Way Home von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 3: Vermisst ------------------- Am selben Abend nach dem Essen klingelt es bei Daichis an der Tür. „Elsa! Für diiich!“ Elsa zuckt kurz zusammen, als sie den späten Besucher erkennt. Vor der Tür steht Mario, in jeder Hand einen dampfenden Coffee to go. „Dürfte ich meine verpatzte Einladung zum Kaffee wieder gut machen?“, fragt er und streckt ihr einen der Becher entgegen, „Summer flavoured Caramel Latte.“ „Warst du noch mal eben in Tokio?“, entfährt es ihr schneller als ihr lieb ist. Mario verzieht gespielt empört das Gesicht. „Es ist vielleicht nicht Starbucks, aber Coffee Shops haben wir hier auch.“ Erneut wackelt er mit dem offensichtlich heißen Becher vor ihren Augen. „Auf einen Spaziergang? Hab gehört, man soll die im Gehen trinken.“ Elsa kneift rasch die Lippen aufeinander, um nicht laut zu lachen. „Da kann ich wohl nicht ‚nein‘ sagen“ seufzt sie, „aber nur eine Stunde!“ Sie verabschiedet sich noch kurz von ihren Eltern, streift eine Jacke über und schlüpft in ihre Sneaker. Dann erst nimmt sie das begehrte Getränk aus seiner Hand entgegen. Elsa achtet sehr genau darauf, jede Berührung mit seiner Hand zu vermeiden. Sie glaubt einen kurzen Anflug von Enttäuschung auf Marios Gesicht zu erkennen. „Es tut mir Leid wegen vorhin,“ beginnt er, nachdem sie die ersten Meter still nebeneinander zurückgelegt haben. „Ich wollte dich nicht überrumpeln. Es war nur so… dein Lachen… dich lachen zu sehen, hat mich so sehr an unsere gemeinsame Zeit erinnert und da ist es einfach über mich gekommen. Ich wollte dich nicht…“ er seufzt auf der Suche nach Worten. „Schon gut,“ unterbricht sie ihn, „Mach dir keinen Kopf. Es hat nichts zu bedeuten.“ Verdutzt blickt Mario sie an, doch Elsa sagt dazu nichts weiter und nimmt einen Schluck Caramel Latte. Er presst die Lippen aufeinander und dreht nachdenklich seinen Becher in den schwitzigen Händen. „Ich glaube ich habe dich auch sonst ziemlich überrumpelt heute Nachmittag. Wir haben nur über mich und mein Leben hier gesprochen. Von dir hast du gar nicht richtig erzählen können.“ Er macht eine Pause und sieht sie erwartungsvoll an. Elsa hat die Augenbrauen zusammengezogen und starrt geradeaus auf die Straße. „Was soll es da zu erzählen geben?“, fragt sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. „Nun ja, wie ich dir schon gesagt habe: Du sahst toll aus, als wir uns in Tokio begegnet sind, so selbstbewusst und zielstrebig, aber…“, er zögert etwas, „aber du hast kein einziges Mal gelacht, nicht einmal gelächelt. Deshalb habe ich mir etwas Sorgen gemacht. Und als du dann heute bei mir im Büro so gelöst gelacht hast, so wie früher, da warst du wieder die Elsa, die ich kenne. Also, wie geht es dir dort wirklich, Elsa? Du kannst es mir gerne erzählen, ich höre zu.“ Ihre Schritte sind bei seinen letzten Worten immer langsamer geworden bis sie schließlich zum stehen kommt. Was ist das? Sie gibt sich doch solche Mühe. Wie kann er sie so schnell durchschauen. „Wie geht es dir wirklich?“ Ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Wann hatte ihr das letzte Mal jemand diese Frage gestellt? Und: Hat sie darauf eine Antwort? „Ich hab viel zu tun“, beginnt sie gewohnheitsmäßig, „Viel Arbeit, viele Termine. In unserer Agentur ist es normal Überstunden zu machen. Mein Chef ändert ständig seine Meinung, ist nur selten zufrieden. Wenn man weiterkommen will, muss man stets präsent sein, immer zeigen, dass man bereit ist, noch mehr zu leisten.“ Mario runzelt die Stirn, sagt aber nichts. „Zehn oder zwölf Stunden im Büro sind nichts außergewöhnliches. Für viel anderes habe ich keine Zeit. Meistens muss ich abends noch in der Reinigung meine Blusen abholen, bevor diese schließt, und dann noch etwas zu Essen ergattern. Aber es gibt auch Tage, an denen ich mich nur mit Kaffee über Wasser halte. Am Wochenende arbeite ich an meinen Präsentationen, um besser zu sein als meine Kollegen. Ich darf nicht nachlassen. Wir alle kämpfen um die gleichen Kunden und nur einer bekommt das Projekt.“ Sie haben den Strand erreicht. Elsa sieht überrascht auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, welchen Weg sie eingeschlagen hatten und wohin dieser sie führen würde. Eine leichte Brise trägt die würzige Meeresluft zu ihnen herauf. Der Geruch und das leise Säuseln der Wellen überfluten Elsas Kopf mit Hunderten Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend an diesem Ort. Sie schließt die Augen und atmet tief ein. „Aber Elsa“, Marios ernste Stimme holt sie zurück in die Realität. Er stellt seinen Kaffeebecher auf die Wasserschutzmauer und lehnt sich selbst gegen den immer noch warmen Beton. „Wenn ich etwas im Fußball gelernt habe, dann dass man nicht pausenlos Höchstleistung bringen kann. Wenn wir mit den Kickers wichtige Spiele hatten, dann habe ich den Jungs anschließend immer einen Tag frei gegeben. Und auch sonst während des Trainings, habe ich immer darauf geachtet, dass wir zwischendurch weniger anstrengende Tage hatten. Wenn wir pausenlos trainiert hätten, hätten wir das nächste Spiel garantiert verloren.“ Er sieht sie eindringlich an: „Du kannst nicht ohne Pause arbeiten.“ Elsa zieht die Schultern hoch und nippt wieder an ihrem Kaffee. „Es ist aber so“, sagt sie leise. Eine einzelne Windböe jagt über den Strand, erfasst sie für einen Moment, rüttelt an den Jacken und fährt durch Elsas nachlässig zusammengebundene Haare. Einige Strähnen lösen sich und fallen ihr ins Gesicht. Leicht verärgert setzt sie den Kaffeebecher ab und will die störenden Haare wegwischen, da spürt sie bereits eine warme Hand an ihrer Wange. Mit einem Lächeln wickelt Mario eine Strähne um seinen Finger und schiebt sie dann zärtlich hinter ihr Ohr zurück. Elsa spürt plötzlich ihren Herzschlag bis zum Hals. Die Wärme seiner Hand scheint sich auf ihren ganzen Körper zu übertragen. Doch bevor sie begreift, was geschieht, sind sowohl seine Hand als auch die Wärme wieder verschwunden. Nur ihr aufgeregt pochendes Herz bleibt in ihr zurück. Einige Möwen über ihnen lassen ihr krächzendes Lachen über den Strand hallen. In Elsas Ohren klingt es wie Hohn über ihr kindisches Gefühl. Mario hat sich schon wieder von ihr abgewandt und lehnt zwei Meter von ihr entfernt an der Mauerkrone, als wäre nichts geschehen. Unauffällig mustert sie ihn, wie er dort steht: Die langen Beine ausgestreckt, die muskulösen Arme hinter sich abgestüzt. Der flache Bauch und die Brust bilden eine Gerade bis zu seinem leicht kantigen Kinn. Seine dunkelbraunen Augen schauen nachdenklich ins Leere. Ein wohliger Schauer fährt durch Elsas Körper. Reflexhaft streckt sie sich und wendet rasch ihren Blick ab. „Lass uns zurückgehen.“ Mit einer einladenden Geste deutet er auf eine der schmalen Straßen, die zurück in die Wohnviertel führen. Elsa nickt, verabschiedet sich noch kurz vom Meer und schließt sich ihm dann an. „Und an den Wochenenden?“, fragt er erneut. „Da arbeitest du auch? Hast du niemanden, der dich ablenkt, der dich unterstützt, der auf dich wartet?“ Elsa schüttelt nur den Kopf. So langsam kommt ihr Leben ihr selbst ziemlich eintönig vor. „Nein, Freunde habe ich höchstens unter meinen Kollegen und die arbeiten genauso hart wie ich. Und für eine Beziehung habe ich keine…“ „…Zeit“, seufzt Mario. „Vielleicht solltest du wirklich mal zu einem von Gregors Spielen gehen“, schlägt er vor, „Einfach um mal auf andere Gedanken zu kommen. Das Heimstadion der Yokohama Wings müsste von dir aus doch leicht zu erreichen sein. Und ich bin mir sicher, er würde sich freuen.“ Für den Rest des Weges reden sie über ihren Bruder und seine Fußballerfolge. Elsa ist ganz froh darüber, denn seit sie am Strand gewesen waren, schweifen ihre Gedanken ständig ab. Etwas an der Art, wie Mario neben ihr herläuft und der Ton seiner Stimme macht sie unruhig. „Hier wohne ich übrigens.“ Mario bleibt stehen und deutet auf ein dreigeschossiges Mehrfamilienhaus rechts neben der Straße. Elsa schaut auf und muss sich erst einmal orientieren. „War hier in der Nähe nicht der Laden von Tinos Vater?“, fragt sie, „An dieses Haus kann ich mich aber nicht erinnern.“ Mario nickt bestätigend. „Stimmt beides. Der Laden, den Tino inzwischen übernommen hat, ist dort vorne an der Kreuzung und das Haus ist erst vor zwei Jahren gebaut worden. Du kannst es also nicht kennen.“ Einen Moment lang stehen die beiden unschlüssig vor dem Eingang herum, dann zuckt Mario mit den Schultern. „Na komm, ich bringe dich noch schnell nach Hause.“ Sie winkt ab. „Ach, lass doch. Wenn du schon einmal hier bist, musst du den Umweg nicht machen. Ich kann auch alleine nach Hause gehen.“ Um ihre Worte zu unterlegen, reckt sie das Kinn in die Höhe und feixt: „Ich bin schon ein großes Mädchen.“ Er erwidert ihr Grinsen: „Dann bringst du also mich nach Hause?“ „Sozusagen.“ Doch plötzlich muss Elsa schlucken, als ihr bewusst wird, was in dieser Situation normalerweise von demjenigen erwartet wird, der diese Rolle einnimmt. Ihr wird ganz heiß. „Ähm.. nun, also… es war sehr schön mit dir heute Abend“, unbeholfen scharrt sie mit ihren Schuhen im Kies herum. Mario sieht sie nur leicht amüsiert an. „Aber…, das war ja kein Date…“ murmelt sie, mehr um sich selbst zu vergewissern, dass ihre Nervosität unbegründet ist. „War es nicht?“ Mario zieht fragend eine Augenbraue nach oben. Elsa fällt beinahe über ihre eigenen Füße. Unsicher huscht ihr Blick über sein Gesicht. Es ist unlesbar. Was erwartet er? Eine Umarmung? Einen Kuss? Braune Augen sehen sie beharrlich liebevoll an. Na gut, ein Kuss geht ja, denkt sie, aber nur auf die Wange! Kurzentschlossen macht sie einen Schritt auf ihn zu, steckt den Kopf vor in Richtung seiner linken Seite. Sie streift seine Haut. Mario bewegt sich nicht. Elsa zögert einen Moment. Von Marios Körper geht eine anziehende Wärme aus. Seine Schultern versprechen einen schützenden Halt. Ihr Inneres zieht sich sehnsüchtig zusammen. Kann sie das zulassen? Darf sie sich fallen lassen in diese Arme? Sie stützt ihre Hände auf seiner Brust ab. Unter ihren Fingerspitzen kribbelt es. Nur für einen Moment, versichert sie sich, nur einen Moment um Kraft zu schöpfen. Dann ändert sie ihren Kurs, zieht ihren Kopf etwas zurück und küsst ihn auf die weichen Lippen. Mario, der sich bisher nicht einen Millimeter bewegt hat, streckt seine Arme nach ihr aus, umgreift ihren Körper und zieht sie sanft an sich. Elsa lässt los und lässt sich fallen in diese Arme, die sie bereitwillig empfangen. ~~~ Das Display ihrer Armbanduhr zeigt vier Uhr, als Elsa die Augen aufschlägt. Neben ihr atmet Mario tief und ruhig im Schlaf. Von einer plötzlichen Unruhe gepackt steigt sie aus dem Bett und sucht lautlos ihre Sachen zusammen, die sie ein paar Stunden zuvor im Eifer des Gefechts überall auf dem Boden verteilt hatten. Was ist nur los mit ihr? Wie konnte sie so die Selbstbeherrschung verlieren? Wenn sie sich beeilt, kann sie noch um 6 Uhr den Zug nach Tokio erwischen. Sie blickt zurück auf das zerwühlte Bett und auf den schlafenden Mario. Vielleicht hatte sie es einfach nur gebraucht? Es war schön gewesen, natürlich. Aber dennoch ein Ausrutscher. Es hat nichts zu sagen. Mit einem Ruck wendet sie sich ab und schleicht zur Wohnungstür. Sie muss noch die Zahlen für den Kunden am Dienstag aufbereiten. Und ihr Chef will morgen den ersten Entwurf der neuen Präsentation sehen. Sie kann nicht hierbleiben. Man zählt auf sie. Die Welt wartet auf sie! Sie hat die Klinke bereits in der Hand, als sie abrupt innehält. Nein, die Welt wartet auf Zahlen und Präsentationen, aber nicht auf sie. Nicht auf sie, Elsa. Im ganzen quirligen und brausenden Tokyo gibt es niemanden, der auf sie, Elsa, wartet. Dagegen… Sie blickt zurück über ihre Schulter auf die Schlafzimmertür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)