Ein Wochenende in Hakone von _Delacroix_ ================================================================================ «Wow», murmelte Rei, als sie die ersten Hortensien am Wegrand erblickten. Große dunkelblaue Blüten rahmten den schmalen Steinpfad ein, der sich langsam, aber sicher den Berg hinauf zog. An günstigen Stellen konnte man auf den Ashi-See hinabsehen, wo sich die bunten Piratenschiffe für die Touristen inzwischen wieder in Bewegung gesetzt hatten. Rot und grün glänzten ihre bemalten Rümpfe auf dem Wasser und wenn man sich anstrengte, konnte man sogar die japanische Flagge am Bug flattern sehen. Am Horizont konnte man außerdem die Umrisse des Fuji erahnen. Jedite blickte den Weg hinauf. Er wollte Rei die Stimmung nicht verderben, aber abgesehen von ein paar weißen Hortensien, die sich in das dunkelblaue Meer verlaufen hatten, fiel ihm absolut nichts Ungewöhnliches auf. Das hier war ein ganz normaler Weg, abgenutzt und erkundet von Hunderten von Touristen, die über Wochen und Monate in den Amidaji-Tempel geströmt waren. Da es noch früh am Morgen war, hatten sie noch nicht viele andere Menschen getroffen, aber mit jeder Stunde, die sie hier verbrachten, wurde die Wahrscheinlichkeit größer, auf eine Wandergruppe oder andere Individualtouristen zu stoßen. Nachdenklich blickte er zu Rei. «Der Tempel ist nicht mehr weit von hier», stellte er fest. Sie nickte. «Etwa 20 Minuten», stimmte sie ihm zu. «Könnte es sein, dass dein Priester sich geirrt hat?», fragte er weiter. «Ich meine, das hier scheint mir doch nicht unbedingt ein Youma-Jagdgebiet zu sein. Hier ist viel Durchgangsverkehr, besonders zu den Stoßzeiten und die Priester könnten sich leicht zu einem Problem entwickeln. Es wäre taktisch sehr viel klüger, sich in andere Teile des Nationalparks zurückzuziehen.» «Du denkst an Aokigahara?», fragte Rei. Jedite nickte. «Der Wald ist nicht so weit von hier und hat einen entsprechenden Ruf. Dort könnte man Leute ganz offen verschwinden lassen und niemand würde sich darüber wundern.» «Ehrlich gesagt habe ich auch schon überlegt, ob der Priester vielleicht die negativen Energien eines Touristen aufgeschnappt hat», gab Rei zu, «Aber auch das ist seltsam. Ich meine, die Priester leben hier nicht erst seit ein paar Tagen. Sie sehen das ganze Jahr über Menschen kommen und gehen. Und da sind mit Sicherheit genug dabei, die ein Problem mit ihrer Aura haben.» «Vielleicht sind wir ja auch einfach zu früh dran», mutmaßte Jedite, während er sich an einer weiteren Hortensie vorbeischob. Er konnte nicht wirklich daran glauben, aber die Möglichkeit bestand natürlich. Ein intelligenter Youma würde sich vielleicht eher auf die letzten Minuten des Tages konzentrieren. Das erhöhte zwar die Chance, dass das Personal im Hotel sich wunderte, wo seine Gäste abgeblieben waren, bot aber durch das schwindende Tageslicht auch mehr Versteckmöglichkeiten am Wegesrand. Die Hortensien lähmten den Geruchssinn, das schwindende Tageslicht, die Sehkraft und die ungewohnten Geräusche der Natur sorgten dafür, dass zumindest die Städter ihren Ohren nicht mehr trauen konnten. Damit konnte man arbeiten, zumindest wenn man keine Angst vor Suchaktionen hatte. Nur wer musste keine Angst vor Suchaktionen haben?   Noch während er über diese Frage nachdachte, durchbrach ein leises Stöhnen die morgendliche Stille. Ein paar Hortensien weiter wackelte das Blattwerk und eine alte Frau in einem zerschlissenen schwarz-weißen Kimono stolperte aus dem Busch hervor. «Dem Himmel sei dank», entwich es ihr, bevor sie auf dem Weg zusammenbrach. Rei warf ihm einen geschockten Blick zu, dann eilte sie zu der alten Dame. «Was ist mit Ihnen? Was haben Sie denn?», fragte sie, während sie neben ihr auf die staubige Straße sank. «Ach Kindchen», hörte Jedite die Alte schnarren, «Dieser Wald ist so groß. Ich habe mich verlaufen. Und jetzt tun mir die Füße so weh. Ich fürchte, ich kann keinen Schritt mehr gehen.» «Das ist ja schrecklich», entgegnete Rei, «Ich kann schnell zum Tempel laufen und Hilfe holen.» Die Alte schüttelte den Kopf. «Oh nein, nein», schnarrte sie, «Ich will den Priestern nicht zur Last fallen, aber vielleicht könnte dein Freund mich ein Stück tragen?» Jedite hob die Augenbrauen. Klar, den Priestern wollte sie nicht zur Last fallen, aber ihm war zuzumuten, die Alte bis zur Bergstation zu schleppen? Was war er? Ein Esel? Und überhaupt? Sie hatte sich verlaufen? Hier kam doch gefühlt alle zwei Meter ein neues Ziel in Sicht. Ging man abwärts, kam man früher oder später automatisch an den See oder an eine der Bahnstationen, von der aus man dorthin zurückfahren konnte und ging man aufwärts, musste man nur dem Weg folgen, um früher oder später am Tempel herauszukommen. Wie konnte man sich da verlaufen? Und wenn diese Frau sich nicht verlaufen hatte ...   «Vorsicht!», entfuhr es ihm, doch es war schon zu spät. Der Mund der Alten öffnete sich, Rei warf sich nicht sehr elegant zur Seite und etwas langes Klebriges zischte knapp über sie hinweg. «So ein unfreundlicher Kerl», schnarrte die Alte und das lange, rosafarbene Ding zuckte gefährlich mit. Dann zischte es in seine Richtung und Jedite wurde klar: Das war nicht etwa ein Seil! Das war eine riesige, eklige Zunge! Und sie war deutlich agiler, als man es von so einem Ding hätte erwarten sollen. Eilig machte er einen Satz zurück, dann wich er nach links aus, doch die merkwürdig gespaltene Spitze machte die Drehung einfach mit. Speichel tropfte von den Papillen und machte das Ganze gleich noch widerlicher. Wie kämpfte man bitte gegen eine Zunge? Das rosafarbene Gebilde zuckte noch einmal, dann schoss es knapp an seinem Kopf vorbei. «Es wäre nett, würdest du einfach stillhalten», forderte die Alte und Jedite beschloss, das würde er ganz sicher nicht tun. Er duckte sich ein weiteres Mal unter dem rosafarbenen Ding hinweg. Speichel tropfte vor ihm auf den Weg und hinterließ eine widerlich dunkle Spur auf den grauen Steinen, die unheilvoll zu rauchen begann. Die Spitze hatte inzwischen die Richtung gewechselt und zischte erneut auf ihn zu. «Es geht auch ganz schnell», schnarrte die Alte. Die Zunge schoss näher und näher. Dann zischte es aus der anderen Richtung und eine weiße Klinge bohrte sich in rosafarbenes Fleisch. Blut spritzte, die Alte schrie und Neflite zog angeekelt sein Schwert zurück. «Du schuldest mir was», erklärte er, bevor er einen eleganten Satz zurück machte.   Die Alte starrte sie wütend an. «Drei zzzum Preisss von einem», lispelte sie, während ihre Zunge sich aufrichtete, als wäre sie eine Schlange und nicht etwa ein Körperteil. «Bedaure, wir sind ungenießbar», gab Jedite zurück und warf einen vorsichtigen Blick zu Neflite und seinem Schwert. Dieses hatte inzwischen ebenfalls zu rauchen begonnen. «Bitte sag mir, du hast einen Plan», bat er seinen Freund, der damit beschäftigt war, die Klinge an einer der Hortensien abzuwischen. «Ehrlich gesagt, dazwischen gehen und deinen Hintern retten, war mein Plan. Wer ist die Alte? Und wieso will sie dich ablecken?», fragte er. Jedite machte einen schnellen Satz nach rechts. «Gute Frage. Ich sag’s dir, wenn ich’s rausgefunden hab.» Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)