Requiem von _Scatach_ (Teil Drei der BtB Serie) ================================================================================ Kapitel 5: Graves and ghosts ---------------------------- Er kniete in der Mitte des Raumes und starrte auf den glatten Hartholzboden, der so akkurat poliert war, dass er schimmerte wie ein Spiegel und zwei Mondsteinaugen reflektierte. Fusama Paneele zäunten ihn ein und ihre breiten hölzernen Rahmen waren in geradezu militanter Ordnung aneinander geschlossen; kontrolliert, ordentlich, fortlaufend.    Festgelegt wie das Schicksal.    Regungslosigkeit; abgesehen von dem leisen Klang von Atmung. Mit jedem eingezogenen Atem verdichtete sich der Raum um ihn herum und die Dunkelheit kroch näher, bis er ausatmete und sie so zurück trieb. Es schien, als würde er Licht ausstoßen; er fühlte eine federleichte Empfindung über sich und hob die Augen, um zuzusehen, wie ein Regen weicher weißer Daunen von oben herab driftete, als würden sie sich durch Wasser bewegen, bevor sie langsam zu einem Halt kamen und in der Schwebe gehalten wurden.    ‚Ich wünschte, es wäre mir möglich gewesen, dass du in die Hauptfamilie geboren wirst.‘   Die Federn begannen zu fallen; eine nach der anderen.    ‚Was nicht geändert werden kann, muss ertragen werden.‘   Er spürte, wie seine Hände von seinen Schenkeln glitten; seine Handflächen trafen auf das Holz und seine Wirbelsäule begann sich im Anfang einer Verbeugung zu krümmen.   ‚Wir sind, wer wir sind und damit müssen wir leben.‘   Er versuchte, sich zu widersetzen, fühlte einen plötzlichen Druck zwischen seinen Schulterblättern. Zwei große Hände, die ihn nach unten zwangen, weiter hinab zum Boden; sein Körper war jetzt kleiner, schwächer, nutzlos.   ‚Verlangen oder Verzweiflung, Neji? Was ist es, was ein Zweighaustier antreibt?‘   Und dann bekamen die Fusama Paneele Risse, das Holz unter seinen Knien und Händen begann zu splittern. Die Federn zitterten, schienen sich aufzurappeln und begannen zu wirbeln.    ‚Sollen wir über deinen Vater sprechen, Hyūga Neji? Er hätte eigentlich auch genauso gut ein Bastard sein können, wenn man bedenkt, dass er von der Hauptfamilie ausgeschlossen wurde.‘   Er versuchte, sich aufzurichten, versuchte, die verstreuten Federn zu ignorieren und seinen Verstand wieder zu zentrieren, aber die Worte flogen mit den Daunen, nahmen an Schwung zu und flatterten schnell.   ‚Es kostet nichts. Denn du hast nichts mehr. Du beschreitest diesen Pfad, wenn du nichts mehr zu verlieren hast.‘   ‚Was glaubst du, was dein Vater am meisten gefürchtet hat zu verlieren? Kami weiß, dass es nicht du warst.‘   Die Federn verwandelten sich in Klingen; schnitten seine Roben fort. Er konnte sich nicht fokussieren, konnte seine Gedanken nicht kontrollieren oder genug konzentrieren, um den Bruch in seinen Defensiven lokalisieren zu können…   ‚Neji…du musst leben.‘   ‚Warum? Du hast auch nicht gelebt.‘   Ein scharfes Aufplatzen und Stechen…Blut quoll hervor, rann in dünnen Strömen hinunter.    ‚Mach dich wieder mit der Kontrolle vertraut, die ich dir überlasse.‘   Er versuchte, sich eine Dichte in der Luft vorzustellen, eine entgegengesetzte Strömung, die gegen das Wirbeln der Federn floss. Er hatte das in seinen Träumen bereits getan. Hatte diese Kontrolle gehabt. Moment, das hier war kein Traum, oder? Es konnte unmöglich eine Meditation sein…er hatte sein Zentrum verloren…sein Verstand verstreut mit den Federn…Fokus zerbrochen…eiskalt und tot…   ‚Du bist ein eiskalter und herzloser Bastard, Hyūga.‘   Und dann schnitt eine Feder tiefer…viel zu nah an der Vene…   ‚Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe…darüber, menschlich zu sein.‘   GENUG!   Ein scharfer Schrei; ein aufgeschreckter Vogel. „NEJI!“   Nejis Augen flogen auf und sein Atem flutete in einem Beben aus ihm heraus.    Inos blasses und tief besorgtes Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter vor seinem. „Bist du okay?“   Es dauerte einen Moment, bis sich Neji wieder orientieren konnte und seine weiten Augen zuckten ohne irgendein Wiedererkennen umher, bis sich seine Gedanken beruhigten und weiße Federn in ihre Ordnung zurückkehrten. „Ja…“, murmelte er und war sich schmerzhaft bewusst, wie nah er daran gewesen war, dieses eine Wort als Frage zu formulieren. Langsam hob er eine Hand, um sich über die Brauen zu reiben und runzelte die Stirn über den Schweiß, den er dort fand, bevor er sein Hitai-ate zurecht zog. „Was ist passiert?“   „Du hast mir einen massiven mentalen Tritt verpasst.“ Ino verzog das Gesicht. „Gut, dass ich rechtzeitig abgesprungen bin.“   „Abgesprungen? Also dann war ich nicht in der Lage…“ Er brach ab, legte seine Hände auf seine Schenkel und widerstand energisch dem Drang, seine Finger hinein zu graben. „Ich verstehe.“   Ino rutschte etwas zurück, um ihm mehr Raum zu geben. „Hey, das braucht seine Zeit. Ist ziemlich schwierig, den Verstand zu leeren, wenn da jemand ist, der alle Schleusen öffnet.“   So viel dazu, seine Erinnerungen wasserdicht zu halten. So viele Lecke, so vieles, das ausgenutzt werden konnte. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, es im Griff zu behalten; bis dieser letzte Gedanke gekommen war. Wie ein Anker sank er hinunter in seine Magengegend.    ‚Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe…darüber, menschlich zu sein.‘   Ohne irgendeinen Kontext waren Shikamarus Worte durchaus harmlos genug…vielleicht ein wenig persönlich, aber Neji hatte einige Perlen ungewollter Weisheiten, die durch sein Hirn rollten; die meisten davon waren laut und lärmend und gehörten zu Naruto. Mit Sicherheit würde der Schnipsel eines ernsten Ratschlages des Schattenninjas nicht missverstanden werden als…   Als was?   Neji versteifte sich und warf Ino einen raschen Blick zu, um ihre Reaktion darüber einzuschätzen, in seinem Verstand über Shikamarus Stimme gestolpert zu sein. Sie hatten sich auf ein paar Grenzen geeinigt, wie viel Zugang sie hatte und ihr den Freiraum über akustische Erinnerungen gegeben. Allein der Gedanke daran, dass sie vielleicht über die ein oder andere sehr bildhafte Darstellung stolpern könnte, verdrehte Neji die Eingeweide.    „Ino…“, begann er.    „Oh mein Gott“, schnaubte die Yamanaka, ließ sich auf dem gegenüberliegenden Kissen nieder und fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar, um sich an der Kopfhaut zu kratzen. „Großes Päckchen zu tragen? Deine mentalen Überbleibsel sind viel schlimmer als dieses eklige Kokosnussöl, das sich einfach nicht auswaschen lässt. Einmassieren, ausspülen, wiederholen? Ich glaub ja eher nicht.“   Neji stierte sie an; viel verstörter von dieser Analogie als der Antwort.    Ino strich mit den Fingern durch ihren langen Pferdeschwanz, bevor sie ihn über die Schulter warf. „Und ich dachte, Shikamarus Hirn wäre eine Quasselstrippe“, grummelte sie. „Sind scheinbar immer die Schweigsamen.“   Neji spürte, wie sich seine Brust zusammenzog und sein Atem stockte ihm in der Kehle. Nach außen hin verriet er jedoch nichts. „Shikamaru hat dir gestattet, dass du-?“   Sofort flogen Inos Hände nach oben und schnitten ihm das Wort ab. „Ha! Als ob.“ Sie rutschte auf dem Kissen hin und her. „Ich muss nicht immer in einen Verstand gehen, um dieses statische Summen darum herum spüren zu können.“ Endlich fand sie eine bequeme Position. „Bevor wir angefangen haben, habe ich dir gesagt, dass ich einfach irgendwelches zufälliges Zeug rauspicke und dich damit bombardiere.“   „Zufällig?“, echote Neji ungläubig.    Ino runzelte bei seinem Tonfall die Stirn, bis sie die Verteidigung in seiner Stimme bemerkte. Seufzend beruhigte sie ihn mit einem Lächeln. „Hey, ich habe es dir doch gesagt. Ich hebe einfach nur kurz den Deckel der Erinnerungsbox an und begebe mich dann sofort zur nächsten. Ich schnüffele nicht da drin herum, um irgendetwas von Sinn daraus zu machen.“   Etwas, das ein Feind zweifelsohne tun würde. Genau deswegen auch diese Übung; Neji musste versuchen, diese Boxen verschlossen zu halten, während Ino daran arbeitete, sie aufzuhebeln. Es ging nicht darum, was in diesen Kisten lag, es ging darum zu lernen, dieser mentalen Invasion zu widerstehen, die es Ino gestattete, überhaupt zu wissen, dass sie existierten.    „Außerdem“, fügte Ino hinzu und hob einen ausgestreckten Zeigefinger, um ihre Worte zu unterstreichen. „Unser Clan ist sehr strikt, wenn es um solche Angelegenheiten geht und mein Dad würde mir den Schädel einschlagen, sollte er jemals rausfinden, dass ich auf diese Weise in den Geist von irgendjemanden eindringen würde.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und seufzte in falscher Dramatik, als wäre ihre Mission vereitelt worden. „Ich muss einfach nur dem Drang widerstehen, all deine schmutzigen kleinen Geheimnisse auszugraben, Neji.“   Neji ließ ein freudloses Lachen hören, das eher ein Ausstoßen aufgestauter Luft war, bevor er kopfschüttelnd den Blick abwandte. „Wie beruhigend.“   „Oh, entspann dich. Ich habe es versprochen, oder nicht? Ich würde das niemals tun, außer es geht um einen Feind.“ Mit geschlossenen Augen schien sie sich erneut zu zentrieren und ihre Gesichtszüge wurden weich und entspannt. Einen Atemzug später glitten ihre Lider auf. „Diesmal fangen wir ganz langsam an. Ich werde nicht so viel durch die Gegend schmeißen.“   Nejis Braue hob sich, bevor er es aufhalten konnte.    Augenrollend errötete Ino ein wenig. „Okay, okay, ich werde da halt ein bisschen wie ein Kind in einem Süßigkeitenladen. Kommt immerhin nicht jeden Tag vor, dass mich jemand dazu einlädt, in ihrem Hirn herumzuwühlen. Ich bin ehrlich überrascht, dass du mich wirklich lässt.“ Sie faltete ihre Beine neu und setzte sich zum dritten Mal auf dem Zabuton Kissen etwas anders hin, bevor sie ihre Fingerspitzen in einem meditativen Zeichen aneinanderlegte. „Okay, dann lass uns mal einen Ruhepunkt langsam in Gang bringen.“   Etwas, das sie von Anfang an hätten machen sollen, bevor Neji darauf bestanden hatte, mit einem riesigen Satz in kalte Wasser zu stürzen. Wieder einmal hätte sein steinhartes Ego beinahe gesehen, wie er unterging…und wie ihn der dumpfe Schmerz in seiner Brust nur allzu sehr ermahnte, waren das keine Tiefen, von denen er es sich leisten konnte, dort hinein zu tauchen. Aus diesen Wassern wieder aufzusteigen bedurfte jedes Mal ein bisschen mehr Atem und sehr viel mehr Anstrengung.    Genug. Atme.   Er folgte Inos Beispiel und ließ seine Lider nach unten sinken, während er sich darauf konzentrierte…   Loszulassen…   Für eine Weile war da nur die Stille; eine Empfindung milder Verbundenheit zwischen ihren Auren. Zwei Geister, die sich denselben Raum teilten; auf Abstand, aber innerhalb der Reichweite des jeweils anderen. Er konnte die Grenzen spüren, die sie etabliert hatten und gestattete sich, sich diese Grenzen vorzustellen und spürte, wie Ino sie verstärkte. Es lag keine Bedrohung darin, hier die Kontrolle zu verlieren und so ließ Neji es zu…fühlte ihre Präsenz wie das Streicheln von kindlichen Fingerspitzen über das Geländer eines Zaunes…nein, kein Zaun…er brachte das Bild in den Fokus…   „Käfigstäbe“, sagte Ino und ihre Stimme war ein Wispern in seinem Verstand.    Neji nickte schwer und langsam. Mit immer noch geschlossenen Augen spürte er, wie sich sein Körper lockerte und sich sein Herzschlag verlangsamte, als ihn ein wohliges Gefühl nach unten zog…hinunter…zu einem Ort, wo es nicht dunkel oder eingeschlossen war.    Das überraschte ihn.    Er suchte; verwirrt von dieser Fremdheit – vielleicht sogar neugierig. Hier gab es eine gewisse Harmonie. Duftend wie Blumen…und wo er einst Federn gesehen hatte, sah er nun Blütenblätter schweben, die auf einer Strömung segelten, die weit sanfter war als die, die vorhin in seinem Kopf herum gepeitscht war.    Und dann rollte eine leise Stimme schwer auf dieser Brise. ‚Sticht euch mein Rauch in den Augen, oder seid ihr einfach nur so glücklich darüber, mich zu sehen?‘   Nejis Fokus geriet bei diesem tiefen, bekannten Timbre ins Taumeln…   ‚Hey, warte! Ich habe dir doch gesagt, dass ich meinen Kristall unter der einzelnstehenden Zeder von Konoha versteckt habe.‘   ‚Der Kristall interessiert mich nicht. Ich will nur sehen, wie gut ich gegen einen Jōnin bestehen kann.‘   ‚Gah. Jetzt nicht. Würdest du endlich aufhören, mich durch die Gegend zu jagen?‘   Asuma.    Neji spürte, wie er sich umdrehte, eine körperlose Bewegung und seine Sicht glitt über eine blühende Farbmasse, die sich zu einer Wiese auflöste; die Palette eines Künstlers, übersät mit Fuchsien, weißen Lilien, violetten Hortensien und tief karmesinroten Mohnblumen, deren Blütenblätter schimmerten…rot tropften…beinahe wie…   Blut…   So viel Blut.    ‚Ino…Tränen sind eine Sache…aber du musst aufhören, die Dornen noch tiefer zu treiben.‘   ‚Ich kann nicht, Sensei.‘   Wirbelnd wurden die Blätter viel schneller als die Federn vorhin…   ‚Wo ist nur mein selbstbewusstes Großmaul hin?‘   ‚Wo bist du hin?‘   ‚Nicht so weit weg, wie du denkst.‘   Rauch, dicht und verstopfend in den Lungen…   Neji versuchte, sich zurückzuziehen, musste aber feststellen, dass er es nicht konnte. Und stattdessen spürte er übermächtig und deutlich die schwere Präsenz einer Hand auf seiner linken Schulter, die einen Moment dort verharrte, bevor sie ein einziges Mal zudrückte. „Lass ihn nicht wegrennen.“   Und dann stoben die Blütenblätter auseinander; rot, violett, weiß und pink wirbelten sie aufwärts in einen kornblumenblauen Himmel, schluckten die Sicht, die Stimme…die Überreste eines Geistes.    Und dann kehrte die Welt zurück…   Neji zog sich von der Meditation fort und ließ sein Bewusstsein zurück in seinen Körper fließen.    Jetzt.   Langsam hob er den Kopf, während sich seine Augen wieder fokussierten, sich sein Geist beruhigte und sich sein Körper im Meditationsraum der Yamanka neu ausrichtete. Keine Wiese, kein Duft von Blumen…keine phantomhafte Präsenz…   Was war das?   Er hob seine rechte Hand um packte seine linke Schulter, um tief mit den Fingern hinein zu kneten. Er mochte vielleicht die Illusion an sich abgeschüttelt aber, den Abdruck davon jedoch nicht.    War das überhaupt eine Erinnerung?   Falls ja, warum hatte Ino sie hindurch rutschen lassen? Oder war er abgerutscht? Er war sich nicht bewusst gewesen, dass er auch Gedanken aufnahm, nur dass er sie losließ. Vielleicht waren sie beide ausgerutscht. Doch viel verstörender als die Erfahrung von Inos persönlichen Gedanken, die seinen Verstand streiften, war die Art und Weise, wie sich diese auf ihm niedergelassen und an ihn geheftet hatten, als hätten sie ein eigenes Empfindungsvermögen.    ‚Lass ihn nicht wegrennen.‘   Über die kurze Distanz hinweg rührte sich Ino.    Neji tat so, als wäre auch er eben erst aus der Meditation erwacht, blinzelte langsam und ließ seinen Fokus durch den Raum wandern, um sich davon abzuhalten, Inos Reaktion zu studieren. Blumen dominierten die Fusama Paneele; verwaschene Gemälde von Pfingstrosen, ein paar davon in den zarten ersten Stadien der Knospung gemalt, andere hingegen blühten bereits in wolkigen weißen Falten.    „Ich brauche ein bisschen Zeit“, sagte Ino plötzlich. Ihre Stimme war fest und viel stärker als Neji es gemessen an dem tief persönlichen und rohen Moment, den sie beide geteilt hatten, erwartet hatte. Langsam atmete sie ein und legte die Hände flach auf ihren Bauch. „Bitte versteh mich nicht falsch. Ich werde dir helfen. Ich will das auch wirklich. Es ist nur, dass ich…“   „Ich verstehe.“   „Gut“, sagte Ino knapp. Thema beendet. Vorsichtig musterte sie ihn aus dem Augenwinkel, während sie ihr Kinn zu einem sturen Winkel gereckt hielt und offensichtlich auf die Fragen wartete.   Doch Neji hatte nichts hinzuzufügen oder zu fragen. Ehrlich gesagt bevorzugte er es, sich eben nicht zu fragen, wie zur Hölle eine solch klare Grenze so unwissentlich hatte überschritten werden können. Es war zu seltsam, zu persönlich, zu…   „Ich bin zu früh damit an dich heran getreten“, sagte er leise in die Stille. „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du mir behilflich sein willst, aber ich kann auch warten.“ Bei ihrem dubiosen Blick fügte er noch hinzu: „Ich habe Zeit.“   Das stimmte zwar nicht, aber das musste sie ja nicht wissen. Tatsächlich gab es einiges, was sie jetzt im Moment nicht wissen musste. Er war so sehr darauf fixiert gewesen, sein eigenes mentales Territorium zu stabilisieren und zu stärken, dass er überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, dass die Landschaft von Inos Verstand wahrscheinlich noch vollkommen roh und aufgewühlt war.    Nicht jeder kann den Schmerz einfach so weg schieben…   Oder ihn mental begraben, wie er es bereits unzählige Male getan hatte.    ‚Lästiger Hyūga, hör auf, das zu einer Angelegenheit deines Kopfes zu machen.‘   „Danke“, sagte Ino und erhob sich mit ihren Händen noch immer auf den Bauch gepresst. Ihre Finger waren verschränkt und nestelten aneinander. Etwas, das Neji schon oft bei Hinata beobachtet hatte. „Lass mich dir zumindest einen Tee oder sowas bringen.“ Ino gab ihm nicht einmal Zeit, das Angebot abzulehnen und huschte aus dem Raum.    Für einen Moment saß Neji etwas unbehaglich da, bevor er sich schließlich auf die Füße stemmte. Langsam schritt er durch das Zimmer und hielt bei dem Alkoven inne, um seinen Blick von den Orchideen am Fuße des Tokonoma hinauf zu dem Bild gleiten zu lassen, das in der Mitte hing. Es war das außerordentlich schöne Pinselwerk einer violetten Blume. Die Komposition wie ein Aquarell geschichtet und alle möglichen Lilaschattierungen bluteten perfekt ineinander; Malve, Indigo, Maulbeere und Lavendel, mit einem Hauch von Amethyst und Magenta. Doch trotz aller Fragilität lag auch eine unzähmbare Kraft in den weichen, meisterhaften Strichen.    Neji musste feststellen, dass er vollkommen fasziniert war. Auch wenn er kein Connoisseur von Kunst war, wusste er Talente egal welcher Art durchaus zu schätzen. Er spähte auf den Spruch, der die rechte Seite des Gemäldes hinunter floss: Die Blume von morgen ist die Saat von heute.   Über diese Worte nachdenkend legte Neji den Kopf leicht auf eine Seite und ließ seinen Blick nach unten zur Signatur des Künstlers in einer Ecke des Pergaments wandern. Die Schrift war so klein, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um den Namen erkennen zu können.    „Naoki“, murmelte er.    „Er hat es extra für mich gemalt.“   Inos Stimme ließ Neji zusammenzucken, da er so tief versunken gewesen war, dass er ihre Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt hatte. Der Duft von Zimt schwebte von hinten zu ihm und das sanfte Klacken von Porzellan erscholl zusammen mit dem leisen Schwappen von Tee, der eingegossen wurde.    „Es ist wunderschön, nicht wahr?“   „Das ist es“, stimmte Neji zu und ließ seinen Blick noch einmal über das Bild schweifen, bevor er hinüber zu dem kleinen Tisch schritt, an dem sich Ino niedergelassen hatte. „Ich bin vielleicht sogar daran interessiert, den Künstler selbst zu beauftragen.“   Ino hörte auf, den Tee einzuschenken; ein einsamer Tropfen schwankte an dem Schnabel der Teekanne. „Er ist gestorben.“   Mitten in der Bewegung erstarrte Neji, als er sich gerade auf die Knie niederlassen wollte und seine weißen Augen weiteten sich. „Ah. Es tut mir leid.“ Innerlich verfluchte er seine Zunge und fragte sich, über wie viele Gräber mehr er eigentlich in der Spanne weniger Stunden stolpern konnte.    Ein schwaches Lächeln und Ino begann wieder mit dem Eingießen. „Schau nicht so peinlich berührt, Neji. Es ist schon lange her“, sagte sie leise und wischte sein Unbehagen mit einer Handbewegung fort. „Wir haben ein paar Drucke seiner Gemälde, wenn du einen möchtest. Aber du wirst einiges an Blut vergießen müssen, um ein Original in die Finger zu bekommen. Meine Mom hält sie hinter Schloss und Riegel…und hinter einem Katana.“   Neji schmunzelte leicht. „Deine Familie kannte ihn gut?“ Die Frage verließ so vollkommen ungeplant seine Lippen, dass er sich ernsthaft fragte, ob sein Hirn überhaupt noch mit seinem Mund verbunden war. Er hatte überhaupt kein Interesse an dem Privatleben anderer Leute…und dieser Ausrutscher fühlte sich ebenso unbeabsichtigt und unangemessen an wie sein Eindringen in Inos Privatsphäre vorhin im Nijis. Er hätte sich entschuldigt, diese Frage gestellt zu haben, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, dass das nur noch mehr Aufmerksamkeit darauf ziehen würde, wie unangenehm dieser ‚gesellige‘ Augenblick gerade war.    Doch vollkommen ahnungslos von seinem Unbehagen antwortete Ino ihm; sie schien sogar glücklich darüber zu sein. „Ich glaube, dass wir irgendwie verwandt waren. Aber ich kannte ihn nur als ich ein Kind war.“ Sie schob ihm eine dampfende Tasse zu und hielt ihre Augen auf die gemalte Blume gerichtet, während sie sich zusammenzogen. „Er muss in etwa…mh…wie viel? Zehn oder elf Jahre älter gewesen sein als ich? Er hat immer mit mir gespielt, als ich klein war. Ich erinnere mich nicht wirklich gut an ihn…nur kleine Dinge, weißt du? Wie zum Beispiel Bilder aus Fingerfarben malen und Gänseblümchenketten machen.“   Neji summte leise und hielt seine Tasse in beiden Händen; seine steife Formalität stand in hartem Kontrast mit Inos lässiger Manier, als sie sich ihrem eigenen Becher zuwandte, das heiße Wasser hinein schwappen ließ und einen dicken Klecks Honig hinzufügte.   „Ich erinnere mich daran, als Dad mir gesagt hat, dass er fort gegangen ist“, fuhr sie leise fort und rührte und rührte, bis sich der schwere bernsteinfarbene Tropfen in dem gelbbraunen Gebräu aufgelöst hatte. „Ich dachte, er meinte nur für eine Weile…nicht für immer. Als Kinder denken wir wirklich ziemliche naive Sachen.“   Schmerz – alt und begraben – verdrehte sich in Nejis Herz und noch mehr Erinnerungen rollten in ihren Gräbern. Und dann versuchte er, sich daran zu erinnern, was er gedacht hatte, als man ihm gesagt hatte, dass sein Vater nicht zurückkommen würde. Während er diese Zeit Revue passieren ließ, realisierte er, dass er überhaupt nichts gedacht hatte. Er hatte nur reagiert. Hatte sich direkt in Handlungen gestürzt, um sich davon abzuhalten…   Was? Um mich von was abzuhalten?   Vielleicht sich davon abzuhalten, Fragen zu stellen, die genauso dämlich waren wie die, die sein Hirn übersprang und geradewegs zu seinem Mund marschierte. „Wie ist er gestorben?“   Wie kann es eigentlich sein, dass sich mein Mund immer noch bewegt?   „Sie haben es mir nie gesagt“, seufzte Ino, nahm ihre Tasse auf und drehte sie wieder und wieder in ihren Handflächen, als versuchte sie, die Antwort aus den wirbelnden Teeblättern zu lesen. „Auf einer Mission ist alles, was ich weiß. Sie mögen es nicht wirklich, darüber zu sprechen.“ Erneut spähte Ino zu dem Bild und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Mom sagt, dass er sehr lieb zu mir war und immer gut mit mir umgegangen ist.“ Ein leises Schnauben. „Ich würde wetten, er war wie der Sohn, den sie sich gewünscht, aber niemals bekommen hat.“   Neji sagte nichts, zog aber leicht die Brauen über den Gedanken zusammen, dass Ino mit solch tief persönlichen Informationen so offen war. Es lief jeder einzelnen von Nejis tief verwurzelten Protokollen zuwider – die ihm sowohl gedient, ihn aber auch ebenso behindert hatten; besonders wenn es darum ging, Bande herzustellen.    Ich bin nicht hier, um gesellig zu sein. Ich bin hier, um stärker zu werden.    Was bedeutete, dass es viel sicherer und klüger war, sich an das starre soziale Skript zu halten, das er sich sein ganzes Leben wieder und wieder vorgesagt hatte. Er verstand, was es hieß, sich an das Zeremoniell zu halten…und hatte überhaupt keine Ahnung, wie er vorgehen sollte, wenn er aus dieser rituellen Höflichkeit hinaus geschubst wurde.    ‚…du bist einfach nur hochnäsig und sozial total unbeholfen.‘   Narutos Stimme kratzte über sein Hirn; rau und schleifend in ihrer Ehrlichkeit. Neji setzte den kurvigen Rand seiner Tasse an seine Lippen und atmete in den Dampf. Nur eine einzige Person hatte es jemals geschafft, ihn hinter seiner kühlen Wand aus Zivilisiertheit hervor zu zerren. Aber auf der anderen Seite hatte Shikamaru ihn auch verstanden, hatte durch beharrliches und stetes Ausprobieren – und durch ein paar taktische Tricks – gelernt, wie er Neji zwischen zwei bipolare Extreme ziehen und schieben konnte, um ihn dazu zu zwingen, entweder auf diese Behandlung zu reagieren, oder sich in sie zu entspannen…und dann war da diese Ruhe, die ihm der Schattenninja gebracht hatte.    ‚Ja…und es tut mir nicht leid.‘   Mir auch nicht. Aber ich werde ruhen, wenn ich tot bin, Nara.    Grimmig lächelnd zog sich Neji von diesem Augenblick fort.    Ino stierte noch immer auf das Gemälde und ihre schmalen Brauen waren zu einem festen Knoten zusammengezogen. „Im Ernst, es ist ja nicht so, als wäre ich noch ein Kind. Ich fass es nicht, dass ich nie gefragt habe, wie er gestorben ist…“ Sie stieß einen plötzlichen Atem aus, als wäre sie von diesem Eingeständnis völlig überfordert. „Ich habe nur…er war ein Teil meines Lebens und dann auf einmal nicht mehr. Das klingt so furchtbar...als würde es keine Rolle spielen, wer er war, oder was er gemacht hat, wenn er nicht gerade mit mir gespielt hat oder was auch immer.“ Langsam setzte sie ihre Tasse ab und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Denkst du, es wäre falsch, danach zu fragen…nach all der Zeit?“   Bedächtig nippte Neji an seinem Tee und entschied sich, dass es ihm eine Ausrede bot, nicht darauf zu antworten, wenn er etwas an seinem Mund hatte. Und außerdem schien diese Frage größtenteils rhetorisch zu sein. Götter, er hoffte, dass sie es war. Denn er war sich nicht sicher, was er gesagt…oder was er getan hätte, wenn er an ihrer Stelle wäre.    Lügner. Du weißt ganz genau, was du getan hättest.   Weil er dort gewesen war, es getan und mit den Narben gelebt hatte. Nein, er hatte nichts zu dem zu sagen, was er dachte; doch als sie ihn fragte, was er getan hätte, setzte er seine Tasse ab, strich bedächtig mit einem Daumen über einen Riss in dem glatten Porzellan…und sagte es ihr.   ___________________________ Also eigentlich hätte dieses Kapitel viel viel länger werden sollen, aber irgendwie fand ich es dann ganz passend, es wirklich auf Neji und Ino zu beschränken, da es in vielerlei Hinsicht eine sehr wichtige Szene ist.  Auch wenn natürlich mit Sicherheit wieder ein paar Fragen aufgeworfen werden, erhält man dennoch schon mal ein weiteres Puzzlestückchen zu diesem ominösen Naoki ;)  Ich hoffe auf jeden Fall sehr, dass es euch gefallen hat!  Wie immer vielen vielen Dank an alle meine lieben Reviewer/innen und Leser/innen Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)