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Aícanar

von

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Die Entscheidung des Königs

Sonnenlicht ließ die vor dem Fenster schwebenden Staubkörnchen golden aufglühen, wann immer es sie berührte. Ruhig wartend sah Tarion zu wie sie vom Licht in den Schatten trieben – oder umgekehrt – nur um sich schließlich auf einem der unzähligen Bücher der Bibliothek niederzulassen. Bücher deren Inhalt der Gelehrte so gut kannte wie das verwirrende Labyrinth der Bücherregale. Doch was er seinem Schüler heute erzählen würde, war niemals Papier oder gar Stein anvertraut worden. Stets war es innerhalb einer kleinen Gruppe Eingeweihter weitergegeben worden.

Mit einem unglücklichen Kopfschütteln berichtigte der Gelehrte sich selbst: Anfangs wusste es Elb. Bis wir vorzogen es zu vergessen.

Tarion wandte den Blick der honigfarbenen, katzenhaft geschlitzten Augen vom Fenster ab, als er das leise Klicken von Krallen auf Stein hörte. Keine zehn Meter von Tarion entfernt bog ein riesiger, rauchgrauer Wolf schlitternd um eines der Regale. Kaum langsamer, dafür aber vollkommen geräuschlos folgte ihm Tarions Schüler.

„Vergebt mir meine Verspätung, Meister der Lehre“, meinte dieser und setzte sich.

„Natürlich, Prinz Shymaro“, erwiderte Tarion und nahm ebenfalls wieder platz; er hatte sich erhoben um dem Sohn des Königs den ihm gebührenden Respekt zu zollen.

Fragend blickte der junge Prinz auf den leeren Tisch zwischen ihnen. „Wie Ihr seht, Prinz Shymaro, werdet Ihr heute nichts lesen müssen“, begann der Gelehrte mit einem halben Lächeln auf den Lippen „auch will ich Euch nicht nach bereits Gelerntem fragen.

Ich bitte Euch lediglich mir bis zum Ende schweigend zuzuhören und die Wahrheit meiner Worte nicht anzuzweifeln. Akzeptiert sie, auch wenn es Euch sicherlich schwer fallen wird.“

Daran wie Shymaro nach kurzem Zögern nickte, erkannte sein Lehrer, dass er begriffen hatte dass es um etwas Schwerwiegendes ging.

„Bevor jemand da war es zu sehen“, eröffnete der Gelehrte die schwierigste Lektion des jungen Prinzen „erstrahlte am Himmel über unserer noch unfertigen Welt ein Licht. Immer heller wurde es, bis es alle Sterne des Himmels überstrahlte – und es kam näher, wuchs vom entfernten Lichtpunkt zum blendenden Glanz in dem sich langsam fünfzehn Gestalten abzuzeichnen begannen. Schwingen, groß genug diesen Palast zu umschlingen, trugen die Drachen nach Esteldor. Damals war die Welt ein Ort aus Rauch, Fels und Feuer. Ebenso mächtig wie die Gewalten, welche unter ihnen die Welt formten, flogen die Drachen dahin, jeder auf dem Weg in seine zukünftige Heimstatt.

In Zeiträumen, die selbst unser Volk als lang bezeichnet hätte, begann die Welt zu erkalten und das erste Leben erhob sich aus den schlammigen Tümpeln in denen es geschlummert hatte.

Doch die Drachen zogen sich zurück – es war die Berührung ihrer Macht, die das Leben geweckt und das Feuer zurückgedrängt hatte, von nun an jedoch brauchte die Welt ihren schöpferischen Eingriff nicht mehr. Sieben Drachen folgten dem feurigen Element welches dass ihre war tief hinab in den Stein und auch die anderen acht suchten sich ihrer Veranlagung entsprechend neue Heime; vier zogen sich auf die höchsten Gipfel zurück, drei verschwanden in den Weiten der Ozeane und der Letzte ließ sich in einem Wald nieder, der längst ebenso Geschichte ist wie sein Bewohner.

In ihren fünfzehn kleinen Reichen weit voneinander entfernt, und doch in Geiste vereint, begannen sie das Werk, welches sie in die Verbannung getrieben hatte; sie erschufen eigene Wesen. Wesen ohne Körper, aber mit wachem Geist, dazu bestimmt das Leben außerhalb der fünfzehn Reiche zu überwachen und mit einem kleinen Teil der Macht der Drachen ausgestattet. Bestand eine Gefahr für das Land oder dessen Bewohner sollten diese Wächter stellvertretend für die Drachen einschreiten, denen es weder möglich noch erlaubt war das Leben außerhalb ihrer eigenen Reiche zu berühren, zu beeinflussen oder zu verändern.

Neben all den Tieren der Luft, des Landes oder Wasser, gehörten auch die Menschen zu denen in Blick der Wächter. Sie waren noch kaum mehr als die Tiere, die sie jagten, und doch waren sie anders. Und dadurch weckten sie das Interesse der Drachenwächter.

Während die Menschen anfingen erst Dörfer zu bauen, wuchs das Interesse der Wächter an den Menschen die –unter anderem – sie zu bewachen hatten. Unter den wachsamen, augenlosen Blicken der Drachenwächter wurden aus einfachen Lehmhütten wuchtige Steinbauten. Aus einzelnen, verstreuten Dörfern wurden Städte. Mauern wurden um jene Städte hochgezogen und die Häuser verloren allmählich ihre schlichte Funktionalität.

Jahrtausende existierten die Wächter schon als Geister, waren Teil der Welt wie jedes andere Lebewesen auch, nur das ihre Verbindung zum Land tiefer war, ihre körperlosen Sinne schärfer. Ihr von Gefühlen ungetrübter Verstand erkannte – im Gegensatz zu den Tieren aus Wald und Flur oder auch den Menschen – all die Gesetzte und Regeln der Welt, verstand die Existenz und Handlungsweise eines jeden.

Allein die Menschen entzogen sich diesem Verständnis.

Sie folgten ihren, für die Drachenwächter unverständlichen Gefühlen, anstatt den Gesetzen der Notwendigkeit. Angst trieb die Menschen dazu Mauern um ihre Städte zu errichten und die Natur auszusperren. Durch den Hass – der nicht selten der Liebe oder Habgier entsprang, zwei Gefühlen, die die Menschen oft verwechseln – flammten die ersten und bereits nutzlosen Kriege unter den Menschen auf . . .“

„Verzeiht, Meister, aber was war damals mit unserem Volk?“ unterbrach Shymaro seinen Lehrer.

„Hört nur weiter zu und Ihr werdet es erfahren“, sagte Tarion.

„Wie Ihr wünscht.“

„Auch das Verhalten eines Menschen einem anderen gegenüber beruhte nicht auf den Gesetzmäßigkeiten, welche die Wächter jahrtausendelang unter Tieren hatten beobachten können.

Fasziniert vom fremdartigen Gebaren der Menschen, beobachteten die Wächter sie immer intensiver. Viele ließen nun ihr Bewusstsein durch steinerne Bauten und staubige Gassen schweifen, anstatt durch die Stille alter Wälder oder tiefer Seen.

Ohne es selbst zu bemerken, übernahmen sie langsam die Gefühle der Menschen. Die Drachenwächter hörten auf sich als Gemeinschaft zu empfinden, sie entwickelten sich zu Individuen, deren einziger Kontakt zu den anderen sich auf immer flüchtiger werdende Berührungen beschränkte. Nun war jeder von ihnen allein, unfähig sich den anderen Wächtern mitzuteilen und auch kein Teil der Welt mehr, wie sie es immer gewesen waren. Wie sie es auch sein mussten um über die Welt zu wachen. Plötzlich hatten sie dieselbe Position inne wie alle anderen Bewohner der Erde – nur mit dem entscheidenden Unterschied dass sie körperlose Wesen waren.

Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Existenz waren die Drachenwächter unzufrieden.

Die Wächter trauerten um ihre verloren gegangene Zugehörigkeit zu denen ihrer Art und zur Welt, sie sehnten sich danach einen Weg zueinander zu finden. Ja, es verlangte sie danach. Einige waren wütend, sowohl auf das eigene selbst als auch auf die neuen Gefühle – beides hatten sie durch die Annäherung an die Menschen erhalten – die sie in diese Lage gebracht hatten. Gleichzeitig jedoch genossen die die Flut der Gefühle, welche für sie eine eigene noch fremde Welt darstellte die es zu erkunden galt.

So aufregend die neuen Erfahrungen auch waren, die Unzufriedenheit blieb. Ein jeder von ihnen litt unter der allzu flüchtigen Gegenwart der anderen, der Unfähigkeit sich mitzuteilen.

Einer der Drachenwächter schlüpfte als erster in die Haut eines Tieres. Er verband sich mit einem weißen Hirsch, in der Hoffnung die anderen mögen ihm folgen und so wieder eine Gemeinschaft bilden, sei es auch nur ein Rudel von Rehen. Allerdings fand dieses – nun ich würde es als Experiment bezeichnen – ein jähes Ende. Der Hirsch wurde von einem Wolfsrudel gerissen und der Geist des Wächters verlor seinen Körper wieder.“

„Bedeutet das, dass er starb?“ wagte Prinz Shymaro eine Zwischenfrage.

Tarion schüttelte nur milde den Kopf. „Nein, er starb nicht. Ebenso wenig ließ er sich vom Tod des geliehenen Körpers entmutigen. Es ließ ihn lediglich seinen Plan ändern.

Mit der Macht, die ihm die Drachen verliehen hatten, begann der Wächter sich einen eigenen Körper zu schaffen. Ein festes Heim für seinen ruhelosen Geist, ein Körper in dem sein Geist der einzige wäre und mit dem er sterben würde, wenn seine Stunde schlagen würde.

Die Gefühle der Menschen waren es, die die Wächter einander entfremdet hatten; also sollte ein Körper, ähnlich dem der Menschen, sie wieder zu einander bringen. Natürlich müssten ihm die anderen Drachenwächter dafür in einen Körper folgen, doch er war sich sicher sie würden es tun, hätte er dieses Mal Erfolg.

An einem Waldsee, in der Nähe eines der fünfzehn Reiche, nahm der Körper aus dem silbrigen Glanz der gebündelten Macht des Wächters heraus Gestalt an. Tatsächlich ähnelte er einem menschlichen Körper. Doch die Gliedmaßen waren schlanker, anmutig und voller verborgener Kraft. Die Gesichtszüge waren von einer kalten Schönheit, mit hohen Wangenknochen, mandelförmigen Augen und einem schmalen Mund. Die nach oben gespitzten, teils von silberweißem Haar verhangenen Ohren erinnerten an die eines wachsamen Raubtiers.

Mit einer gewissen Wehmut fuhr der Wächter in den Körper, ließ sein bisheriges Leben für immer zurück. Langsam machte er sich mit seiner Schöpfung vertraut. Zum ersten Mal spürte er die federleichte Berührung des windbewegten Grases auf seiner hellen nackten Haut, die körnige Kühle des Erdreichs unter sich, den sanften Atem des Windes in seinem Haar und den Schlag seines eigenen Herzens. Vorsichtig tat er seinen ersten Atemzug und öffnete die bernsteinfarbenen Augen in Licht eines zunehmenden Mondes.

So erblickte der erste Elb das Licht der Welt.“

Tarion verstummte und griff nach seinem Becher. Während er ein paar Schlucke trank, beobachtete er seinen Schüler. Dieser starrte sprachlos vor Wut zurück, was bedeutete dass er verstanden hatte. Dennoch fügte der Gelehrte noch hinzu: „So begann es. Allerdings sollte es noch eine lange Zeit dauern bis wir zu dem Volk wurden das wir heute sind, beziehungsweise zu den beiden Völkern die wir heute sind.“

Immer noch blickte Shymaro entsetzt und zornig zu seinem Lehrer. Schließlich sprang er auf, mit einem Gesicht so bleich wie Marmor. Seine schlanken Hände krallten sich fest um die Tischkante. „Niemals!“, fauchte er gepresst. „Ich soll Euch glauben, dass mein Volk, unser Volk, aus einigen törichten Zufällen und der Sehnsucht nach dem Menschlichen entstanden ist!? Niemals!“ Außer sich vor Zorn wirbelte Shymaro herum und rannte davon. Sein verwirrt knurrender Wolf folgte ihm.

„Denkt darüber nach junger Prinz, akzeptiert es und auch Ihr werdet es verstehen“, flüsterte der Gelehrte den von Shymaros Abgang noch immer wild bewegten Staubkörnchen zu. „Ihr werdet es verstehen.“

Krieg und Leben

Er senkte den Bogen und schob den bereits auf der Sehne liegenden Pfeil in den Köcher an seinem Sattel zurück; ein zweiter Pfeil war nicht mehr nötig. Seine Beute war ohnehin schon an Ende, er musste sie nicht mehr zu fall bringen, sie strauchelte schon.

Shymaro zügelte seinen Hengst, ließ ihn im gemächlichen Schritt der keuchenden Beute folgen. Natürlich hätte er sie auch jetzt schon stellen können, aber er sah keinen Grund warum er etwas so vergnügliches wie diese Jagd hätte abkürzen sollen.

Gnade?

Sie war weder seiner geschändeten Mutter noch seinem gefolterten Vater zu teil geworden. In Leid, Blut und Verzweiflung hatten die Elben ihr einstiges Königspaar verloren, Leid, Blut und Verzweiflung brachte nun ihr Sohn unter die Mörder seiner Eltern. Shymaro hatte den Krieg entfesselt und die Menschen an die Grenzen seines sich immer weiter ausbreitenden Reiches verbannt. Betrat ein Mensch das Land der Elben verwirkte er damit sein Leben.

Ein spitzer Schrei brachte Shymaro in die Gegenwart zurück. Die Geräusche der hastigen, ungeschickten Flucht waren verstummt, nur das Rauschen des Baches auf den die Beute des Elben zugehalten hatte war noch zu hören. Gleich darauf erkannte der neue Elbenherrscher warum es still geworden war. Der schnelle Bach hatte sein Bett tief in den weichen Waldboden gegraben und steile, hohe Uferböschungen geschaffen. Auf der jenseitigen lag Shymaros Beute und klammerte sich in dem verzweifelten Versuch nicht wieder herunter zu rutschen an einer Weidenwurzel fest. Leise wimmernd hing die junge Sterbliche dort.

Geschmeidig glitt der Elb aus dem Sattel – eine unauffällige Geste wies den Hegst zu warten an – und sprang die Böschung hinunter. Ein paar Steine brachten ihn trockenen Fußes über den Bach. Grinsend hörte er wie das Wimmern lauter wurde, als das sterbliche Mädchen versuchte sich doch noch die Böschung hinauf zu ziehen. Sich über so viel Torheit wundernd, sah Shymaro zu wie die Sterbliche in der losen Erde des Ufers nach einem Halt scharrte. Warum, fragte er sich, kann dieses armselige Geschöpf nicht erkennen dass es verloren hat? War es schon zuviel verlangt, dass sie sich ihrem Schicksal stellen sollte?

Bald hatte Shymaro genug. Er trat hinter seine Beute, ergriff den Saum ihres Brockatkleides und riss sie mit einem scharfen Ruck die Böschung wieder hinunter. Ein schriller Schrei der Sterblichen zerstörte die Stille des Waldes, als sie zu Füßen des Elben aufschlug. Der Pfeil in ihrer Schulter erzitterte.

Mit einer langsamen, wie aus einem Ritual stammenden Bewegung zog Shymaro seinen Dolch; zischend wie eine erboste Katze kam dieser aus der Scheide. „Du glaubst wohl dass ich dich jetzt töten werde?“ meinte Shymaro halb fragend.

Trotz ihrer Erschöpfung und der offenkundigen Schmerzen blickte das sterbliche Mädchen überrascht auf, als es den Elb in ihrer Sprache reden hörte. Halb auf der Seite liegend starrte sie zu Shymaro auf. In dem Versuch etwas zu erwidern arbeitete ihr Mund, heraus kam jedoch nur ihr keuchender Atem, der die blonden Strähnen, welche der Sterblichen wirr ins Gesicht hingen, in seinem Rhythmus flattern ließ. Mit dem rechten Fuß drückte Shymaro seine Beute wieder auf den Boden und kniete sich neben sie, den Fuß noch immer auf ihrem Rücken. Lässig ließ er seinen Dolch auf ihren Nacken sinken, sorgte dafür dass sie die kalte Schärfe der Waffe spürte. Das vom Laufen gerötete Gesicht der Sterblichen verlor schlagartig alle Farbe. Weit riss sie die blauen Augen auf, blieb aber stumm.

„Es wäre wahrlich nicht schade um dich; wie es um keinen deiner einfältigen Art schade ist. Doch du wirst an Leben bleiben.“ Während dieser Worte zerschnitt der Elbenherrscher den feinen Stoff des Kleides bis er den Schaft seines Pfeils freigelegt hatte. „Oder besser gesagt: Ich werde dich nicht töten“, fügte Shymaro amüsiert hinzu und packte den Pfeilschaft. Schon das ließ das Mädchen vor Schmerz zusammenzucken. Dann begann er den Pfeil langsam herauszuziehen. Als die erste Schmerzwelle ihren Körper durchfuhr, versuchte die Sterbliche sich aufzubäumen, vergeblich wand sie sich unter Shymaros Knie, das sie erbarmungslos am Boden hielt, während seine Hand stetig am Schaft des Pfeils zog. Bald schon verwandelte sich das wütende Aufbäumen in ein krampfhaftes Zittern, die schmerzerfüllten Schreie der Sterblichen wurden schnell immer heiserer. Sie verlor das Bewusstsein noch ehe der Pfeil halb herausgezogen war. Enttäuscht nahm Shymaro das zur Kenntnis.

Seines – wie er sehr wohl wusste – grausamen Spaßes beraubt, setzte der Elb seine Arbeit nun schneller fort. Er zog den Pfeil aus der Schulter des Mädchens und verband diese mit Streifen des vom Unterholz zerrissenen Kleides. Nur weil sie tot seinen Plänen nicht dienlich wäre schaffte er es sich dazu zu überwinden ihre Wunde zu versorgen.

Anschließend schwang er sich den erschlafften Körper der jungen Sterblichen über die Schulter. Trotz ihres zusätzlichen Gewichts überquerte er den Bach eben so leichtfüßig wie auf dem Hinweg. Unsanft zog Shymaro sie die Uferböschung hinauf und warf sie seinem Hegst einem Gepäckstück gleich über den Rücken.

Er schwang sich hinter seiner Beute hinauf, flüsterte ein Wort und der Hegst sprengte vorwärts, von Shymaro nach Südosten gelenkt.

Obwohl, oder gerade weil, er die Sterblichen hasste – und das nicht nur Tarions Lehren wegen – wusste Shymaro einiges über sie. Daher wusste er auch um den Wert der Beute die er da bewusstlos vor sich quer über dem Sattel liegen hatte. Nicht nur dass ihr Kleid in den Farben des herzoglichen Banners gehalten war, auch das Blau ihrer Augen und die rotblonden Flechten ihres Haares kündeten von ihrer Zugehörigkeit zur Familie des Herzogs Godhwar, des offiziellen Herrschers über das Gebiet zwischen dem Ozean und den Schluchten von Rhun. Und zudem einem erklärten Feindes der Elben.

Er mag sich zwar als Herrscher bezeichnen, doch erkennt ihn keiner als solchen an, dachte Shymaro. Natürlich hatte ein Sterblicher keinen Einfluss auf das Volk der Elben, doch auch die Menschen, die in der Verbannung der Rhun-Schluchten lebten, scherten sich nicht um den Herzog oder dessen Anweisungen. Seit nunmehr sechzig Jahren lebten sie als Verbannte. Die ungerechte Herrschaft des Vaters des jetzigen Herzogs hatte sie vertrieben und sowohl die Alten, als auch die im der Exil geborenen Kinder waren nicht bereit sich nun der Herrschaft von dessen Sohn zu unterwerfen, der zwar schwächer, aber eben so grausam war wie sein Vater. So lebten bereits die Enkel derer die einst hierher geflohen waren in den unwegsamen Canyons versteckt. Shymaros Vater, König Astajon, war mit dem Aufenthalt der Verbannten am Rande seines Reiches einverstanden gewesen, schließlich stellten die mühsam ums eigene Überleben Kämpfenden für sein Volk keinerlei Bedrohung dar. Sodass diese nur den Herzog fürchten mussten, welcher allerdings bisher keine Streitmacht in solch schwieriges Gelände zu entsenden gewagt hatte.

Wenn sie allerdings seine Tochter entführt und deren Wachen und Dienerin getötet haben, wird der Herzog sich ihrer annehmen müssen. Auf diese Art und Weise hoffte der junge König sich der Sterblichen in seinem Reich entledigen zu können, ohne das Versprechen seines Vaters brechen zu müssen. Welch eine Ironie, dass ich mich auf die Intelligenz der Menschen verlassen muss um sie loszuwerden. Nun zumindest auf die Intelligenz des Herzogs, der seine Tochter bei den Verbannten vermuten sollte, oder auf die Dummheit der im Exil Lebenden, die die Herzogstochter als Geisel ausgeben könnten. Es sei denn ich finde eine Möglichkeit den Herzog irgendwie zu benachrichtigen . . . Er blickte hinab auf die Schlammspuren im Gesicht des Mädchens, die zahllosen Kratzer an Armen und Beinen, sowie das zerrissene Kleid und ihn beschlichen Zweifel ob die Verbannten erkennen würden wen man ihnen da gebracht hatte.

Ein Prasseln wie von einem kleinen Buschfeuer weckte Shymaros Aufmerksamkeit. Inuki, sein wölfischer Gefährte brach sich seine Bahn durch das Unterholz. Mit einem leichtfüßigen Sprung landete er genau auf dem Weg von Shymaros Hengst, vor dem er sich kampflustig knurrend aufbaute. Nur um sich gleich darauf zu ducken, um nicht von den Hufen des über ihn hinweg springenden Pferdes getroffen zu werden.

„Da bist du ja wieder, mein Freund“, begrüßte Shymaro den Wolf lachend. „Wenn du mich begleiten willst, musst du schnell und heimlich sein, Inuki.“

Einen Moment lang musterte der Wolf Shymaro mit seinen ernsten grünen Augen, dann wandte er sich nach Süden, knurrte den Hengst fordernd an und lief, gefolgt von dem Pferd, dessen Reiter und der schweigenden Last, los.

Shymaro hatte ihm vermittelt wohin er zu gelangen suchte und ließ sich nun führen. Auf den unsichtbaren Pfaden des Wildes und seiner Jäger ging es zwischen uralten, flechtenbehangenen Bäumen hindurch, an sonderbaren Felsformationen vorbei – welche man nur in diesem einen südlichen Zipfel des Waldes fand – zu den Ufern des Velduin. Dieser tiefe, reißende Strom bahnte sich seinen verschlungenen Weg nach Süden unter anderem durch die Rhun-Schluchten. Inuki und Shymaro folgten dem Lauf des Velduin, während die ersten Schatten der Nacht sich losrissen und das schwindende Tageslicht verschluckten. Gleichmäßig erklangen die Hufschläge auf dem zunehmend steiniger werdenden Boden. Vereinzelt drangen Strahlen der Abendsonne durch das Geäst der Bäume, vergoldeten auf was sie trafen, wurden rötlicher, dann schwächer, bis sie schließlich ganz erloschen und einer Weile vom milchigen Silberschimmer der Sterne ersetzt wurden. Nach einer Weile gesellte sich auch der stärkere Schein des Mondes hinzu. Die Meilen schmolzen unter dem ausgreifenden Galopp des Pferdes dahin, während der Mond den Zenit überschritt, wieder zu sinken begann und sein Licht und das der Sterne mit sich nahm.

Shymaro, der seine Beute mittels eines in Kräuteröl getränkten Tuches bewusstlos hielt, ließ seinen Hegst weiter galoppieren; das Blätterdach des lichten Südwaldes behinderte das Sternenlicht auf seinem Weg zu den Flussufern kaum, sodass keine Gefahr für den Hegst, oder dessen Reiter, bestand eventuelle Gefahren zu übersehen.

So schnell sie auch vorankamen, es wurde doch Morgen ehe sie ihr Ziel erreichten. Shymaro ließ seinen Hegst eine Meile vor dem Dorf der Verbannten zurück. Mit Inuki an seiner Seite und der Sterblichen über der Schulter, schlich er sich durch eine Welt aus Stille und Morgennebel. Langsam schälten sich die roh gezimmerten Hütten des Dorfes aus dem Nebel. Wären nicht die vereinzelten Rauchfahnen gewesen, nur um einen Ton dunkler als der allgegenwärtige Flussnebel, man hätte das Dorf für verlassen halten können. Das Blöken einiger Schafe, welche der Geruch des sich nähernden Wolfes erschreckte, war ein weiteres Lebenszeichen.

Bevor Shymaro ihn davon abhalten konnte schoss Inuki davon – in dieselbe Richtung aus der das Blöken der Schafe erklungen war.

Auf der anderen, etwa zweihundert Meter entfernten Seite des Dorfes erklang schon bald darauf das wütende Kläffen der Hunde und die ersten Schrei der Menschen, die sich daran machten den Wolf zu vertreiben. Währenddessen schlich sich der Elb mit seiner stummen Last an den Außenrand des Dorfes. Zwischen zwei Hütten aus denen weder Geräusche noch Licht drangen – aus der einen jedoch schwach der Geruch von Bier – legte Shymaro das Mädchen schließlich ab. Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als er noch einmal inne hielt. Sie sollen wissen wer ihnen die Herzogstochter brachte, beschloss Shymaro, und dankbar in ihr Unglück rennen. Also streifte er sich einen Ring vom Finger, viel zu geschickt und kunstvoll gefertigt um von Menschenhand geschaffen worden zu sein, und schob ihn auf den linken Mittelfinger der Sterblichen.

Dann kehrte er dem Menschendorf den Rücken. Bald darauf verklangen die verärgerten Rufe der Menschen, die um ihr Vieh gefürchtet hatten. Hechelnd erschien Inuki wieder an Shymaros Seite. Der Pelz der Vorderpfoten und der Schnauze war verklebt vom Blut seiner unbekannten Beute und die Augen des Wolfs blitzten vergnügt. „Ein Jagderfolg ist etwas schönes, nicht wahr, mein Freund?“ kommentierte Shymaro den Blick des Wolfes.

Lautlos wie die treibenden Nebelschwaden suchten sich der Elb und der Wolf ihren Weg durch eine schmale Felsspalte hinaus aus der Schlucht. Der Einschnitt im Fels war kaum breit genug für ein Pferd und gewunden wie der Wasserlauf der ihn einst wohl geschaffen hatte. Außerdem war es dunkel am geröllübersäten Boden der Spalte.

Gerade des ewigen Zwielichts der Felsspalte wegen fiel das silberweiße Haar der Frau besonders auf. Gelassen wie eine zufriedene Katze hockte sie im Schneidersitz auf einem Felsvorsprung drei Meter über dem Boden. Das makellose Gesicht mit den geschlossenen Augen hatte sie den Entgegenkommenden zugewandt.

„Du riechst nach Blut“, meinte sie, als Inuki und Shymaro unter ihr stehen blieben. „Nach Menschenblut“, ihrer weichen Stimme war eine Spur von Verärgerung anzumerken.

Mit einem halben Lächeln erwiderte Shymaro: „Ich glaube kaum das Inuki einen Sterblichen gerissen hat.“

„Ich sprach auch nicht von ihm.“ Sie öffnete Augen von so dunklem Orange, dass sie im Dämmerlicht fast schon braun wirkten und blickte Shymaro eindringlich an. „Sondern von dir, Geliebter.“ Geschmeidig streckte sie ihren schlanken Körper, packte die Kante des Felsvorsprungs auf dem sie gesessen hatte und schwang sich herunter. Sie landete federnd vor Shymaro.

„Was hast du getan?“

„Der Rückweg wird lang genug für die dir zustehende Antwort sein, Azuya, doch lass uns erst die Pferde holen.“

Und so berichtete Shymaro von seinem Ritt entlang des Waldsaums. Wie er die Tochter des Herzogs und deren Begleiter, die nicht ganz zufällig dort waren, entdeckt, erkannt und alle bis auf Erstere erschossen hatte. Er erzählte von der panischen Flucht der jungen Sterblichen, von dem Moment in dem er sie gestellt hatte und seinem Entschluss sie zu den Verbannten zu bringen.

„Machtlos wie sie ansonsten sind dürften sie sich über diese Möglichkeit dem Herzog zu schaden freuen“, fuhr Shymaro fort. „Schließlich sind sie zu gering an Zahl, und zudem unbewaffnet, um etwas gegen die Truppen Godhwars auszurichten. Doch jetzt können sie fast alles von ihm fordern, denn er wird sein einziges Kind auslösen wollen.“

„Vielleicht gibt es welche unter ihnen die klug genug sind zu erkennen, dass sie sich nur selber schaden würden, da sie nichts fordern können was sie vor der Vergeltung des Herzogs zu schützen vermag“, gab Azuya zu bedenken.

„Ich hoffe du überschätzt die Sterblichen“, meinte Shymaro. „Mein Vater mag ihnen Sicherheit versprochen haben, doch nicht vor ihrem eigenen Volk.“

„Du hoffst also dass der Befehl eines Sterblichen es ist, und nicht deiner, der deines Vaters Versprechen bricht?“

„Mein Vater war ein sanftmütiger König der sein Volk nicht bedroht sah durch diese wenigen Menschen am Rande seines Reiches. Leider ist weder ihm, noch meiner Mutter die Möglichkeit gegeben ihre Meinung zu überdenken.“ In den sonst so ruhigen Zügen des Elbenkönigs zeichnete sich tiefe Trauer ab, gemischt mit dem schier grenzenlosen Zorn auf die Mörder seiner Eltern. „Ja, ich will dass Vaters Versprechen gebrochen wird, denn ich bin nicht bereit auch nur einen Einzigen dieses verdorbenen Volkes in meiner Nähe zu dulden!“

Azuya senkte kurz den Blick auf die Mähne ihres Pferdes, bevor sie ihren Gemahl wieder fest anblickte. „Was geschehen ist, ist grausam, doch es waren nicht jene, die sich selbst als die Verbannten bezeichnen und die du nun zur Verantwortung ziehen willst, die dir deine Eltern und unserem Volk die Herrscher nahmen.“

„Aber es waren Leute des selben Volkes.“

„Aus deiner Sicht“, sagte Azuya.

„Siehst du es anders?“, erkundigte sich Shymaro mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein, jedoch verstehe ich diese Sichtweise“, gab die Elbin zurück.

„Natürlich, immerhin fließt auch durch deine Adern ein Teil Menschenblut.“

Azuyas Lachen gesellte sich silberhell zum Morgenchor der Waldvögel. „Es gibt Schlechteres was man erben könnte, denn Verständnis.“ Herausfordernd blickte sie Shymaro an. Der schüttelte nur grinsend den Kopf und begann dann ebenfalls zu Lachen. „Wie wahr.“

Einige Momente vergingen in einträchtigem Schweigen.

„Was ist wenn der Herzog die Elben für die Entführer seiner Tochter hält?“, fragte Azuya plötzlich. „Immerhin trägt die Kleine jetzt einen Ring von dir.“

„Mein Ring wird das Mädchen schützen solange man sie noch nicht erkannt hat. Später werden die Verbannten ihn zweifellos als Zahlungsmittel gegen Lebensmittel oder Waffen eintauschen und er wird spurlos verschwinden.“

„Oder sie schicken ihn als Beweis ihrer eigenen Unschuld an den Herzog. Vielleicht sogar zusammen mit dessen Tochter und der Geschichte ihrer Errettung aus den Fängen unseres Volkes. Das würde die Verbannten zu Helden machen, uns dagegen zu den Feinden des Herzogs. Er könnte beschließen uns anzugreifen.

„Nein, Azuya. Die Verbannten hassen den Herzog viel zu sehr als dass sie seinen Dank oder seine Gunst wollen würden. Herzog Godhwar fürchtet uns – wir haben das größere Heer, die besseren Krieger und Strategen und unsere Festungen sind uneinnehmbar – der Herzog dagegen steht allein.“

„Gewiss, doch er wird nur solange alleine bleiben bis es zum Krieg kommt. Dann werden auch jene, die dank der Bemühungen von König Astajon und Königin Kimitá den Frieden hallten wollten, ihre Heere entsenden um gegen uns zu kämpfen.

Die Elben sind ebenso mein Volk wie deines. Deshalb warne ich dich, entfessle nicht aus Hass einen Krieg der unserem Volk nur Verluste einbringt, solange du die Möglichkeit hast den Frieden zu wahren. Shymaro, wir können bei diesem Krieg nur verlieren!“ Königin Azuya blickte ihren Geliebten fest an, eindringlich, fordernd. Dann wandte sie sich ab und trieb ihr Pferd vorwärts.

Shymaro jedoch verharrte an Ort und Stelle, reglos und stolz, wie eine Statue die von vergangener Größe und Heldenmut kündete. „Wir werden nicht verlieren!“

Bei Freunden

Sieh ma’ Frigg, da liecht was!“

Sie hörte die Stimme wohl, doch konnte ihr benommener Geist den Worten keinen Sinn abgewinnen – und das nicht nur der weinseligen Aussprache des Mannes wegen. Auch konnte sie ihre Umgebung nicht klar erkennen, alles verschwamm vor ihren Augen. Überdeutlich jedoch spürte sie den kalten Schlamm in dem sie lag und die Wand in ihrem Rücken. Vergeblich versuchte sie sich zu bewegen, doch einzig ihre blonden Haare flatterten im leichten Wind. Einige Strähnen trieben ihr ins Gesicht – sie rochen nach Kräutern, zwar schwach, aber berauschend. Tief ((und gierig atmete)) sie ein, dann breitete sich ein törichtes Lächeln auf ihrem hübschen, jungen Gesicht aus.

„He, has’ wohl auch was getrunken“, meinte jetzt eine andere Männerstimme lallend. „War’s zu viel?“ Raue Hände packten ihre Schultern. Sie wollte sich wehren, denn irgendetwas schien an der Situation falsch zu sein. Kein betrunkener Bauer sollte sie so anfassen, immerhin war sie . . . war sie . . . Es wollte ihr nicht einfallen.

Immer noch zerrten die Hände an ihr. „Wirste wohl“, knurrte ein Mann. Er wollte sie aufrichten, war jedoch so betrunken, dass er mit ihr zusammen wieder zu Boden stürzte. Sein Körper lag schwer auf ihrer Brust, sein bärtiges Gesicht an ihrem Hals. Der Mann stemmte sich wieder hoch, bis er neben ihr im Schlamm hockte; sie konnte ihn nicht sehen, aber seinen Weinatem riechen und seine Knie an ihrer linken Seite spüren. Er packte sie wieder an der Schulter und rüttelte sie unsanft. „Aufstehn Mädel, aufstehn!“

Doch statt das sie aufstand, fiel der Mann wieder, von seinen johlenden Kameraden geschupst, auf sie nieder. Seine Hand rutschte von ihrer Schulter und gleich darauf spürte sie kalte Luft auf ihrer nackten Haut, wo er ihr Kleid zerrissen hatte.

„Wassen schönes Paar“, grölte der Mann, der zuerst gesprochen hatte.

„Da hasse ganz recht, vollkommen recht hasse da.“

Anstatt erneut aufzustehen, starrte der Mann auf die weiße Haut des Mädchens. „Da hab’ter echt recht“, stimmte nun auch er zu und begann das Kleid weiter aufzureißen.

Ihr leichtes Unbehagen verwandelte sich zusehends in Furcht. Ihr Verstand war zwar noch umnebelt vom Kräuterduft, doch die Panik hatte ihn zumindest so weit geklärt, dass sie verstand, dass sie etwas unternehmen musste. Allerdings gelang es ihr nicht sich zu bewegen – all ihre Bemühungen ließen lediglich ihre rechte Hand kurz zucken.

Nicht, aufhören . . . nicht, war alles was sie denken konnte. Der Versuch es auszusprechen führte nur zu einem kläglichen Stöhnen. „Da freut sich aber jemand“, missdeutete einer der Männer es grinsend.

Mit demselben Grinsen zog und riss einer der Männer weiter am Mieder ihres Kleides. Bald schon war das Kleid bis zur Hüfte zerrissen. Nun zog der Mann es von ihrem Körper, entblößte ihre Brüste und die glatte weiße Haut ihres Bauches. Offensichtlich gefiel dem Mann was er sah, denn sein gieriges Grinsen wurde noch breiter. Selbst so verschwommen wie sie ihn sah vergrößerte dieser Gesichtsausdruck noch ihre Angst. Gefangen in ihrem betäubten Körper wand sie sich innerlich vor Furcht. Aller Anstrengungen zum trotz gelang es ihr weder zu sprechen, noch sich zu bewegen. Sie war machtlos. Ihr Herz raste und ihr Atem ging in kurzen, abgehackten Stößen. Den Mann schien all dies nicht zu stören. Seine Hände fuhren über ihre fröstelnde Haut, begannen an ihrem Hals und wanderten über das sich im hektischen Rhythmus ihres Atems hebende und senkende Schlüsselbein bis zu ihren Brüsten. Dort verharrten sie, immer wieder strich der Mann mit seinen Händen um die Brüste, drückte sie und zog an den Brustwarzen.

Plötzlich riss er den Rest ihres Kleides beiseite, entblößte sie nun vollständig. Zur Angst gesellte sich nagende Scham. Noch nie hatte ein Mann sie nackt gesehen, geschweige denn solche Dinge mit ihr getan. Dabei wollte sie das doch nicht . . .

Sie lag auf dem Rücken, ihr Kopf war zur Seite gekippt, daher konnte sie den Mann nicht sehen. Seine Hände waren von ihrem Körper verschwunden, sein Gewicht jedoch nicht. Was sie nicht sah, war wie er hastig die Schnüre seiner straff gespannten Hose öffnete. Einer der Freunde des Mannes trat nun hinzu, drehte ihren Kopf, schob einen nach Matsch schmeckende Knebel in ihren Mund und ließ ihren Kopf wieder zur Seite kippen. Der dritte Mann blieb im Hintergrund stehen und murmelte etwas zweifelndes, was seine Kameraden allerdings einfach ignorierten.

Ihre Beine wurden grob auseinander geschoben. Kalte Luft berührte die intimste Stelle ihres Körpers und ließ sie erschauern. Dann war plötzlich die Hand des Mannes wieder da, griff ihr hart zwischen die Beine, ließ sie verzweifelt aufschluchzen. Die Hand verschwand wieder. Doch es folgte etwas anderes, dicker als die grausamen Finger, welche sie eben noch gequält hatten. Der Mann drang in sie ein. Als er sich auf sie niedersinken ließ, glaubte sie zu zerreißen. Schmerz durchfuhr sie, kurz und heftig. Wieder und wieder hob sich der Leib des Mannes, nur um sich voller schmerzhaftem Druck wieder auf den ihren zu senken. Erst langsam, jedoch immer schneller werdend. Der Schmerz hielt an, von den Bewegungen des Mannes in ihrem Körper entfacht, schoss er bei jeder Bewegung erneut durch sie hindurch, ließ ihre Sicht nun ganz verschwimmen. Sie fror entsetzlich. Und fühlte dennoch warmes Blut an ihren Oberschenkeln herab rinnen.

Ihr Unterleid fühlte sich an als stände er in Flammen, mittlerweile stanzten rote Flecken vor ihren Augen. Sie hätte aufgeschrieen bei jedem Stoß des Mannes, wäre nicht der Knebel in ihrem Mund gewesen. Vom widerlichen Geschmack des Knebels und dem Geruch der ungewaschenen Männerkörper wurde ihr so schlecht, dass sie schon glaubte ohnmächtig zu werden.

Doch zu ihrer unendlichen Bestürzung blieb sie bei Bewusstsein. Verzweifelt versuchte sie sich auf etwas anderes zu konzentrieren als den reißenden Schmerz in ihrem Unterleib, den harten griff an ihren Schultern der sie niederhielt oder den nach Wein und Schweiß stinkenden Mann auf ihr.

Wie bin . . . bin ich . . . hierher gekommen, versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen.

Doch vergeblich. Immer wieder durchdrangen die höhnischen Stimmen der Männer ihre Überlegungen, zerschlugen ihre Konzentration. Oder eine weitere Schmerzenswelle raubte ihr jeden Gedanken und lieferte sie der Schändung ihres Körpers und denen die sich schändeten aus.

Eine erste Träne rann ihr über das schmutzige Gesicht. Die Männer bemerkten es nicht – oder es kümmerte sie nicht.

Mittlerweile musste wohl ein zweiter Mann den Platz des ersten eingenommen haben, denn dieser wischte sich ihr Blut an den Resten ihres Kleides ab. Danach verschnürte er seine Hose wieder, wobei er zufrieden grinste. Das war nun mehr als sie ertragen konnte. Schluchzend vor Angst und Abscheu versuchte sie Kopf und Schultern abzuwenden. Doch der dritte Mann verpasste ihr einen Schlag gegen die Schläfe. Ihr Kopf schlug wieder herum, die roten Flecken vor ihren Augen zuckten wild und es rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie das Stöhnen und Keuchen des Mannes auf ihr nicht mehr hören musste. Der harte Schlag ließ alles in Dunkelheit versinken. Ihr gedemütigter, entsetzter Geist entfloh ihrem blutenden, zuckenden Körper in tiefe Bewusstlosigkeit.

Das letzte was sie noch hörte, war der erschrockene Ausruf einer der Männer: „Seht doch, an ihrer Hand . . . besonderer Ring . . .“

Diesmal waren es andere Kräuter die sie roch als ihr Bewusstsein wiederkehrte. Der Schein eines Feuers drang durch ihre Geschlossenen Lieder. Ein Kissen schmiegte sich wunderbar weich an ihren Kopf und sie war mit einer wollenen Decke zugedeckt.

Der friedliche Moment fand ein jähes Ende. Der Schmerz flutete zurück in ihren Körper und brachte die Erinnerung mit sich. Ihre Hände verkrampften sich in der Decke und sie begann unkontrollierbar zu zittern. Als sich dann auch noch Schritte ihrem Lager näherten, schrie sie auf und drückte sich gegen die Lehmwand an der das Bett stand. Wimmernd kauerte sie dort, den Kopf zwischen den Knien vergraben.

Jemand blieb vor dem Bett stehen. „Nur ruhig, armes Mädchen.“ Es war die Stimme einer älteren Frau, die da gesprochen hatte. Immer noch ängstlich blickte das Mädchen auf. Die alte Frau sah sie beruhigend an. „Wer immer dir das angetan hat, er wird dir nun nichts mehr tun.“ Die Stimme der Frau war ruhig und fest. „Wirklich nicht, denn du bist jetzt bei Freunden“, fügte sie sanft hinzu.

Zwar wusste sie nicht dass sie nur ein dutzend Meter von der Stelle entfernt war an der sie geschändet und entehrt worden war, doch die Versicherungen dieser fremden Frau, sie sei in Sicherheit, kamen ihr dennoch schrecklich falsch vor. Denn sie spürte dass etwas in ihr zerstört worden war und sie sich wohl kaum jemals wieder sicher fühlen würde, egal wo oder in wessen Gesellschaft.

Warten auf Befehle

Die Alte erhob sich und ging hinüber zu der Feuerstelle der kleinen Hütte. Mit einem bereits rußgeschwärzten dicken Stock stocherte sie zwischen den glimmenden Scheiten des Feuerholzes herum. Flackernd erwachten die Flammen zu neuem Leben. Die alte Frau warf einen Blick über die Schulter auf das immer noch zitternde Mädchen. „Mein Name ist Iselda, ich bin die Heilerin dieses Dorfes.“ Nichts als Stille folgte diesen Worten; offensichtlich hatte das Mädchen nicht vor sich ebenfalls vorzustellen. „Also gut, dann nicht!“, meinte Iselda mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen.

Von einem Regal, das eine ganze Wand der Hütte überspannte, holte die Heilerin eine gefüllte Wasserschüssel. Sie streute einige getrocknete, zerbröselte Blüten in das Wasser und schob die Schüssel an den Rand des Feuers. Als das Wasser sich erwärmte, verbreitete sich der Geruch von Kamille in der kleinen Hütte. Mit einem wachsamen Auge auf die Wasserschale, trat Iselda wieder zu dem Regal. Von einem der unteren Borde nahm sie zwei Tücher und betrachtete kritisch deren leicht gräuliche Farbe. Sie seufzte. Diese Tücher würden reichen müssen. Mit den Lappen und der dampfenden Schale ging sie wieder zu ihrer verängstigten Patientin. Vorsichtig als wolle sie sich einem wilden Tier nähern, ließ sie sich auf dem Bett nieder. Trotzdem zuckte das Mädchen zurück und zog die Decke nur noch enger um sich.

„Ich muss den Verband um deine Schulter wechseln“, erklärte die Heilerin. Das blonde Mädchen reagierte nicht, starrte nur auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. „Bitte komm her. Wenn ich den Verband nicht wechsle wird die Wunde sich entzünden. Das kannst du doch nicht wollen“, sagte Iselda nachdrücklich.

„Du tust mir doch nicht weh?“, fragte das Mädchen mit der Stimme eines kleinen Kindes.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, log Iselda. Sie wusste das es schmerzhaft werden würde den blutverkrusteten Verband von der Schulter zu entfernen. Doch ihr war auch klar, dass die Wahrheit ihrer jungen Patientin nicht helfen würde – und dass sie diese ohnehin gleich zu spüren bekäme. „Nun komm schon aus der Ecke ´raus“, lockte sie. „Ja so ist´s gut.“ Ruhig, aber bestimmt wickelte Iselda das Mädchen aus ihrer Decke. Danach wollte sie dem Mädchen das Nachthemd von der Schulter streifen, überlegte es sich aber anders. Das Mädchen würde es womöglich falsch verstehen.

„Du musst das Nachthemd ein wenig tiefer ziehen, damit ich den Verband wechseln kann.“ Ohne darauf zu warten dass das Mädchen ihrer Aufforderung nachkam – oder dagegen protestierte – begann Iselda eine ganze Reihe von Fragen zu stellen. Wo das Mädchen denn herkomme, was ihr widerfahren sei und wie sie in die Rhunschluchten komme. Ihren Namen könne sie auch ruhig verraten – oder sollte man sie immer nur mit ‚Mädchen’ ansprechen? Auch wie alt sie war würde Iselda ja gerne wissen.

Anstatt zu antworten, schien das Mädchen angestrengt nachzudenken.

„Kannst du dich nicht mehr erinnern?“, fragte Iselda verwundert. Nur um gleich darauf zu begreifen, dass ihre Patientin sich in aller Eile noch eine Geschichte auszudenken versuchte.

„Ich heiße Mara“, stieß das Mädchen schließlich hervor. „Ich und mein Vater, der Holzfäller ist, leben am Rand des Waldes. Ich wollte einen Spaziergang machen . . .“

„Allein im Wald?“

„Nein . . . nein, ein Freund war bei mir . . .“ Während das Mädchen – Mara, berichtigte sich die Heilerin selbst – stockend ihre Geschichte erzählte, tränkte Iselda den roten Brokatstoff des Verbandes mit dem Kamillenwasser. Anschließend entfernte sie den kundig angelegten Verband Streifen für Streifen. Mara war so in ihre Geschichte vertieft, welche sie sich offensichtlich mühsam ausdachte, dass sie nur leicht zusammenzuckte als Iselda den Stoff von ihrer Haut löste.

„Ihr wart also Pilze suchen, du und dein Freund“, nahm die Heilerin den Faden der Geschichte wieder auf. „Was ist denn aus deinem Freund geworden? Du bist hier gelandet, doch wo ist er?“

„Er ist tot! Der Elb hat ihn erschossen.“ Wild schluchzend vergrub Mara das Gesicht in den Händen. „Erschossen . . . !“

„Welcher Elb?“, erkundigte sich die Heilerin verwirrt.

Danach hielt Iselda einen Moment lang schockiert inne, während ihre Patientin vom Tod ihres Freundes sprach und davon wie sie selbst angeschossen wurde und in den Wald zu fliehen versucht hatte. Doch Iselda fing sich schnell wieder und setzte ihre Arbeit fort. Sie wusch die Wunde aus, stellte zufrieden fest, dass sie nicht entzündet war und wickelte dann eines der Tücher um die Schulter – vorher hatte sie es in passende Streifen gerissen und mit einer Heilsalbe bestrichen.

„Er hat unsere Sprache gesprochen!“, sagte Mara immer noch unter Tränen. „Er hat mir gesagt, er würde mich nicht töten. Dann hat er mein Kleid zerschnitten . . . mein schönes Kleid . . .“

„Hat der Elb dir den Ring gegeben?“, unterbrach Iselda.

Mara hatte sich – sofort nachdem die Heilerin sie freigegeben hatte – wieder in die Decke gewickelt und an die Wand zurückgezogen. Jetzt hob sie das tränennasse Gesicht von den Knien. „Was für einen Ring meint Ihr?“

Die Heilerin deutete auf das silbern glänzende Schmuckstück, welches neben ihr auf einem kleinen Nachtisch lag – und absolut fehl am Platze wirkte. „Hat der Elb dir diesen Ring geschenkt?“

„Nein . . . vielleicht, ach ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nur wie er mir den Pfeil aus der Schulter gezogen hat. Es hat so wehgetan . . . so weh . . .“ Erneut begann das Mädchen zu schluchzen.

„Bald wird die Wunde wieder heil sein“, versuchte Iselda zu trösten, dachte dabei jedoch an die anderen Verletzungen des Mädchens, die vielleicht niemals heilen würden. Vom Nachttisch nahm sie einen Becher und drängte ihn Mara in die Hand. „Hier trink das, dann wird deine Schulter nicht mehr so schmerzen und du wirst gut schlafen.“

Gehorsam leerte Mara den Becher und legte sich hin. Ihre Haare breiteten sich wie ein goldenes Tuch über ihr Kopfkissen.

„Wie ging es dann weiter?“, fragte die Heilerin

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Mara hinauf zum Strohdach der Hütte, während sie versuchte sich an das Geschehene zu erinnern. „Ich weiß es nicht. Ich bin ohnmächtig geworden. Später lag ich auf dem Rücken eines Pferdes und es hat mich jemand festgehalten . . . vielleicht habe ich das aber auch nur geträumt. Danach . . . dann“, das Mädchen sprach nicht weiter. Ihre schreckgeweiteten Augen hatten sich geschlossen. Ihr Atem ging bereits langsam wie der einer Schlafenden. „Der Elb . . . er hatte so leuchtende Augen“, murmelte Mara noch, dann war sie wirklich eingeschlafen.

„Den Rest erzählst du mir dann ein anderes Mal, kleine Lügnerin“, meinte Iselda.
 

Die Heilerin fädelte den Ring auf einen der blutigen Brokatstreifen und steckte beides in eine der vielen Taschen ihres weiten Rockes. Dann nahm sie ihren Mantel vom Haken neben der Tür und verließ leise ihre Hütte.

Nachdem sie ihre Nachbarin gebeten hatte ein Auge auf ihre Behausung zu haben, machte sich Iselda auf den Weg. Ihr Ziel war das größte Haus des Dorfes, die Ratshalle, wie die Verbannten es hochtrabend nannten. Ebenso wie die meisten anderen Häuser, Hütten oder Schuppen, war die Ratshalle aus grob behauenen Balken gefertigt und mit Lehm verputzt. Sie maß gut zwölf Schritt in der Länge und acht in der Breite. Ihre sich kreuzenden Dachgiebel endeten in zwei geschnitzten Stierköpfen mit langen Hörnern. Die anderen Häuser, so schien es, hielten respektvoll Abstand von der Ratshalle, wodurch rund um diese ein schlammiger Anger entstand.

Hatten die Ratsmitglieder – zu denen auch Iselda zählte – etwas zu verkünden, war dieser Platz von den Verbannten gefüllt. Jetzt jedoch schritt nur ein einzelner Mann mit weit ausgreifenden Schritten vor der Ratshalle auf und ab.

„Gut das du gekommen bist, Magnar“, grüßte Iselda ihn.

Magnar stoppte sein Herumwandern. „Wurde auch Zeit das du erscheinst, Kräuterweib. Lass uns ´reingehen“, knurrte er mit tiefer Stimme.

Iselda lächelte. War es nicht gerade der heißeste Sommer, fror Magnar sobald er seine Schmiede verließ – soweit man das ärmliche Provisorium das ihm als Verbanntem zur Verfügung stand als Schmiede bezeichnen konnte.

Die Heilerin betrat hinter Magnar die Halle. Ein einzelnes Kohlenbecken stand am Kopfende des großen Tisches, der den Raum beherrschte. In dessen wärmendem Umkreis saß ein bereits recht gebrechlich wirkender Mann, ein Junge von kaum vierzehn Sommern wärmte sich über den glimmenden Kohlen die Hände. Ansonsten war die große Halle mit der verrußten Decke und den, bis auf einen Gobelin, kahlen Wänden, leer. Nur schwach beleuchtet von den Kerzen, die vor dem Alten standen, wirkte sie größer als sie es eigentlich war.

Zielstrebig ging Magnar auf den alten Mann zu. Er nickte dem Jungen nur kurz zu, dann wandte er sich zu dessen Lehrer. „Iselda ist hier, um . . .“, begann der Schmied, brach aber ab, als der Greis zahnlückig grinsend eine Hand ans Ohr hob. „Iselda will uns erzählen wer das Madchen ist, das gestern gefunden wurde“, sagte Magnar, diesmal lauter.

„Nah, sag das doch gleich“, meinte der Alte. Er deutete auf die Bank, auf der auch er selber saß – eigentlich ein halber, aufgebockter Baumstamm – und fügte hinzu: „So setzt euch doch.“

Die Heilerin kam seiner Einladung nach, der Schmied allerdings scheuchte lediglich den Jungen nach draußen und nahm dann dessen Platz bei dem Kohlenbecken ein.

„Wer sie ist, kann ich euch leider nicht genau sagen“, begann Iselda „nur wer zu sein sie vorgibt.“

„O nein, Geheimnisse“, stöhnte Magnar abfällig.

„Und wer gibt sie zu sein vor?“, fragte der Alte, ohne auf den Schmied zu achten.

„Sie sagte mir sie sei die Tochter eines Holzfällers und heiße Mara“, antwortete die Heilerin.

„Aber du glaubst ihr nicht.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung des alten Mannes.

„Nein, Ragas, ich glaube ihr nicht. Sie sagt das eine, doch dies hier erzählt eine andere Geschichte.“ Bei diesen Worten holte Iselda den Ring und den Streifenroten Brokats aus ihrer Tasche. Sie reichte beides an den Schmied weiter.

„Den Ring hat sie, ihrer Geschichte nach, von einem Elben erhalten. Der Stoff stammt von dem Kleid, welches sie trug als man sie fand.“

Magnar reichte den Ring hastig dem alten Schreiber, ebenso den Stoffstreifen. Ragas nahm beides vorsichtig entgegen. Er hielt den Ring gegen das Licht der Kerzen und drehte ihn langsam, wobei er ihn die ganze Zeit prüfend musterte. „Das ist wirklich ein schönes Stück und sicherlich einiges wert. Ein Gewand aus einem solchen Stoff könnte Unsereins sich niemals leisten. Auch ist Mara ein sehr edler Name und keiner wie die Frauen des gemeinen Volkes ihn führen“, meinte er schließlich. Er gab ihn Iselda zurück und fügte hinzu: „Wenn er ein Geschenk an deine Patientin war, sollte sie ihn bald zurückbekommen; Elben können sehr rachsüchtig sein, wie man sagt.“

„Willst du damit sagen, dass du das glaubst? Diese Mär um einen Elb der einer verirrten Jungfer hilft und sie reich beschenkt nach Hause geleitet“, Magnar schnaubte verächtlich. „Das Mädchen hat sich das nur eingebildet, das mit den Elben. Du hast dir den Stoff doch schon angesehen, aus dem ihr Kleid war. Sie ist nur eine verwöhnte Adelige und hat das Kleid und den Ring eben von einem reichen Verwandten geschenkt bekommen. Das ist alles!“

„Erstens, war es erst der Elb, der sie in den Wald trieb“, erwiderte Iselda mit schwerer Stimme „und zweitens ist sie keine Jungfer mehr. Mara ist auf grausamste Art und Weise zur Frau geworden.“

„War’s womöglich auch der Elb?“, erkundigte sich der Schmied spöttisch.

„Zügle deine Zunge Magnar, dein Spott ist jetzt nicht angebracht.“

Iselda kam einem Streit der beiden Männer zuvor, indem sie sagte „Das es der Elb nicht war, ist die weit schrecklichere Möglichkeit, denn das würde bedeuten, dass Mara von einem unserer Männer geschändet wurde.“

„Das kann nicht sein“, ereiferte sich Magnar.

Iselda sah ihn nur stumm an. Ragas schwieg ebenfalls. Er blickte zum Vorhang in der Türöffnung der Halle. Der Stoff, viel zu schwer als das der Wind ihn hätte bewegen können, schwang sanft hin und her. Der alte Schreiber schüttelte den Kopf, seine Augen blickten sorgenvoll. „Bald wird das ganze Dorf die Geschichte des Mädchens kennen, welches das Lager mit einem Elben teilte und nun seinen Schmuck trägt“, meinte er.

„Was soll dass heißen . . . ?“, dann dämmerte es Magnar. Fluchend stürmte er aus der Halle um Ragas Schüler einzuholen.

„Magnars Loyalität ist bewundernswert. Ich fürchte allerdings, dass es sehr wohl ein Mann aus unseren Reihen war“, meinte der Schreiber.

„Wahrscheinlich.“

„Wie geht es dem Mädchen?“

„Sie ist sehr verstört, fürchtet sich selbst vor mir und will gar nicht mehr aufhören zu weinen“, antwortete Iselda. „Eine Pfeilwunde hat sie in der Schulter, unzählige Kratzer an den Armen und vor allen Dingen an den Beinen und einige Prellungen. Selbst die tieferen Schrammen machen mir aber keine Sorgen, auch die Pfeilwunde wird bald verheilt sein, bei allem anderen jedoch bin ich mir nicht sicher.“ Die Heilerin sah zu Boden. „Ihr Körper wird in zwei oder drei Wochen wieder genesen sein, doch sie wird niemals vergessen was man ihr angetan hat.“

„Ich zweifle nicht an dir, aber ich glaube trotzdem, dass sie zuhause, umgeben von vertrauten Menschen, schneller gesund würde.“

„Mit Freuden schickte ich Mara heim, wüsste ich wo es sich befindet“, erwiderte die Heilerin spitz.

Ragas lächelte beschwichtigend. „Gut, dann werde ich einige Männer losschicken nach dem Vater des Mädchens zu suchen; oder nach anderem Wissen über sie.“

„Und ich werde versuchen Mara etwas mehr über ihre Geschichte zu entlocken“, sagte Iselda. „Vielleicht ist sie tatsächlich eine Adelige wie Magnar es meinte. Oder eine Holzfällertochter, wie sie es behauptet. Oder die geliebte eines Elben.“ Iselda sah Ragas scharf an. „Du hast doch auch bereits deine Vermutungen, oder?“

„Was ich habe ist nicht mehr als der leiseste Verdacht“, erwiderte der Schreiber mit einem halben Lächeln.

„Nun gut. Wer auch immer Mara ist – oder wer wir glauben das sie ist – sie wird bei und bleiben bis Conar zurückgekehrt ist und entschieden hat was mit ihr geschehen soll.“ Die Heilerin erhob sich von der Bank und strich ihren Rock glatt. „Auf Wiedersehen, Ragas“, verabschiedete sie sich.

„Auf Wiedersehen, Iselda. Schick den Jungen her, falls du ihn siehst, ja?“ Der Alte wandte sich wieder den Papieren zu, die vor ihm auf dem Tisch verteilt lagen.

„Das werde ich“, meinte Iselda und trat aus der dunklen Halle in einen trüben Tag hinaus.
 

Als die Heilerin in die Gasse vor ihrem Haus einbog, sah sie Mara neben ihrer Nachbarin vor deren Hütte sitzen. Diese bürstete Wolle aus, um sie später zu Garn verspinnen zu können. Das Mädchen reichte ihr, wann immer sie es verlangte, noch ungekämmte Wolle aus einem Sack zu ihren Füßen.

Besorgt beschleunigte Iselda ihre Schritte. Sie lief eilig zwischen den kleinen Hütten ihrer Nachbarn hindurch, wobei ihre Stiefel immer wieder bis zu den Knöcheln im Schlamm der aufgeweichten Gasse versanken. Bald schon konnte Iselda die Stimmen der Beiden durch die Gasse hallen hören; was die Beiden sich erzählten konnte sie allerdings der Entfernung wegen nicht verstehen. Die Heilerin hoffte nur, dass es nicht um Maras – noch ungeklärte – Herkunft oder ähnlich heikle Themen ging.

Als Iselda noch etwa zehn Schritte entfernt war, sah ihre Nachbarin auf und rief: „Ah, sieh nur, da ist Iselda wieder! Sei gegrüßt.“

„Seid mir ebenfalls gegrüßt ihr beiden“, erwiderte die Herankommende. Dann blieb sie mit in die Hüften gestemmten Fäusten bei den Beiden stehen. „Mara, du gehörst ins Warme, hier draußen ist es viel zu kalt für dich“, tadelte sie das Mädchen.

„Ach was, so ein Unsinn, mein Mantel hält sie schon warm genug.“ Eine wegwerfende Geste unterstrich die Worte der Nachbarin. „Oder ist dir kalt, Kindchen?“

„Nein . . . Gelina.“ Das Mädchen blickte schüchtern zwischen den beiden älteren Frauen hin und her. An Iselda gewandt fragte sie: „Darf ich bitte noch ein Wenig draußen bleiben? Gelina hat mir gerade vom letzten Mittsommerfest erzählt.“

Iselda trat noch einen Schritt auf ihre Patientin zu. Vorsichtig legte sie Mara eine Hand auf die Stirn. „Mit deinem Fieber solltest du eigentlich im Bett liegen,“ Iselda blickte streng in die blauen Augen des Mädchens „aber ein Bisschen frische Luft wird wohl nicht schaden. Hör dir die Geschichte ruhig an.“

Mara strahlte über das ganze Gesicht. „Vielen Dank.“

„Gib mir mehr Wolle“, verlangte Gelina. „Wo war ich noch gleich . . . ach ja, die Männer standen also unter der Eiche dort hinten . . .“

Iselda ging zu ihrer Hütten und ließ den Vorhang, der ihr als Tür diente, hinter sich zufallen und sperrte so die Stimme ihrer Nachbarin aus. Aus ihrem Regal fischte sie ein Brettchen, eine Schale, den dazugehörigen Mörser und einige Kräuter. Mit den Sachen auf dem Arm ging sie wieder zu ihrer Patientin und Gelina nach draußen.

„ . . . der Kerl hat sich so sehr erschreckt, dass er rückwärts in den Schweinetrog gestolpert ist. Conar meinte zu ihm, wenn er jetzt noch genug fräße, könne er im nächsten Jahr unser Mittsommerbraten werden. Ach, wie wir alle gelacht haben, als er sich schwankend und triefend aus den Trog gehievt hat – nun ja, er hat nicht gelacht.“

Iselda die mittlerweile auf einem Schemel bei den beiden saß, fügte hinzu: „Wir haben ihn aber doch nicht gebraten in diesem Sommer.“

„Obwohl ja genug an ihn dran gewesen wäre“, gab Iseldas Nachbarin grinsend zu bedenken.

Mara lächelte ebenfalls, wenn auch verhalten. „Bei uns passiert so etwas nie“, meinte sie wehmütig.

„Wie feiert ihr denn die Mittsommernacht?“, erkundigte sich Gelina mit hochgezogener Augenbraue.

Mara senkte den Blick auf ihre im Schoß liegenden Hände. „Es gibt ein Festessen und Musikanten“, antwortete sie schließlich „aber wir sind alle sehr ernst.“

Iselda warf ihrer Nachbarin einen warnenden Blick zu, der ihr zu schweigen gebot, doch Gelina achtete nicht darauf.

„Keiner hier im Dorf wäre reich genug Spielleute zu entlohnen“, sagte Gelina. Sie hatte aufgehört die Wolle zu kämmen und sah das Mädchen streng an. „Wie kommt es also, dass dein Vater es kann, als einfacher Holzfäller, der er ist?“

„Die Spielleute sind Freunde seiner Frau, die eine von ihnen war, bevor sie Maras Vater heiratete. Hast du es mir nicht so erzählt, Mara?“

Das Mädchen nickte eifrig. Innerlich seufzte Iselda, erleichtert darüber, dass Mara die Chance zum Rückzug erkannt und genutzt hatte.

Bevor Gelina, die nicht so recht überzeugt zu sein schien, etwas erwidern oder weitere Fragen stellen konnte, erinnerte die Heilerin daran, dass ihre Patientin Fieber habe und Ruhe brauche. Die Kräuter und Mörser und Stößel sorgsam mit der einen Hand auf dem Brett balancierend, half Iselda Mara mit der anderen Hand auf die Beine. Sanft, aber bestimmt schob sie das leicht schwankende Mädchen zu ihrer eigenen Hütte.

„Ich komme gleich wieder und bringe deinen Mantel mit“, rief Iselda über die Schulter zurück. Dann ließ sie den Türvorhang hinter sich und Mara herunterfallen. „Leg dich wieder hin“, wies sie Mara an. Sonst sagte die Heilerin nichts. Schweigend wartete sie darauf, was das Mädchen von sich aus sagen würde. Doch hinter Iseldas Rücken erklang nur das Rascheln der Decken als Mara ins Bett stieg.

Entweder ist sie genau daraufhin erzogen worden oder sie ist einfach stur, überlegte die Heilerin. Wäre Mara eine Adelige, könnte sie nur die Tochter des Herzogs Godhwar sein und als solche würde man sie dazu angehalten haben ihre wahre Herkunft zu verschweigen, damit man sie nicht als Geisel gefangen nähme. Ebenso, wenn sie die Tochter eines reichen Händlers wäre. Dementsprechend war es wohl zwecklos Mara – falls sie denn wirklich so hieß – mit Fragen zu bedrängen.

Iselda verstaute die Kräuter in den für sie vorgesehenen Krügen und schob diese wieder an ihre Plätze in dem Regal zurück. Danach versuchte sie durch kleine, überflüssige Tätigkeiten – mal schraubte sie jenen Tiegel auf und roch daran, mal setzte sie einen anderen ein Regalbrett höher oder tiefer, hier wischte sie eine Schale aus und dort prüfte sie die Schneide eines Messers – und ihre schweigende Anwesenheit, Mara doch noch zu einem Kommentar zu dem eben Geschehenen zu bewegen.

Als sich das Schweigen einige Minuten ungebrochen hingezogen hatte, gab Iselda auf. Sie wandte sich von dem Regal ab. Mara lag mit eng an den Körper gezogenen Beinen unter der Wolldecke, die Augen ein wenig zu fest geschlossen, den Mund leicht geöffnet.

Sie hat sich extra so hingelegt, dass ich ihr Gesicht sehen und mich davon überzeugen kann, dass sie schon schläft. Iselda schüttelte nur lächelnd den Kopf. Sie ging zum Bett hinüber. Aus ihrer Tasche holte sie den Elbenring und legte ihn zurück auf den Nachttisch. „Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich den Ring ausgeliehen habe ohne dich zuvor zu fragen, schließlich gehört er dir.“ Nur gleichmäßiger Atem folgte als Antwort. „Wenn etwas ist, du weißt wo ich bin“, sagte die Heilerin. „Schlaf gut“, meinte sie noch, dann ging sie, als ob sie Mara tatsächlich schlafend glaubte, leise zur Tür. Iselda würde draußen ihrer Nachbarin bei den Vorbereitungen auf den nächsten harten Winter helfen.
 

Dieser brach eines Morgens weil zu früh über das Land herein. Eisige, schneebeladene Böen überzogen das Land mit einer weißen Decke, während die Bäume ihr farbenprächtiges Herbstlaub noch trugen.

Im Dorf der Verbannten wurden die letzten Tiere in ihre pferche getrieben, undichte Dächer mit einer weiteren Reetschicht bedeckt, die Früchte des Herbstes endgültig abgeerntet und eingelagert und alles sonst Notwendige getan.

Trotz der vielen Arbeit sorgte man sich um die Männer, die Ragas ausgeschickt hatte um etwas über Mara in Erfahrung zu bringen. Sollte der Schneesturm sie unvorbereitet getroffen haben, bestand die Gefahr, dass sie weder mit noch ohne neues Wissen wiederkehren würden.

Wie gewohnt taten die Verbannten ihre Arbeit – sechzig Jahre ohne größere Veränderungen ließen eine gewisse Routine entstehen – aber hin und wieder hielten sie inne um ihre sorgenvollen Blicke nach Süden zu wenden. Dorthin war Conar gezogen, der Mann, welcher als Oberhaupt des Rates seit Jahren die Geschicke des Dorfes lenkte, welcher den Verbannten den Mut, die Hoffnung und die Stärke gab, ihr hartes Leben zu meistern. Conar war nach Süden gezogen um dort einige erste Handelsbeziehungen zu knüpfen. Zwei Männer waren mit ihm aufgebrochen. Einer der Beiden, war bereits nach einem Monat bereits zurückgekehrt, die Nachricht im Gepäck, dass alles bestens laufe. Seitdem hatte man nichts mehr von Conar gehört.
 

Die Wochen vergingen. Der Winter zog seine kalten Klauen noch einmal zurück – durch das Dorf der Verbannten ging ein erleichtertes Aufatmen.

Iseldas Patientin wurde langsam gesund, die Wunde in der Schulter schloss sich und auch von den Kratzern an Armen und Beinen war nichts mehr zu sehen auf der weißen Haut des Mädchens. Doch Maras Misstrauen blieb, ja es wuchs sogar, so fürsorglich Iselda sich auch um sie kümmerte. Tagsüber war das Mädchen schweigsam und höflich, nachts schrie sie im Schlaf.
 

Seit vier Wochen war Mara nun schon im Dorf der Verbannten. Iselda hatte sie bei sich aufgenommen, und ließ sich im Gegenzug dafür von Mara helfen. Anfangs stellte sich das Mädchen, dessen zierliche helle Hände sichtlich noch keine schwere Arbeit getan hatten, recht unbeholfen an. Doch sie lernte schnell.

So kam es, dass die Heilerin Mara, die nu eher ihre Gehilfin, denn ihre Patientin war, eines Morgens auf einen Gang außerhalb des Dorfes mitnahm. Iselda führte sie in eine besonders breite bewaldete Schlucht. Auf der Anhöhe vor dem Tal stehend, gab Iselda zwei Beutel (der eine gefüllt mit Brot und einem Apfel, der andere noch leer) und ein kleines Messer an Mara weiter. Ihren eigenen Rucksack wieder auf die Schulter schwingend, deutete Iselda auf die silbernen Kaskaden eines Wasserfalls. „Bleib immer dicht am Wasser, dann verirrst du dich auch nicht“, beruhigte die Heilerin. Mara nickte zerstreut, ganz in den Anblick der urwüchsigen Landschaft vertieft.

„Wir treffen und mittags am Wasserfall“, fügte die Heilerin hinzu.

Wieder antwortete ein zerstreutes Nicken.

Doch dann richtete Mara den Blick plötzlich auf Iselda. „Wenn ich mehr Pilze sammle als ihr, darf ich mir dann einen Tee kochen?“

„Aber nur dann“, meinte Iselda und lachte.

Damit begannen die Beiden ihren Abstieg in das Tal. Mara hielt sich, wie von Iselda angewiesen, an die westliche Seite des Tals –jene mit dem Wasserfall. Die Heilerin selbst ging die Anhöhe in östlicher Richtung hinab. Kurz fragte sie sich, ob es wirklich in Ordnung war, das Mädchen allein losziehen zu lassen. Sie schaute Mara nach, die mit fröhlich pendelndem Zopf und schnellen Schritten zwischen den Bäumen verschwand, und beschloss ihr nicht zu folgen. Stattdessen ging sie auf die östliche Steilwand zu. So oft war Iselda schon hier gewesen. Dass ein schwach erkennbarer Pfad zu den Stellen führte, an denen jene Kräuter wuchsen, sie Iselda als Heilerin oft brauchte.

Auch dieses Mal folgte sie dem sich um Bäume und durch Unterholz schlängelnden Pfad. Im Zickzack ging es den geröllübersäten Abhang hinab. Zwischen den scharfen Gesteinsbrocken hatten Brombeersträucher Wurzeln geschlagen und waren zu dichten Hecken gewachsen, durch die sich nur Iseldas Weg wand. Mit grimmigen, kleinen Dornen versuchten die Brombeersträucher ihre Früchte zu schützen. Iselda pflügte nur die leicht zu erreichenden, bevor sie unter die Bäume trat, wo des abgeschwächten Lichtes wegen die Brombeersträucher erst weniger wurden und schließlich ganz zurückblieben. Dafür erstreckte sich im Schatten der Baumkronen ein ganzes Meer von herbstbraunen Farnwedeln, Hahnenfuß und Moos.

Jetzt im Herbst war die Zeit um Wurzeln zu ernten, wie Iselda wusste. Deshalb folgte sie dem Pfad zu einem kleinen, ebenfalls von dem Wasserfall gespeisten Teich. Zügig schritt sie aus und war bald angekommen. Sie legte ihren Rucksack zwischen die allgegenwärtigen Brennnesseln und begann mit der Suche nach geeigneten Wurzeln. Stets darauf bedacht die Pflanzen nicht zu sehr zu beschädigen, begann Iselda zuerst einige Brennnesseln auszugraben. Mit einem alten Tuch zwischen ihre Haut und den feinen Stacheln wusch sie anschließend die Erde von den ausgegrabenen Wurzeln. Danach wandte sie sich einer weiteren Pflanze und deren Wurzeln zu, der Schwarzwurz. Statt diese wie die Brennnesseln ganz aus dem Boden zu ziehen, legte sie nur die Wurzeln frei und schnitt soviel wie möglich ab; was Iselda zurückließ, würde der Pflanze reichen sich zu regenerieren. Als nächstes – und letztes an diesem Ort – suchte sie nach der versteckt wachsenden Pestwurz. In diesem Jahr wuchs diese so zahlreich, dass die Heilerin sich keine Sorgen über deren Erneuerung im nächsten Jahr machte. Mit wohlgeübten Handgriffen schnitt sie die Wurzeln. Ihr Rucksack war zur Hälfte gefüllt, als Iselda sich wieder von den Knien erhob und mit in die Hüften gestemmten Händen den steifen Rücken streckte.

Sie blickte zur Sonne empor und stellte überrascht fest, dass sie bereits seit zwei Stunden in diesem Tal war – die Hälfte der Zeit hatte sie damit verbracht selbstvergessen die heilenden Wurzeln zu schneiden. Jetzt schulterte sie ihren Rucksack und machte sich auf den Weg zum Wasserfall, wo Mara – hoffentlich! – auf sie warten würde. Allerdings würde die Heilerin nicht den direkten Weg nehmen – soweit derartiges in einem Wald überhaupt möglich war – sondern unterwegs noch auf der einen oder anderen Lichtung halt machen, um zu pflücken oder auszugraben, was das Dorf für den Winter brauchen würde.

Geschäftig lief Iselda durch das Tal in Richtung Westen, Herbstlaub in Haar und Farn in den Falten ihres Rockes. Gerade kam sie an einem Haselstrauch an, der zwar seine eigenen Blätter verloren hatte, sich dafür aber in die Triebe der Misteln kleidete, da hallte ein Heller ein hoher Schrei durch das Tal. Durch das Echo klang es, als schrie gleich ein ganzer Chor vor Entsetzen.

So angstvoll der Schrei auch geklungen hatte, Iselda sammelte erst ihre Sachen ein, bevor sie losrannte. Ihr Weg war nicht mehr weit, das beständige Rauschen des Wasserfalls lag bereits in der Luft. Es wurde stetig lauter während die Heilerin eilig weiterlief. Es über tönte jedoch Maras panisch Stimme, die auf irgendjemanden einsprach, nicht. Plötzlich ertönte ein zweiter Schrei, diesmal eindeutig von einem Mann ausgestoßen, der Mara verstummen und Iselda schneller laufen ließ.

Das Rauschen des Wasser machte es unnötig sich vorsichtig zu nähern, daher schritt Iselda vom Knacken der Zweige unter ihren Füßen und dem Rascheln des Laubs begleitet auf eine sonnenbeschienene Wiese. Keiner der dort Anwesenden beachtete sie. Mara drückte sich mit weit aufgerissenen Augen und totenbleichem Gesicht an einen Baum. Vor ihr, die weißen Reißzähne weit gebleckt, stand ein großer rauchfarbener Wolf. Doch weder war er dem Mädchen zugewandt, noch schien Mara das Raubtier überhaupt zu bemerken. Sie starrte auf einen Mann, der, einen tropfenden Speer in der Hand, am Ufer des Beckens stand in welches der Wasserfall unablässig donnerte.

„T-tut mir n-nichts“, stotterte Mara. „Mein V-vater wird Euch reich entloh-lohnen, wenn Ihr mir nu-nur nichts tut. Mein Vater i-ist . . .“

Weiter kam ihre verängstigte Patientin nicht, denn Iselda trat unter der Tanne hervor, die sie verborgen hatte und herrschte den Mann an: „Mach das du wegkommst, Frigg!“ Der Angesprochene drehte sich um – ebenso wie der Wolf. Unter dem glühenden Blick des Tieres wäre Iselda am liebsten zurückgewichen, irgendwohin wo diese klugen Augen sie nicht finden konnten. Aber sie blieb. Widerstrebend wandte sie sich von dem Wolf ab und wieder Frigg zu. Dieser hatte seinen Speer mittlerweile auf den Wolf gerichtet.

„Ich habe gesagt du sollst verschwinden!“ Iselda sprach mit soviel Nachdruck wie möglich.

Versuchsweise machte Frigg einen Schritt auf das Ufer zu – er war vor dem Wolf so weit zurückgewichen, dass ihm das Wasser bis an die Oberschenkel reichte – was den Wolf erneut dazu veranlasste seine beeindruckenden Zähne zu fletschen. Den Speer schützend vor sich haltend, kam der Mann aus dem Wasser, langsam, Schritt für Schritt. Als er mit dem Wolf auf gleicher Höhe auf dem weichen, kurzen Gras des Ufers stand, verharrte er kurz und rannte dann plötzlich in den Wald davon. Seine Stiefel blieben einsam im Gras zurück.

Der Wolf schoss, ohne Iselda noch eines Blickes zu würdigen, in die entgegen gesetzte Richtung davon. Schnell gingen die Geräusche seines Laufes im Rauschen des Wassers unter.

Ein dutzend Schritte überbrückte die Distanz zwischen der Heilerin und Mara. Diese lag mit dem Gesicht gegen die Knie gedrückt und zur Kugel gekrümmt da. Ihre Hände zupften in abgehackten, zwanghaften Bewegungen am Saum ihres Rockes. Als Iselda sie berührte, schrie Mara auf.

Iselda trat einige Schritte zurück und setzte sich ins weiche Gras. „Der Mann ist weg, Mara, du brauchst keine Angst mehr zu haben . . .“ Mit möglichst ruhiger Stimme sprach sie auf das Mädchen ein. Währenddessen kochte in Iselda die Wut auf den nunmehr bekannten Schänder Maras. Wilde Flüche und Beschimpfungen schwirrten durch ihren Kopf, doch Iselda sprach mit sanfter Stimme beruhigende Worte. Als ihr nichts mehr zu sagen blieb, fing sie an eine alte Melodie zu summen.

„Als Dach die Himmelshalle weit . . .“, murmelte Mara mit tränenerstickter Stimme die erste Zeile des Lieds.

Gleichmäßig weitersummend erhob sich Iselda. Maras Messer lag nicht weit entfernt auf der Wiese. Die Heilerin ging hinüber, hob das Messer auf und entdeckte den Beutel, den Mara zum Pilze sammeln benutzt hatte zwischen den knorrigen Wurzeln einer Weide. Immer noch summend sammelte Iselda die Pilze ein, die das Ergebnis von Maras Such waren. Flüchtig registrierte die Heilerin welche Pilze durch ihre Hände zurück in den Beutel wanderten und dass das Mädchen erstaunlich gute Arbeit geleistet hatte.

„Werde ich mir einen Tee kochen dürfen?“ Mara hatte sich inzwischen aufgerichtet und beobachtete Iselda mit tränenfeuchten Augen und gerötetem Gesicht.

Verblüfft und so gerührt, dass sie Mühe hatte die eigenen Tränen zurückzuhalten, beeilte sich die Heilerin zu versichern: „Natürlich! Natürlich darfst du das!“

Eilig verstaute Iselda das Pilzmesser und den Beutel in ihrem Rucksack. Dann ging sie hinüber zu ihrem Schützling und dieses Mal zuckte Mara nicht zurück. Allerdings zitterte sie so sehr, dass sie ohne Iseldas Hilfe weder aufstehen, noch laufen konnte.

Also zog sie einen Arm des Mädchens über ihre Schultern und legte ihrerseits einen Arm um Maras Rücken. So machten sie sich auf den Rückweg. Auch dieses Mal folgten sie einem gewundenen Pfad durch den Wald, der hier auf der Westseite dichter und weniger von Unterholz durchsetzt war. Dennoch kamen sie nur langsam voran. In der frühen Walddämmerung stapfte Iselda entschlossen weiter und zog Mara mit, vorbei an den gewaltigen Stämmen alter Bäume und immer wieder über deren Wurzelgeflecht stolpernd.

Ich bin zu alt für so was, dachte Iselda, als sie Mara wieder auf die Füße zog – das Mädchen war über etwas gestolpert, was sich im Schatten der Bäume weder erkennen, noch überhaupt ausmachen ließ. Und sie ist zu jung für so etwas, fügte Iselda mit jäh wieder aufkeimendem Zorn hinzu; Maras schreckensbleiches Gesicht war das Einzige, was in der unter den Bäumen herrschenden Dunkelheit gut zu erkennen war.

Iseldas Gefühl nach brauchten sie lange um zum Waldrand und der daran anschließenden geröllübersäten Anhöhe zu gelangen. Darum war sie umso überraschter über das helle Licht, das sie empfing. Das Licht und der in den erstaunlichsten Farben getränkte Himmel, schienen auch dem Mädchen einen gewissen Auftrieb zu verleihen – angesichts solcher Pracht viel es schwer zu verzweifeln. Der Aufstieg über die losen Gesteinsplitter, zwischen den hartnäckigen Brombeeren hindurch, war weit einfacher als die Heilerin befürchtet hatte. Zwar stützte sich das Mädchen immer noch auf Iseldas schmerzende Schultern, aber sie lief nun mehr als das sie sich mitziehen ließ.

Auf der Kuppe der Anhöhe angekommen, ruhte Iselda sich kurz aus. Mara blieb, weiterhin mit wackligen Knien, neben ihr stehen. „Ich glaube ich kann jetzt wieder alleine laufen“, sagte sie, ohne den Blick von ihren Stiefelspitzen zu heben.

„Das ist gut,“, schnaufte Iselda „noch besser wäre es allerdings wenn du auch von alleine reden würdest.“

Genau das tat Mara auf dem weiteren Rückweg.
 

Der Fels der Canyons und das Ufer des Velduin beschrieben einen scharfen Bogen nach Norden – oder nach Süden, je nach dem aus welcher Perspektive man es betrachtete.

Auf dem sandigen Streifen zwischen Beidem liefen Mara und Iselda auf das Dorf zu, welches hinter der Kehre in Sicht gekommen war. Als sie näher kamen, hoben sich die gedrungenen Häuser des Dorfes deutlicher von den sie umgebenden Felswänden ab – ebenso die aufgeregt durch die Straßen wimmelnde Menge. Leise drangen freudig klingende Rufe an die Ohren der beiden Zurückkehrenden.

Die Heilerin und das blasse Mädchen waren noch einmal ein dutzend Schritte weitergegangen, als eine Frau sich aus der Menschenmenge löste und wild winkend auf sie zu gerannt kam.

Die Stimme der Heraneilenden übertönte noch die Jubelrufe aus dem Dorf: „Er ist endlich zurück! Oh Iselda, Mara, Conar ist gesund zurückgekehrt!“

Noch bevor Gelina bei ihnen angekommen war, raunte Iselda ihrem Schützling zu: „Du wirst sehen, jetzt kommt alles in Ordnung. Conar wird uns sagen was mit dir geschehen soll. Und wenn du ihm die ganze Wahrheit sagst, so wie du sie mir eben erzählt hast, wird er sicher dafür sorgen, dass du nach Hause gebracht wirst.“

Iseldas Freundin und Nachbarin kam bei ihnen an, bevor Mara die Zweifel äußern konnte, die ihr deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Gelina war vor Aufregung und vom schnellen Laufen noch ganz atemlos, begann aber trotzdem einen der Ereignisse, die die beiden verpasst hatten.

Zu dritt gingen sie nun ins Dorf, die beiden älteren Frauen mit Freude in den Augen und einem erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht, das Mädchen blass und ängstlich hinter ihnen. So gesellten sie sich zu der Menge, die sich jubelnd um einen hellhaarigen Mann drängte.



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