Orientierte Offenbarung von Varlet ================================================================================ Kapitel 11: Erste Hilfe ----------------------- Angela fuhr auf den Parkplatz vor dem Wohnblock und sah ein weiteres Mal in den Rückspiegel. Der Verletzte – Tsutomu – hatte seine Augen geschlossen und atmete flach aber regelmäßig. Einerseits war sie erleichtert, dass er noch am Leben war. Andererseits war sie aber auch beunruhigt, weil seine Wunden nicht vom Autounfall stammen konnten und möglicherweise lebensbedrohlich waren. Doch da sie nicht wusste was passiert war, konnte sie es nur erahnen. Worauf hab ich mich nur eingelassen?, fragte sich die Krankenschwester. Nach all den Jahren hätten sie es eigentlich besser wissen müssen. Sie hatte genügend Erfahrungen um zu wissen welche Konsequenzen ihr Handeln haben könnte. Zum einen hatte sie sich einfach so vom Unfallort entfernt und zum anderen hatte sie keine Hilfe gerufen – weder einen Krankenwagen, die Polizei oder das FBI. Da brachte es auch nichts, dass sie den Verletzten mitnahm und einen befreundeten Arzt für die Behandlung zu sich nach Hause bestellte. Wenigstens konnte ihr aber keiner unterlassene Hilfeleistung unterstellen. Nur hoffte sie, dass der Mann auch überlebte. Mittlerweile konnte Angela nicht einmal mehr sagen, warum sie dies getan hatte. Irgendetwas in ihr hatte ihm helfen wollen, ohne ihn in weitere Schwierigkeiten zu bringen. Und wer wusste schon in welcher Bredouille er sich befand oder von wo er entkommen war. Wenn sie im Laufe der Zeit mehr über ihren Patienten herausfand, würde sie versuchen in Erfahrung zu bringen, ob er ein Entführungsopfer war. Selbstverständlich würde sie ihm dann helfen. Dass er hingegen ein Krimineller war, glaubte sie nicht. Sie konnte nicht einmal beschreiben warum. Es war ihr Bauchgefühl und dieses hatte sie selten im Stich gelassen. Tagtäglich erlebten ihre geliebten Familienmitglieder – ihr Mann, ihre Tochter und ihr neuer Partner – viele schlimme Dinge, erfuhren neue Sachen und mussten sich der Realität stellen sowie weitere Nachforschungen durchführen. Immer wieder wurden sie mit Aufgaben konfrontiert, bei denen sie niemanden um Hilfe bitten konnten und im Geheimen agieren mussten. Es hatte Angela immer gestört, dass keiner mit ihr darüber reden wollte, aber jetzt wusste sie, wie sich ihre Liebsten fühlen mussten. Sie konnten nicht mit ihr reden. Nun wusste sie wie schwer es ihnen fallen musste und jetzt war sie selbst an der Reihe. Aber würde sie es tatsächlich schaffen und den Unfall mit keiner Silbe erwähnen? Angela biss sich auf die Unterlippe und schaltete den Motor ab. Sie atmete tief durch und nahm ihr Handy in die Hand. Angela suchte aus dem Telefonbuch die Nummer des Schwesternzimmers und meldete sich krank. Da eine Lebensmittelvergiftung selten mit einer Vorankündigung kam, konnte niemand ihr zu spätes Handeln in Frage stellen. Dennoch hasste Angela es zu lügen, aber manchmal ging es nicht anders. Zögerlich steckte sie ihr Handy zurück in die Handtasche, ehe sie diese nahm und ausstieg. „Du schaffst das“, murmelte sie aufmunternd zu sich selbst. Kaum dass sie die Wagentür schloss, sah sie sich draußen um. Hatte derjenige, der Tsutomu verfolgt hatte, auch den Unfall beobachtet und war ihr hinterhergefahren? Wusste er vielleicht sogar schon wer sie war, wo sie arbeitete und wohnte? Hatte er alles über ihre Familie in Erfahrung gebracht und… Die Krankenschwester schüttelte augenblicklich den Kopf. Ohne es zu wollen war sie von einem Moment auf den anderen paranoid geworden. Ob es auch James und Jodie so ging? Die Krankenschwester öffnete die hintere Wagentür und blickte zu Tsutomu. „Herr Tsu…“, murmelte sie leise, ehe sie inne hielt. Langsam legte Angela ihre Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn leicht. „Können Sie mich hören?“, fragte sie. „Mhm…“, stöhnte der Mann auf. „Gott sei Dank“, wisperte Angela leise. „Wir sind jetzt bei meiner Wohnung. Ich weiß, es wird nicht einfach sein und Sie werden sicher Schmerzen haben, aber…Sie müssen jetzt aussteigen.“ Angela beobachtete ihn. „Sie schaffen das. Wir müssen nur aufpassen, dass wir den Schaden in Ihrem Inneren nicht vergrößern.“ Sie versuchte zu lächeln. „Ich helfe Ihnen auch dabei“, fügte sie hinzu und entfernte seinen Sicherheitsgurt. „Ganz langsam, ja?“ Tsutomu öffnete die Augen und blickte sie an. Er versuchte sich langsam zu bewegen und stieg aus dem Wagen. Mehrfach kniff er die Augen zusammen und hielt sich anschließend an der Wagentür fest, um auf den Beinen zu bleiben. Die Schmerzen die durch seinen Körper strömten, machten sein Vorhaben nicht gerade einfacher. Aber er musste durchhalten. „Ich weiß, es ist schmerzhaft“, entgegnete Angela ruhig. „Aber wenn Sie nicht ins Krankenhaus wollen, können wir nur diesen Weg gehen. Aber…ich könnte Sie trotzdem ins Krankenhaus bringen.“ Tsutomu sah irritiert an sich herunter, ehe er sich langsam vom Wagen entfernte. „Ke…ein…Krank…en…ha…us…“, murmelte er leise. Die Krankenschwester seufzte leise auf. Sie hatte genügend Erfahrungen mit Sturköpfen um zu wissen, dass reden oft nichts brachte. Aus diesem Grund schloss sie die Wagentür, verriegelte die Türen und folgte ihm. „Machen Sie langsam. Sie dürfen sich nicht überanstrengen. Ich weiß, es ist schwer, aber Sie müssen auf meine Anweisungen hören, wenn Sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen wollen.“ Tsutomu sah kurz zu ihr, brachte aber kein Wort über die Lippen. Angela ging zu ihm und legte seinen Arm vorsichtig über ihre Schulter. „Wir schaffen das gemeinsam“, lächelte sie und machte sich auf den Weg zum Wohngebäude. Hoffentlich ist der Aufzug nicht defekt, sagte sich die Krankenschwester. Andernfalls würde sie ein Problem haben. Allerdings würde der Weg nach oben nur für ihn beschwerlich werden. „Geht’s?“ Tsutomu nickte und ging mit ihr zum Wohnhaus. Direkt nachdem Angela die Tür öffnete, machten sie sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Da die Tür des Fahrstuhls offen stand, stiegen sie direkt ein und fuhren in die fünfte Etage. Immer mal wieder sah die Krankenschwester zu dem fremden Mann. „Keine Sorge, gleich können Sie sich ausruhen.“ Als sich die Fahrstuhltür öffnete, brachte sie Tsutomu zu ihrer Wohnung. Angela schloss die Haustür auf und ging rein. „Erwarten Sie bitte nicht zu viel. Ich bin sehr selten in der Wohnung und habe nur das Nötigste da. Aber es wird reichen und wenn wir etwas brauchen, fahr ich zum Supermarkt.“ Tsutomu schwieg und sah sich um, während Angela ihn zum Schlafzimmer brachte. Vorsichtig setzte er sich auf das Bett und legte sich anschließend hin. „Mhm…“ „Ja, ich weiß, es ist schmerzhaft“, entgegnete Angela ruhig und hoffte, sich nicht mehr so oft zu wiederholen. Andererseits wusste sie auch nicht, was sie sonst sagen sollte. „Ich wisch Ihnen erst einmal das Blut aus dem Gesicht. Ruhen Sie sich einfach aus, ja?“ „Mhm…“, murmelte der Mann ein weiteres Mal und sah nach oben an die Decke. Angela beobachtete ihn für einen kurzen Moment, ehe sie in die Küche ging und eine Schüssel mit Wasser befüllte. Sie brachte diese in das Schlafzimmer und ging anschließend in ihr Badezimmer. Die Krankenschwester holte den erste Hilfe Kasten hervor und nahm ein paar Tücher. Gerade als sie zurück in das Schlafzimmer wollte, klingelte es an der Haustür. Obwohl Angela bereits ahnte, dass es Dr. Evergarden war, hatte sie ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend. Ein weiteres Mal atmete Angela tief durch und ging zur Haustür. Langsam nahm sie den Hörer der Freisprechanlage in die Hand und hielt dieses an ihr Ohr. „Ja?“ „Ich bin es. Lass mich bitte rein.“ Angela lächelte, als sie die Stimme erkannte und betätigte den Summer. Es dauerte ein paar Minuten ehe der Notfallarzt vor ihrer Wohnungstür stand. Sie öffnete diese zaghaft. „Da bin ich.“ „Danke, dass du gekommen bist“, fing Angela an. „Du hattest ja noch einen Gefallen gut bei mir, also hatte ich kaum eine andere Wahl.“ „Wir wissen Beide, dass du die gehabt hast“, entgegnete sie und ließ ihn rein. „Du bist…gut ausgerüstet…“ Gilbert stellte seinen Arztkoffer sowie das mobile Ultraschallgerät auf den Boden. „Du hast mich um Hilfe gebeten und wolltest deinen Bekannten nicht ins Krankenhaus bringen. Ich kann eins und eins zusammenzählen und habe daher zur Sicherheit vorgesorgt. Ich hoffe, es reicht. Leider gibt es noch kein mobiles CT- oder MRT-Gerät.“ „Ja, da hast du Recht.“ Angela lächelte. „Danke für deine Hilfe.“ „Willst du mir erzählen, was passiert ist?“ „Das würde ich gerne, aber ich weiß es selbst nicht so genau. Er ist im Schlafzimmer“, antwortete sie und ging dorthin. „Ich wollte mir auch gerade seine Verletzungen ansehen und das Blut wegwischen.“ Gilbert folgte ihr mit seinen mitgebrachten Utensilien in das Zimmer und beobachtete den Mann auf dem Bett. Er runzelte die Stirn. „Angela…“ „Ich weiß, eigentlich müsste ich die Polizei rufen“, murmelte sie. „Und ihn ins Krankenhaus bringen“, entgegnete er. „Ich hoffe, du weißt was du tust.“ „Das hoffe ich auch“, murmelte Angela leise. „Zuerst sollten wir seine Wunden versorgen“, begann Gilbert und öffnete seinen Arztkoffer. Der Notfallmediziner holte mehrere Mullbinden heraus und nahm die Wasserschüssel und Tücher. Anschließend begann er damit die Verletzungen des Patienten zu verarzten. Nachdem er fast fertig war, wandte er sich zu Angela. „Magst du einen Kaffee aufsetzen? Mir reicht es, wenn er schwarz ist.“ Die Krankenschwester nickte und ging in die Küche. Obwohl sie regelmäßig ähnliche Wunden sah, fühlte sie sich in der Gegenwart von Tsutomu irgendwie komisch. Dankbar darüber nach draußen geschickt worden zu sein, setzte sie den Kaffee auf und sah der Maschine bei ihrer Arbeit zu. Einige Minuten später betrat Gilbert die Küche. „Ich bin fertig.“ „Und?“ Angela drehte sich zu ihm um. „Wie schlimm sieht es aus?“ „Ich denke, er hat gute Chancen“, begann der Arzt. „Beim Ultraschall konnte ich keine Auffälligkeiten feststellen, allerdings kann ich keine anderen inneren Verletzungen ausschließen. Dafür müsste er in ein Krankenhaus gebracht werden. Selbst wenn wir die Untersuchungen heimlich durchführen wollten, müssten wir alles dokumentieren.“ „Mhm…verstehe“, murmelte Angela. „Das ist schon mal was…“ Sie war erleichtert. „…und ich bin wirklich froh darüber.“ „Möchtest du mir nicht sagen was passiert ist?“ „Wie meinst du das?“ „Seine Verletzungen…sie sind…“ „Er ist mir vor den Wagen gelaufen“, antwortete Angela ehrlich. „Ich konnte nicht mehr bremsen.“ Gilbert sah sie skeptisch an. „Seine Verletzungen stammen ganz sicher nicht von einem Autounfall.“ Die Krankenschwester nickte. „Das dachte ich mir auch schon. Er war auf der Flucht vor irgendjemanden, deswegen wollte er wohl auch nicht, dass ich die Polizei oder einen Krankenwagen rufe. Ich musste etwas tun, da ich ihn nicht liegen lassen konnte. Daher war die einzige Möglichkeit, dass ich ihn herbringe.“ „Angela…“ „Ja, ich weiß. Das war keine gute Idee, aber ich musste etwas tun“, entgegnete sie. Gilbert seufzte leise auf. „Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich hoffe, du weißt was du tust“, fing er an. „Während ich ihn behandelt hab, konnte ich keine Personalien finden. Wer immer er ist, er hat auf jeden Fall Dreck am Stecken. Du solltest deinen Freund oder deine Tochter informieren.“ „Mhm…“, murmelte Angela und schenkte den Kaffee in zwei Tassen ein. Sie nahm ihre Tasse und nippte an der schwarzen Flüssigkeit. „Das hab ich vor.“ Zumindest plante sie James zu informieren. „Gut“, gab Gilbert von sich und nahm seine Tasse. „Ich habe sicherheitshalber Fotos von seinen Verletzungen gemacht. Ich schick sie dir nachher. Ich habe zusätzlich Blutproben genommen und die Partikel unter seinen Fingernägeln sichergestellt. Sollte es zu Ermittlungen gegen einen unbekannten Täter kommen, haben wir ausreichend Material sichergestellt. Ich werde es im Krankenhaus deponieren, ganz anonym.“ „Und ganz nach Protokoll…“, murmelte die Krankenschwester. „Du weißt, dass ich keine andere Wahl hab.“ „Und ich mach dir keinen Vorwurf“, gab Angela von sich. „Und wie geht es jetzt weiter?“ „Du solltest ihn die nächsten Tage beobachten. Wenn sich sein Zustand verändert, musst du auf jeden Fall einen Krankenwagen rufen.“ Die Krankenschwester nickte. „Danke für deine Hilfe.“ Dr. Evergarden stellte seine Tasse auf den Tisch. „Er hat ein leichtes Beruhigungsmittel von mir bekommen. Die nächsten Stunden müsste er durchschlafen. Ich bring dann jetzt die Proben ins Krankenhaus.“ Angela begleitete ihn an die Haustür. „Hab nochmal vielen Dank, Gilbert.“ Der Arzt nahm seinen Arztkoffer und das mobile Ultraschallgerät. „Wenn irgendwas passiert und du dir unsicher bist, kannst du mich auch anrufen.“ „Mach ich“, lächelte Angela und verabschiedete sich von ihm. Sie schloss die Haustür und zog ihr Handy aus der Handtasche heraus. Die Krankenschwester ging zum Schlafzimmer und beobachtete den fremden Mann. „Was ist nur mit Ihnen passiert?“, wollte sie leise wissen. Sie blickte wieder auf ihr Handy und tippte die Nummer von James ein. Ehe sie auf die Anruf-Taste drückte, sperrte sie ihr Telefon und beobachtete weiterhin ihren Gast. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)