Die letzte Ehre von BuchTraumFaenger ================================================================================ Kapitel 32: 32. Yin-Yus Wagnis ------------------------------ Die Abenddämmerung strahlte mit ihrem letzten Sonnenlicht eine beruhigende Wirkung aus. Selbst Shen konnte dieses Gefühl nicht leugnen. Er stand in einem der vielen Korridore des Palastes und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Sein Flügel steckte in einer Bandage und sein Auge war etwas angeschwollen. Wenigstens konnte niemand die blauen Flecken unter seinem Gefieder sehen, höchstens den Blutfleck von der wieder aufgegangenen Operationswunde, die nur notdürftig gesäubert worden war. Ihm schmerzte immer noch jeder Muskel den Chiwa ihm mit ihren Schlägen zugefügt hatte. Ansonsten besaß er keine schlimmen Wunden. Er war nur erschöpft, hatte der Arzt bei seiner Ankunft diagnostiziert und es hatte zur Erleichterung seiner Familie nicht mehr lange gedauert bis der weiße Pfau wieder zu sich kam. Es war wie eine Erlösung für ihn gewesen sich fallen zu lassen, nachdem er seine letzten Kräfte verbraucht hatte. Ein paar Schritte hinter dem weißen Herrscher hockten die fünf Meister, daneben auch Meister Tosender Ochse und Meister Kroko und warfen hin und wieder einen Blick auf eine Tür. Shen hatte den Tadel des Ochsen, dass er wieder alles in Brand gesteckt hatte, notdürftig mit Humor eingesteckt. Zudem brachte nach diesen Ereignissen des Tags kaum einer noch ein Wort heraus. Jeder war am Limit und jeder hätte am liebsten diesen Ort verlassen, wenn da nicht eine große Sorge übriggeblieben wäre. Shens Blick wanderte weiter nach hinten, wo auch Yin-Yu und die Kinder saßen. Die drei Jungs hatten sich eng an ihre Mutter gedrückt und schliefen. Auch Shenmi hatte sich auf den Schoß von ihrer Mutter gekuschelt. Alle waren ziemlich erschöpft. Selbst Sheng und Xia entkam ab und zu ein Gähnen. Endlich öffnete sich die Tür. Alle hoben gleichzeitig die Köpfe. Der ehemalige Militärarzt zog sich seinen weißen Kittel aus und schaute in die Runde. „Wie geht es ihm?“, fragte Tigress sofort. Der Affe massierte sich die Finger. „Nun, er hat ein… na ja, dickes Fell, das wird schon wieder. Es hätte schlimmer kommen können, aber er wird alsbald wieder auf den Beinen sein.“ Erleichterung machte sich unter den Freunden breit. Nur Yin-Yu war noch um jemand anderen besorgt. „Und was ist mit ihr?“, erkundigte sie sich. Der Militärarzt verschränkte die Arme auf den Rücken und beugte sich zu der Lady vor. „Die hatte mehr als Glück gehabt. Obwohl er ihr das Messer herausgezogen hatte, so haben sich die Blutungen noch in Grenzen gehalten.“ Er rümpfte die Nase. „Es hätte wirklich schlimmer kommen können. Ich sage immer, nie einen Gegenstand ohne Arzt aus dem Körper herausnehmen.“ „Können wir zu ihm?“, fragte Monkey ungeduldig. Der Arzt zuckte die Achseln. „Der wird noch etwas benebelt sein vom Betäubungsmittel. Aber ihr könnt ja versuchen mit ihm Kontakt aufzunehmen.“ Leise betraten die Freunde das Zimmer. Auch die Kinder folgten ihnen. Xia und Sheng sahen ihre Mutter fragend an. Doch diese hatte nichts dagegen, um nach dem Drachenkrieger zu sehen. Einzig nur Shen hielt sich im Hintergrund. Im Raum standen zwei Betten. In einem befand der Panda. Er lag immer noch in der Narkose. Shenmi sprang aufs Bett und sah den Panda besorgt an. „Po, hast du jetzt auch Schmerzen?“ „Ich glaube kaum, dass er dich hören kann“, meinte Mantis und tippte prüfend auf Pos Nase. Yin-Yu, die jetzt ebenfalls in den Raum gekommen war, sah zu Liu rüber, die in einem anderen Bett untergebracht war. Sie lag auf dem Bauch, wohl um die Wunde im Rücken nicht zu belasten. Yin-Yu schaute ihr über die Schulter, doch die jüngere Pfauenhenne war noch nicht bei Bewusstsein. Auf einmal erfüllte ein Murmeln den Raum. Der Panda hatte angefangen zu blinzeln. „Hey, Leute“, grüßte Po mit müder Stimme. „Po!“ Seine fünf Freunde beugten sich besorgt über ihn. Selbst Xia und Sheng reckten die Hälse. Im nächsten Moment zwängte sich Meister Ochse vor und schob die anderen zur Seite. „Drachenkrieger, wenn ich eine Bestrafung aussetzen soll, dann sag es mir!“ Po sah den Meister müde an. „Bestrafung? Für wen… Wo ist Shen?“ „Dort drüben steht er“, antwortete Mantis und deutete in den Hintergrund. Po sah den weißen Pfau prüfend an. „Siehst ja ziemlich mitgenommen aus. Alles noch okay bei dir?“ Normalerweise hätte Shen ihn jetzt böse angeschaut, doch stattdessen musste der Pfau schmunzeln. „Du siehst auch nicht gerade besser aus.“ Po lächelte. „Keine Sorge. Ich hab ein… dichtes Fell.“ „Ein Glück, dass du keine Diät gemacht hast“, scherzte Mantis. „Was ist denn eigentlich passiert?“, wollte Po wissen. „Mm… Wo ist denn diese verrückte Tante?“ „Sie ist tot“, antwortete Tigress für die anderen. „Mm…“ Po spitzte die Ohren. „Uh… und wer hat es getan?“ Sein Blick wanderte zu einer weißen Figur, die noch etwas weiter weg von seinem Bett stand. „Nein, es war nicht er“, korrigierte Viper seinen Blick. „Es war Xiang.“ Po setzte sich ruckartig auf. „Wa… Autsch!“ „Po, du solltest noch liegen bleiben“, mahnte Tigress besorgt und drückte den Panda wieder aufs Kissen. Shen verschränkte die Flügel und trat näher neben den Panda ans Bett heran. „Ja, da hilft dir auch nicht dein… dichtes Fell.“ Po sah ihn überrascht an. „Du hast gerade einen Witz gemacht, nicht wahr?“ Er hob die Tatze und gab dem Vogel einen Seitenstoß. „Ach, übrigens. Deine Messer sind wirklich scharf. Mein Kompliment.“ Shen rümpfte den Schnabel, dann lächelte er. „Du solltest besser aufhören, dich als Zielscheibe vor mir aufzustellen, Po.“ Po lächelte. „He, he, ja klar, du… Moment! Hast du gerade meinen Namen gesagt?“ Shen erstarrte, dann hob er den Kopf. „Nein, hab ich nicht.“ „Doch, doch!“, beharrte der Panda. „Du hast meinen Namen gesagt!“ Shen wandte sich ab. „Nein, hab ich nicht.“ „Du hast aber meinen Namen gesagt…!“ Shen ignorierte die weiteren Worte des Pandas und warf Yin-Yu einen entschuldigen Blick zu, dass er ohnehin jetzt gehen wollte. Die Pfauenhenne nickte ihm zu und der weiße Pfau verließ den Raum, während Po vor lauter Begeisterung im Bett herumwippte, was allerdings seinen frischen Wunden nicht so gut bekam. „HEY! Er hat meinen Namen gesagt! Habt ihr das gehört? Er hat meinen Namen gesagt… Autsch!“ Nachdenklich schritt der weiße Lord die prächtigen Gänge entlang. Er hatte den Drachenkrieger, diesen Panda, zwar nur ungern beim Namen genannt, aber es war schon ein merkwürdiges Gefühl mit seinem Ex-Erzfeind so zu reden. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als ihm beim Stichwort „Feind“ noch etwas anderes einfiel. Er sah auf, als er Wang im Korridor auf sich zukommen sah. Der Hunnenkönig sah Shen erwartungsvoll an. „Und?“ „Er ist aufgewacht“, beantwortete Shen die Frage bezüglich des Drachenkriegers. „Er scheint keine bleibenden Schäden erlitten zu haben.“ Doch das war nicht der Grund, weshalb Shen das Zimmer verlassen hatte. „Was ist mit ihm?“ Wang deutete auf den Boden. „Wir haben ihn in die untersten Stockwerke untergebracht. Er steht unter Bewachung. Wollen Sie ihn sehen? Für ein einwandfreies Gespräch kann ich aber nicht garantieren.“ Der weiße Lord verschränkte nachdenklich die Flügel. Er musste nicht nur an das neuliche Gespräch mit Liu denken, sondern auch daran, dass er durch Xiangs Handeln ihn schlecht jetzt zum Tode verurteilen konnte. Schließlich hob er den Kopf und nickte. „Dann bring mich zu ihm.“ Bei dem Zimmer handelte es sich eher um einen großen kahlen Kellerraum. Wang öffnete die Tür und Shens Blick fiel sofort auf den blauen Pfau. Xiang saß auf dem Boden, rechts und links von ihm standen zwei große Wachleute. Wegen seinem lahmen Bein hielt man es nicht für nötig ihn anzuketten. Als der weiße Pfau eintrat, hob Xiang nur flüchtig den Kopf. Er war immer noch völlig betäubt von seiner Aktion gegenüber seiner Tante und war nicht mehr so selbstbewusst wie am Anfang. Man hätte fast den Eindruck haben können, er habe Angst seine Tante würde irgendwie nochmal wiederkommen. Wang stellte sich vor ihm auf und verschränkte die Arme, während Shen sich neben ihn gestellte. Eine Weile sagte keiner ein Wort, bis es dem am Boden liegenden Pfau langsam zu viel wurde. „Was starrt ihr mich alle so an?“, murmelte Xiang verbittert. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich mit dir anstellen soll“, knurrte Wang. Xiang saß nur da mit gesenktem Blick. Er schluckte schwer. Dann lächelte er gezwungen. „Dann mach es dir doch leichter“, schlug er schüchtern vor. „Schlag mich doch einfach nieder, dann stehe ich euch wenigstens nicht mehr im Weg.“ Er hob den Kopf. „Oder was hindert euch daran?“ König Wang stieß ein Schnauben aus. „Es kommt eher darauf an, was du vorhast.“ Xiang schmunzelte bitter. „Was soll ich denn schon vorhaben?“ Sein Blick wanderte auf sein gelähmtes Bein. „Zu was Vernünftigen tauge ich doch eh nicht mehr.“ „Das hat aber vorhin ganz anders ausgesehen“, meinte Shen. Der blaue Pfau kniff die Augen zusammen. „Ich hab sie einfach gehasst! Nur gehasst! Ich hab nur auf eine Gelegenheit gewartet.“ Die beiden Herrscher tauschten kurz Blicke untereinander aus, dann rieb Wang sich über den Nacken. „Normalerweise würde ich dich was weiß ich wohin schicken“, meinte er streng. „Aber wir wollen uns dir gegenüber auch nicht unfair verhalten…“ Xiangs Flügel verkrampften sich. Dann richtete er ruckartig seinen Oberkörper auf und sah den Ochsen giftig an. „Ich gehe nicht wieder dorthin! Dazu habt ihr kein Recht!“ König Wang ballte die Fäuste. „Ich war mehr als nachsichtig mit dir gewesen, dich in eine Kurresidenz zu schicken…!“ „Verdammt nochmal!“, schrie Xiang ihn an. „Ich will keine Nachsicht! Ich will keine Milderung! Ich will keine Gnade! Und noch am wenigsten will ich Mitleid!“ Shen zog die Augenbrauen zusammen. „Was willst du eigentlich?“ „Ihr sollt verschwinden!“, befahl Xiang mit bockigem Unterton. „Alle! Das ist immer noch mein Haus!“ Wang meinte sich verhört zu haben. Allein schon die Unverschämtheit dieses blauen Pfaus trieb in ihm die Weißglut hoch. „Dir ist die ganze Sache wohl zu Kopf gestiegen, oder?!“ Xiang stieß ein lautes Fauchen aus. „Nur weil ich nicht laufen kann, heißt das noch lange nicht, dass ihr mich herumschubsten könnt, wie es euch passt!“ Yin-Yu sah auf, als sie merkte, wie sich im Nachbarbett etwas bewegte. Schnell verließ sie die versammelten Kung-Fu-Krieger und begab sich an Lius Krankenlager. Die junge Pfauenhenne begann zu blinzeln, wirkte aber noch sehr benommen. „Xiang…“, murmelte sie. Yin-Yu nahm ihren Flügel in ihren. Die Pfauenhenne im Bett reagierte auf ihre Berührung und schaute zu ihr auf. Yin-Yu zwang sich zu einem Lächeln. Doch noch ehe sie sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen konnte, wollte Liu dringend etwas anderes wissen. „Wie geht es ihm?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Yin-Yu wusste sofort wen sie meinte. „Es geht ihm gut. Er hat keine Verletzungen erlitten.“ Sie spürte, wie Liu ihren Griff um ihren Flügel erwiderte. „Bitte, bitte…“, flehte sie. „Sperrt ihn nicht ein wie ein Tier… Er mag es nicht eingesperrt zu sein.“ Sie begann zu schluchzen. Die anderen, die noch um das Bett des Drachenkriegers versammelt waren, hoben überrascht die Köpfe, während Liu ungehindert weiterflehte. „Bitte… bitte… er soll nicht leiden… er hat doch schon genug durchgemacht…“ Yin-Yu beugte sich über sie. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie legte ihre Flügel um sie, was Liu wiederum letztendlich zum Weinen brachte. Yin-Yu konnte nicht sagen, ob es nicht auch die Nachwirkungen vom Narkosemittel waren und wandte sich an den ehemaligen Militärarzt. „Doktor, könnten Sie ihr etwas zur Beruhigung geben?“ Der Affe zuckte die Achseln. „Meinetwegen. Hier kommt man ja eh nicht zur Ruhe. So hab ich mir meinen Ruhestand nicht gerade vorgestellt.“ „Tröste dich, Kumpel“, meinte Po im Nebenbett. „Unser Urlaub ist auch ins Wasser gefallen…“ Er hielt kurz inne. „Ach du meine Güte! Unser Urlaub!“ Niedergeschlagen ließ er sich aufs Kissen sinken. „Adieu, schöne Wasserrutsche.“ Unterdessen verließ Yin-Yu eilig das Zimmer und schritt durch die Gänge. So wie sie Xiang kannte, würde er sich nur wieder in Rage reden. Und Shen war jemand, der selten seinen Zorn kontrollieren konnte, wenn er wirklich wütend war. Trafen diese beiden aufeinander, konnte es nur eine Katastrophe geben. „DAS IST MEIN HAUS!“, brüllte Xiang. „ICH LASS MICH HIER NICHT RAUSJAGEN!“ Shen verengte die Augen und stieß den blauen Pfau wütend an. „Schweig! Außerdem hab ich noch nicht vergessen, das du meine Tochter entführt hast! Am liebsten würde ich dich…!“ „Na dann mach es doch!“, stachelte der blaue Pfau ihn frech an. Er schrie auf, als Shen auf ihn draufsprang und ihn mit dem Fuß zu Boden drückte und ihm dabei feste in die Augen sah. „Außerdem gilt das nicht nur für sie!“ Er beugte sich noch weiter runter, sodass sich fast ihre Köpfe berührten. „Ich weiß, was du mit Xia gemacht hast!“ Jetzt war es Xiang, der bedrohlich die Augen verengte. „Hat sie doch gepetzt? Eigentlich habe ich es ihr verboten, jemanden etwas zu sagen…“ Er stieß einen erstickten Schrei aus, als Shen ihn weiter zu Boden drückte. „Hey!“, beschwerte sich er blaue Pfau. „Verlangst du etwa von mir, dass ich mich jetzt bei ihr entschuldige?!“ Shen grub seine Krallen in seinen Hals. „Noch nicht mal dafür würde es reichen…!“ „Jetzt reicht es aber!“ Wang schob die beiden Pfaue auseinander, wobei seine Wut sich nur gegen Xiang richtete. „Du scheinst wohl zu vergessen, in was für einer Lage du bist! Egal was damals gewesen war, das ändert nichts an der Tatsache, dass du eine Strafe verdient hast.“ Xiang lag keuchend auf den Boden und stierte mit vor Hass brennenden Augen zu dem Hunnenkönig hoch. Doch dann hoben sich seine Schnabelwinkel zu einem bösen Lächeln. „Ich würde es zu gerne sehen, wie du tot vor mir auf dem Boden liegst.“ Wieder ballten sich Wangs Hufe zu Fäusten. „Xiang, hör endlich auf damit!“, hallte Yin-Yus Stimme plötzlich in den Raum. „Du kannst ja dein Haus behalten, wenn du dich nur beruhigen würdest.“ Wang und Shen sahen gleichzeitig auf. „Was?!“ Selbst Xiang war für einen Moment völlig irritiert, während Yin-Yu mit festen Schritten auf ihn zuging. „Wir geben dir die Chance dazu, wenn du dich nicht weiterhin wie ein Irrer aufführen und mal vernünftig mit uns reden würdest.“ Xiang bog drohend seinen Hals. „Nachdem ihr mich so behandelt habt?!“ „Du hättest an unsere Stelle genauso gehandelt!“, verteidigte Yin-Yu ihren Standpunkt. „Jetzt tu uns den Gefallen und atme erst mal tief durch.“ Sie sah ihn bittend an. Sie stand jetzt direkt von ihm. Doch von Ruhe konnte bei Xiang keine Rede sein. Im Gegenteil. Er sprang auf sein linkes Bein und wollte sie schlagen, doch Yin-Yu hob noch rechtzeitig ihren Flügel. Xiang sah sie mit weiten Augen an. Zum ersten Mal hatte sie seine Ohrfeige abgewehrt. Yin-Yu ging sogar noch soweit, dass sie seinen Flügel festhielt und ihren Exmann gezwungenermaßen wieder zu Boden drückte. Noch immer völlig von der Rolle starrte Xiang sie an, dann senkte er ergeben den Blick. Er schien sich wohl gegen niemanden mehr behaupten zu können. Yin-Yu rieb sich nervös die Flügel. „Versuch es doch wenigstens. Die Zeit kannst du nicht mehr zurückdrehen. Entweder du tust es heute, oder du kannst morgen ins Gefängnis gehen. Mach deine Mutter nicht dafür verantwortlich, dass du dein ganzes Leben noch weiter ruinierst.“ Xiang stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Du hast leicht reden.“ „Nein, ich weiß wovon ich spreche“, entgegnete Yin-Yu mit fester Stimme. „Ich kann dich in irgendeiner Weise verstehen.“ Ihr Exmann lachte auf. „Seit wann ist dein Hirn gescheit genug, um einmal etwas zu kapieren?“ „Weil ich in einer ähnlichen Situation war wie du.“ Noch ehe Xiang eine weitere niederträchtige Bemerkung äußern konnte, fuhr sie schnell fort: „Hast du dich nie gewundert, warum meine Mutter so plötzlich nach ihrer Ankunft in der Stadt verstarb?“ Shens Augen weiteten sich. Er wusste, was mit ihrer Mutter passiert war, dennoch fragte er sich, ob es so klug war, Xiang davon in Kenntnis zu setzen. Doch er unterbrach sie nicht. Xiang hingegen interessierte diese Aussage herzlich wenig. „Es war die absolute Ausnahme gewesen, dass ich ihr überhaupt Zutritt nach Mendong gewährt hatte. In den Palast hab ich sie erst gar nicht reingelassen.“ Yin-Yu seufzte. „Du weißt, dass ich schwanger war vor unsere Heirat.“ Xiangs Flügel krampften sich kurz zusammen. „Meine Mutter hatte es auch gewusst. Sie wollte mir die Kinder wegnehmen und ihnen schlimme Dinge antun. Ich hab’s nicht zulassen können, also hab ich es getan.“ Es folgte eine Pause, die in Xiang eine gewisse Neugier hervorrief. „Was hast du getan?“ Die Pfauenhenne schluckte. „Versteh mich nicht falsch. Ich hätte ja auch weglaufen können, aber sie hielt mich eisern in ihrer Gewalt, bis ich die Eier gelegt hätte. Von daher hatte sie mir keine andere Wahl gelassen. Entweder das Leben meiner Kinder, oder sie.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe es aus Notwehr getan.“ Eine Weile sprach keiner ein Wort. Wang verhielt sich neutral. Yin-Yu hatte ihm gegenüber kein Geheimnis daraus gemacht und er nahm es ihr sogar nicht übel. Shen ließ Xiang hingegen nicht aus den Augen und beobachtete genau seine Reaktion. Und Xiang schien für einen Moment wirklich mit einem Schlag seine Sprache verloren zu haben. Er starrte Yin-Yu nur ungläubig an. Ob ihre Erklärung jetzt alles in seinem Universum auf den Kopf gestellt hatte? Oder ob das jetzt nur seine Ansicht verstärkt hatte, dass alle Frauen gefährlich waren? Doch noch ehe er ein Wort über die Schnabellippen bringen konnte, hob Yin-Yu mahnend den Flügel. „Deine Mutter und deine Tante hatte nicht das Recht auf diese Art und Weise dein Leben zu bestimmen. Ich hab es auch nie so weit kommen lassen, wobei sie mir alles in meiner Jugend genommen hatte. Ich hab 17 Jahre ohne Shen gelebt. 17 Jahre meines Lebens, die ich nie mehr aufholen kann. Aber ich lebe jeden Moment aus. Ich muss die Vergangenheit ausschalten. Denk nicht länger darüber nach, was du im Leben versäumt hast, sondern was du noch vor dir hast. Und was du tun kannst.“ Sie näherte sich ihm. Xiang duckte sie auf den Boden, wie ein ängstlicher Hund. Als Yin-Yu ihren Flügel auf seiner Schulter niederließ, begann er zu zittern. Doch die Pfauenhenne ließ sich nicht beirren und versuchte ihm weiterhin ins Gewissen zu reden. „Gehe es langsam an. Ruh dich erst mal aus und überleg dir, was du dann machen willst.“ Plötzlich wich Xiang von ihr weg und presste sich gegen die Wand. „Haltet ihr mich für blind?! Ich weiß doch ganz genau, was ihr in eurem Hinterkopf ausheckt...!“ „Xiang!“, unterbrach seine Exfrau seine Wutrede. „Wenn du so weiter machst, dann verlierst du nicht nur deine Freiheit, sondern auch im schlimmsten Fall dein Leben.“ Sie warf Shen einen leichten Seitenblick zu. Ein erneutes Mal würde der weiße Pfau eine Schandtat nicht durchgehen lassen. Dessen war sie sich absolut sicher. „Willst du das wirklich riskieren?!“ Das brachte den blauen Pfau erst mal zum Verstummen. Er schien sogar selber nicht zu wissen, was er denken sollte, weshalb Yin-Yu die Gelegenheit ergriff und einen erneuten Versuch wagte. „Xiang. Sieh uns doch an. Sind wir bewaffnet? Wir wollen dich nicht bedrohen.“ Sie wollte ihren Exmann nicht weiter drängen und zog einen Schlussstrich. „Du kannst es immer noch ändern. Denk einfach darüber nach. Sag Huan in welches Zimmer du möchtest und er wird dich dorthin bringen. Wir werden dich nicht bewachen und wir werden dich nicht einsperren. Du sollst alles aus freiem Willen wählen.“ Shen und Wang warfen sich einander verstohlene Blicke zu. Ihnen beide schwebte die Frage über den Kopf, ob Yin-Yu das ernst meinte. Auch Xiang schien sich das zu fragen, doch Yin-Yu sah ihn nur feste an, dann senkte sie den Blick. „Diesmal ist es deine Entscheidung.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Auf dem Rückweg kam sie an Shen vorbei. Ihre Blicke trafen sich kurz. Yin-Yu sah ihn mit der Frage an, ob sie das Richtige gesagt hatte. Doch Shen senkte nur den Blick und sagte kein Wort. „Dass du ihn nicht hinrichten lassen willst, das kann ich noch verstehen, aber nicht indem du ihm seinen Wohnsitz wieder überschreibst!“ Beide hatten sich in einem der vielen Zimmer zurückgezogen und Shen war nicht gerade von dem Ergebnis begeistert. „Shen.“ Versöhnlich legte die Pfauenhenne ihre Flügel auf seine Schultern. „Ich weiß, es ist mit einem Risiko verbunden, aber ich konnte nicht anders.“ Shen verenge die Augen. „Das ist ein gefährliches Wagnis. Er ist zwar körperlich eingeschränkt. Aber er könnte jederzeit jemanden anstiften. Ich traue ihm nicht.“ „Ich ja genauso wenig.“ „Warum willst du es dann wagen?“ „Ich tue es ja nicht nur wegen ihm, sondern auch wegen jemand anderem.“ Shen hob die Augenbrauen, während Yin-Yu es ihm erklärte. „Sie ist aufgewacht. Sie fragt ständig, was mit Xiang ist.“ Sie warf Shen einen bittenden Blick zu, wobei dies auf wenig Verständnis stieß. „Und was erwartest du jetzt von mir?“, zischte er. Sie senkte ihre silbernen Augen, was in Shen den Argwohn wieder heraufbeschwor. „Ach, komm schon.“ Shen wandte sich von ihr ab. „Du willst mir doch nicht sagen, dass sie ihn mag.“ „Bist du wirklich davon überzeugt, oder willst du es nur nicht wahrhaben?“ „Es ist unmöglich.“ „Aber ich weiß es.“ „Woher?!“ „Weil ich dasselbe für dich getan hätte.“ Shen sah sie überrascht an, doch Yin-Yu beharrte auf ihre Aussage. „Wäre die Kanone auf dich gefallen, ich hätte mich vor dich geworfen. Es wäre ihr gegenüber nicht fair. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt.“ Über Shens Gesicht zogen sich düstere Schatten. „Ich brauchte aber nicht tausend Anläufe um das zu begreifen.“ Er schränkte die Flügel. „Wenn wir ihm das durchgehen lassen, dann verlangt er als Nächstes, dass er die Vollmacht wieder bekommt. Und wenn wir ihm auch das durchgehen lassen…“ Yin-Yu schüttelte bedauernswert den Kopf und drehte ihm den Rücken zu. „Alles ist grau.“ Shen sah sie überrascht an. „Nicht im buchstäblichen Sinne“, fügte die Pfauenhenne hinzu. „Es ist nur… Ich finde hier keine klare Linie. Zwischen schwarz und weiß. Was wird er werden? Schwarz oder weiß? Düster oder hell?“ Sie sah ihn an. „Was warst du gewesen?“ Shen stieß ein lautes Schnauben aus. „Das wäre jetzt schon das dritte Mal! Er will es ja gar nicht einsehen.“ Yin-Yu seufzte. „Ich gebe ihm noch Zeit. Ich hätte sie dir auch so gegeben.“ Sie bemerkte, wie Shens Flügel sich leicht verkrampften. „Und wer garantiert dir, dass es diesmal funktionieren wird?“ Yin-Yu senkte den Blick. So tief, dass man meinen könnte, ihr würde etwas weh tun. „Shen, ich sage es nur ungern, aber ihr seid euch irgendwie ähnlich.“ Shen wandte sich beleidigt ab. Dasselbe hatte die alte Ziege auch schon behauptet und er mochte es überhaupt nicht, dass man ihn mit ihm verglich. Auch Yin-Yu wollte dieses Thema nicht mehr ansprechen. „Aber lassen wir es dabei. Wir sollten besser morgen weiter darüber reden.“ Sie sah sich um. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Shen bemerkte wie sie sich selber umarmte. „Was hast du?“ „Nach all der ganzen Aufregung, hab ich schon fast wieder vergessen, wo ich bin.“ Der weiße Pfau sah sie verwundert an. „Vergessen?“ „Als ich hierherkam, war ich am verzweifelt gewesen, dass ich dich nie wiedersehen würde. Du wusstest nicht, wo ich war und ich wusste nicht, was aus dir wurde. Hier wurde ich gehalten wie in einem Käfig. Und meine Mutter…“ Sie umarmte sich selber. „Ich weiß nicht was mit den Kindern passiert wäre, wenn ich sie nicht…“ Schnell legte Shen seine Flügel auf ihre Schultern. „Denk einfach nicht mehr an sie. Sie existiert nicht mehr. Es ist vorbei. Jetzt haben wir nur noch uns. Da reißt uns keiner mehr auseinander. Auch heute nicht mehr.“ Er lehnte sich an sie. „Denkst du, du kannst sich überwinden hier zu übernachten?“ Er dachte daran, dass dieses Gebäude Yin-Yu nicht nur der Vergangenheit wegen plagte, sondern jetzt auch noch das, was vor ein paar Tagen passiert war. Es war als läge auf diesem Palast ein Fluch, in dem man nie Ruhe finden konnte. „Lange möchte ich nicht mehr hierbleiben“, sagte sie leise. „Tu mir nur den Gefallen und lass mich solange wir hier sind nicht alleine. Zumindest nachts nicht.“ Er drückte sie an sich, so als würde das Gebäude mit Krallen nach ihnen greifen. „Dann versuchen wir die Nacht heute durchzustehen.“ In diesem Moment klopfte es an der Tür. Beide hoben die Köpfe. „Herein“, sagte Yin-Yu zögernd. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und nicht nur Xia steckte den Kopf rein, sondern auch die vier kleinen Pfauenkinder, die schnell hereinstürmten und ihre Eltern umringten. „Was habt ihr gesprochen?“, fragte Xia schnell, bevor ihre jüngeren Geschwister ihre Eltern mit Fragen bombardierten. „Das wird sich noch zeigen“, wehrte Yin-Yu ihre Frage ab und hob Shenmi auf den Arm. Sie wollte heute nicht mehr über Xiang sprechen. „Meint ihr, ihr könnt euch dazu überwinden, hier zu übernachten?“, fragte sie stattdessen. Xia schaute sich um. Sie hasste dieses Haus, aber solange ihre Eltern bei ihr waren… „Solange wir nicht einzeln in einem Zimmer schlafen müssen“, sagte sie schließlich. Shen lächelte leicht. „Da wird uns schon was einfallen. Keine Sorge.“ In diesem Moment kam Sheng herein. Shens Augen vergrößerten sich, als er sah, was sein Sohn in den Flügeln hielt. „Hier, Vater.“ Er reichte ihm sein Lanzenschwert. „Die Soldaten hatten es in einer Ecke gefunden.“ Shen nahm es dankbar entgegen und betrachtete es nachdenklich. Er fing einen Blick von Yin-Yu auf und der weiße Pfau gab ihr mit einer strengen Geste zu verstehen, dass das letzte Wort zu ihrem vorherigen Diskussionsthema noch nicht gesprochen worden war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)