Mein ist die Dunkelheit von MariLuna ================================================================================ Kapitel 40: XL. Kapitel -----------------------     Leise rieselt Schnee von einem Ast. Sofort streckt Urushihara die rechte Hand aus und fängt etwas davon auf, um es dann fasziniert auf seiner behandschuhten Handfläche zu betrachten. Wie strahlend sich das Weiß von der roten Wolle doch abhebt! Wenn er sich konzentriert, kann er sogar sehen, wie sich einzelne Fäden mit den weißen Flocken vermischen. Dort, wo der Schnee schmilzt, glitzern kleine Wassertröpfchen auf der Wolle in allen Farben des Regenbogens, wenn ein Sonnenstrahl sie trifft. Wie wunderschön! Warum hat er früher nie auf so etwas geachtet? Als er die Hand wieder sinken lässt, bewundert er kurz das Spiel von Licht und Schatten auf dem dunkelgrauen Kunstwildleder seines Mantelärmels und wie sanft sich der Pelzbesatz in einer leichten Windböe bewegt. Wieder streckt Urushihara den Arm aus, doch diesmal, um jenen Baum zu berühren, von dem eben dieser Schnee fiel. Gedankenverloren fährt er mit seinen Fingern die tiefen Furchen in der Rinde nach. Durch die Wolle seiner Handschuhe spürt er sie nur gedämpft, doch er kann sie sehen. Er sieht, wie seine Finger über die senkrechten Spalten fahren, er sieht das graugrüne Moos und wie es in feinen Krümeln an seinen Handschuhen hängenbleibt. Er ist froh, dass sie sich zu einem gemütlichen Waldspaziergang entschlossen haben und nicht wieder zu einer wilden Rodelpartie. Er möchte sehen und das auch ganz bewusst genießen. So richtig fassen kann er es immer noch nicht und in unregelmäßigen Abständen durchzuckt ihn ein zweifelnder Gedanke wie „es ist zu schon, um wahr zu sein“, doch dann fixiert er sein Augenmerk auf etwas in seinem derzeitigen Sichtfeld – eine Farbe, eine Form, heruntergefallenem Schnee auf seinem Handschuh – und lässt sich von den warmen Gefühlen, die ihn dabei ergreifen, absichtlich vereinnahmen, bis es ihm absolut egal ist, ob das hier wahr ist oder nicht. Sein Augenlicht kehrt genauso allmählich zurück, wie er es zuvor verlor. In der ersten Viertelstunde konnte er nur hell und dunkel unterscheiden, dann kristallisierten sich langsam Farben und Formen heraus und weil er es nicht erwarten konnte, hob er seine Hand, in der er Okto hielt und so war das das allererste, was er sah, dieses Kuscheltier. Und er stellte fest, dass sein selbstgestricktes Spielzeug gar nicht so häßlich ist, wie alle immer behaupteten. Ja, die Maschen sind etwas krumm und schief an einigen Stellen, und die Farbkombination ist auch gewöhnungsbedürftig, aber häßlich ist Okto nicht.   „Okto ist nicht häßlich“, protestierte Alas-Ramus auch sofort lautstark, als er ein entsprechendes Kommentar machte. „Das habe ich doch so auch gar nicht gemeint“, versuchte er sie sofort hastig zu besänftigen, doch es war schon zu spät. Sie schmollte. Und das tat weh, denn so war sie noch nie zu ihm. Die nächsten Minuten verbrachte er damit, sich wieder mit ihr zu vertragen und darüber wurde sogar seine zunehmend bessere Sehkraft nebensächlich. Und so war das zweite, was er ganz klar und deutlich erkennen konnte, ihr fröhliches Lächeln, als sie ihm verzieh und sich in seine Arme warf. Und, oh Hölle, wie hatte er dieses Lächeln doch vermisst!   Jetzt, in der vierten Stunde, sieht er das meiste zwar immer noch verschwommen, aber es wird kontinuierlich besser. Immerhin sieht er schon alles in einem Abstand von einem Meter gestochen scharf. Bis zum Nachmittag wird es so sein, als wäre nie etwas geschehen. Als wäre er nie erblindet. Die zwei Flaschen reichten gerade aus, um seine Sehnerven zu heilen – und seinen lästigen Husten – aber für anderes blieb nichts mehr übrig. Es genügte nicht einmal, um seine Flügel zu materialisieren. Aber er kann sie ganz deutlich spüren – Phantomschwingen, die aus seinem Rücken sprießen, ein verlockendes Versprechen, dass er nur einen einzigen Schluck mehr bräuchte oder eine einzige negative Emotion eines x-beliebigen Menschen und er wäre wieder vollständig. Nicht mächtig, aber vollständig. Und je nachdem, welche Form der Energie er absorbieren würde, sähe die Farbe seiner Federn aus. Doch das ist etwas, woran er erstaunlicherweise keinen ernsthaften Gedanken verschwendet. Vielleicht morgen, wenn die Magie, die in seinen Knochen summt, bis dahin nicht wieder erloschen ist. Schließlich ist die Heilung seiner Sehnerven noch nicht vollständig abgeschlossen. Aber er kann sehen. Er kann sehen. „Alles in Ordnung?“ Urushihara weicht wieder vom Baum zurück und schenkt seinem König ein kleines Lächeln. „Ja“, erwidert er knapp. Ohne dass er es bemerkt, wandert seine rechte Hand hoch zu seiner linken Brust. Sein Herz pocht plötzlich wie verrückt. Mao ist so … atemberaubend. Die grüne Mütze und die Handschuhe und der Schal in derselben Farbe, sowie der hellblaue Mantel harmonieren perfekt mit seinem Teint, den dunklen Locken und den roten Augen. Dazu noch die dunklen Jeans und diese Fellstiefel. Ashiya weiß es wirklich, seinen König vorteilhaft zu kleiden – und das trotz ihres immer so knappen Budgets! Fröhliches Kinderlachen reißt ihn aus seinen schwärmerischen Gedanken und unwillkürlich dreht er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. „Vorsichtig, Alas-chan“, sagt Ashiya, während er dem Kleinkind umsichtig über einen umgestürzten Baum hilft. Die Kleine, für Urushihara im Moment nicht mehr als ein verschwommener, rosaroter Farbklecks, lacht abermals vergnügt und für einen Moment fängt sich ein Sonnenstrahl in ihrem Haar und lässt es silbern aufleuchten. So hell und strahlend, dass selbst er es deutlich sehen kann. Sie folgen etwas, von dem Urushihara nicht weiß, ob es sich dabei wirklich um einen Weg oder nur um einen Wildwechsel handelt. Es liegen jedenfalls ziemlich viele Felsbrocken und Baumstämme im Weg. Emi und Chiho, fröhlich miteinander schwatzend, helfen sich gegenseitig über das Hindernis und dann dreht sich Chiho zu ihnen um, als wolle sie sehen, wo sie bleiben. Aus dieser Entfernung kann er ihre Miene nicht erkennen, aber er spürt ihr Lächeln und als sie winkt, winkt er unwillkürlich zurück. Von einem plötzlichen, warmen Gefühl ergriffen, bleibt er stehen und lässt seine Blicke noch ein mal über diese vier Farbkleckse schweifen. Es ist Mittag und die Sonne steht im Zenit eines wolkenlosen, stahlblauen Himmels. Goldenes Sonnenlicht fällt durch das Geäst der Bäume und lässt den Schnee aufglitzern. Ein märchenhafter Anblick, den Urushihara gierig in sich aufsaugt. „Urushihara!“ schreit Ashiya plötzlich. „Sonnenbrille!“ Schuldbewußt zuckt Urushihara zusammen und schiebt sich besagte Sonnenbrille vond er Stirn wieder zurück auf die Nase. Mao neben ihm kichert leise. „Er ist so eine Glucke, nicht wahr?“ Urushihara nickt nur zustimmend, spart sich aber jedes Kommentar. Er will nicht lügen, denn eigentlich findet er es ganz schön, wie sich der Iron Scorpion um ihn sorgt. Es ist ungewohnt, aber es fühlt sich gut an. Langsam, Seite an Seite, setzen sie sich in Bewegung und folgen den anderen, die inzwischen schon einen ziemlich großen Vorsprung haben. Doch schon nach drei Metern hält Mao plötzlich inne und Urushihara bleibt automatisch ebenfalls stehen. „Lucifer. Cor meum. Da ist etwas, was ich dir schon die ganze Zeit sagen wollte, nur waren wir bisher nie allein.“ „Oh. Muss ich mir Sorgen machen?“ Obwohl er versucht, lässig zu klingen, kann er doch nicht ganz die Anspannung aus seiner Stimme vertreiben. Jetzt kommt es, flüstert Gabriels Stimme in seinem Hinterkopf und mit ihr lauert plötzlich wieder die altbekannte Kälte am Rande seines Bewußtseins. Mao streckt beide Hände aus und schiebt Urushihara entschlossen die Sonnenbrille wieder hoch in die Stirn. Für die Dauer eines Herzschlages starrt er ihn einfach nur an, dann holt er einmal tief Luft, umfasst das Gesicht seines Generals mit beiden Händen und sieht ihm ernst in die Augen. „Siehst du mich?“ fragt er ihn. „Kannst du mein Gesicht deutlich erkennen?“ Urushihara nickt beklommen. „Gut.“ Mao holt noch ein weiteres Mal tief Luft. „Lucifer“, beginnt er dann und starrt eindrücklich in dessen violette Augen. „Te amo. Als ich dir diese Worte vor dreihundert Jahren sagte, waren sie wahr, und heute sind sie es mehr denn je.“ Er spricht langsam und deutlich, betont jedes einzelne Wort und versucht, sich von Urushiharas intensiven Blick, der die ganze Zeit prüfend über seine Miene huscht, nicht verunsichern zu lassen. Er weiß, dass Urushihara in seiner Miene nach Mikroausdrücken sucht, nach jenen unbewussten Anzeichen, die eine Lüge von der Wahrheit unterscheiden. Jedes seiner Worte ist ernst gemeint und in Gedanken drückt er ganz fest die Daumen, dass sein General dies auch erkennt. Jetzt, wo sein Hauptsinn wieder funktioniert, muss er doch verstehen, dass dies hier die Realität ist. Plötzlich weiten sich Urushiharas Augen kurz und seine sonst immer so kontrollierte Miene wird auf einmal ganz weich und sanft. „Sie sind tatsächlich wahr“, murmelt er mit belegter Stimme. „Dann glaubst du mir jetzt?“ hakt Mao atemlos nach. „Ja. Ja, ich glaube dir.“ Mao ist nicht naiv, er weiß, dass dies hier nur ein kleiner, erster Schritt ist, dass Urushiharas Schlafstörungen – die Alpträume, das Schlafwandeln und die Paralyse - nicht plötzlich verschwinden, nur, weil er jetzt wieder sehen kann und deshalb nicht mehr an der Realität zweifelt, aber es ist ein wichtiger Schritt auf einem langen Weg, den sie gemeinsam gehen werden. Überglücklich senkt er den Kopf und küsst Urushihara sanft auf den Mund. Er versucht, all seine Dankbarkeit und Liebe, die er für ihn empfindet, in diesen einen süßen Kuss zu legen und obwohl er es inzwischen gewohnt sein sollte, macht sein Herz einen aufgeregten Sprung, als Urushihara diesen Kuss sofort bereitwillig entgegnet. Und plötzlich wird dieser Kuss gieriger und kompromissloser als jemals zuvor und er fühlt sich am Mantelkragen gepackt und nach hinten gedrängt. Und dann spürt er auf einmal einen Baum im Rücken und von vorne presst sich Urushihara mit seinem gesamten Körpergewicht gegen ihn und Urushiharas Zunge in seinem Mund nimmt ihm den Atem und oh, er schmeckt so, so, so gut... Urushihara zeigt eine völlig ungewohnte Leidenschaft, so unverfälscht und stürmisch, so wild und hitzig wie noch nie zuvor. Er ist wie eine Naturgewalt. Jede Gegenwehr ist von vorneherein vergebens. Unwillkürlich keucht Mao in diesen unglaublichen Kuss hinein und krallt seine Finger haltsuchend in Urushiharas Rücken. Ihm wird schwindlig und auch die Knie werden ihm ganz weich, doch er weiß nicht, ob das an diesen Kuss oder dem zunehmenden Sauerstoffmangel liegt. Vielleicht auch am Blutverlust, denn das rauscht ihm zunehmend in südlichere Gefilde. Als Urushihara nach einer gefühlten, süßen Ewigkeit von ihm ablässt, entfährt Mao etwas, das wie ein enttäuschtes Winseln klingt. Entschlossen umfasst er Urushiharas Gesicht mit beiden Händen und zieht ihn wieder zu sich heran. Es folgt ein sanfter, geradezu bedächtiger Kuss, in dessen Verlauf sich - das fühlt Mao genau - ihre Atmung und ihr Herzschlag angleichen, bis sie völlig synchron schwingen. Wieder ist es Urushihara, der den Kuss beendet, aber diesmal lässt Mao es zu. „Rwy'n dy garu di." „Hm?" blinzelt Mao benommen. Er hat sich bestimmt verhört, oder? Diese Worte hat sein General noch niemals zu ihm gesagt. „Ich liebe dich", wiederholt Urushihara leicht atemlos und blickt ihm dabei tief in die Augen. „Und nochmal wiederhole ich das nicht." „Hmmm", summt Mao glücklich. „Aber nachher vielleicht?" Urushiharas Lippen verziehen sich zu einem verschmitzten Lächeln. „Vielleicht." Er weicht einen halben Meter zurück, zwinkert ihm schelmisch zu und schiebt sich lässig die Sonnenbrille zurück auf die Nase.  „Kommst du jetzt?" Auffordernd streckt er ihm die Hand entgegen. „Wir sollten uns beeilen, wenn wir die anderen noch einholen wollen." Mao würde viel lieber mit ihm zurück in die Blockhütte und dort unaussprechliche Dinge mit ihm anstellen, doch dann denkt er an Alas-Ramus, seufzt innerlich und ergreift die ausgestreckte Hand seines Generals.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)