.

„Ob es einer oder mehrere sind, ist schwer zu sagen, aber bevor der- oder diejenigen uns angreifen, wird man uns mit Sicherheit beobachten.“, sagte sie wie zu sich selbst.

Es war praktisch unmöglich, irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, ohne seinen Feind zu kennen. Aber wenn es Gais „Bekannter“ war...
 

SSSP!
 

Ein unheilvoller, zischender Laut durchschnitt die Stille des Waldes und endete in einem abrupten, fleischigen Laut.

Senshu verfluchte ihre Unachtsamkeit, noch bevor der kurze, harte Bolzen einer Armbrust ihre rechte Schulter streifte. Wäre sie nicht in Gedanken gewesen, hätte sie vielleicht vollständig ausweichen können, aber jetzt zerfetzten Stahl und Holz den Stoff ihres groben Hemdes und das Fleisch darunter.

Senshus überraschter Schmerzensschrei ließ ihre Freunde erschrocken herumfahren. Sie starrten in die Richtung, aus der der Bolzen gekommen sein musste.

Der Schütze allerdings verschwendete keinen weiteren Versuch – allein aus dem Hinterhalt hatte er eine reelle Chance gehabt, aber das Mädchen war ausgewichen und hatte statt einem Loch im Herzen lediglich eine unbedeutende Schramme davongetragen.
 

„Elend!“, rief eine raue Stimme und eine kurze Einhänderarmbrust kam aus dem Dickicht auf einer Hügelkuppe geflogen.

Während die Waffe den mit altem Laub bedeckten Hang herabrutschte, wo sie schließlich am Stamm einer hohen, schlanken Buche liegen blieb, erkannte Mija an Größe und Bauart derselben, was für eine Kraft für ihre Handhabung aufgebracht werden musste, und welch entsprechende Leistung das zeitigte.

Der Bolzen hätte das Herz ihrer Freundin nicht nur durchstoßen, sondern es ihr aus der Brust gerissen und an den nächsten Baum getackert.
 

Die drei aus Mokugan scharten sich zusammen, Senshu und Mija mit Blick auf den Hügel vor ihnen, von wo der Schuss gekommen war, Nemaru mit dem Rücken dazu, um die hintere Seite zu sichern.
 

„Rrrah!“

Ein weiterer zorniger Schrei, als der Schütze seine Wut verfluchte (nur, um noch wütender zu werden), weil er jetzt seine Waffe holen musste.

Eine schlanke Gestalt sprang aus dem Dickicht, schoss blitzschnell auf die Armbrust zu, nahm sie wieder an sich und verschwand mit der Behändigkeit eines Affen wieder im Gehölz.
 

Nemaru dachte im ersten Moment daran, ihm zu folgen, aber überlegte es sich dann anders. Er hatte sich umgedreht, als der Angreifer sich gezeigt hatte, und nur das gefährliche Leuchten zweier dunkelblauer Augen gesehen. Die Augen eines Mörders, wenn es je welche gegeben hatte.

Von Statur her eindeutig ein Mann, aber alles bis auf diese schrecklichen Augen war von dunklem Stoff verhüllt gewesen.
 

Senshus Blut sickerte in den gierigen Waldboden, der alles, was ihm als Nahrung dienen konnte, gierig aufsog.

Sie standen gut eine halbe Minute so da, verharrten mit wild pochenden Herzen und warteten ab, was geschehen würde, dann ließ Mija ihren angehaltenen Atem seufzend entweichen und entspannte sich etwas.

„Idiot.“, meinte Senshu ohne merkliche Wut in der Stimme.

„Nah, wer weiß. Er war wütend, diese Überreaktion bedeutet noch nicht, dass er dumm ist.“, meinte Mija und betrachtete ihre Freundin, die endlich nach ihrer Schulter griff, um die Wunde zu inspizieren, behielt danach aber mehr ihre Umgebung im Auge.

„Mein Gott, so viel Blut! Geht’s?“, rief Nemaru jetzt aufgebracht und zückte dabei ein Tuch, um zu helfen.

Senshu, die wusste, dass sich seine Aufregung schnell legen würde, sagte kalt: „Lass das.“

Die Gutmütigkeit von Vorhin war verschwunden.

Auf seinen beleidigten Blick hin lenkte sie ein: „Ich mein’s nicht so. Kommt, wir sollten ohnehin Mittagsrast machen.“

Sie nahm Nemaru das Tuch ab, zog das zerrissene Oberhemd aus und setzte sich ein paar Schritte weiter auf einen Stein, um die Wunde zu versorgen.

Nemaru betrachtete sie skeptisch: „Hältst du es für eine gute Idee, hier in aller Seelenruhe sitzen zu bleiben?“

Mija sah sich immer noch um, sagte dann aber: „Er hat sich zurückgezogen...“

Senshu wischte beflissen Blut von ihrer Schulter, während sie sagte: „Er ist unberechenbar. Das kann ich auch.“

Ihre Freundin seufzte laut hörbar: „Toll. Aber zumindest scheint der Wahnsinnige allein zu sein.“

„Wahnsinnig trifft den Nagel vielleicht auf den Kopf. Kann ja sein, dass er’s ist. Macht ihn immer noch gefährlich. Aber Wahnsinnige haben oft große Schwächen.“

„Du redest wie’n Buch.“, meinte Nemaru nicht sonderlich glücklich.

Senshu lachte humorlos: „Ich bin ein Buch. Und ist es nicht so?“

Mijas Augen leuchteten, als sie näher trat und flüsterte: „Wut? Die erste Schwäche! Und er hat sie uns so leicht gezeigt!“

Senshu nickte nur, dachte dabei aber, dass sie nur noch herausfinden mussten, warum genau ihr Angreifer so wütend gewesen war. Warum war es so wichtig, sie drei zu überwältigen, dass ein einziger fehlgegangener Schuss ihn so weit trieb, dass er sogar seine Deckung verlassen musste?

Auf den ersten Blick konnte man so etwas natürlich schwer einschätzen – aber Senshu witterte Verzweiflung im Verhalten ihres Feindes. Auf jeden Fall. Und Unberechenbarkeit, die fast greifbar war.

Eine üble Mischung.
 

Eine interessante Mischung.

Mija hatte Angst, ja, aber die hielt sich in Grenzen. Sie war vielmehr fasziniert von diesem Auftritt gewesen. So eine Kraft und Beweglichkeit – unglaublich. Und diese grausam schönen Augen. Es hatte fast weh getan, sie zu sehen.

Die Intensität dieses Auftritts beeindruckte sie, auch wenn es ein Gegner gewesen war. Menschen, die so überzeugt auftraten, ob im Guten oder im Bösen, waren einfach bemerkenswert.

Und noch etwas.

Sie hatte diesen Mann mit Sicherheit noch nie gesehen – sie wäre nie so weit gegangen zu behaupten, sie vergesse nie ein Gesicht (oder nur die Augen), aber diese Person hätte sich ihr eingeprägt. Dennoch hatte sie das starke Gefühl, etwas an diesem Menschen zu erkennen – wiederzuerkennen.

Schwer zu verstehen, unmöglich zu beschreiben.
 

Nachdem Senshu ihre Schulter versorgt hatte, aßen die drei ohne großen Appetit.

„Du bist kalt wie ’ne Hundeschnauze.“, meinte Nemaru, und es war schwer zu sagen, ob er Senshu damit loben oder tadeln wollte.

Sie war die einzige, die sich nicht wenigstens von Zeit zu Zeit umsah, sondern nur betont gleichgültig aß. Sie warf Nemaru einen ernsten und schwer zu deutenden Blick zu, verzog dann mit einem kaum merklichen Kopfschütteln den rechten Mundwinkel und erwiderte nichts.

Mija lachte über die beiden, sah sich aber trotzdem nur kurz darauf wieder über die eigenen Schultern. Sie vermutete, dass Senshu sich sehr beherrschen musste, um es ihr nicht gleichzutun. Vielleicht wollte sie ihren Angreifer mit ihrer aufgesetzten Ruhe reizen – oder nur ihre Freunde beruhigen.

Feuerteufel

In der folgenden Nacht erwachte Senshu schreiend aus einem Albtraum, soviel zur Coolness.

Nemaru rollte sich murmelnd herum und schlief weiter, während Senshu mit hämmerndem Herzen und schweißüberströmt dasaß und in die Dunkelheit starrte.

Mija ließ sich besorgt neben ihr nieder. Sie war gerade mit der Wache an der Reihe und war bei Senshus Schrei ziemlich erschrocken.

„Alles okay?“

Senshu fuhr sich durchs Haar und sah ihre Freundin verwirrt an. Mija hatte tatsächlich kurz Zweifel daran, ob ihre Freundin sie erkannte, und in diesem Moment hätte sie fast Angst bekommen. Senshu Angiri war durchaus in der Lage, jemanden, der Nachts überraschend an ihr Lager trat, zu töten.

Doch dann wurde ihr Blick erleichtert, sie atmete tief durch und lachte dann verlegen.

„Ein Traum wegen heute?“, vermutete Mija, aber Senshu berührte nur kurz ihre Schulter und schüttelte dann den gesenkten Kopf. An der Neigung ihres Scheitels erkannte Mija, dass Senshu kurz Nemaru ansah, bevor sie ihr den Blick entgegenhob.

Ihre Augen waren trüb, aber sie lächelte – ihr grausamstes Lächeln, das, das versuchte, sich mit Dingen abzufinden, es aber nicht konnte.

„Nein. Wegen solchen Dingen träume ich nicht. Darum kümmere ich mich schon, wenn ich wach bin.“
 

Was danach kam, war ein einziger, irrsinniger Tanz, so schnell, dass man dabei keinen klaren Gedanken fassen konnte, und dabei aufregend und faszinierend zugleich, wie Mija im Nachhinein fand. Sie hatte sich selbst niemals auch nur entfernt eine derartige Reaktionsfähigkeit zugetraut. Ein so eingespieltes Handeln, vollkommen reibungslos und sicher in der Art, wie Entscheidungen getroffen wurden.
 

Natürlich griff der Fremde sie in diesem wiederum denkbar ungünstigen Moment an.

Er sprang aus einem der Bäume, die die Lichtung umstanden, auf der sie lagerten, und er ließ sich mitten zwischen sie fallen. Das Lagerfeuer zerstob, weil er mit dem rechten Fuß darin landete, ohne sichtlich Schaden davonzutragen.

Senshu duckte sich, als er mit beiden Händen nach ihrem Kopf griff, während Mija mit einem Schreckensschrei Nemaru weckte.

Dieser kam schnell auf die Beine, und noch bevor er klar sehen konnte, schrie er dem Fremden eine unflätige Beschimpfung zu, um gleich darauf einen kleinen Feuerball in sein Gesicht zu schleudern.

Diesen Moment nutzten Senshu und Mija, um aus der direkten Reichweite des Angreifers zu gelangen und Platz für Nemarus Attacken zu machen. Mija griff mit tauben Fingern nach dem Tornister, warf sich den Tragriemen über die Schulter und sah dann gebannt und beinahe angewidert dabei zu, wie der Fremde – gerade von einem der Feuerkugel folgenden Flammennebel umgeben – die Kugel verschlang.

Mit wohligem Grinsen ließ er die Hitze auf sich wirken, als Nemaru vor Erstaunen die Kunst löste, mit der er lediglich die Oberbekleidung des Mannes angesengt hatte.

Die schwarze Kopfbedeckung war zu brennenden Fetzen zerfallen und ein Schwall langen blonden Haares fiel unbeschadet auf die kräftigen Schultern herab, die bloß lagen, als auch der obere Teil seines Hemdes verbrannt war.

Der junge (und überraschend gutaussehende) Mann lachte, während er die Reste des Hemdes mit einem Ruck von seinem Oberkörper riss und von sich warf.

„Mehr Feuer.“, flüsterte die raue Stimme, und wieder ertönte sein hartes, kaltes Lachen. Seine blasse Haut war so makellos wie zuvor. Ein glich eher einer Skulptur als einem menschlichen Wesen. Hätten sich seine drahtigen Muskeln nicht bewegt und sie so zum Handeln gezwungen, wäre Mija an jener Stelle verharrt, um ihn noch länger zu betrachten.

Aber dieser fesselnde, wahnsinnige Blick kam jetzt auf sie zu und der Mann streckte eine Hand nach ihrem Haar aus, als wolle er es zärtlich berühren. Mija wich zurück, und sein Grinsen verzog sich zu einer hässlichen Fratze.

„Ich will es...“, flüsterte er bedrohlich. Mija erschauderte beim Klang seiner Stimme, wich weiter zurück, solange er sich nicht bewegte, und brachte mit Mühe hervor: „Zo-kami-no-jutsu!“

Aus den hölzernen Fugen des Tornisters drangen plötzlich Haare von derselben purpur-violetten Farbe wie Mijas. Im stillen nächtlichen Wald hörte man beinahe das sanfte Geräusch, das das Haar erzeugte, als es sich eng um das Holz, den ledernen Tragriemen und schließlich Mijas Schulter, Arm und Oberkörper schmiegte.

„Nur über meine Leiche.“, meinte Mija schlicht.

Der Fremde sah sie einen kurzen Augenblick beinahe entgeistert an, dann kicherte er kurz und abgehackt. Unbeherrscht.

Nemaru unterbrach das unheimliche Kichern, indem er sich auf den blonden Mann stürzte und versuchte, seine gefürchtete Kubishibari-no-jutsu anzuwenden. Er bekam ihn aber nicht zu fassen. Nemaru war schnell, aber der andere war auf beängstigende Art schneller. Mit einem Satz war er außer Reichweite, und während der rothaarige Junge ihm dicht auf den Fersen folgte – was für jede seiner Freundinnen praktisch unmöglich gewesen wäre – warf Senshu Mija einen auffordernden Blick zu. Sie drehte die rechte Hand kurz in der Luft und streckte sie dann in einer langsamen Stoßbewegung nach vorne, die Finger wie Klauen geformt.

Mija nickte nur, konzentrierte sich kurz und ließ ihr purpurnes Haar dann aus dem Genick des Fremden wachsen. Immer noch vor Nemaru herspringend, griff dieser mit überraschter – fast erheiterter – Miene nach hinten. Das Haar, das aus einem wichtigen Nervenknotenpunkt wucherte, erfasste sofort seine Hand und fesselte sie an sein Genick. Er wich wieder und wieder vor Nemarus Schlägen zurück, während das Haar sich immer mehr über seine Haut ausbreitete und auch den zweiten Arm fesselte.

Mija konzentrierte sich noch mehr, um das Haarwachstum zu verstärken. Schweiß trat ihr auf die Stirn, aber es war nicht nur Anstrengung. Es war Aufregung. Sie spürte den Körper und die unbändige Kraft ihres Gegners durch die Haare. Nicht, wie sie ihn gespürt hätte, wenn sie ihn mit ihren Händen angefasst hätte, aber die Haare waren dennoch Teil genug von ihr, um einiges an Berührungsreizen zu übertragen.

Die kräftigen Strähnen griffen im Vorüberfliegen nach Ästen und Baumstämmen, versuchten, Halt zu finden, und verlangsamten den Fremden schließlich. Nemaru landete einen Treffer, musste aber als Preis dafür, so nahe an seinen Gegner herangekommen zu sein, ebenfalls einen mächtigen Schlag einstecken.

Dieser blonde junge Mann war ein begnadeter Taijutsu-Kämpfer, stark wie ein Ochse, und dabei nur wenig stämmiger als der schlaksige Nemaru.

Plötzlich, als er gerade zu einem weiteren Sprung ansetzen wollte, wurde er herumgerissen und knallte rücklings an einen Baumstamm. Mija stieß einen atemlosen Triumphlaut aus, ließ die Strähnen ihres Haars den Baum vollständig umfassen und sie den Körper des Fremden daran fesseln.

Senshu landete vor dem inzwischen fast vollständig von purpurnem Haar bedeckten Mann, der, so irrsinnig es in seiner Lage auch sein mochte, immer noch grinste.

Nemaru wich zur Seite, um sie nicht zu behindern, als sie vor den zu Unbeweglichkeit verdammten Angreifer trat. Sie warf Mija einen kurzen Blick zu, und ihre Freundin nickte entschlossen.

Senshu hielt sich nicht mit Fingerzeichen oder ähnlichem auf, sie stemmte beide Hände neben dem Gesicht ihres Gegners gegen den Baumstamm. Es sah für einen grotesken Moment so aus, als wollte sie ihn küssen, ihr Körper berührte fast den seinen, der immer noch mit stetig weiterwucherndem Haar bedeckt war. Er hatte sichtlich Probleme, zu atmen, dennoch grinste er beinahe lüstern, als Senshu vor ihm stand. Er legte den Kopf erwartungsvoll schief.

„Was willst du?“, fragte Senshu grob. Einzige Antwort war ein raues Lachen. Der Fremde versuchte, sich zu befreien, konnte sich aber nicht regen. Also warf er den Kopf ein wenig nach vorne, als wolle er nach ihr schnappen. Senshu hatte diese Restbeweglichkeit einkalkuliert und wich nicht zurück, auch, als das blonde Haar des Mannes ihr Gesicht streifte. Der Mond und die Reste ihres Lagerfeuers erhellten die Lichtung gerade genug, um sich die Züge des Mannes halbwegs einzuprägen.

„Rede, oder du wirst es bereuen!“, forderte Nemaru ihn hitzig auf. Die Antwort war bloßes Lachen.

„Ich warne dich nur ein einziges Mal, du Freak! Spiel hier nicht rum, oder ich mach dich zur Schnecke!“ Senshu sprach ein wenig holprig, aber entschlossen, und ihr Blick wich dem ihres Gegenübers nicht ein einziges Mal aus.

Immer noch keine Antwort, bis auf das Grinsen, und der Blick, der zwischen Mijas angestrengtem Gesicht und Senshus Augen hin- und herwanderte. Manchmal senkte er die Lieder, als starre er auf Senshus Lippen, aber der Eindruck konnte täuschen.

Senshu hatte schnell genug davon, dass ihre Fragen nicht beantwortet wurden, außerdem würde Mija die Zo-kami-Kunst nicht ewig in diesem Ausmaß aufrecht erhalten können. Das ältere Mädchen stemmte die Arme noch einmal fester gegen den Baum und ließ dann mit einem zornigen „Eisho“ eine bedrohlich im Mondlicht schimmernde Schattenhand aus ihrer Brust in seine eindringen. Als die Hand durch die purpurnen Haare glitt, zischte Mija vernehmlich, verstummte aber sofort wieder. Das Wuchern der Haare wurde merklich schwächer, schien sogar ganz aufzuhören.

Für wenige Sekunden verharrte Senshu mit konzentriertem Blick, dann ließ sie von dem Fremden ab, um nicht auch Mija umsonst zu quälen. Sie löste die Kunst, als sie die Seelenumkehrung nicht bewerkstelligen konnte. „Immun.“, flüsterte sie und starrte den grinsenden Fremdling frustriert an. Das war wohl nicht ganz richtig, denn das Grinsen hatte eindeutig abgenommen und war einem konzentrierteren Blick gewichen. Schweiß stand ihm auf der Stirn und als Senshu zurücktrat, sackte er erleichtert zusammen, aber irgend etwas hatte die Wirkung der Schattenhand beträchtlich geschmälert.

Strähnen der Haarfessel glitten langsam zu Boden.

„Was ist?“, fragte Nemaru fassungslos. Er hatte sie schon als Sieger gesehen (und sich gerade darauf eingestellt, den durch die Schattenhand gefolterten Fremden gestehen zu hören).

Senshu wusste, dass sie nicht viel Zeit hatten, die Zo-kami-no-jutsu begann, sich aufzulösen, und der Blonde wusste es ebenso. „Er ist kein normaler Mensch.“

Der Mann lachte und begann, sich unter den Haaren zu bewegen: „Ja, Mäuschen, verausgabe dich nicht. Selbst wenn du deine stärkste Eisho anwendest, ich würde ihr standhalten, bis du einfach daran stirbst.“

„Egal! Es gibt andere Mittel und Wege!“, zischte Mija.

Berserker

„Eure Ho-Yatai, ihr beiden?“[ho = Methode, yatai = Bund], fragte Senshu, während sie mit zornigem Blick von ihrem Feind abwich. Nemaru und Mija nickten und zogen sich ebenfalls von dem blonden Mann zurück.

„Dann decke ich euch. Fangt an, schnell!“

Der Blonde bekam seinen rechten Arm frei und zerrte damit an den Haaren, die jetzt büschelweise zu Boden fielen. Dabei murmelte er verbissen: „Ich kriege es, tut, was ihr wollt. Mickrige Diener, keine Gegner für mich.“

„Wer bist du?“, schrie Senshu ihn an, während sie weiter zurückwich.

Nemaru hatte in der Zwischenzeit ein kleines, rechteckiges Metallstück aus seinem Gewand geholt. Mija stand unter einem Baum und schloss jetzt mit erstaunlicher Geschwindigkeit Fingerzeichen. „Bubun-Kotangiri!“[bubun = Teil], rief sie, und Nemaru warf das Metallstück mit dem Ausruf „Misen!“ in die Luft.

Während das Metall sich auflöste, konnte der Fremde sich befreien, und er stürzte sich sofort auf Nemaru, der blitzschnell auswich und dabei den milchigen Nebel, der in der Luft hing, nicht aus den Augen ließ.

Senshu sah sofort, wie der blonde Mann sich Mija zuwandte, die regungslos verharrte und sich darauf konzentrierte, Nemarus Waffe zusammenzufügen. Es dauerte nicht lange, aber während sie es tat, durfte sie ihre Kunst nicht abbrechen, sonst wäre die Waffe unbrauchbar geworden. In der Zwischenzeit war sie wehrlos.

Das wahnsinnige Lachen des Mannes klang im dunklen Wald unbarmherzig und endgültig, er stürmte auf Mija zu und ein bedrohlicher Laut – fast ein Knurren – ertönte aus seiner Kehle. Nemaru hätte ihm folgen können, wäre aber nicht rechtzeitig gekommen, um zu verhindern, was als nächstes geschah.

In dem Moment, als der blonde Mann mit der rechten Hand ausholte und einen tiefen Schlag ausführte, sprang Nemaru in die Luft und schnappte sich mit einem Salto sein stählernes Schwert.

Als er sich umdrehte und dabei statt einer erwünschten, kampfbereiten Kaltblütigkeit nur panisches Entsetzen und Sorge um seine Freundinnen spürte, sah er zuerst Blut. Trotz der Dunkelheit. Mond- und Feuerschein reichten. Und die drei Gestalten am anderen Ende der Lichtung verharrten lange genug, um sich dieses Bild einzuprägen.

Mija war, sobald sie das Schwert fertiggestellt hatte, auf ein Knie niedergesunken, und starrte jetzt erschrocken und erschöpft den Rücken ihrer Freundin an, die sich zwischen sie und den blonden Angreifer gestellt hatte. Letzterer war ebenso überrascht wie Mija und Nemaru gewesen, als das Mädchen mit dem schwarzen Haar wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Jetzt lachte er befriedigt und wollte seinen rechten Arm zurückziehen. Knöcherne Klingen, Verlängerungen seiner Mittelhandknochen, staken gut eine Handbreit über Senshus rechter Hüfte in ihrem Fleisch. Sie stand ein wenig schräg zu ihm und hatte seine Hand jetzt mit den ihren erfasst, womit sie ihn daran hinderte, sich zurückzuziehen. Senshus Blick ruhte selbst auf der Hand ihres Gegners, die mit ihrem Blut bedeckt war. Schwarze Haarsträhnen hingen vor ihren Augen, als sie aufblickte.

Nemaru ergriff sein Schwert fester und schluckte hart, als er die beiden so dastehen sah.

Zwei Wahnsinnige. Das dachte er.

Dann setzte er sich endlich in Bewegung und hob seine schwere Waffe, das Misen. Ein Berserkerschwert, gerade, schwer, beidseitig geschliffen, mit einer Blutrinne und schlichtem Heft.

Senshu stieß keuchend den Atem aus und riss die Hand des Angreifers aus der frischen Wunde, rammte ihn in Nemarus Richtung von sich weg und kippte dann mit vor die Wunde gepressten Händen nach hinten, wo Mija sie auffing.

Nemaru verwickelte den Fremden augenblicklich in einen rasanten Kampf, bei dem sein Gegner es relativ schwer hatte, er konnte schließlich nur ausweichen und mit bloßen Händen angreifen, dazu musste er aber nah an Nemaru heran und riskierte dabei, von dem erschreckend schnell geführten Berserkerschwert getroffen zu werden.

Nach einer ganzen Weile streifte Nemaru mit der Spitze seines Schwertes das Gesicht des Fremden. Nur wenig fehlte, und das Misen hätte dessen Kopf gespalten, so jedoch klafften nur zwei kleine Wunden an seinem Kinn und seiner linken Augenbraue. Sein überraschter und gleichzeitig spöttischer Blick füllte sich mit frischem Blut, bis er es wegblinzelte und Nemaru mit einem Gegenangriff zurückdrängte.

Nemaru war vollauf damit beschäftigt, sich zu verteidigen, ein weiterer Angriff von seiner Seite war bei diesem Tempo undenkbar, selbst, wenn er mehr als einen Treffer seines Gegners in Kauf nehmen würde.

„Senshu!“, rief er atemlos. Er wusste nicht, ob seine Freundinnen in der Lage waren, ihm zu helfen, aber der Hilferuf war da, bevor er richtig darüber nachdenken konnte.

Mija hielt Senshu, die sich auf diesen Ruf hin wie durch einen Reflex aufrichten wollte, an den Schultern fest. Senshus Blick war unstet und ihre Freundin vermutete, dass eine ihrer Wunden – entweder die frische oder die Bolzenwunde vom Vortag – vergiftet sein musste. Das Gift wirkte jetzt und machte Senshu benommen.

„Lass, ich mach’ das!“, meinte Mija und biss sich in den Daumen.

Senshu erkannte trotz ihrer Lethargie die Absicht des anderen Mädchens, und ergriff schwach ihre Hand: „Nein...“

Sie holte rasselnd Luft und Mija musste sich eingestehen, dass sie ihre Hand fast ungeduldig abgeschüttelt hätte. Nemaru brauchte Hilfe, und Senshu konnte sie ihm jetzt nicht geben, begriff sie das nicht?

„Dein Chakra reicht nicht mehr.“, flüsterte Senshu, und ihr schmerzverzerrtes Lächeln schien Mijas Gedanken deutlich gelesen zu haben.

„Aber ich kann jetzt nichts anderes...“

Senshu packte Mijas rechte Hand etwas fester und zog sie zu sich heran. Erst als ihre Finger in Senshus blutende Wunde gedrückt wurden, begriff Mija, worauf ihre Freundin hinauswollte.

Sie nickte nur und überwand das schreckliche Gefühl, das warme, lebendige Fleisch ihrer Freundin an ihrer Hand zu spüren. Sie griff in die Wunde, biss die Zähne zusammen, als Senshu schrie und benutzte ihr Blut zur Beschwörung eines Schutzgottes.

„Kuchiyose-no-jutsu!“, kreischte Mija voll Wut darüber, dass sie Senshu jetzt nicht helfen konnte und darüber, dass dieser beeindruckende Fremdling auf Nemaru eindrosch, als würden seine Kräfte nie zu Ende gehen.
 

Der blonde Mann wandte sich erst um, als er den ohrenbetäubend lauten, grausam durchdringenden Schrei eines gigantischen Pfaus hörte. Er sah den Vogel nur für den Bruchteil einer Sekunde – ein gespenstisch im Mondlicht schimmernder, weißer Prachtvogel, größer als ein Haus – denn im nächsten Moment traf ihn ein Schlag von Nemaru so heftig am Hals, dass er zur Seite gewirbelt wurde. Es war sein Glück, dass Nemaru das Schwert während seiner vorigen Angriffe verloren hatte, sonst wäre er jetzt wohl einen Kopf kürzer gewesen.

Und dann setzte sein Denken völlig aus, als der Pfau wieder zu schreien anfing.

Mija hielt sich mit aller Kraft die Ohren zu und rief: „Genug davon! Yomi-kuzushi!“ [yomi = Totenreich, kuzushi = Zerstörung]

Der Pfau verstummte endlich und richtete seine blütenreinen Schwanzfedern auf, die sofort auf seltsame Art zu zucken und zittern begannen. So kam der Vogel auf den Fremden zu, der hinter sich nur hörte, wie der rothaarige Junge eilig sein im Laub liegendes Schwert aufsammelte und zu dem verletzten Mädchen lief – aus der Angriffslinie des seltsamen Tieres.

Die Schüler des Maito Gai

“And if I were to die in this very moment,

Wouldn’t I know that we are forever?”
 

Plötzlich jedoch brach das Tier seinen eindrucksvollen Angriff ab und ließ die Federn sinken.

„Wa-?“ Mija, die auf dem Rücken des Pfaus stand und sich an dessen Hals abstützte, sah sich verwirrt nach den Schwanzfedern des Vogels um. „Was ist los? Was ist los!? Yomi-kuzushi, hab ich gesagt! LOS DOCH!“

Der Pfau stieß einen kurzen Ruf aus und bewegte den Kopf auf und ab, dann brach plötzlich eine Schildkröte aus dem Dickicht hervor und walzte dabei nicht wenige Bäume nieder.

Mija starrte regungslos die beiden Männer auf ihrem Rücken an. Es waren Maito Gai und ein seltsamer, weißhaariger Kerl in auffälliger Kleidung.

Gai, der sonst stets so heitere und schrullige Meister, stand mit verschränkten Armen und verbissenem Gesicht auf dem Panzer der gemächlich auf die Lichtung schreitenden Schildkröte und rief: „Yue!“

Zum ersten Mal seit ihrem ersten Zusammentreffen sah Mija echte Unsicherheit im Blick des blonden jungen Mannes. Allerdings nur für einen kurzen Augenblick, dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder spöttisch, diesmal jedoch mit jeder Menge Trotz vermengt.

Gai ragte über ihm auf wie ein mahnender Donnergott, als er von der Schildkröte herab sprach: „Ich weiß genau, was du willst. Aber nicht auf diese Weise! Lass sie in Ruhe und gib dein Vorhaben auf!“

„Nein!“, entgegnete der junge Mann energisch, und seine Stimme klang dabei verzweifelt. Fast, als wäre er den Tränen nahe. „Niemals! Ich werde sie wiedererwecken! Nicht einmal du kannst mich aufhalten!“

Jetzt plusterte sich der weißhaarige Mann neben Gai auf und sagte: „Lass das, mit einem Wahnsinnigen zu schwatzen bringt nichts! Es tut mir leid, da er dein Schüler war, aber trotzdem...“ Er sprang von der Schildkröte und jagte dem jungen Mann namens Yue hinterher, als dieser behände den Rückzug antrat.
 

Sobald die beiden im Gehölz verschwunden waren, herrschte beinahe Totenstille über der Lichtung. Gai sprang von der sich auflösenden Schildkröte und schien seinen ehemaligen Schüler ganz jenem weißhaarigen Begleiter zu überlassen. Sorgen um dessen Sicherheit schien er sich keine zu machen. Statt dessen trat er an den vor Anstrengung schweißgebadeten und übel zerschrammten Nemaru heran, der gerade die halb bewusstlose Senshu aufsammelte. Noch immer sickerte Blut aus ihrer frischen Wunde.

„Dein Schüler war das? So’ne Scheiße!“, spuckte Nemaru zornig aus, ohne Gai anzusehen.

Mija, die den Pfau kurz am Hals tätschelte und dann entließ, trat näher und sah an seinem verzweifelt bebenden Kinn, dass Nemaru ernstlich glaubte, Senshu sei tödlich verwundet. Vielleicht war sie das ja auch, da war eindeutig Gift im Spiel, sonst wäre sie nicht so einfach umgekippt. Dazu beherrschte sie viel zu viele Künste und war zu zäh. Aber Mija glaubte nicht wirklich, dass es lebensbedrohlich war, sonst wäre Gai hektischer gewesen.

Seltsam irgendwie. Dieser blonde Typ hatte durchaus bereit gewirkt, sie alle zu erledigen, warum hatte er nicht gleich ein tödliches Gift verwendet?

Gai beugte sich über Senshu und sah mit einem schnellen Blick aus dem Augenwinkel, dass Nemaru ihn fast weggestoßen hätte, sich aber im letzten Moment zurückhielt.

„Er ist ein seltsamer Mensch und seine Schritte sind schwer nachzuvollziehen. Doch er hat ein Ziel, und dazu gehört zuerst, in den Besitz des namenlosen Materials zu kommen, das euer Fürst euch in Form der Ohrringe anvertraut hat.“, erklärte Gai, während er Senshus Puls fühlte und ihre Pupillen betrachtete.

„Es gibt doch auch andere, die etwas davon in ihrem Besitz haben, oder?“, meinte Mija und begann dabei, die Wunde ihrer Freundin zu säubern.

„Ja, schon. Aber es wird immer streng bewacht, oft versteckt getragen, wenn überhaupt. Manche lassen es sich in den Körper implantieren und verschweigen seine Existenz. Aus gutem Grund.“

Nemaru hatte sich etwas beruhigt, als er sah, dass Gai und Mija sich in aller Ruhe daran machten, Senshu zu versorgen. Er begnügte sich damit, seine Hand auf ihre inzwischen schon leicht fiebrige Stirn zu legen und fasziniert auf die tiefen Einstiche über ihrer Hüfte zu starren, die Mija schließlich mit einem provisorischen Verband bedeckte. Dabei runzelte sie die Stirn: „Na ja, okay, unser Fall hat sich wahrscheinlich herumgesprochen, aber bis nach Konohagakure? Ich nehm’ ja nicht an, dass Euer Schüler sich ausgerechnet auf der Waldinsel...“ – „Doch, durchaus möglich. Er ist weit gereist auf seiner Suche. Er hat überall Gerüchte und Informationen gesammelt, die das Material betreffen. Und wie du gesagt hast – euer Fall hat natürlich Aufsehen erregt.“

Er unterbrach sich selbst kurz, um mit beruhigenden Worten auf Senshu einzureden, die halb erwachte und deren Augenlider dabei schwach flatterten, als versuch sie, sich umzusehen. Nur Sekunden später war sie wieder ohnmächtig.

Nemaru fühlte sich bei diesem Anblick müde und ziellos. Das mochte zu einem großen Teil daran liegen, dass die Erschöpfung des Kampfes jetzt über ihn hereinbrach. Mit trostlos leiser Stimme erkundigte er sich danach, woher sie überhaupt gewusst hätten, was hier vor sich ging. Fast beleidigt fügte er noch hinzu: „Ihr habt uns doch nicht etwa verfolgt, oder?“

Man konnte nicht sagen, ob diese Beschuldigung Gai kränkte oder nicht. „Ein weiterer Schüler von mir lebt in diesem Wald, er war es, der Yue entdeckt und seine Absicht erkannt hat. Deshalb hat er uns eine Nachricht zukommen lassen.“

Mija runzelte misstrauisch die Stirn, während sie ihre Verbandsutensilien sortierte und wieder in ihrem Gepäck verstaute: „Wie konntet ihr dann so schnell da sein? Wie lange muss der Typ sich hier herumschleichen und uns und diesen Yue beobachten, um zu wissen…“

Gai schüttelte energisch den Kopf: „Versteht das nicht falsch! Es muss wirklich den Eindruck machen, als wärt ihr beschattet worden – ich meine, von mehr als einem. Aber das war nicht der Fall. Ich fürchte, es dauert zu lange, es zu erklären, aber…“
 

„Lasst mich es ihnen erklären, sobald wir bei mir sind, Meister.“

Ein junger Mann, etwa so alt wie Yue Enki, aber unscheinbarer, betrat die Lichtung jetzt. Er atmete etwas zu schnell, er war also hierher gelaufen, vielleicht, um notfalls in das Kampfgeschehen einzugreifen. Trotzdem gebärdete er sich ruhig und sehr nüchtern. Er war kräftig gebaut, mit kurzem, braunem Haar und in schlichten Kleidern. Ein weiteres auffälliges Merkmal war der konzentrierte, ernste Gesichtsausdruck, den er aufwies. Er nickte Gai nur zu und sagte: „Ich weiß, ihr wollt Meister Jiraiya hinterher. Ich kümmere mich selbstverständlich um Eure Freunde.“

Mija warf Nemaru einen verwirrten Blick zu, dieser wiederum zuckte ratlos die Achseln.

Gai erhob sich mit einem erleichtertem Seufzen: „Bitte vertraut ihm, er ist mir immer ein treuer Schüler gewesen… bis auf die Sache mit dem Anzug.“

Ein Lächeln überbrückte die Entfernung zwischen den beiden, als sie sich einander noch einmal zuwandten.

„Danke, Sensha. Ich schulde dir etwas.“, meinte Gai und verschwand dann eilig in den Wald, um Jiraiya zu folgen.

„Sensha?“, fragte Nemaru nur und hob die Augenbrauen.

Sensha

Der junge Mann namens Sensha [sensha = Panzer] schwieg verbissen, nachdem er Nemaru dazu angewiesen hatte, Senshu auf seinen Rücken zu heben. Den ganzen Weg über wagten Mija und Nemaru kaum, Fragen zu stellen, obwohl sie aufgeregt und besorgt waren. Gais Schüler legte eine dermaßen finstere Miene an den Tag, dass es wenig ratsam schien, ihn mit Fragen zu behelligen, die sich über kurz oder lang von selbst klären würden. Wie zum Beispiel, wohin er sie führte.

Senshu selbst hatte ihnen beigebracht, keine überflüssigen Fragen zu stellen. Derartige Lektionen kamen beiden jetzt in den Sinn, als sie neben dem Fremden hergingen.

Mija betrachtete Senshus herabbaumelnde Hand aus den Augenwinkeln und beobachtete gleichzeitig den unscheinbaren jungen Mann, der ihre Freundin ohne sichtliche Anzeichen von Erschöpfung trug, aber erstaunlich mürrisch wirkte – zumindest dafür, dass er vorhin noch so hilfsbereit erklärt hatte, ihnen helfen zu wollen.

Wieder mal so eine Situation, in der sie sich jemand völlig fremdem anvertrauen mussten – es machte sie unwillig, und obwohl sie nicht das Gefühl hatte, dass Sensha eine Bedrohung für sie darstellte, fiel es ihr schwer, ihm nach Gais Bitte zu vertrauen. Vielleicht war es nur sein ablehnendes Verhalten. Womöglich war er nicht absichtlich so... aber warum war er hier mitten im Wald? Hatte er sie beobachtet?

Eigentlich wäre es ihr egal gewesen, aber Mija suchte eine Erklärung für sein Verhalten. Und für diese Situation. Sie machte sich Sorgen.

Ihr fiel auf, dass sie selbst inzwischen mindestens genauso missmutig aussehen musste wie ihr Führer, und sie räusperte sich ein wenig. Nemaru warf ihr einen kurzen, zerknirschten Blick zu und starrte dann wieder den Weg vor sich an.

Mija sah nur zu deutlich, dass er nicht wagte, zu sprechen.

Bevor sich einer von ihnen beiden dazu durchringen konnte, etwas zu sagen, betraten sie eine in Relation zu ihrem Lagerplatz gigantische Lichtung. Allerdings eine, die sie inmitten dieses Waldes niemals erwartet hätten.

Der gesamte Platz war zu einem von Beet zu Beet säuberlich abgegrenzten Kräutergarten gemacht worden. Schmale Wege führten zwischen den einzelnen Abschnitten hindurch, und in der Mitte der Lichtung, wo das meiste Sonnenlicht einfallen konnte, befanden sich ein paar kleine Obst- und Gemüsesträucher. Im dunkelsten Winkel dagegen stand eine kleine, aber ebenso sorgsam angelegte Holzhütte, die stabil und gepflegt aussah.

Bevor er einen der schmalen Pfade betrat, wandte sich Sensha endlich an die beiden und brachte wacklig etwas wie ein Lächeln zustande – es wirkte beinahe entschuldigend, was Mija verwunderte.

„Bitte seid vorsichtig, die Erde ist noch ziemlich locker nach dem Umgraben. Das hier – äh – ist mein Garten.“

„Dachte ich mir fast.“, murmelte Nemaru, und nahm den vorwurfsvollen Blick von Mija kaum wahr, als er Sensha auf dem direktesten Weg zu der Hütte folgte.
 

Sensha bettete das bewusstlose Mädchen auf eine Pritsche, nachdem er dieselbe mit frischen, sauberen Tüchern bedeckt hatte.

Er bat Nemaru, vom Brunnen neben der Hütte Wasser zu holen und es im Kessel über dem Feuer zu erwärmen, das er nebenbei hastig schürte.

Dann krempelte er die Ärmel hoch, wusch sich gründlich die Hände, legte systematisch verschiedene Utensilien und Kräuter zurecht, die getrocknet in zahllosen Döschen neben der Kochstelle aufgereiht waren. Dabei sprach er kein Wort und wirkte konzentriert und überlegt.

Als er sich daran machte, Senshus Wunde zu reinigen, sah er Nemaru und Mija kurz an, die ratlos neben ihm standen. Ihre Anwesenheit schien ihn zu irritieren.

„Oh, äh... tut mir leid. Ich muss euch sehr... unhöflich vorkommen. Ich bin es nicht gewöhnt, Leute um mich zu haben, deshalb... äh... aber macht es euch ruhig bequem, bitte. Bitte. Nehmt euch zu trinken und zu essen, in meiner Vorratskammer ist reichlich... fühlt euch wie zu Hause. Ich säubere nur ihre Wunde und lege etwas auf, das das Gift herausziehen wird. Sie wird es gut überstehen.“

Mija sah Nemaru kurz an, zuckte dann mit den Schultern und kratzte sich am Hinterkopf. „Können wir dir irgendwie behilflich sein?“

Sensha schien ernsthaft über diese Frage nachzudenken, bevor er sagte: „Nein, äh... danke. Tut mir leid, ich glaube, ich kann das besser alleine. Wie gesagt...“

„Schon okay. Versteh’ schon.“, meinte Mija und nickte ihm zu. Sie fand es rührend, wie sehr er sich bemühte, nicht unhöflich zu sein, obwohl es ihn sichtlich unruhig machte, sie um sich zu haben.

Nemaru folgte Mija zögernd, als sie nach draußen ging, um sich das Blut ihrer Freundin von den Händen zu waschen.

„Sollen wir ihn wirklich mit ihr allein lassen...?“

„Na hör mal, was denkst du denn von ihm?“, lachte Mija. „Er scheint nicht sehr erfahren im Umgang mit anderen... keine Sorge, ich geh’ gleich wieder rein. Willst du dir nicht etwas zu essen holen?“

„N-nnn.“ Er schüttelte den Kopf, als hätte sie etwas vollkommen abwegiges gesagt.
 

Nemaru sah dabei zu, als Sensha die Wunde ihrer Kameradin nähte und anschließend mit einem dunklen Kräutersud bestrich. Der junge Mann verzichtete darauf, einen Verband auf die Wunde zu legen.

Statt dessen versorgte er Mija und Nemaru mit einer stärkenden Mahlzeit und zwei bequemen Lagern auf duftendem Heu, damit auch sie beide sich von dem Kampf erholen konnten.

Der Auftrag in Somon

Senshus Fieber sank nur langsam, und während ihre Freunde auf ihr Erwachen warteten, vergingen einige Tage. In dieser Zeit erfuhren sie durch aufmerksame Beobachtungen mehr über Gais Schüler.

Senshas Gesicht war ruhig gewesen, als er die Heubetten bereitete, es war eifrig, wenn er kochte, beinahe liebevoll, während er mit Kräutern hantierte oder den Vögeln auf der Lichtung zusah, bitter und konzentriert, wenn er eine Wunde versorgte. Kurz, er zeigte seine Empfindungen meist deutlich, da er es in der Einsamkeit seiner Hütte nie nötig hatte, eine schützende Fassade aufrecht zu halten.

Umso erfreulicher war die ehrliche Freundlichkeit, die in seinem Gesicht leuchtete, wenn er sich einem seiner Gäste zuwandte, um sich zu unterhalten.

Grund für sein Einsiedlerdasein waren keinesfalls Ungeselligkeit oder misanthropische Veranlagung. Im Gegenteil. Er schien sich gerne mit Mija und Nemaru zu unterhalten. Er sprach manchmal sogar mit der bewusstlosen Senshu, während er ihre Wunde reinigte oder ihr Kräutertränke einflößte.

Aber er suchte auch oft Abstand zu seinen Gästen, indem er in den Wald verschwand, um – wie er sagte – Kräuter zu holen, die er allerdings noch vorrätig hatte.

Der Grund dafür leuchtete Mija bald ein – noch bevor er ihnen von selbst erklärte, warum er allein im Wald lebte.

Er besaß eine häufig auftretende Fähigkeit in selten vorkommender Ausgeprägtheit.

Fast alle Menschen sind in der Lage, Gedanken und Gefühle ihres Gegenübers teilweise zu erfühlen. Ein Ninja versteht es, diese meist kaum bemerkte Fähigkeit zu trainieren und so in anderen Menschen zu lesen.

Bei Sensha war diese Gabe so stark, dass kaum ein Mensch für ihn undurchschaubar war. Ob er wollte oder nicht.

Seit seiner Kindheit hatte man ihn daher gelehrt, seine Begabung richtig und respektvoll einzusetzen. Wichtigster Aspekt dabei war, sich selbst nicht in Gedanken, Gefühlen und emotionalen Mustern anderer zu verlieren.

Sein Lehrer musste jemand mit sehr ausgeglichenem Wesen sein, jemand, dessen Psyche die seine nicht zu beeinflussen trachtete. Glücklicherweise fand sein Clan einen solchen Lehrer, eine uralte Großmeisterin, die ihn schließlich in der Einsamkeit eines Berges lehrte, was zur Erhaltung seines Selbst notwendig war, bevor er es wagen konnte, wieder mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, ohne dabei nach kürzester Zeit den Verstand zu verlieren.

Jetzt lebte er hier im Wald und belieferte die umliegenden Dörfer mit Gemüse, Obst und Kräutern. Er genoss es, von Frühjahr bis Herbst alle paar Tage mit seiner Ernte in die Ortschaften zu kommen und dort mit den Händlern zu plaudern. Man kannte ihn und er hatte ein paar gute Freunde, die ihn häufig besuchten. Man wusste um seine Fähigkeit und hielt ihn daher nicht für einen Sonderling. Überdies stand er in regem Kontakt zu seinem Clan, der fast ausschließlich aus Kriegern bestand.

Auch er war ein Ninja, und wahrscheinlich einer von Rang, denn immerhin war er Gais Schüler gewesen. Und tatsächlich, er berichtete Mija auf ihre Frage hin, dass er sehr wohl auch als Ninja arbeitete, allerdings als einer der wenigen mit einer Art „Dauerauftrag“. Er war zuständig für die Dorfschaften im Umkreis. Wenn es Ärger gab, war er im Auftrag der allgemeinen Sicherheit zur Stelle. Die Gemeinde der Dörfer legte zusammen, um seine Dienste zu bezahlen, und der Erlös ging an den Hokage. Neben seinem Sold blieb also zusätzlich das Geld für Kräuter und Früchte.
 

Eines Morgens fanden Mija und Nemaru Sensha am Krankenbett ihrer Freundin. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt.

„Was ist los?“, fragte Nemaru besorgt. „Stimmt etwas nicht?“

„Na ja...“ Sensha rieb sich die Stirn. „Nicht so schlimm. Nur habe ich einen Auftrag, aber das könnte länger als einen Tag dauern, und ich lasse das Mädchen ungern allein zurück...“

Mija sagte ausdruckslos: „Wir sind doch da.“

Der junge Mann lächelte entschuldigend: „So war es nicht gemeint. Wir haben miteinander... gesprochen – ohne Worte, aber... versteht ihr? Eure Gegenwart hilft ihr beim Gesundwerden, aber die Kräuter kann nur ich zubereiten, und...“

Mija runzelte die Stirn und Sensha errötete, da sie ihn ertappt hatte. „Es ist mir unangenehm, euch zu bitten, aber der Vorschlag kam von ihr... sie meint, als Bezahlung für die Unterkunft sollt ihr meinen Auftrag erfüllen. Ich würde euch nicht bitten, ich will keinen Lohn. Sie meinte, sie will es so, und ihr würdet...“

Mija verschränkte lächelnd die Arme: „Selbstverständlich. Wir warten schließlich nur auf eine Gelegenheit, dir zu danken. Außerdem wäre es unhöflich, von dir zu erwarten, dass du drei Fremde allein in deinem Haus zurücklässt.“

Nemaru legte sich ins Zeug: „Klar! Sag nur, was für ein Auftrag das ist, ist schon so gut wie erledigt. Mann, jetzt kommandiert sie uns sogar rum, wenn sie außer Gefecht ist...“

Im allgemeinen Gelächter trat Mija an das Tischchen heran, das neben dem Kopfende des Bettes stand. Eine kleine, offene Kapsel mit einem Papierstreifen lag daneben. Eine Brieftaube musste sie gebracht haben.

„Darf ich?“

Sensha nickte.

Mija ergriff das Papier und las: „Wandernder Ninja hat unsere Dorfkneipe demoliert, Name Kotaru Juon, ein Einäugiger. Auf dem Weg nach Somon.“ Sie legte den Streifen beiseite. „Und was ist die Vorgehensweise in diesem Fall?“

„Wenn möglich, ihn dazu zu bringen, den Schaden zu ersetzen, wenn nicht, ihn vertreiben.“

„So, dass er nicht wiederkommt, nehm’ ich an!“, meinte Nemaru und schlug mit der Faust in seine linke Handfläche.

Dead man walking

Nur kurz darauf waren Mija und Nemaru zu zweit auf dem Weg nach Somon. Nemaru war sichtlich aufgeregt und Mija fragte: „Was ist los? Freust du dich so darauf, diesen Typen zu vermöbeln?“

„JA! Ich meine – vielleicht. Irgendwie bin ich total kirre!“

Er lachte und meinte weiter: „Es ist wie das erste Mal, als mein Erzieher im Waisenhaus mich alleine einkaufen geschickt hat... blöder Vergleich, aber...“

Mija nickte. Natürlich fühlte er sich freier ohne den beständigen Blick seiner – denn das war sie immerhin – Lehrerin im Nacken. Auch wenn diese das vielleicht nicht gerne gehört hätte.

„Wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Wenn Yue Enki zurückkommt...“

Allein seinen Namen auszusprechen, ließ Mijas Herz schneller schlagen. Sie hatte das Gefühl, ihm sehr bald wieder zu begegnen. Und obwohl sie Angst davor hatte und unnötigen Bedrohungen lieber aus dem Weg ging, konnte sie es kaum erwarten.

Nemaru pfiff unbeeindruckt durch die Zähne. „Soll ruhig kommen. Außerdem ist der jetzt gerade mit diesem Jiraiya-Typen beschäftigt. Schrullige Gestalt.“

„Kann man wohl sagen.“
 

Während die beiden das Dörfchen Somon erreichten und begannen, sich unter den Einwohnern umzuhören, legte sich Senshus Fieber fast vollständig und sie kam wieder zu sich.

Sensha berichtete ihr alles, was bisher vorgefallen war – eine auf Gefühlen und unbewussten Weisungen basierende Kommunikation ersetzte ein organisatorisches Gespräch schließlich nur schlecht.

Senshu beschloss, da sie sich schon kräftig genug fühlte, den beiden auf der Stelle zu folgen.

„Somon liegt auf unserem Weg, also sollen die zwei die Sache mit diesem Landstreicher erledigen, und danach können wir gleich weiter nach Hakke Mizu.“

Ihr Gastgeber hatte ernste Bedenken: „Du solltest dich wirklich noch ein wenig ausruhen...“

„Na mach ich doch. So ne gemächliche Wanderung durch den Wald ist sehr entspannend. Und wie gesagt, um Kotaru Juon sollen sich meine Freunde kümmern.“

Sensha wiederum hielt das für keine besonders gute Idee, entschied sich also dazu, sie zumindest bis zu ihren Freunden zu begleiten.
 

Nemaru und Mija hatten schnell herausgefunden, wo Juon sich aufhalten musste und folgten ihm im Laufschritt. Nur wenig später hatten sie ihn eingeholt.

In einer Baumkrone sitzend unterhielten sie sich über ihre weitere Vorgehensweise.

„Sieht ja wenig beeindruckend aus...“, stellte Nemaru beinahe enttäuscht fest.

„Umso besser für uns.“, meinte Mija dazu.

Seufzend ließ sie sich vom Baum fallen und ging dann auf den Mann zu, der sie scheinbar erst hörte, als sie wenige Schritte von ihm entfernt stehen blieb und seinen Namen sagte.

„So was nennt sich Ninja, echt...“, moserte Nemaru hinter ihr.

„Kotaru Juon, bleiben Sie stehen. Die Dorfgemeinde von Somon fordert Sie durch uns auf, den durch Sie entstandenen Schaden an öffentlichem Eigentum zu tilgen.“, ließ Mija ihren Text los.
 

Kotaru Juon hingegen reagierte nicht entsprechend.
 

Als er die Stimmen hinter sich vernahm, wandte er sich träge um. Das eine verbliebene Auge starrte trübe in ihre Richtung, und es war schwer zu sagen, ob es sie überhaupt wahrnehmen konnte.

Das andere lag hinter einer schmierigen, ledernen Klappe, die wiederum von schmutzigem, verfilztem Haar verdeckt war. Seine Kleider waren dermaßen beschmutzt, dass sich kaum sagen ließ, welche Farbe sie einmal besessen hatten.

„Oy.“ Nemaru schluckte angewidert, als ein Windstoß den Pesthauch, der von dem Mann ausging, zu ihnen wehte.

Mija stockte der Atem, als Kotaru Juon die Arme hob und bei dem Versuch, sich umzuwenden, über seine eigenen Beine stürzte.

„WAH! Nemaru, auf nen Baum! Der Typ ist ein Untoter!“

„WAS?!“

Die beiden kletterten hastig auf einen Baum und klammerten sich oben angekommen panisch aneinander. Die Eile war unbegründet, da Juon gerade erst wieder auf die Beine kam und langsam in ihre Richtung tappte. Doch dabei bot er einen dermaßen widerwärtigen Anblick und stieß so grauenerweckende Laute aus, dass die zwei Freunde vor Grauen erbebten.

„Scheiße, bin ich froh, dass es Tag ist...“, murmelte Mija, die von einem Schauder des Ekels nach dem anderen geschüttelt wurde.

Nemaru war totenblass geworden, jedoch nicht aus Angst, wie Mija zuerst vermutete. Als er sich zur Seite wandte und unterdrückt würgte, verstand sie die Gründe schon eher. Ihr war ganz ähnlich zumute.



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Von: abgemeldet
2007-02-01T22:14:09+00:00 01.02.2007 23:14
:-).


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