Orientierte Offenbarung von Varlet ================================================================================ Kapitel 15: Vermouth -------------------- Chris stand auf ihrem Balkon und blickte in die aufkommende Dunkelheit. Die Kälte fühlte sich abermals gut an und durch den Wind umspielten einige ihrer blonden Strähnen ihr Gesicht. Ihre Haare trug sie seit Jahren lang, aber ihr stand auch eine Kurzhaarfrisur. Leider würde sie dadurch viel zu sehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter haben und ihr kleines Geheimnis durfte nicht auffliegen. Vor allem nicht, da sie eine Person des öffentlichen Interesses war. Allerdings wusste sie, dass die Organisation jeder Nachricht in dieser Form entgegen wirken würde, denn schließlich wollten sie auch nicht, dass ihre Arbeit aufflog. Egal wie man es drehte und wendete, fiel Vermouth, nahm sie die Organisation mit. Die Schauspielerin schloss die Augen und dachte an die Ereignisse von vor einigen Jahren. Damals hatte sie als Sharon Vineyard für die Organisation gearbeitet und war noch grün hinter den Ohren. Ihre Schauspielkarriere hatte zu jener Zeit gerade erst begonnen und das Interesse an ihr war noch gering. Sie war ein Niemand, eine Person, an die man sich nicht erinnern musste – ein kleiner Fisch im großen Haifischbecken. Es gab zahlreiche Schauspieler die genauso gut waren wie sie oder sogar besser. Aber dann trat die Organisation in ihr Leben. Anfangs wollte sie diese für ihre eigenen Zwecke benutzen, aber die Organisation spielte nicht so einfach mit. Vermouth hatte schon früh bemerkt, dass es kein Entkommen gab und sie sich ihrem neuen Schicksal fügen musste. Nach und nach übernahm sie sogar die ersten Aufträge für die Organisation, bis sie gänzlich für sie tätig wurde. Die erste Person die sie damals umbringen musste, hatte sich tief in ihre Seele gebrannt. Sie hatte sein Gesicht jahrelang nicht vergessen, doch nachdem sie sich daran gewöhnt hat, waren die Menschen zu Gesichtslosen mutiert. Irgendwann würde sie für ihre Taten büßen müssen…irgendwann. Aber welche andere Möglichkeit hatte sie? Mit der Zeit hatte die Organisation weiter an ihrer Karriere gearbeitet und es dauerte nicht lange bis sie auch in Japan berühmt wurde. In regelmäßigen Abständen flog sie dorthin, lernte die Sprache und ließ sich von einem Magier ausbilden und erlernte neue Fähigkeiten. Seitdem konnte sie nahezu jede Rolle perfekt spielen. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr verstrickte sie sich in dem Lügengerüst und am Ende konnte sie kaum noch sagen, was der Wahrheit entsprach und was nicht. Um auch für ein Leben nach der Organisation gewappnet zu sein, baute sie sich ein zweites zu Hause auf und richtete unter verschiedenen Namen Wohnungen und Häuser ein. Käme es hart auf hart hätte sie einfach untertauchen können, doch wann immer sie diesem Plan einen Schritt näher kam, ließ ihr die Organisation ein eindeutiges Zeichen zukommen. Es gab kein Entkommen vor ihnen. Sie hatten sie in der Hand und kontrollieren sie. Vermouth hatte allerdings nie herausgefunden wie das Netzwerk der Organisation damals funktionierte und auch nicht, wie diese von ihren Plänen erfuhr. Selbst jetzt war es ihr manchmal noch ein Rätsel. Dennoch hatte der Boss sie immer mehr gefördert und sie ganz langsam aufsteigen lassen. Mittlerweile war sie sogar sein Liebling und genoss ganz andere Privilegien. Selbst mit ihrer neuen Stellung kannte sie noch immer nicht jedes Mitglied. Trotzdem gab es noch viele in ihren Reihen die sie nicht mochten und die an ihrer Loyalität zweifelten. Selbstverständlich hatten sie auch Recht mit ihrer Vermutung. Um irgendwann der Organisation zu entkommen, sammelte sie Unterlagen gegen ihren Boss und einiger seiner Vertrauten. Sie war auch nicht abgeneigt, sich mit dem FBI, dem CIA oder einer anderen Bundesbehörde zu verbünden, aber irgendwann verschwanden ihre Unterlagen und sie stand wieder am Anfang. Vermutlich sammelte die Organisation auch Beweise gegen sie, doch solange sie nicht wusste, wo sie diese fand, konnte Vermouth nichts anderes tun außer weiterarbeiten. Besser so ein Leben als gar kein Leben, war seit jeher ihre Devise. Aufgrund ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit brauchte sie einen Leibwächter. Er war ein treues Mitglied der Organisation, schied dann aber wegen einer Verletzung aus. Danach trat Agent Starling in ihr Leben. Sie hatten ihn von oben bis unten durchleuchtet und anschließend als geeigneten Kandidaten für diese Aufgabe ausgewählt. Starling war immer in ihrer Nähe und nachdem sie mehrere Monate gemeinsam verbrachten, begann sie ihm zu vertrauen. Der Agent wusste genau wie er sie zum reden brachte. Leider tat ihr dieses reden gut. Sie redete sich alles von der Seele und fühlte sich nach langer Zeit befreit. Als er dann als FBI Agent enttarnt wurde, brach ihre Welt zusammen. Und dann war sie auch noch den Anfeindungen der Organisation ausgesetzt. Obwohl sie bei der Überprüfung seiner Identität keine Auffälligkeiten feststellen konnten, wurde ihr die Schuld gegeben. Und deswegen musste sie auch diesen Fehler aus der Welt schaffen. An sich hatte sie mit dem Auftrag kein Problem, denn auch sie wollte Rache an dem FBI Agenten nehmen. Doch die Organisation wollte mehr. Nicht nur Starling sondern auch seine Familie sollte dafür büßen. Es hatte der Schauspielerin nie gepasst ein kleines Mädchen umzubringen und so war sie tatsächlich für einen kurzen Augenblick froh, als seine Frau und Tochter das Haus verließen. Da Vermouth im improvisieren schon immer gut war, konnte sie ihren Auftrag auch auf eine andere Art und Weise zu Ende bringen. Am Ende musste sie sich zwar rechtfertigen, aber das Ergebnis – der Tod von Agent Starling und Verlust der Agent des FBIs – hatte ausgereicht. Trotzdem hatte sie Jodie all die Jahre nicht aus den Augen gelassen und ihren Lebensweg heimlich weiter beobachtet. Hin und wieder war sie in die Rolle von James oder Angela geschlüpft und versuchte Jodie von ihrem Lebensweg beim FBI abzubringen. Es brachte nichts und so wurde das Mädchen schon bald zur Bedrohung – eine Bedrohung um die sie sich kümmern musste. Und dann war da noch die Forschungsarbeit der Organisation. Ihr Erfolg führte zu einer weiteren Qual in Vermouths Leben. Seit sie zum Versuchskaninchen wurde, musste sie ihre Identität immer wieder verschleiern. Seit einigen Jahren wechselte sie bereits zwischen ihren beiden Identitäten – Sharon und Chris Vineyard – hin und her. Zusätzlich musste sie auch noch darauf achten, dass sich ihre beiden Persönlichkeiten nie in der Öffentlichkeit trafen. Und schon sehr bald würde sie Sharon Vineyard sterben lassen, um sich nur noch auf ihre Identität als Chris zu konzentrieren. Wie gut, dass sie auch dafür bereits einen Plan hatte. Parallel konnte sie auch ihre Rache an Agent Starling weiter treiben und Jodie für alles büßen lassen. Mittlerweile war Jodie auch alt genug, sodass Vermouth kein schlechtes Gewissen haben musste. Die Schauspielerin fühlte sich gut wie schon lange nicht mehr. Ihr Treffen mit der Agentin hatte zum gewünschten Erfolg geführt. Sie hatte es an Jodies Gesicht erkannt. Die junge Frau war am Boden zerstört und wusste nicht, wie sie mit der neuen Information umgehen sollte. Für Vermouth war es nahezu einfach gewesen Jodie zu manipulieren. Chris hatte einfach nur die richtigen Knöpfe gedrückt und sich von ihrer verletzlichen Seite gezeigt. Da Jodie wusste wie es war ohne Vater aufzuwachsen, hatte sie leichtes Spiel. Dennoch hatte Chris sicherheitshalber vorgesorgt und führ ihre Hintergrundgeschichte einen Detektiv – der ebenfalls zur Organisation gehörte – instruiert. Und sobald Jodie dem DNA-Test zustimmte, würde ihr ein anderes Organisationsmitglied die Familienzugehörigkeit bestätigen. Die Schauspielerin öffnete ihre Augen und blickte zum Parkplatz wo vor wenigen Minuten noch Jodies Wagen stand. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Gin – einem Mitglied der Organisation in Japan. Seit einigen Tagen war er in den Staaten und kümmerte sich um einen anderen Auftrag. Zwischen ihnen bestand eine Hassliebe, sie vertrauen sich nicht und versuchten einander immer schlecht zu machen. Und dennoch verbrachten sie hin und wieder die Nächte miteinander. Danach verabscheute sie sich selbst, doch sie machte immer wieder den gleichen Fehler. „Was ist?“, nahm Gin das Gespräch entgegen. „Freundlich wie eh und je“, begann Chris ruhig. „Du hast dich doch für meinen Fortschritt bei der Starling Tochter interessiert.“ Gin schmunzelte. „Wie weit bist du?“ „Sie hat mir die Lügengeschichte abgenommen. Kein Wunder, ich kann so etwas gut spielen und hab genau gewusst, was sie hören musste. Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich in den nächsten Tagen bei mir meldet. Danach gehe ich zu Phase 2 über und sie wird mich für ihre Schwester halten. Wenn dies der Fall ist, können wir sie für unsere Pläne einspannen. Ehe sie sich versieht, wird sie das FBI verraten und für uns arbeiten. Wenn sie es dann bemerkt, wird es zu spät sein und ich puste ihr das Hirn weg.“ „Gut“, entgegnete Gin. „Du hättest dich schon vor Jahren um sie kümmern müssen. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie ihrem Vater nacheifern würde. Pass aber auf, dass sie nicht dahinter kommt, dass du ihren Daddy umgebracht hast, sonst wird es ganz schön ungemütlich für dich. Hast du keine Angst, dass sie mit ihren Freunden beim FBI spricht?“ „Soll sie doch“, fing die Schauspielerin an. „Wenn das FBI einen Zusammenhang gesehen hätte, hätten sie die Kleine doch gar nicht zu mir gelassen. Und bevor du fragst, nein, sie hat mich nicht ausspioniert. Ich vermute, es gibt nur wenige die wissen, dass ich Starlings damaliger Auftrag war. Und wie ich sie einschätze, wird sie sich auch Keinem anvertrauen, zumindest nicht sofort. Wenn sie es tut, wird es schon lange zu spät sein.“ „Du klingst sehr selbstsicher. Soll mir recht sein. Was ist mit diesem Akai Typen?“, wollte das Organisationsmitglied wissen. „Habt ihr ihn mittlerweile gefunden?“ Vermouth verengte die Augen. Gin wusste, wie man sie zur Weißglut treiben konnte, doch leider hatte er recht. Seit Jahren hielten sie Tsutomu Akai gefangen und versuchten über ihn das MI6 zu infiltrieren. In regelmäßigen Abständen folterte sie den Mann oder schlüpfte in die Rolle eines seiner Familienmitglieder. Beim letzten Mal hatte sie allerdings nicht mitbekommen, wie er seinen Fesseln entkommen konnte. Zwar hatten sie ihn verfolgt, doch ihm war die Flucht gelungen. „Nein“, antwortete sie. „Ich dachte, du solltest dich darum kümmern.“ Gin verengte die Augen. „Überlass das Denken lieber anderen. Ich habe mir schon einen Plan überlegt.“ Als Angela nach einem langen Arbeitstag ihre Zweitwohnung betrat, hatte sie ein beklommenes Gefühl. Sie konnte nicht einmal sagen, woran das lag. Seit mehreren Tagen kam sie nach der Arbeit her und kümmerte sich um Tsutomu. James hingegen ging sie aus dem Weg. Wenn er zu Besuch kam, sprachen sie über belanglose Dinge und versuchten die Zeit zu überbrücken bis er wieder ging. Es verletzte sie, vor allem da er versuchte ihren Wünschen nachzukommen und noch mehr Rücksicht auf Jodie nahm. Er legte seine Arbeitszeit beim FBI so, dass er Jodie nicht zu oft über den Weg laufen musste, was auch dazu führte, dass sich Jodie und James auch privat nicht mehr so oft sahen. Wie gern hätte sie mit den beiden liebsten Menschen in ihrem Leben wieder zusammen gegessen, doch dafür brauchte es noch Zeit. Allerdings wuchs Angelas schlechtes Gewissen stetig. Einerseits wollte sie sich bei James entschuldigen und andererseits hütete sie noch das Geheimnis um Tsutomu. Dennoch war sie froh, dass es dem Mann immer besser ging. Mittlerweile führten sie sogar allerlei Gespräche, vermieden aber die private Ebene. Sie wusste weder wie sein Nachname lautete, noch wo sich seine Familie befand oder welchen Beruf er ausübte und schon gar nicht, was an jenem Abend in Wirklichkeit passiert war. Da er nicht von sich aus darüber reden wollte, schwieg auch sie darüber. Angela trug die Einkäufe in die Küche und packte diese aus. Wieder überkam sie dieses komische Gefühl. Die Stille in der Wohnung war mit einem Mal unerträglich geworden, sodass sie in das Schlafzimmer ging. „Tsutomu, ich hab…“, begann sie und stockte. Irritiert blickte sie sich in dem Zimmer um. Er lag nicht mehr im Bett. Gerade als sie zur Badezimmertür gehen wollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel einen Zettel auf den Nachttisch. Angela trat näher an diesen heran und nahm das Blatt Papier in die Hand. Danke für alles. Leben Sie wohl. Tsutomu. Angela schluckte und legte ihre Hand auf dem Mund. Sie spürte einen leichten Stich in der Brust. Nein, sie liebte ihn nicht, fühlte sich aber für ihn verantwortlich. Und nun war er weg. Einfach so und ohne Vorwarnung. Wie ihr Mann damals. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)