Mein ist die Dunkelheit von MariLuna ================================================================================ Kapitel 3: III. Kapitel -----------------------   „Autsch. Fuck!“ Urushihara flucht auf, als er zum gefühlt hundertsten Mal über irgend etwas stolpert und bäuchlings im Schnee landet. „Scheiße!“ Vor Wut und Frust steigen ihm die Tränen in die Augen und für einen Moment bleibt er einfach liegen. Obwohl er in der Dunkelheit lebt, wurde ihm trotzdem kurzzeitig schwarz vor Augen – sein Gleichgewichtssinn mag die plötzliche Veränderung von vertikal zu horizontal gar nicht. Dabei sollte er das wirklich langsam gewohnt sein, schließlich schlägt er alle paar Meter lang hin. Mal ist es eine Unebenheit im Boden, mal ein Ast oder ganz einfach ein Schneeklumpen, über den er zielsicher stolpert. Allmählich ist er es wirklich leid! Die Verlockung, einfach liegen zu bleiben, wird mit jedem neuem blauen Fleck größer, doch so kurz vor dem Ziel kann er doch nicht aufgeben! Mühsam rappelt er sich auf – zuerst auf die Knie und dann langsam auf die Füße. Dieser verdammte Schnee ist einfach überall – mürrisch puhlt er sich das weiße Ungemach aus dem Kragen, bevor es schmelzen kann. Er hat die Kälte noch nie gemocht und wünschte sich, er hätte genug Magie, um wenigstens seine Flügel zu materialisieren. Er könnte zwar nicht fliegen - das einzige Lebewesen, das unfallfrei blind fliegen kann, ist schließlich eine Fledermaus – aber die Federn könnten ihn warm halten. Leider ist sein Magievorrat auf Null – das letzte bißchen brauchte sein Körper, um damals diese Krankheit zu überstehen. Es war nicht einmal genug, um ihn vor den Spätschäden zu bewahren, wie ihm jeder Tag aufs Neue beweist. Und Mao oder Ashiya darum zu bitten ihre Magie mit ihm zu teilen, kann er sich von vorneherein abschminken. Mal ganz davon abgesehen, dass er ihnen dann den Grund dafür nennen müsste … nein, das ist ein zu großes Risiko, dass er einzugehen noch nicht bereit ist. Mit suchend ausgestreckten Armen macht er einen kleinen, zögernden Schritt nach vorne. Wenn er sich nicht irrt, sollte hier bald wieder ein Leitpfosten stehen. Als seine Fingerspitzen kaltes, glattes Plastik berühren, kann er sich einen erleichterten Seufzer nicht verkneifen. Jesses. Ich muss ein wahrlich erbärmliches Bild abgeben. Wenn jetzt ein Auto vorbeikäme – würden sie anhalten und ihm helfen oder würden sie nur Gas geben, weil sie ihn für einen sturzbesoffenen Penner oder – schlimmer noch – einen Junkie halten? Er wird es wahrscheinlich nie herausfinden, denn hier kommt bestimmt niemand vorbei, das hier ist eine wirklich einsame Gegend. Deshalb hat Emi diese Hütte mitten im Nirgendwo ja gebucht. Hier gibt es nur Bäume und einen leichten Abhang, der im Prospekt als „zum Rodeln und für Skianfänger“ angepriesen wurde. Er weiß das deshalb so genau, weil Mao und Emi lautstark darüber diskutiert hatten, ob sie den Schlitten nehmen, der quasi zum Inventar der Hütte gehört oder lieber einen neuen für Alas-Ramus kaufen sollten. „Ich trau der Sache nicht“, argumentierte Mao. „Da steht zwar, der Schlitten sei in tadellosem Zustand, aber wer garantiert uns, dass das stimmt? Nein danke, ich will das Risiko nicht eingehen, dass das Ding plötzlich unter Alas zusammenbricht und sie sich verletzt.“ „DU würdest sicherlich deinen Gästen nur Schrott andrehen“, erwiderte die Heldin scharf. „Du bist schließlich ein DÄMON.“ „Ich kaufe Alas einen eigenen Schlitten und damit basta“, schnitt er ihr gereizt das Wort ab. „Und von welchem Geld?“ wollte sie spöttisch wissen. „Du bist doch chronisch pleite.“ „Mylord“, warf Ashiya da ein. „Wir haben doch noch den Erlös aus dem Verkauf von Urushiharas Computerkram. Ich bin sicher, Urushihara hat nichts dagegen, oder?“ wandte er sich lauernd an ihn. Urushihara hatte gerade Alas-Ramus auf dem Schoß und die Kleine malte voller Hingabe mit Buntstiften ihr neues Malbuch aus, doch bei Ashiyas Tonfall hielt sie kurz inne und er konnte ihr Stirnrunzeln regelrecht SPÜREN. Doch weil er keinen Ärger heraufbeschwören wollte, in dessen Verlauf Emi bestimmt nur wieder einfiel, welch schlechter Umgang er für Alas-Ramus doch sei, ließ er sie nicht zu Wort kommen und beeilte sich, Ashiya zu versichern, dass er ganz und gar nichts dagegen hätte. Und das war die reine Wahrheit. Für Alas-Ramus würde er alles tun – wenn man ihm die Gelegenheit dazu gäbe. Und sich nicht so krampfhaft bemühen würde, ihn aus ihrem Leben zu verbannen. Er holt einmal tief Luft, strafft die Schultern und geht entschlossen weiter. Er sollte wirklich nicht so viel Zeit vertrödeln und sich jetzt mal am Riemen reißen, jede Minute, die er hier unnütz verschleudert, ist eine, in der er nicht bei ihr sein kann.       Kalt. Ihm ist so furchtbar kalt. Mit klappernden Zähnen verkriecht er sich noch tiefer in seinem Parka, vergräbt die untere Hälfte seines Gesicht so weit in seinem Wollschal, wie es nur geht und versucht, nur dort hinein zu atmen, um sich wenigstens so irgendwie ein wenig warm zu halten. Seine Mütze blieb im Auto zurück und die Kapuze ist nur ein schwacher Ersatz. Er muss froh sein, seinen Schal zu haben. Handschuhe hat er natürlich auch keine. Seine Finger sind schon ganz steif und inzwischen muss er alle paar Schritte anhalten und eine Pause einlegen, um sie in seinen Manteltaschen wenigstens ein kleines bißchen aufzuwärmen. Dass er dabei unabsichtlich mit seinen gefühllosen Fingern immer mal wieder alte Notizzettel, Bonbons oder alte Papiertaschentücher aus den Taschen zieht, ist nicht weiter tragisch. Auch der Packung Tabletten gegen Reisekrankheit weint er keine Träne nach. Er hat sie eh nicht gebraucht – er ist blind, da geraten Innenohr und Auge nicht in Konflikt. Seine Füße sind noch trocken, aber das wird nicht mehr lange so bleiben, der Schnee ist ihm schon unter den Saum seiner Jeans gekrochen und hat seine Socken auf Knöchelhöhe durchnässt. Diese Boots sind nun einmal nicht für kniehohen Schnee gedacht. Er hatte auch nie vor, abseits der geräumten Wege zu gehen! Während die anderen sich beim Skifahren und Rodeln vergnügen, wollte er es sich im Inneren der Hütte gemütlich machen. Das hätte zwar auch bestimmt wieder nur zu Diskussionen und Streit geführt, aber letztendlich hätte er sich bestimmt irgendwie durchgesetzt. Auch, wenn er dafür den Rest dieser sogenannten Ferien ihre Gehässigkeiten und Sticheleien hätte ertragen müssen. Er wollte schließlich von Anfang an nicht mit! Eine scharfe Windböe lässt ihn auf der Stelle erstarren und nach Luft schnappen. Er zittert noch heftiger und schlägt bibbernd die Arme um seinen Oberkörper. „Au...“ Ihm entweicht ein dünnes Wimmern, dessen er sich unter normalen Umständen furchtbar geschämt hätte. Er, Lucifer, der höchste aller Erzengel und mächtiger Dämon, jammert, weil ihm kalt ist. Aber seine Finger schmerzen. Sie tun so furchtbar weh, dass ihm die Tränen kommen. Aber das tut erst recht weh! Egal, wie tief er sie in seinen Taschen vergräbt, und völlig egal, wie sehr er in seinen Parka kriecht – diese verdammte Kälte ist überall. Sie ist ihm regelrecht in die Knochen gezogen. Bei jedem Atemzug ziehen sich seine Nasenlöcher zusammen, so sehr beißt die Kälte. Er fühlt sich schwach und elend und der dumpfe Schmerz in seinem Magen erinnert ihn daran, dass er heute außer dem Anpan, den Alas-Ramus mit ihm im Auto teilte, noch nichts gegessen hat. Er besitzt kaum noch schützendes Körperfett – er hat nie viel besessen, aber seit seiner Erblindung hat er rapide abgebaut. Nahrungsaufnahme wurde zu einer wahren Herausforderung, denn mit Stäbchen zu hantieren hat sich als nahezu unmöglich erwiesen. Er kann nicht sehen, was auf seinem Teller liegt – wie soll er es dann zwischen die Eßstäbchen klemmen? Einmal hat er es versucht, stellte sich dabei aber so ungeschickt an, dass er von allen Seiten nur Hohn und Spott erntete - auch von denen, die nicht zugegen gewesen waren, weil Mao und Ashiya natürlich alles weitertratschten. Und wenn er sich heimlich aus dem Kühlschrank bediente, fiel das schnell auf und dann machte Ashiya ihm die Hölle heiß. Zuerst konnte er gut damit leben, aber schon nach zehn Tagen wurde ihm alles irgendwie zu viel und er brach mitten während Ashiyas Standpauke in Tränen aus – vor den Augen von Mao, Chiho, Emi und Suzuno. Und der kleinen Alas-Ramus. Es gelang ihm zwar, sich mit migräneartigen Kopfschmerzen heraus zu reden, aber es war ihm so peinlich, dass er fortan darauf verzichtete, den Kühlschrank zu plündern. Alas-Ramus ist die einzige, die weiß, wie es um ihn steht und sie hilft ihm auf ihre Art, indem sie ihn füttert, wenn sie zu Besuch ist. Da sie daraus ein Spiel macht – „Lucifer, mach die Augen zu. Rate, was das ist.“ - finden das alle nur süß. Außerdem teilt sie alles, was sie bekommt, mit ihm. So wie dieses Anpan heute. Leider, Lucifer seufzt einmal schwer und krümmt sich kurz unter einem Magenkrampf zusammen, ist das letzte gemeinsame Essen schon fünf Tage her, weil sich Emi standhaft weigert, Alas-Ramus in seine Nähe zu lassen. Eifersüchtige, dämliche Bitch. Sein berechtigter Zorn auf die Heldin nimmt ihn so gefangen, dass er die Kälte fast gar nicht mehr spürt. Doch es dauert nicht lange, da legt sich dieser Zorn und zurück bleibt nichts als Leere. Hat er sich zuvor noch auf jeden Schritt stark konzentriert, lässt seine Aufmerksamkeit zunehmend nach, und allmählich gleitet er in einen Zustand ab, wo sein Unterbewußtsein die Regie übernimmt. Seine Gedanken kommen zum Stillstand, sein Kopf wird völlig blank, während er robotermäßig einen Schritt vor den anderen setzt. Als es ihm auffällt, ist es zu spät. Er ist schon seit einer Ewigkeit gegen keinen Leitpfosten mehr gelaufen. Die Erkenntnis versetzt ihm einen regelrechten Schock. Scheiße. Er spürt, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. Er muss irgendwo einen Fehler gemacht haben und vom Weg abgekommen sein. „Ich bin der Straße gefolgt. Ich bin ganz sicher der Straße gefolgt.“ Verzweifelt hockt er sich hin, macht sich so klein wie möglich ohne sich gleich in den Schnee zu legen und lässt die nächste eisige Windböe auf diese Art über sich hinwegziehen. Prüfend tastet er den Grund um sich herum ab. Festgedrückter Schnee, so weit er es beurteilen kann. Ist das, was er für eine Straße gehalten hatte, vielleicht nur ein Weg? Ein Wanderweg? Ist er vielleicht gar nur immer tiefer in den Wald hinein gegangen? „Scheiße.“ Verzweifelt vergräbt er sein Gesicht in seinen tauben Händen. „Ich finde hier nie wieder raus.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)