Roter Mond von Maginisha ================================================================================ Kapitel 4: Die Wächter auf der Mauer ------------------------------------ Scotts Hände lagen auf dem Rand des Daches, von dem aus er und die zwei anderen den Übergangspunkt nach Eden beobachteten. Hierherzukommen war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Nur ein einziges Mal hatten sie Margeras Männern ausweichen und sich so lange in einem leerstehenden Gebäude verstecken müssen, bis die Bande wieder abgezogen war. Den wenigen Passanten waren sie wohl nicht weiter aufgefallen. Sicherlich nicht zuletzt deswegen, weil Trix bei Kaels Umgestaltung ganze Arbeit geleistet hatte. Sie hatte sogar irgendwas mit seinen Haaren angestellt, sodass ihm diese jetzt dunkler und tiefer als je zu vor über beide Augen fielen. Scott hatte keine Ahnung, ob der Junge damit überhaupt noch etwas sehen konnte, aber durch die Kombination mit der schwarzen Atemmaske war so wenigstens nichts mehr von seinem Gesicht erkennbar. Zusammen mit der mit Taschen und Laschen besetzten Jacke, der in geschnürten Stiefeln steckenden Cargohose und der hochgeschlagenen Kapuze sah er aus, als wollte er gleich den nächsten Schnapsladen überfallen. Auf dem Weg hierher hatte Scott das praktisch gefunden. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Da waren zum einen die an beiden Seiten der Brücke postierten Grenzposten, die, soweit er wusste, alle zwei Stunden abgelöst wurden. Unterstützt wurden sie bei ihrem Job von Kameras, Sensoren, Selbstschussanlagen und vermutlich auch noch der einen oder anderen versteckten Atombombe, Landmine oder was es sonst noch so zur Abwehr von unerwünschten Eindringlingen gab. Gepanzerte Wacheinheiten vom Typ ZX-12 hatten direkt vor dem dicken Stahltor Aufstellung genommen. Und als wäre das alles noch nicht genug, war Eden auch noch von einer mehr als drei Meter hohen Mauer umgeben. Darüber spannte sich übergangslos ein undurchsichtiger Energieschild. Davor waren auf einem bestimmt 50 Meter breiten Streifen sämtliche Gebäude entfernt worden, sodass sich zwischen ihnen und der Mauer nur nackter, von unzähligen Scheinwerfern gefluteter Erdboden befand. Es war quasi unmöglich, dort hineinzukommen, ohne gesehen zu werden. Ach was quasi! Es war unmöglich. „Und jetzt?“, wollte er wissen und drehte sich zu Kael und Trix um. Letztere war nur minimal dezenter unterwegs als sonst. Zu Tarnzwecken hatte sie sich heute für eine ebenfalls schwarze Jacke und schwarze Schuhe entschieden. Warum sie diese jedoch mit einer neongrünen Hose mit Leopardenmuster kombiniert hatte, war ihm höchst schleierhaft. Außerdem hatte sie offenbar vergessen, sich ein Oberteil anzuziehen, da man im Ausschnitt der Jacke ihren pinken Zebra-BH erkennen konnte. Wenigstens ihre Dreadlocks hatte sie ein wenig gebändigt und zu einem wirren Knoten zusammengebunden, der jetzt wie ein verrutschter Turban auf ihrem Haupt hing. „Wie stellt ihr euch das denn vor? Sollen wir uns einen Zweig vors Gesicht halten und darauf hoffen, dass sie uns nicht entdecken.“ „Wenn du irgendwo einen Zweig findest“, gab Trix zurück. Sie hatte die Nase gekraust und war offenbar ebenfalls überhaupt nicht begeistert von dem, was sie da unten sah. „Wir brauchen ein Fahrzeug.“ Scott schnaubte. „Und dann? Meinst du, die lassen uns einfach so durch? Oder möchtest du mal ausprobieren, ob das Tor oder unsere Köpfe zuerst nachgeben, indem du es einfach rammst?“ „Nein. Aber damit kommen wir erst mal unerkannt bis an die Grenze.“ „Und dann?“ „Improvisieren wir?“ Scott knurrte etwas Unverständliches. Improvisieren gefiel ihm nicht. So gar nicht. „Sie hat recht“, sagte Kael plötzlich. „Wir müssen zum Grenzübergang. Wenn ich Zugang zu einem der Terminals bekomme …“ „Halt, halt“, unterbrach Scott ihn sofort. „Du willst da rein?“ Er zeigte auf das Wachhäuschen, das sich mitten auf der Brücke befand. Kael nickte leicht. „Ja?“ „Okay, alles klar. Möchtest du vielleicht auch noch Pommes dazu?“ Der Junge sah ihn verständnislos an. Zumindest nahm Scott das an; es war wirklich schwer erkennbar mit all den Haaren. Mit viel Mühe unterdrückte er ein erneutes Schnauben. „Die lassen dich da nicht rein, Kleiner. Nicht mal, wenn du ganz lieb bitte-bitte sagst.“ Kael wollte gerade etwas erwidern, als Trix sich einmischte. „Wir brauchen eine Ablenkung“, bestimmte sie. „Etwas, das Kael genug Zeit verschafft, an deren Rechner rumzufummeln..“ Scott lachte auf. „Ach ja? Und wie sollen wir das anstellen? Willst du dich an eine der Wachen heranmachen?“ „Uäh, nee, bloß nicht.“ Trix grinste wedelte affektiert mit den Händen. „Ich geb mich doch nicht mit Männern ab. Diese schrecklichen, haarigen Biester, die immer alles antatschen müssen.“ „Die eine Wache ist eine Frau“, bemerkte Kael. „Ach echt?“ Trix spähte über den Dachrand. „Woher willst du das wissen?“ „Ich, äh …“ Scott konnte an Kaels Stimme hören, wie er rot anlief. „Also sie hat …“ Er machte eine eindeutige Geste vor seinem Brustkorb. Trix zog die Augenbrauen nach oben und überprüfte die Aussage. Als sie weitersprach, hörte man die Verachtung in ihrer Stimme. „Die halben Erbsen da nennst du Brüste? Na, ich weiß nicht. Ich mag es lieber ein bisschen üppiger. Zwei Hände voll oder so. Dass nenne ich …“ „Trix! Könnten wir uns bitte weniger auf deine sexuellen Vorlieben als mehr auf das Problem, wie wir nach Eden hineinkommen, konzentrieren?“ „Okay, okay. Ich mein ja nur.“ Wieder richteten sich drei Augenpaare auf den Grenzübergang. In der Zeit, in der sie hier saßen, hatte bereits ein Wachwechsel stattgefunden und bis zum nächsten war nicht mehr lange hin. Wenn ihnen nicht bald etwas einfiel, würden ihre Sauerstoffvorräte zur Neige gehen, bevor sie etwas ausgerichtet hatten. „Also schön, ich gehe“, knurrte Scott und machte Anstalten sich zu erheben. Trix brach in gackerndes Gelächter aus. „Du?“, prustete sie. „Sorry, Schätzchen, wenn ich dir das so direkt sagen muss, aber deine Verführungskünste liegen irgendwo bei 273,15 Grad unter Null. Und das ist großzügig geschätzt. Mit dir würde eine Frau maximal mitgehen, wenn du sie dafür bezahlst. Sehr gut bezahlst.“ Scotts Hand ballte sich wie von selbst zur Faust. „Ach ja? Und wie sieht dein toller Plan aus?“ „Ich werde gehen. Und du wirst mich verfolgen und so tun, als wolltest du mir ans Leder. Die Wachen sind schließlich die Guten, oder nicht? Die würden doch nicht ein hilfloses, schwaches Mädchen auf der Flucht vor einem Unhold im Stich lassen.“ Scott verkniff sich Trix darauf hinzuweisen, dass sie so ungefähr wie das Gegenteil von einer Unschuld vom Lande aussah. Immerhin hatte ihr Plan Potential. „Und er?“ Scott wies mit dem Daumen auf Kael. „Der kommt mit. Wir tun einfach so, als hättest du uns beide mieten wollen.“ „Dann bin ich also nicht nur ein Arsch, sondern obendrein auch noch pädophil?“ „Die besten sterben eben jung.“ Scott fühlte die Ader an seiner Stirn pulsieren. Am liebsten hätte er diesen dämlichen Frischling mitsamt seines reichen Daddys – tot oder nicht – auf den Mond geschossen. Wobei er sich nicht sicher war, ob er ihnen damit nicht einen Gefallen getan hätte. Das war immerhin ganz schön weit weg von so ziemlich allem. „Fein“, knurrte er schließlich. „Ich mach euch den gewalttätigen Macker. Aber ihr beeilt euch gefälligst? Klar?“ „Geht klar, Chef.“ Mit Trix’ Grinsen hätte man kleine Kinder erschrecken können. Oder Zahnpasta verkaufen. Kam auf den Standpunkt an. Kael hingegen nickte nur stumm zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Gut, dann los.“ Trix’ schauspielerische Künste waren wirklich nicht von schlechten Eltern. In anderen Zeiten hätte sie vielleicht eine Karriere beim Film vor sich gehabt. Als Hollywood nicht nur eine von Geistern heimgesuchte Ruine auf dem Meeresgrund war. Jetzt beschränkte sich ihr Publikum auf zwei hinter ihren Helmen gesichtslos wirkende Wachleute, aber selbst die schienen beeindruckt. „Hilfe! Hilfe! Er bringt uns um!“ Mit nur einem Schuh – ihr Fuß offenbarte eine pinke, nicht zu ihrem BH passende Socke – geöffneter Jacke, aufgelöster Frisur und noch aufgelösterem Gesichtsausdruck rannte sie auf die hell erleuchtete Brücke zu. Kael zerrte sie dabei hinter sich her, als wäre ihnen der Teufel persönlich auf den Fersen. Da ihm diese Rolle zufiel, gab auch Scott sich die allergrößte Mühe. „Komm zurück, du geldgierige Schlampe. Ich hab bezahlt, also wirst du mir jetzt gefälligst einen blasen.“ „Da hättest du aber ne Lupe mitbringen müssen“, keifte sie zurück und tat so, als würde sie stolpern. „Aua. Scheiße. HILFE!“ Scott versuchte, nicht allzu schnell näherzukommen, um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu erheben und näher an das angepeilte Ziel heranzukommen. Dort waren die beiden Wachen bereits in Stellung gegangen. „Verlassen Sie sofort …“, erschallte die Stimme des einen aus dem Vokal-Modul seines Helms, bevor sie von Trix’ schrillem Geschrei übertönt wurde. „So helfen Sie mir doch! Der Kerl hat ein Messer!“ Scott verfluchte Trix in Gedanken. Diese Wendung war nicht abgesprochen gewesen. Schnell zerrte er seine Waffe aus dem Stiefel und durchschnitt damit in dramatischer Geste die Luft. „Komm her! Ich schlitze dich auf und dann ficke ich deinen toten Schädel, bis er platzt.“ „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Trix kreischte in den höchsten Tönen und Scott konnte an der Körperhaltung der Wachen sehen, dass ihr Theater Erfolg hatte. Während der Mann weiter drohend auf ihn zukam, senkte die Frau jetzt minimal die Waffe. „Sie dürfen hier nicht …“, begann sie, doch dann war Trix bereits heran und klammerte sich an ihr fest, als würde ihr Leben davon abhängen. Dass sie damit rein zufällig verhinderte, dass die Frau weiter auf sie zielte, war Scotts Einschätzung nach kein Zufall. „Bitte“, flehte sie und Scott war sich sicher, dass ihr sogar Tränen in den Augen standen. „Sie müssen uns helfen. Der will uns umbringen.“ Scott hätte gerne noch weiter die bühnenreife Darstellung genossen, aber vor ihm war ein eminenteres Problem in Form einer auf ihn gerichteten Waffe aufgetaucht. „Bleiben Sie stehen!“, rief der Wachmann und hob drohend den Lauf seiner kinetischen Impulskanone. Die Waffe war auf diese Entfernung nicht tödlich, aber äußerst, äußerst unangenehm, wenn man davon gegen die nächste Wand geschleudert wurde. Unwillkürlich wurde Scott langsamer. „Ich will keinen Stress“, sagte er und hob dabei beschwichtigend die Hände. Dass das Messer, dass er darin hielt, die genau gegenteilige Wirkung hatte, war ihm dabei durchaus bewusst. „Ich will nur die Schlampe und ihren kleinen Freund zurück. Dann lassen wir euch in Ruhe.“ „Verlassen Sie die Brücke“, forderte der Wachmann ihn auf. Der Anzug, den er trug, war von einem dunklen Grau, mit schwarzen und winzigen roten Details. Scott konnte nur vermuten, dass das Material zumindest zum Teil kugelsicher war. Mit Sicherheit waren aber Torso, Hals und Genitalien gegen Angriffe geschützt. Blieb die Arterie am Oberschenkel als mögliches Ziel. Wenn er die traf aber nicht vollständig durchtrennte, würde der schnelle Blutverlust erst Bewusstlosigkeit und dann den Tod des Mannes zur Folge haben. Das Problem war nur, dass Scott eigentlich nicht vorhatte, den Kerl umzubringen. Ich muss ihm die Waffe abnehmen. Im Hintergrund hörte er Trix lamentieren, aber die Geräusche verschwammen zunehmend zu einem unwichtigen Rauschen. Wenn er die zweite Wache hierher bekommen wollte, musste er wie eine echte Bedrohung wirken. „Stehenbleiben!“, schrie der Mann vor ihm erneut. Scott war bereits bis auf einen halben Meter an ihn herangekommen und er hatte immer noch nicht geschossen. Das konnte zwei Dinge bedeuten. Erstens, dass er unerfahren war und es Scott leicht fallen würde, ihm sein Gewehr abzunehmen. Die zweite war, dass Scott sich getäuscht hatte und die Waffe scharfe Munition enthielt. Leben ist kostbar, hallte eine freundliche Frauenstimme in seinem Kopf wieder. Der Werbeslogan von Inberg Industries. Wie ironisch. Ich werde es wohl drauf ankommen lassen müssen. Scott machte einen weiteren Schritt auf die Wache zu. Der Gewehrlauf zuckte minimal nach oben. Aber immer noch kein Schuss. „Lassen Sie die Waffe fallen!“ Scott tat, als würde er eingeschüchtert anhalten. Er war sich trotz des Visiers sicher, dass der Blick des Wachmanns eher der Klinge als ihm selbst gewidmet war. Das galt es zu nutzen. „Okay, okay“, rief er scheinbar geschlagen. „Ich will keinen Stress mit euch.“ Jetzt oder nie! Scott ließ das Messer los und griff im gleichen Moment mit der anderen Hand nach dem Gewehrlauf. Mit einer blitzschnellen Bewegung drückte er ihn zur Seite und an sich vorbei nach oben. Er benutzte den freien Arm, um sein Gegenüber zu sichern und zielte dann mit dem Knie zwischen dessen Beine. Der Wachmann versuchte ihm auszuweichen, aber Scott riss den Arm nach oben und verpasste ihm mit dem Lauf der Waffe einen Schlag gegen den Kopf. Es dröhnte, Scott nutzte den gelockerten Griff der behandschuhten Hände und im nächsten Moment sah sich der Uniformierte einer auf ihn gerichteten Gewehrmündung gegenüber. Scott grinste unter seiner Maske und lud durch. „Ich darf doch?“, fragte er und drückte ab. Die Druckwelle, die sich daraufhin entlud, jagte einen schmerzhaften Rückstoß durch seinen Arm, der ihn gequält aufjaulen ließ. Er hasste Schusswaffen. Auch wenn sie nur bessere Luftgewehre waren. Der Wachmann hingegen wurde von der vollen Ladung erfasst und ein gutes Stück rückwärts geschleudert, bevor er auf dem Rücken landete und stöhnend liegenblieb. Scott wusste, dass er sich wahrscheinlich gerade fühlte, als wäre er von einem Panzer überrollt worden. One down, one to go. „Legen Sie sofort das Gewehr auf den Boden und treten Sie mit erhobenen Händen von der Waffe zurück.“ Das befehlende Bellen der zweiten Wache machte Scott klar, dass er es hier mit einem weitaus härteren Brocken zu tun hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er den kinderschändenden Scheißkerl gegeben hatte. Mehrere hundert Jahre Evolution hatten an den weiblichen Instinkten zum Schutz des Nachwuchses wohl immer noch nicht viel verändert. „Zwing mich doch, Nutte!“, rief er, wohl wissend, dass er sich auf verdammt dünnem Eis bewegte. „Ich sagte: Hinlegen!“, kam es noch einmal. Scott fletschte die Zähne. „Komm und hol sie dir, Dreckstück!“ Im nächsten Moment hörte er einen Schuss und ein gewaltiger Schlag fegte ihn von den Füßen. Die Welt um ihn herum drehte sich, während seine Organe von dem Treffer in alle Richtungen gedrückt worden. Fu- …, konnte er gerade noch denken, bevor er auch schon mit dem Boden kollidierte. Sein Gesicht schrammte schmerzhaft über den Asphalt. Die entsprechende Meldung ging in der Flut der restlichen Schmerzimpulse unter. Alles in seinem Körper funkte SOS und das war nur der gute Teil. „Ich bin zu alt für diesen Scheiß“, flüsterte er erstickt, während er versuchte, wenigstens irgendein Körperteil dazu zu bewegen, sich in eine von ihm gewünschte Richtung zu bewegen. Diese Bemühungen erlahmten, als ein Paar Militärstiefel in Sichtweite kamen und er das Nachladegeräusch des dazugehörigen Gewehrs vernahm. „Liegenbleiben, Arschloch!“ Scott hätte beinahe gelacht, wenn das nicht so wehgetan hätte. „Alles, was Sie sagen, Lady.“ Er hörte, wie sich die Schritte entfernten und die Wache ihrem Kollegen auf die Beine half. Dass er dabei nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen wurde, gehörte natürlich zum Plan. Trotzdem hätte Scott in diesem Moment gerade liebend gerne mit jemandem getauscht. „Ich ruf die Cops“, informierte die Frau den zweiten Mann. „Bleib hier und sorg dafür, dass er nicht wegläuft.“ Noch einmal lag Scott ein Lachen auf den Lippen, das jedoch auf halbem Weg seine Kehle hinauf verreckte. Er hatte gerade einfach nicht die Kraft, auch nur einen Muskel zu bewegen. Selbst Atmen war schmerzhaft. „Hey, was macht ihr da?“, hörte Scott aus der Ferne. Der Blick der Wache, die jetzt wieder im Besitz ihrer Waffe vor ihm stand, wankte nicht, doch Scott ahnte, wie es hinter dem Visier arbeitete. Schließlich gewann die Vorsicht. Trottel, dachte Scott, während der Mann sich mit der Warnung, sich gefälligst nicht vom Fleck zu rühren, von ihm entfernte. Als wenn er darauf gehört hätte. Mit aller Gewalt, die er aufbringen konnte, stemmte er sich auf alle Viere hoch. Schon wurden hinter ihm Rufe laut, die ihn dazu aufforderten stehenzubleiben. Scott ignorierte sie und zwang sich mit purer Willensanstrengung in die Senkrechte. Er musste hier weg, wenn er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde in einer Zelle landen wollte. Nur, weil es hier draußen keine Polizei gab, hieß das nicht, dass da drinnen auch auf Recht und Gesetz geschissen wurde. Und ein Angriff auf einen Regierungsbeamten gehörte da sicherlich zu den „Major Crimes“. „Stehenbleiben!“ „Du mich auch mal“, knurrte Scott und sortierte immer noch seine Beine, als plötzlich jemand an ihm vorbei rannte. Verfolgt wurde die Person von einem wehenden Wischmob aus pinken Dreadlocks. „Los, Scott, hopp hopp. Schwing die Hufe.“ „Hufe …? Ich geb dir gleich Hufe!“ Er unterdrückte einen erneuten Fluch, als er jetzt hörte, wie hinter ihm Verstärkung angefordert wurde. Es übertönte fast den Klang des Abzugs, der durchgezogen wurde. Fast. Gerade noch rechtzeitig ließ Scott sich fallen. Der Schuss raste über ihn hinweg und verfehlte zu ihrem Glück auch Trix, die jetzt noch einmal einen Zahn zulegte, Kael dicht auf ihren Fersen. „Scheiße!“ Die hallenden Schritte, die hinter ihm näherkamen, machten Scott deutlich, dass er ganz gewaltig in eben dieser saß. Er musste hier weg und zwar pronto. „Sie sind verhaftet.“ Der Kampfroboter, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, brachte Scott ins Straucheln. Beinahe wäre er mit der Blechbüchse zusammengestoßen, die mit der immerhin beachtlichen Größe von 2,20 m vor ihm aufragte. Allerdings waren die Kanonen an ihren Unterarmen auf einen Punkt irgendwo in Scotts Rücken gerichtet. „Was zum …?“ Scott blieb keine Zeit, sich weiter darüber zu wundern. Der ZX-12 hatte das Feuer auf die Wachleute eröffnet, ohne sich darum zu kümmern, dass sie eigentlich auf der gleichen Seite standen? Was war hier los? Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund oder so ähnlich? So schnell ihn seine Füße trugen, sah Scott zu, dass er außer Reichweite der durchgedrehten Maschine kam. Hinter ihm konnte er das Sperrfeuer der Laserwaffen hören, die das Wachhäuschen, in dem sich Trix und Kael noch vor wenigen Augenblicken befunden hatten, in Schutt und Asche legten. Vielleicht, weil der Kleine am Computer rumgefummelt hat? Was auch immer der Grund war, er sorgte dafür, dass Scott sich unbehelligt aus dem Staub machen konnte. Ohne sich noch weiter um die jetzt panisch flüchtenden Wachen zu kümmern, beschleunigte er seine Schritte, bog an der nächsten Ecke wahllos ab und dann gleich noch einmal und nochmal, bis er sicher war, dass ihm niemand mehr folgte. Erst dann gönnte er sich eine winzige Ruhepause an einer einladend wirkenden Mauer. Alles an ihm schmerzte und auch seine Lungen verlangten nachdrücklich nach einer Pause. Die Sauerstoffanzeige blinkte hektisch im roten Bereich. Pecares’ Maske hatte anscheinend keinen akustischen Alarm. „Fuck. Der Kampf hat meine letzten Reserven verbraucht.“ Er wusste, wenn er noch weiter hier herumirrte, würde er ersticken. Er brauchte Trix und den Rucksack auf ihrem Rücken. Mit zitternden Fingern wählte er ihre Nummer. „Hey, alter Mann, wo steckst du?“ „Luft“, war alles, was er zurückgeben konnte. Zu mehr reichte sein Atem nicht. Schon fühlte er den Druck auf seiner Brust anwachsen. Das Gefühl, als würde er langsam unter dem Fuß des eisernen Riesen zermalmt, der ihm gerade noch den Arsch gerettet hatte. Er brauchte Sauerstoff. Jetzt! „Scheiße! Sind gleich bei dir.“ Scott hörte nicht mehr, wie sie auflegte. Das Telefon entglitt seinen Händen, die ebenso wie seine Arme binnen Sekunden zu nutzlosen Anhängseln geworden waren. Er wusste, dass es vollkommen aussichtslos war, dass Trix ihn noch rechtzeitig fand. Die Ohnmacht nahte mit der Gewalt eines Güterzugs, die Fassade des Hauses gegenüber kippte zur Seite und … „Hilf mir! Nimm ihm die Maske ab.“ Da waren Stimmen, die er sich einbildete. Berührungen an seinem Gesicht. Fremde Hände. Er wollte sie wegschlagen, aber es gelang ihm nicht. „Fuck, er ist schon ganz blau. Los, mach!“ Irgendetwas klickte und klirrte, dann wurde etwas gegen sein Gesicht gepresst. „Atme, du verdammter Hurensohn. Atme!“ Er bekam einen Schlag und dann noch einen. Der Schmerz ließ ihn nach Luft schnappen. Frischer Sauerstoff flutete seine Lungen. Gierig sog er mehr davon ein. Ja. Ja! Das brauchte er jetzt. „Nimm sie ihm nochmal ab, sonst kriegt er gleich einen Kollaps.“ Die Maske wurde kurz entfernt und dann wieder gegen sein Gesicht gedrückt. Langsam klärte sich sein Blick. Ein erschrockenes, blasses Gesicht mit zu vielen, schwarzen Haaren schwebte über seinem. „Geht es dir gut?“, fragte Kael, bevor Trix ihn zur Seite drängte und ihre Nase ebenfalls in Scotts Sichtfeld hängte. „Klar geht’s dem gut. So schnell stirbt man nicht. Nicht, wenn ich es verhindern kann.“ Trotz der Situation musste Scott lachen. Er hörte sich an wie ein krepierender Staubsauger. „Bekomme ich Pudding zum Nachtisch, Schwester Trix?“, fragte er und fing sich dafür einen neuen Schlag. „Siehst du?“, sagte sie zu Kael. „Der Kerl ist wie Fußpilz. Einfach nicht totzukriegen.“ Trotz des wenig schmeichelhaften Vergleichs war Scott froh, dass er noch am Leben war. Es mochte zwar ein Scheißleben sein, aber es war seins und irgendwie hing er daran. Mit einem Ächzen wälzte er sich auf den Rücken und dann in eine halbwegs aufrechte Position. Er hatte das Gefühl, gleich den Inhalt seines Magens auf dem Gehweg verteilen zu müssen. Nicht, dass da viel zum Verteilen gewesen wäre. Sie hatten seit heute Mittag nichts mehr gegessen und inzwischen war es dunkel geworden. „Nimm deine Finger von mir“, herrschte er Kael an, als der Anstalten machte, ihm beim Aufstehen zu helfen. Eher würde er sich freiwillig in eine Verwertungsanlage werfen, als sich von dem Küken wie ein Tattergreis behandeln zu lassen. „Sag mir lieber, dass ihr Erfolg hattet.“ Die Blicke, die sich Trix und Kael daraufhin zuwarfen, gefielen ihm nicht. „Hattet ihr nicht?“, fragte er ungläubig nach. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er gerne sehr laut geschrien. „So halb“, gab Trix schließlich zu wissen und wies auf etwas in Kaels Händen. „Es hat sich rausgestellt, dass der Terminal keinen Zugriff auf das Hauptnetzwerk hat. Aber wir haben das da?“ „Und was ist 'das da'?“, schnappte Scott. Er hatte sich doch nicht den Arsch für nichts und wieder nichts aufgerissen, nur damit die beiden Youngster es total versauten. „Das ist ein Tweeter. Eine Überwachungsdrohne.“ Kael hielt ihm den metallenen, mit vier Rotoren ausgestatteten Roboterspion hin. „Das seh ich selber“, fauchte Scott. „Aber was wollt ihr damit?“ Kael zuckte zusammen. „Ich … ich hatte gehofft, dass ich damit Ava kontaktieren kann. Sie kann uns einen Zugang nach Eden verschaffen.“ Scott hörte die Hoffnung in Kaels Stimme, aber er glaubte nicht daran. Schließlich war die automatische Verteidigungsanlage dazu geschaffen worden, Leute aus Eden draußen zu halten. Wieso zum Geier sollte sie ihnen also helfen, in die Stadt hineinzukommen? Scotts Zweifeln zum Trotz suchten sie sich einen geschützten Platz in der zweiten Etage eines ehemaligen Eisenwarenladens, wo Kael sich am Gehäuse der Drohne zu schaffen machte. Er fummelte an den Drähten im Inneren herum und tatsächlich erwachte das Ding kurz darauf zum Leben. Surrend begannen die vier kleinen Rotoren sich in Bewegung zu setzen und einen Augenblick später erhob sich die kleine Maschine aus Kaels Schoß wie ein Vogel, dessen Flügel nicht mehr gebrochen waren. Ein Vogel, der Scott und die anderen beiden aus einem schwarzen niemals blinzelnden Auge unablässig beobachtete. „Das gefällt mir nicht.“ Die Kameralinse richtete sich auf ihn. Scott wich automatisch ein Stück zurück. „Versteht das Ding etwa, was wir sagen?“ „Jedes Wort“, bestätigte Kael. Scott blieb der Mund ungefähr zwei Sekunden lang offenstehen. Dann polterte er los: „Sag mal, hast du sie noch alle? Das Ding weiß jetzt, wie wir aussehen und vermutlich auch, wo wir sind. In zwei Minuten wird es hier vor Cops nur so wimmeln. Wir müssen abhauen.“ „Geduld“, sagte Kael und wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so verunsichert. „Alle Meldungen, die der Tweeter macht, werden zunächst durch Ava geprüft. Sie wird die Nachricht also in jedem Fall zuerst erhalten.“ Scott mochte nicht, wie sich das anhörte. „Die AVA ist mehr als ein einfacher Computer“, kam ihm jetzt auch noch Trix zur Hilfe. „Sie kann selbstständige Entscheidungen treffen. Uns eine Luftschleuse öffnen zum Beispiel.“ Scott mochte auch nicht, wie sich das anhörte. „Und wenn sie entscheidet, dass wir zwei entbehrlich sind und sie nur Kael wiederhaben will? Werden wir dann wie Ratten irgendwo in einem Tunnel eingesperrt, den das Ding dann flutet? Oder mit einem Gitter aus Laserstrahlen durchkämmt, damit sie uns auch auf jeden Fall erwischt?“ Trix zögerte kurz, bevor sie ihre Mundwinkel ein Stück nach oben schob. „Ach was“, sagte sie, doch ihrer Stimme fehlte die gewohnte Leichtigkeit. „So einen Riesenkerl wie dich werden sie doch nicht einfach so zu Fischfutter verarbeiten. Immerhin könnte ne alte Frau aus dir ne Menge Suppe kochen.“ Scott antwortete nicht darauf. Es gab keine vernünftige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das war einer der Gründe, warum Scott sie nie stellte. Kael, der offenbar gar nicht zugehört hatte, stellte sich jetzt vor der Drohne auf. Die Kamera richtete sich mit einem feinen Surren auf ihn, als erwartete sie, dass er sie ansprach. „Ava“, sagte Kael fast schon feierlich. „Hier ist Kael. Ich bin in großen Schwierigkeiten. Mein Vater wurde verletzt oder getötet und ich wurde in einen der äußeren Bezirke verschleppt. Ich konnte zwar fliehen, aber ich muss unbedingt wieder zurück nach Eden. Kannst du mir helfen?“ Der Tweeter reagierte nicht. Nichts zeigte an, ob Kaels Nachricht überhaupt aufgenommen, geschweige denn weitergeleitet worden war. Oder was für eine Reaktion sie wohl ausgelöst hatte. In Scotts Vorstellung gingen gerade irgendwo in einem Kontrollraum der Sicherheitszentrale von Eden sämtliche Warnlampen an, eine Sirene ertönte und ein gutes Dutzend Uniformierte machte sich bereit auszurücken, um sie zu stellen. „Und was tun wir jetzt?“, fragte er und wischte das unliebsame Bild beiseite. „Jetzt warten wir“, gab Kael zurück. „Und wie lange?“ „So lange es sein muss.“ Scott wollte gerade fragen, ob es nicht ein bisschen genauer ginge, als er draußen das Geräusch eines Elektromotors vernahm. Er stürzte zu einem der leeren Fensterrahmen und konnte gerade noch sehen, wie ein schwarzer Truppentransporter vor dem Haus landete. Entsetzt prallte er zurück und wirbelte im gleichen Atemzug herum. „Sie haben uns gefunden. Los! Machen wir, dass wir wegkommen!“ Er packte Kael am Arm und drängte ihn und Trix in Richtung Tür, als plötzlich Leben in die Drohne kam. Das Gerät verließ seinen Beobachtungsplatz und flog direkt vor die rettende Öffnung. Dort angelangt verharrte sie etwa in Kopfhöhe und versperrte ihnen den Weg. Scott wollte schon danach schlagen, als Kael ihn zurückhielt. „Warte. Ich glaube, er will uns etwas sagen.“ „Sagen?“, echote Scott. „Was will uns dieses Ding denn bitte sagen? Und was ist mit den Cops, die hier jeden Moment zur Tür reinplatzen werden?“ „Cops?“ Trix legte den Kopf zur Seite und lauschte. „Ich hör nix.“ Scott, dessen Instinkte immer noch im Fluchtmodus waren, hielt überrascht inne. Trix hatte recht. Da waren keine schweren Schritte, die die Treppe hinaufpolterten. Keine abgehackten Befehle und das ratschende Klicken, mit dem die Waffen entsichert wurden. Nur das leise Summen der Drohne, die immer noch wie angeleimt inmitten der Türöffnung schwebte. „Also schön“, sagte er langsam. „Ich glaube euch, dass wir nicht angegriffen werden. Aber wozu dann der Transporter?“ Trix und Kael sahen sich an. Trix’ Blick glitt von dem Jungen zur Drohne und dann zu dem Fenster, an dem Scott gerade noch gestanden hatte. „Also wenn ich es nicht besser wüsste“, meinte sie nachdenklich, „würde ich ja sagen: Unser Taxi ist da.“ Scott lachte bitter auf. „Willst du mir etwa weismachen, dass die AVA uns einen Shuttleservice geschickt hat?“ Trix hob ein wenig unschlüssig die Schultern. „Wäre möglich. Immerhin kontrolliert sie so ziemlich alles in der Stadt. Auch die Fahrzeuge.“ Scott wusste, dass das eine schlechte Idee war. Er wusste, dass er sich nicht in diesen Wagen setzen sollte, damit der ihn wohin auch immer brachte. Er wollte sich nicht auf Gedeih und Verderb dem Willen einer Maschine aussetzen. Aber er wusste, dass er keine Wahl hatte.   „Ich hab ein ganz mieses Gefühl bei der Sache“, murmelte er, während er Trix und Kael nach unten folgte. Hinter sich glaubte er, den Tweeter kichern zu hören.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)