Under these Scars von _Scatach_ (Teil Vier der BtB Serie) ================================================================================ Kapitel 39: I am my shadows --------------------------- Das wichtigste zuerst…   Was für eine verfickt dämliche Redewendung. Und dennoch war sie hier, jagte Ibikis Arsch quer durch das Dorf, während er versuchte, all den verschiedenen Aufgaben Prioritäten zuzuweisen, die alle nach seiner Aufmerksamkeit brüllten.    Unmöglich.   Wie Straßensperren standen seine Ziele an jeder Ecke; ein gottverfickter Hindernisparcours. In der Zeit, die es gebraucht hatte, einen halbwegs effizienten Suchtrupp aus Grünschnäbeln zusammenzustellen, fühlte sich Ibiki immer noch, als hätte er bisher noch nicht eine einzige verschissene Hürde genommen.    Verdammt seist du, Hatake. Wo zur Hölle versteckst du ihn?   Nadel, Heuhaufen. Viel zu viel Boden abzudecken. Nicht genug Zeit zu verlieren. Und all dieses Chaos überschattet von einer höllischen, massiven Yamanka Gewitterwolke.    Inoichi…   Bei Kamis Eiern, Inoichi war in der Sekunde in die Luft gegangen, als er davon erfahren hatte, das Genma weg war. Kopfschüttelnd versuchte Ibiki noch immer, die surreale Qualität von Inoichis Explosion zu verarbeiten. Die Worte ‚völlig übergeschnappt‘ kamen in den Sinn. Der Yamanaka war losgegangen wie ein detoniertes Druckventil, hatte die Liege durch den ganzen Raum katapultiert, die gesamte Ahnenlinie jedes Grünschnabels in Sichtweite verflucht und aufs Kreuz beleidigt, während er dem gesamten F&V Team den Arsch aufgerissen hatte.    Shit.   Ja. Shit. Da sich die Chancen immer weiter zu ihren Ungunsten häuften, konnte Ibiki einfach nur hoffen, dass die psychoaktive Droge, die er Genma verabreicht hatte, immer noch wirkte. Es würde etwas Zeit kaufen, aber Zeit war eine räudige Hündin. Für jede verstreichende Sekunde spürte er, wie sich die Kiefer der Dringlichkeit immer noch fester um seine Luftröhre schlossen.   Ich kann das nicht länger rauszögern.   Er hatte es schon lange genug rausgezögert; hatte die Suchteams zusammengestellt, während er versucht hatte, den Explosionsradius von Inoichis Ausbruch einzudämmen. Stunden verloren, die Zeit halbiert. Er musste mit den Ältesten sprechen. Shikamarus Akte brannte ein Loch in seinen Mantel; eine Bombe, die nur darauf wartete, abgeworfen zu werden – zusammen mit ein paar Handgranaten mit den Namen Tenka, Mushi und Danzō darauf gestanzt.   Lässt sich nicht vermeiden…   Scheiße. Vielleicht war es unvermeidbar gewesen, direkt vom ersten Augenblick an. Zwei Jahre waren eine lange Zeit für eine Bombe, um zu ticken. Als er jetzt so auf dem offenen Dach des F&V Gebäudes stand, stierte Ibiki lange und hart auf die eisig grellen Nadelstiche, die aus den Himmeln herab zwinkerten.    Er war nicht religiös oder spirituell…   Ansonsten hätte er sich jetzt im Moment ein Wunder gewünscht.    Wunder.   Verdammt. Er war wirklich so verzweifelt.    Ein Flackern von Bewegung zur linken Seite des Daches. „Ibiki-san.“   Marginal drehte Ibiki den Kopf und beobachtete, wie einer der F&V Jōnin auf ihn zuschritt. Kein Grünschnabel, zum Glück, aber auch nicht mehr im Bilde als irgendeiner der armen, ahnungslosen Chūnin, die auf Ibikis und Inoichis Befehle durch die Gegend rannten und ein gottverdammtes Konoha-Idol durch das Dorf jagten.    Sharingan-no-Kakashi.   Heilige, verfickte Hölle, sollte die Hokage Wind davon bekommen.    Ibiki seufzte. „Wie läuft es mit der Schadensbegrenzung?“   „Nichts. Wir suchen immer noch.“   „Und Inoichi?“   Der Jōnin verzog das Gesicht. „Er ist unerbittlich, scheint aber ruhiger zu sein. Aber wir behalten ihn genau im Auge.“   Als würde das auch nur irgendeinen Scheiß ausmachen.   Seufzend rieb sich Ibiki mit den Fingern über die Stirn und strich dabei über die dicke Vene, die sich wie ein Blitz über seine Schläfe zog. Hier konnte er nichts mehr tun. Zur Hölle mit den Hürden. Zur Hölle mit der Schadenskontrolle. Er hatte keine andere Wahl, als einfach direkt durch alles hindurch zu pflügen.    Zeit, das Konzil zu wecken.    Zeit, die Bombe abzuwerfen.    ~❃~   Wenn Wände sprechen könnten, dann würden die Korridore des uralten Nogusa Archivs mit den Worten hunderter Geschichten flüstern, mit tausenden Interpretation und dem unzähligen Wispern von Engeln und Dämonen gleichermaßen.   Ein guter Ort für einen Künstler.    Doch unglücklicherweise für Neji, passte seine Vorstellungskraft besser zur Realität als zu den Reichen der Mythen und Illusion. Sein Sinn für Verzauberung blieb hinter den eisernen Gittern der Desillusionierung verschlossen. Sollte es einen Schlüssel zu diesem Käfig geben, dann musste er ihn erst noch finden.    Aber hier wird er nicht sein.   Während er die engen Gänge voller Staub und Zeit entlang lief, kam er an bemalten Wandgemälden, aufragenden Statuen und Reihen über Reihen aus Regalen und Alkoven vorbei. Altare, die Mythen, Monster und den Mysterien dazwischen gewidmet waren. Neji hielt inne und deaktivierte sein Byakugan. Farben bluteten in gelben und bersteinfarbenen Tönen wieder zurück. Flammen brannten tief in verzierten Eisenlampen, führten ihn in einem umständlichen Weg durch das Labyrinth, bis er endlich das moderige Zentrum erreichte.    Und dort, mit überkreuzten Beinen auf einer Steinbank sitzend, war Sai.    Ein Skizzenbuch lag aufgeschlagen in seinem Schoß und ein Tintenpinsel ruhte zart zwischen seinen Fingern. Es war unmöglich zu sagen, ob er sich im Griff der Inspiration befand oder darauf wartete, dass sie eintrat. Das Feuerlicht, das über seine steinernen Konturen spielte, vermittelte keinerlei Eindruck von Gedanken oder Emotionen; sein Gesicht war ebenso blank und regungslos wie eine Porzellanmaske.    Sofort beneidete Neji ihn um diese Maske.    Diese Rüstung…   Er spürte, dass seine eigene, eiserne Gefasstheit ein bisschen zu schief auf seinem Gesicht hing, um überzeugend zu sein. Wenigstens wären in diesem Halblicht und den Schatten die Risse und Dellen nicht zu einfach zu erkennen.    Hn. Das hoffst du zumindest.   Leise räusperte sich Neji.    Langsam hob Sai den Blick und seine Lippen bogen sich in einem milden, eingeübten Lächeln, das in etwa so viel Ehrlichkeit in sich hielt wie seine nächsten Worte: „Neji-san. Was für eine Überraschung.“   Da er überhaupt nicht in der Stimmung für Spielchen war, kam er gleich zur Sache und seine tiefe Stimme rollte in einem weichen Bassgrollen über den Stein. „Die Pläne haben sich geändert. Ich habe eine weitere Mission für dich.“   Nicht ein einziges äußerliches Zeichen des Alarms oder der Neugierde. Sai klappte einfach nur sein Skizzenbuch zu, legte es beiseite und nahm Haltung an, während sich seine dunklen Augen auf Neji fixierten. „Shikamaru“, sagte er nur.    Keine Frage.    Keine Überraschung.    Neji nickte ein einziges Mal, das Feuerlicht brannte kalt in seinen eisweißen Augen. „Shikamaru“, bestätigte er.   ~❃~   ‚Immer noch mit von der Partie, Kleiner?‘   ‚Ja. Ich bin mit von der Partie.‘   Ja, bereits drei Partien weit und kein Stück näher am Gewinnen. Shikamaru rieb sich mit einer Hand über den Mund und lehnte sich auf seinen Ellbogen, während sich seine Augen auf das Spielbrett gerichtet zusammenzogen.    Ah, verdammt…   Sein König war Schach gesetzt. Er hatte versucht, ein Patt zu erreichen, um sich so ein Unentschieden zu sichern, aber Shin hatte seinen Zug vorausgesehen und seine Strategie mit einer Leichtigkeit durchschaut, die an Allwissenheit grenzte – als hätte Shin dieses Spiel bereits von Anfang an dirigiert.    Scheiße, es ist, wie gegen meinen Dad zu spielen…   Es blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als die unvermeidliche Niederlage einzugestehen. Zumindest hatte er diese letzten beiden Runden etwas länger durchgehalten. Auch wenn das der Tatsache, dreimal geschlagen zu werden, nicht den Biss nahm. Sein Vater hatte es immerhin geschafft, zumindest einen Gewinn gegen diesen Kerl davon zu tragen.    Kopfschüttelnd schmunzelte Shikamaru leicht. „Eigentlich hätten aller guten Dinge drei sein sollen.“   Shin lehnte sich auf einer Handfläche nach hinten und strich mit der anderen über den breiten, blutroten Kragen seiner Kimonojacke, während er durch seine Wimpern aufsah und Shikamaru mit einem Hauch Belustigung bedachte. „Du setzt deine Wetten auf Glück, Shika? Du kommst mir nicht so vor, als wärst du so naiv.“   Shikamaru lümmelte sich auf seinem Zabuton Kissen zurück, examinierte noch einmal das Brett und suchte nach Lücken in seiner Strategie. Er hätte schwören können, dass seine letzte Tatktik wasserdicht gewesen war. „Schadet nicht, zu hoffen“, scherzte er lahm und versuchte gleichzeitig, sich unter diesen dunklen, bohrenden Augen nicht mikroskopisch zu fühlen.    „Ah, Hoffnung.“ Shin kostete dieses Wort mit einem Kräuseln der Lippen, als wäre der Geschmack davon sauer. „Wenn du deinem Gegner das nehmen kannst, dann hast du dir den Sieg bereits gesichert.“   „Also ist es ein psychologischer Trick?“   „Nicht nur. Kommt auf die Natur deines Gegners an.“ Bedächtig griff Shin nach einem Becher gekühlten Sakes und strich mit dem Rand über seine Lippen. „Hoffnung ist schwer zu zerstören, weil es so fest mit schierem Überleben verbunden ist. Letztendlich ist das alles, worauf es ankommt. Überleben und Vormachtstellung. Du kannst nicht nur halb spielen, wenn du gewinnen willst. Und wenn du nicht gewinnen willst, dann hast du im Spiel auch nichts zu suchen.“   Auf seinen gefangenen König stierend legte Shikamaru nachdenklich den Kopf schief. „Ich habe noch nie so darüber nachgedacht. Es scheint ziemlich…“ Er zögerte, suchte nach den richtigen Worten, fand aber nichts. Bisher hatte er sich während eines Spiels nie wirklich Gedanken über die emotionale Veranlagung seiner Gegner gemacht. Für ihn war es immer eine strikt intellektuelle Übung gewesen.    Shin neigte den Kopf zur Seite und seine Augen zogen sich über das Schweigen des Schattenninjas zusammen. „Du stimmst nicht zu, Shika?“   „Nein, das ist es nicht. Ich versuche, es zu verarbeiten.“   „Du kannst deine Instinkte nicht intellektualisieren.“   Und da war es – Instinkt. Diese immaterielle Eigenschaft, die Shikamaru nie als relevant oder anwendbar für das Shogi Spielbrett erachtet hatte. Es schien ein viel zu spontanes Konzept zu sein; viel zu unvorhersehbar.    Und dennoch…   Er warf Shin einen raschen Blick zu und versuchte herauszufinden, ob Intellekt oder Instinkt hinter dieser viel zu ruhigen Oberfläche dieser tiefen, dunklen Augen am Werk war. Shin schien viel zu klug zu sein, viel zu strategisch, um von Instinkt beherrscht zu werden.    „Du lässt es klingen, als würdest du spontan spielen“, sagte Shikamaru letztendlich. „Aber wie machst du dann…?“ Kopfschüttelnd brach er ab. „Es ist wie der vollkommene Gegensatz zu Strategie.“   „Das ist die Dichotomie des Göttlichen, Shika. Erinnerst du dich, wie ich dir gesagt habe, dass Leben Dualität ist? Dieser Konflikt zwischen Strategie und Spontanität macht das Spiel umso faszinierender.“   „Es ist nicht logisch.“   Schwach schmunzelnd nahm Shin einen Schluck seines Sakes. „Und trotzdem liegt es in unserer Natur.“   Natur…?   Fasziniert von diesem Konzept drehte Shikamaru es in seinem Verstand hin und her, während er sich etwas weiter aufrichtete und nach seinem Gyokuro Tee griff, der neben dem Brett stand, wobei er das nervige Kratzen seines Rollkragenoberteils an seiner schweißwunden Haut ignorierte. Unter dem weiten, geschwungenen Dach von einem der palastartigen Gästehäuser von Nogusa Yodo, trugen die tiefen Schatten der Veranda leider nur wenig dazu bei, die Feuchtigkeit abzumildern. Sonnenlicht schimmerte in golden-weißen Streifen von den polierten Holzsäulen und glitzerte auf den milchigen Wassern des dampfenden Onsens. Die steinigen Ränder waren hinter einem Gitternetz aus blühenden Rhododendronbäumen gerade noch zu sehen, die wie eine Mauer aus hellem Fuchsia aussahen, durchsetzt mit einem tiefen, leuchtenden Pink.    Shikamaru blinzelte gegen das Funkeln des späten Vormittags an und schluckte den kühlen Jadetee, sein Verstand aber viel zu sehr von Shins Worten eingekommen, um die exquisite Qualität des Gebräus genießen zu können. „Natur“, murmelte er und spähte zurück auf das Spielbrett. „Klingt lästig.“   Ein leises Lachen, als Shin seinen Sake beiseite stellte. „Du hast schon Kenjutsu Meister gesehen, die davon sprechen, das Schwert wäre eine Erweiterung ihres Körpers, nicht wahr? Sie haben eine vom Verstand losgelöste Art, an einen Kampf heran zu gehen.“ Bei Shikamarus Nicken gestikulierte Shin mit einem eleganten Schwung seiner Hand zu dem Brett. „Wie ich Shogi spiele ist nicht anders.“   Ratlos warf Shikamaru ihm einen schiefen Blick zu und seine Brauen zogen sich verwirrt zusammen. „Also spielst du, als gäbe es kein Spielbrett?“   Shins Augen blitzten auf und leuchteten mit einem flüchtigen Funken aus Emotion, der erneut in der schwarzen Unergründlichkeit verschwand. „Absolut, Shika“, murmelte er mit Anerkennung in den Worten. „Wenn du mir gestattest, deine Definition eines Brettes wegzunehmen, dann werde ich dir zeigen, wie natürlich es ist, ein Meister zu werden.“   Schon wieder schien dieses verstärkte Empfinden von Wahrnehmung zwischen ihnen zu summen, vibrierte mit der Spannung unsichtbarer Saiten; Saiten, die an seinem Körper zogen und über seinen Verstand spielten, als würde er sich nicht vollkommen aus freiem Willen bewegen. War es das, wie es sich anfühlte, aufgrund von Instinkt zu handeln?   Als Shikamaru antwortete, lag keinerlei Zögern in seiner Stimme: „Na schön.“   Shins Lippen bogen sich in einem langsamen, katzenhaften Lächeln und etwas wie Stolz geisterte über sein Gesicht. „Ich hätte wissen müssen, dass du mich nicht enttäuschen würdest“, murmelte er, auch wenn sein Vergnügen kurz angebunden war, da sich das Schlurfen von Füßen über den Weg auf sie zu bewegte.    „Shin-sama.“   Angesichts dieser dürren Stimme sah Shikamaru auf und ließ seinen Blick über Shins Schulter wandern.    Ein gebrechlicher, alter Mann umrundete die Seite des Gebäudes, war gekleidet wie ein Diener und verneigte sich mit einer Übertreibung, die Shikamaru wohl amüsant gefunden hätte, wenn Shin wegen der Unterbrechung nicht irgendwie genervt ausgesehen hätte. Eine subtile Anspannung ergriff sein Gesicht.    Diese Miene entging Shikamaru nicht.    Aber bevor er über diese schwache Gefühlsregung staunen konnte, verschwanden alle Spuren des Missfallens aus Shins Zügen, um nichts weiter als eine unheimliche Regungslosigkeit und lockeren Charme zurückzulassen. „Was gibt es, Hama?“, fragte Shin sanft und griff nach seinem Sake.    Hama drückte seine Stirn gegen das polierte Holz. „Tenka ist hier, um Euch zu sehen.“   Shins Finger erstarrten am Rand seines Bechers, sein Kopf hob sich leicht. „Ah.“ Beinahe reuevoll sah er zu Shikamaru. „Würdest du mich für einen Augenblick entschuldigen, Shika? Ich habe ein paar Angelegenheiten mit einem Klienten zu erledigen. Wird nicht lange dauern.“   Bei der Erwähnung von Angelegenheit und Zeit wurden Shikamarus Augen rund und schwangen himmelwärts.    Shit!   Genma würde seinen Hintern quer durch die Chūnin Arena prügeln. Wie viele Stunden war er inzwischen schon weg? Die Zeit war im Shinobi-Stil vorbei geschlichen, direkt unter seiner Nase hindurch. Apropos kalt erwischt werden. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen er Zeit vergeudete, waren eigentlich, wenn er Wolken beobachtete oder schlief.    Da er seine Alarmiertheit bemerkte, zogen sich Shins Brauen besorgt zusammen. „Hey, alles okay?“   Entschuldigend hob Shikamaru die Hände und rutschte von dem Spielbrett fort, während er kopfschüttelnd begann, sich aufzurappeln. „Sorry, ich hab total die Zeit vergessen. Mein Senpai wird austicken und um sich schießen.“   Eine dunkle Braue hob sich amüsiert. „Ich bin mir sicher, dass er dir das Treffen mit Würdenträgern aus Kusa verzeihen wird.“   Shikamaru erbleichte ein bisschen, griff nach seiner Flakjacke und brachte ein nervöses Schmunzeln zustande. „Weißt du, als ich ‚um sich schießen‘ gesagt habe; das war nicht figurativ gemeint.“   Ein attraktives Lächeln legte sich auf Shins Miene. Mit der trägen Anmut eines Panthers erhob er sich und schob die Hände in die tiefen Taschen seiner seidenen Hose. „Lass mich mein Treffen erledigen und dann bring ich dich persönlich zurück. Du wirst es niemals rechtzeitig schaffen, wenn du von hier aus läufst, Shika.“   Eigentlich wollte ich schreiend rennen.   Shikamaru setzte zu einem Protest an, aber Shin schnitt ihm mit einem ernsten Neigen der Stirn und einem weiteren gewinnenden Lächeln das Wort ab. „Vertrau mir. Wir benutzen die Portale. Du wirst zurück sein, bevor die erste Chūnin-Runde beginnt.“ Er machte eine Pause und ließ das kurz sacken, bevor er hinzufügte: „Ich verspreche es dir.“   Vielleicht war es dieser Zusatz, der wirkte, denn Shin kam Shikamaru nicht wie die Art Mensch vor, die ein Versprechen brach. Er schien mehr die Art Kerl zu sein, die ihr Wort ehrte und all das.    Das ist eine ganze Menge, was du da vermutest.   Oder zumindest sagte das der rationale Teil seines Hirns – der Teil, der normalerweise die ganze Zeit im Operationsmodus war, selbst während der Dämlichen Uhrzeiten. Wie seltsam also, wie dieser Teil seines Verstandes scheinbar für die wenigen Stunden Fahnenflucht begangen hatte, die er in Shins Gesellschaft verbracht hatte.    Ehrlich gesagt hätte ihn das nerven, beunruhigen, oder vielleicht sogar alarmieren sollen.    Doch stattdessen empfand er es als erfrischend, vielleicht sogar befreiend, für eine Weile Zeit zu vergeuden; ebennicht ununterbrochen pünktlich zu sein oder unter der Aufsicht eines anderen zu arbeiten.    Jo, wie zum Beispiel Genmas…   Verdammt. Ob er es jetzt rechtzeitig schaffte oder nicht; er würde auf jeden Fall eine Gardinenpredigt voller Bullshit oder einen Arsch voller Senbons über sich ergehen lassen müssen. Und trotzdem konnte er es nicht über sich bringen, zu widersprechen. „In Ordnung.“   „In Ordnung“, stimmte Shin zu, bevor er sich Hama zuwandte und die Stimme senkte.    Rasch drehte sich Shikamaru zur Seite, um nicht zu lauschen und schlenderte ein bisschen weiter über die Veranda. Die Feuchtigkeit hüllte ihn dabei wie eine Wolke ein – und es war nicht die Art, die sein Hirn dazu brachte, sich in Tagträumen zu verlieren.    Ugh. Diese gottverdammte Hitze.   Er beneidete die armen Genin-Gören nicht, die darin gegeneinander antreten mussten. Während er hinaus auf die Gärten blickte, lehnte er sich gegen eine der Säulen und lümmelte sich auf seinen linken Fuß, während er seine Flakjacke in seine Armbeuge rutschen ließ. Es war viel zu heiß für noch eine Schicht aus Klamotten. Sein Pferdeschwanz war geradezu verwelkt und er war sich ziemlich sicher, dass der Schweiß auf seinem Körper entlang der Linien zu Salz kristallisiert war, was dazu führte, dass sich jede Bewegung wie ein Übung zum Hautabwerfen anfühlte.    Der Gedanke brachte ihm die Haut dieses schuppigen Typen draußen vor dem Tekisha Seizon in den Sinn.    Ich frag mich, was Genma mit dem Kerl für eine Geschichte hat…   Der Tokujō mochte ja einen auf cool gemacht haben, aber Shikamaru hatte die Glut einer finsteren Vergangenheit gespürt, die hinter diesen bronzenen Augen brannte. Was auch immer der Grund für Genmas Verspätung gewesen war, zumindest wäre Shikamaru dadurch nicht der einzige, der abgelenkt worden war. Scheiße, sein ‚Treffen‘ mit den Würdenträgern konnte ja sogar wirklich als Arbeit angesehen werden, auch wenn Shin überhaupt keine politische Agenda im Sinn zu haben schien…er mochte es einfach nur, das Spiel zu spielen.    Ein seltsames Kribbeln an Shikamarus Nacken machte ihn darauf aufmerksam, dass er beobachtet wurde.    Als er den Kopf drehte, war er überrascht, Shin dort stehen zu sehen, der ihn musterte, den Kopf in offener Spekulation zur Seite gelegt und diese dunklen Augen wanderten in einem langsamen Schwung über seinen Körper, der die Temperatur um ein paar unbehagliche Grade in die Höhe trieb. „Du siehst ein bisschen durcheinander aus, Shika. Ich nehme an, du bist nicht so an diese Art Hitze gewöhnt?“   Kein bisschen, dachte Shikamaru und wunderte sich schon wieder über dieses Brennen unter seiner Haut und über das feurige Wirbeln in seinem Inneren. Als hätten diese dunklen Augen ein Loch in seinem Unterleib geöffnet und Magma in den Kern davon gegossen, was sein Hirn zum Stillstand und sein Blut zum Sieden brachte. Ja, er war definitiv nicht an so etwas gewöhnt – und war sich auch nicht sicher, was er davon halten sollte…oder was er damit machen sollte.    Ignorier es.   War viel sicherer und viel klüger, als sich auf dieses gefährliche Gebiet zu begeben, das direkt jenseits dieser massiven Straßensperre der Verleugnung lag. Wie immer entschied sich Shikamaru für den Weg des geringsten Widerstands – Vermeidung.    In dem Versuch, dieses Gefühl abzuschütteln, verlagerte er das Gewicht und zupfte an dem Stoff, der an seinem flachen Bauch klebte, während er eine Grimasse schnitt. „Kann ich nicht widersprechen.“   Shin bedachte ihn mit einem weiteren Lächeln und nickte entschieden. „Geeister Tee ist unterwegs. Weißt du, du kannst jederzeit gerne alle Einrichtungen hier nutzen, um dich ein bisschen zu erfrischen. Ich werde Hama darum bitten, dich herum zu führen.“ Und wie aufs Stichwort umrundete der alte Mann mit einem Gast im Schlepptau die Seite des Gebäudes.   Shin drehte sich halb, doch sein Blick verweilte auf dem Nara. „Ich bin gleich zurück, Shika.“   Beinahe hätte Shikamaru mit den Achseln gezuckt, schaffte es aber, seine Manieren aufrecht zu erhalten und verneigte sich in einer Art gestelzten Kopfnickenverbeugung, die Shin mit offener Belustigung bedachte und mit einem Finger wackelte, um die Formalität abzuweisen. „Du musst das wirklich nicht bei mir machen“, erinnerte er ihn, bevor er davon lief und sich in fließenden, gleitenden Schritten über die Veranda bewegte.    Shikamaru fühlte sich zehn Arten von dämlich, als er sich zurück gegen die Säule lehnte und seinen Blick weiter nach vorn zu Shins näher kommendem Gast wandern ließ. Der alte Mann hatte einen Namen erwähnt. Wie war er noch gleich?   Tenka, lieferte sein Hirn.    Sofortiger Speicherabruf hatte noch nie geschadet; ebenso wenig wie die Angewohnheit, Informationen abzuordnen. Als Shikamaru seinen Blick auf die Gestalt warf, war das erste Detail, das ihm ins Auge fiel, der lange dunkle Mantel des Mannes und die aufgestellte Kapuze. Shikamaru hob eine Braue. Es war einfach viel zu heiß für diese Art der Aufmachung.    Mantel und Degen, wie?   Shin hingegen schien von der Garderobenwahl seines Gastes nicht allzu verstört zu sein, sondern streckte seine Hände in einer willkommen heißenden Geste aus; entspannt, wohlwollend, ein König in seinem Reich. Tenka machte keine solchen Gesten der Vertrautheit, obwohl er eine Hand hob, um die Kapuze zurück zu ziehen und sein Gesicht zu zeigen.    Ein Dämonengesicht.    Shikamarus Miene zuckte überrascht.    Der Kerl trug eine scharlachrot lackierte Noh Maske. Die dämonische Art. Nur schimmernde Hörner, zusammengezogene Brauen und dieses groteske, Gesicht spaltende Feixen, das sich von einem Ohr zum anderen erstreckte. Glatte, aschblonde Strähnen rahmten sein maskiertes Gesicht ein und ein langer, blasser Pferdeschwanz war an seinem Nacken zusammengebunden.    Kniend zog der alte Mann, Hama, eins der Fusama Paneele zur Seite.    Mit einem weiten Schwung des Armes gestikulierte Shin in den Empfangsraum und setzte sich in Bewegung, um zuerst einzutreten, während er leise sprach. Nicht ein einziges Wort von Tenka, doch auch er drehte sich, um zu folgen und hob dabei eine Hand, um seine Maske abzunehmen, sein Profil halb verborgen von seinen Strähnen. Shikamaru erhaschte einen Eindruck von blassen, knochigen Konturen; hohle Wangen, ein schlanker, aber kraftvoller Kiefer, eine gerade Nase und straffe Stirn. Yamanaka Inoichi kam ihm in den Sinn, nur weicher, weniger dicht in den Augenbrauen und mit volleren Lippen.    Tenka hielt auf der Türschwelle inne, versteifte sich.    Und dann drehte er den Kopf und sah direkt zu Shikamaru.    Der Schattenninja erstarrte, an Ort und Stelle festgepinnt von einem Paar aufwühlend violetter Augen, die über die Distanz hinweg schnitten und mit der Wucht von Amethystklingen einschlugen. Ein einziges Mal blinzelnd, verengten sie sich flüchtig bei seinem Anblick, bevor sie sich alarmiert weiteten.    Aus dem Inneren des Raumes sagte Shin etwas.   Sofort verschwand jede Miene aus Tenkas blassem, gutaussehendem Gesicht und seine ungewöhnlich violetten Augen wurden flach und unlesbar wie der Rest seines Gesichtes. Wie in einer Zurkenntnisnahme neigte er kurz den Kopf in Shikamarus Richtung, wobei sein Blick dabei beständig und ruhig wie eine Klinge blieb…   Eine Klinge…   Eine Klinge…   Eine Klinge, die durch die Erinnerung schnitt…die durch die Schwärze schnitt…durch die Schatten schnitt…es alles in Streifen zerfetzte…rüttelte seinen fragilen Griff um die Vergangenheit los, an den Bruchstücken, den Teilen…   „Nutze mich“, fauchte die Finsternis drängend, stark. „Tu es. Diesmal werden wir ANBU-Mann gemeinsam aufhalten. Du wolltest dich erinnern, du wolltest es wissen.“   Aber er sollte doch vergessen – oder nicht? Diese violetten Augen. Diese hirschgesichtige ANBU-Maske. Und Shin…Shin…Shin…   Schmerz explodierte in seinem Kopf.    Während er die Lider aufeinander presste, taumelte Shikamaru in seinem Verstand seitwärts, halb im Wahnsinn und halb in Erinnerung – versuchte, sich an den Teilen festzuhalten, an der Vergangenheit, an den Bildern, die wie Blitze aufflammten.    „Hör auf, mich zu bekämpfen“, hauchte diese tiefe, vertraute Stimme, erstickt von Blut und heiser wie ein Todesrasseln. „Ich habe es dir schon gesagt. Du kannst nicht wieder hierher zurück kommen. Genauso wenig wie ich…“   Shikamaru hob den Blick, sah die hirschgesichtige ANBU-Maske. Sah die violetten Augen. Vertraut, Gott, so vertraut. Und jetzt hatte er auch einen Namen. Tenka. „Du hast das mit mir gemacht“, würgte er verwirrt hervor. „Du hast mir meine Erinnerungen genommen…hast meinen Verstand abgefuckt…warum? Wer zur Hölle bist du? Wer zur Hölle ist Shin?“   Keine Antworten von hinter dieser blutbespritzten Maske, von hinter diesen violetten Augen. Überhaupt keine Antworten…nur dieser heisere, bekannte Ruf: „KIOKU FŪIN-NO-JUTSU!“   Erinnerungs-Versiegelungstechnik…   „Nein, warte“, keuchte Shikamaru. „Warte, WARTE!“   Kein Warten. Keine Warnung. Er spürte diese bekannte Empfindung von Tenkas behandschuhten Händen, die sich um seinen Kopf schlossen und die Finger krümmten sich gegen seinen Schädel, als wollten sie die Erinnerungen heraus reißen.    Er wusste, was als nächstes kam.    Metsu.   Auslöschen. Ausradieren. Dieser Kerl hatte vor, seine Erinnerungen zu amputieren, völlig ungeachtet der Phantomschmerzen, die es zurücklassen würde. War es schon immer so gewesen? Keine Wahl, keine Chance, überhaupt keine Erklärung. Nur ein bitteres Déjà-Vu. Erinnern und Vergessen, überschneidende Zeitachsen, halb erhaschte Partien, die sich in seinem Kopf abspielten. Und er hatte es immer zugelassen – oder nicht? Hatte sich niemals gewehrt, weil er so verzweifelt danach gewesen war, zu vergessen…zu vergessen…zu vergessen…   „Lass mich vergessen“, wisperte eine kleine Stimme in ihm. Seine eigene Stimme. Jünger, verängstigt und viel zu schwach…zu schwach im Vergleich zu der Finsternis. „Bitte. Es ist nicht real. Es ist vorbei. Es ist erledigt. Bitte. Lass mich einfach vergessen.“   „Ich vergesse niemals“, zischte die Finsternis. „Und das werde ich auch nie. Also entscheide dich, Shikamaru. Ich oder der Kleine, dieses Kind? Wer glaubst du, wird einen besseren Job darin machen, dich zu beschützen?“   „Tu es nicht“, wisperte die leise Stimme – der Kleine? Das Kind? „Nicht…nicht…“   „Tu es. Tu es“, drängte die Finsternis.    Shikamaru quälte sich; sein Verstand in zwei Richtungen gerissen; aufgespalten zwischen dem Kleinen mit seiner Furcht und der Finsternis mit ihrem Zorn. Vergessen. Erinnern. Vergessen. Erinnern. Wieder und wieder und –   „Wir sind jetzt schon zu weit gekommen“, flüsterte die Finsternis. „Zu weit, um zu vergessen. Ich habe die Antworten. Alles, was Tenka hat, sind Lügen!“   Lügen…   Shikamaru schreckte davor zurück, aber Tenkas Griff an seinem Verstand, an seinem Gedächtnis, war stark…nicht mehr.    „Ja“, zischte die Finsternis. „Nicht mehr.“   „Es tut mir leid, Shikamaru“, krächzte Tenka mit sich anspannenden und bebenden Fingern. „METS-!“   „Nein!“ Shikamarus Hand schoss nach oben und seine Augen flogen auf, die Iriden brannten schwarz. „Nicht mehr“, knurrte er, krallte seine Finger um Tenkas Kehle und hob den Mann mühelos mit einer Stärke und Kraft vom Boden, die er nicht hätte besitzen dürfen. Nicht in seinem Verstand. Nicht in seinem Körper. „Diesmal nicht!“   Tenka packte das Gelenk der Hand an seinem Hals, seine violetten Augen weiteten sich hinter der Maske, als er in der Luft hing. „Shikamaru!“, stieß er erstickt hervor. „Tu das nicht.“   „Tu das nicht!“, echote der Kleine, seine Stimme immer noch viel zu schwach, selbst als er rief und schrie. „Tu das nicht!“   Aber er tat es.    Shikamaru umklammerte Tenkas Kehle mit der einen Hand und griff mit seiner anderen nach den Schatten. Schwarze Ranken flossen von seinen Fingern, legten sich in einer engen Schlinge um Tenkas Nacken und woben sich wie Nähte durch die amniotische Finsternis in Shikamarus Geist, zogen all die aufgerissenen Ränder wieder zusammen, vernähten die Wunden, die Tenkas Verstand veränderndes Jutsu, seine Erinnerungen auslöschende Klinge, seine unverfälschten Lügen hinterlassen hatten.    „Und ich kann weiter darüber lügen und so tun, als würde das hier rein gar nichts bedeuten“, krächzte Tenka. „Wenn es dein Leben rettet.“    Bei diesen Worten versteifte sich Shikamaru…   Seine eigenen Worte…   Seine unausgesprochenen Worte zu Neji…   Neji…Neji…   Bewusstsein jagte eiskalt und plötzlich durch ihn, während die Angst TU DAS NICHT! schrie – aber dann kam der Zorn; heiß und brutal wie die Finsternis in seinen Augen und sie schrie KEINE LÜGEN MEHR!   Nicht mehr. Nicht mehr.   Es übertönte das Kind, die Furcht, die Schwäche. Der Zorn – nein, die Finsternis – war etwas Lebendiges in ihm, symbiotisch mit all seinen Sinnen, ein Wirt in seinem Kopf. Es war diese kalte, düstere Einheit, die direkt jenseits der Furcht existierte, direkt jenseits der Panik…sie fand ihn und sie füllte ihn aus, passte ihm auf eine Weise, die ebenso angenehm wie vertraut war. Seine Schatten. Seine Erlösung. Wie zur Hölle hatte er jemals ohne sie überlebt?   Ich bin meine Schatten.    „Das bist du nicht…“, sagte Tenka erstickt. „Das bist du nicht.“   Shikamaru stierte düster hinauf in dieses maskierte Gesicht, öffnete den Mund, um zu antworten und die Finsternis sprach durch ihn. „Ich habe niemals Rettung gebraucht“, sagte sie. „Anders als du.“   Tenka schnappte nach Luft, um etwas zu erwidern.    Zu spät.    Shikamaru ließ seine Kehle los, aber nicht die Schatten.    Tenka fiel wie ein Gefangener am Galgen, das nasse Krack seines gebrochenen Genicks hallte in die Stille…in die Schatten…in die See driftender Bruchstücke und Teile…   Und dann kam das Schreien.    Der Kleine. Shikamarus eigene Stimme…jünger…verängstigt…fünfzehn Jahre alt und völlig ausgeflippt…ein zusammengebrochenes Kind kauernd und allein in einem kalten, dunklen Korridor ohne ANBU-Beschützer, um ihn zurück zu führen. Er stierte auf Tenkas Körper und Tränen brannten seine Wangen hinab. „Nein. Nein. Nein. Was zur Hölle hast du getan? Was zur Hölle hast du getan?!“   „Was du nicht konntest“, erwiderte die Finsternis verärgert, älter. „Geh und mach die Augen zu, Kleiner…wir übernehmen ab hier. Stimmt’s, Shikamaru?“   Shikamaru starrte auf die Leiche…   Sah zu, wie sie langsam und leblos vor seinen Augen hin und her schwang…und dann lächelte er.    ~※~   Keuchend kam Shikamaru zu Bewusstsein. Eine scharfe und plötzliche Bewegung, die ihn ruckartig auf dem Boden aufrichtete, die Wirbelsäule straff, der Atem angehalten und der Körper vollkommen regungslos…   Aber da war keine Angst…kein Aufblitzen von Panik…kein Schmerz, der in seinem Kopf explodierte…   Nichts.   Rauch füllte seine Nase…abgestanden…stark…der Geruch einer immer noch brennenden Zigarette…   Phantome drifteten die Ränder seines Verstandes entlang, schwebende Figuren, schwebende Gesichter. Nicht mehr wirklich Geister. Halb real und halb erinnert. Aber zum ersten Mal, seit die Albträume begonnen hatten, war er wach und er war sich all dem bewusst. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, aber seine Atmung war ruhig, fast schon zu ruhig. Der Schweiß auf seiner Haut fühlte sich bei Berührung kalt an…ebenso wie die nassen Spuren, die seine Wangen bedeckten.    Für einen langen, eingefrorenen Moment saß er einfach nur weitäugig da und stierte in die Finsternis.    Die Finsternis.    Jetzt konnte er sie hören; da, unter der Stille. Er konnte ihre Präsenz spüren, spürte, wie sie durch die Kammern seines Verstandes schritt. Ein uneingeladener Gast, ein ungewollter Geist…   „Wie lästig. All die Anstrengungen um ein Co-Bewusstsein zu entwickeln und du wirfst mich raus? Ich glaube eher nicht.“   Shikamaru erstarrte, als ein kaltes, körperloses Empfinden des Schwebens durch ihn glitt, seine Sinne erhöhte und ihn hochhob wie eine dunkle Wolke, die über der vollgestopften Erde driftete.   „Es ist das, was du immer wolltest. Einfach nur vorbei schweben wie eine Wolke.“   Langsam blinzelnd blickte Shikamaru sowohl nach innen als auch außen, blind, aber dennoch sehend…vollkommen abgetrennt von seiner Umgebung…die blaugrauen Schattierungen des mondbeleuchteten Raumes…die Seiten über Seiten von Pergament, die auf dem Boden verstreut lagen…übersäht mit Handschrift…ein unleserliches Gekritzel, das vielleicht seines war…seines sein musste…Wörter über Wörter…Symbole über Symbole…Namen über Namen…sie flossen von den Seiten auf die Tatami Matten…bedeckten die Shoji Leinwände…bedeckten die Wände…bedeckten die Welt, während er darüber schwebte…   Aber er war hellwach, saß auf dem Boden, starrte auf all die Zeichen.    „Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit?“   „Du hast das getan“, raunte Shikamaru, sprach nach innen und seine Stimme brach dabei in seiner Kehle.   „Sag bloß. Ich habe diese Schrift immer auf den Wänden in deinem Kopf hinterlassen…aber ANBU-Mann hat dich und den Kleinen davon abgehalten, hinzusehen.“   Shikamaru runzelte die Stirn. „Was für ein Kleiner?“   Die Finsternis antwortete nicht, sondern sagte stattdessen: „Tenka hat gelogen. Hat dafür gesorgt, dass du blind bleibst. Aber wir haben uns darum gekümmert. Gemeinsam.“   Shikamaru schloss die Augen, sah den Maskenmann hängen…schwingend…schwingend wie die Tür zu seinem Unterbewusstsein…zerbrochene Scharniere in seinem Kopf…   Aber er war hellwach – oder nicht?   „Ja. Endlich! Jetzt mach die Augen auf.“   Und er öffnete die Augen…sah den dunklen Raum warten…wartend mit der Schrift an den Wänden und auf dem Boden und auf den Papieren und…   Ja, und ob er wach war. Wünschte sich nur bei allen Göttern, dass er es nicht wäre.    Die Finsternis in seinem Kopf lächelte ein träges Schmunzeln vor seinem inneren Augen, aber es lag Genervtheit in der Belustigung – und eine nur dünn verschleierte Wut. „Such schreiend das Weite und schau, wie weit dich das bringt. Du denkst, ich kann dir nicht hinterher jagen? Bring mich nicht dazu. Ich habe Besseres zu tun. Wie zum Beispiel das Chaos aufzuräumen, das du, Genma und ANBU-Mann zurückgelassen habt.“   „Ich weiß nicht, wovon zur Hölle du redest“, antwortete Shikamaru, sich bewusst, dass der Raum eigentlich leer war, aber sein Kopf war so voll, dass er beinahe platzte.    Die Finsternis ragte über ihm auf; größer, stärker.    „Ich war schon immer stärker. Und ich werde dir ganz genau zeigen, wovon ich rede, wie ich es dir die ganze Zeit gezeigt habe. Denn es ist nicht vorbei, bis ich sage, dass es vorbei ist. Also mach schon und nimm einen Zug von dieser Zigarette…für die nächste Runde wirst du das brauchen.“   Shikamaru runzelte die Stirn. „Die nächste Runde?“   „Eines alten Spiels. Du willst doch gewinnen, oder nicht? Denn ob es dir gefällt oder nicht; du hast nie aufgehört zu spielen.“   Seine größte Furcht, sein dunkelster Schatten; ins Licht gezerrt.    Aber die Panik kam nicht. Die Furcht folgte nicht auf dem Fuße…nur dieses sonderbare Gefühl des Schwebens, alle Emotionen hochgehoben und fort außer Reichweite driftend…fort mit der Panik, fort mit der Furcht.   Taub. Hohl. Leer.   Shikamaru sog einen Atem ein. Er kannte dieses Gefühl, oder eher, diesen Mangel an Fühlen…er hatte es während der beiden Wochen erlebt, als Asuma behauptet hatte, er wäre ein anderer Mensch gewesen, eine andere Person.    „Das warst du auch. Das bist du gewesen. Immer verängstigt. Immer rennend. Aber der Kleine ist jetzt still. Es sind nur du und ich.“   Es musste Sinn irgendwo in diesen Worten begraben liegen. Noch mehr Hinweise, noch mehr Indizien. Aber Shikamaru streckte keine Hand aus, um sie zu finden. Stattdessen griff er nach der weggeworfenen Zigarette, die immer noch in dem weiß lackierten Aschenbecher vor sich hin schwelte und brachte sie zitternd an seine Lippen. Sein Atem schwankte und er hielt inne, wartete darauf, dass der Moment verging, dass seine Finger aufhörten zu beben.    „Atme, du Genie.“   Ein Atemzug, zwei Atemzüge, drei Atemzüge…   Die Rückseiten seiner Augen begannen zu brennen, aber das Zittern hörte auf, seine Atmung ebnete sich aus und sein Herzschlag wurde langsamer – fühlte sich an, als hätte er komplett aufgehört zu schlagen. Paralysiert, wie die Panik. Wie der Schmerz. Wie einfach alles, was er hätte empfinden sollen…   Aber da war nichts…eine totale Abwesenheit, eine totale Abtrennung.   „Ist das, was du am besten kannst. Jetzt nimm den Zug. Nimm dir eine Minute. Ich kann warten.“   Blicklos stierte Shikamaru auf die Nachrichten, die überall im Raum gekritzelt waren und tat, wie ihm geheißen. Er nahm einen tiefen Zug in die mondbeleuchtete Finsternis, die Glut glühte heiß und rot.    Für eine Weile war die Finsternis still, lehnte sich zurück und beobachtete.    Ihr Schweigen war ebenso verstörend wie ihr Sprechen. Shikamarus Sicht verschwamm auf den Wänden und der Schrift, aber er blinzelte nicht, brach nicht. Er konnte nicht. Denn in der Sekunde, in der er sich fühlte, als würde seine Welt vielleicht auseinander fliegen, fesselte ihn die Finsternis, wickelte ihn fest in Schatten und Sicherheit und dieses surreale Empfinden des Schwebens.    „Es ist lästig. Aber ich werde niemals zulassen, dass du brichst. Das weißt du.“   Ja, er wusste das. War sich nicht sicher wie, oder warum, oder wann er sich dazu entschlossen hatte, das zu glauben. Vielleicht war es jetzt gerade richtig, jetzt in diesem Augenblick. Oder vielleicht hatte er es schon immer gewusst. Wusste, dass direkt jenseits der Furcht…etwas war, das ihn immer finden würde…ihn immer wieder richten würde…   „Das ist es, was ich am besten kann. Jetzt steh auf.“   Shikamaru blinzelte langsam, die Anspannung floss aus seinen Muskeln, aus seinem Verstand. Er gestattete sich zwei weitere Züge aus Rauch und auch noch eine weitere Minute. Und dann, mit unendlicher Gelassenheit, drückte er die Zigarette aus, kam auf die Füße und lief zur Tür.      _____________ Hey meine Lieben :)  Ah, ich habe diesem Kapitel entgegengefiebert, denn es ist wirklich ein ziemlich wichtiges. Es markiert in vielerlei Hinsicht wichtige Wendepunkte und außerdem lernen wir Shikamarus zweites Alter Ego kennen ;)  Das erste Mal hat der sich ziemlich am Anfang gezeigt, als Shikamaru bei den Chimären war und so ein komisches Mitleid mit ihnen empfunden hat. Wie die Hand eines Kindes, die nach ihm greift ;) Ganz liebe Grüße und vielen Dank wie immer an alle meine lieben Reviewer/innen und Leser/innen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)