Die Götter hassen mich von Lycc ================================================================================ Kapitel 30: Neue Wunden, Alte Narben ------------------------------------ Ein leises Klopfen ließ Astrid ruckartig zusammenzucken. Hastig erhob sie sich von dem unbequemen Holzstuhl, auf dem sie eine halbe Ewigkeit zugebracht hatte. Währenddessen schwang die Zimmertür sanft auf und eine Frau mittleren Alters ohne Flügel auf dem Rücken betrat den Raum. Valka hatte die vier Schwingen in ihrem Körper verborgen und auch ihre Schuppen waren verschwunden. Nun zogen sich nur noch Hämatome und abheilende Platz- und Schnittwunden über ihre Haut. “Keine Änderungen?”, erkundigte sie sich mit leiser Stimme nach Hicks´ Zustand. “Nein, nichts. Er schläft immer noch. Und Ohnezahn… naja…” Vielsagend sah sie zu dem verzweifelten Nachtschatten hinüber, der vor Hicks´ Bett auf dem Boden kniete, die Arme auf dem Bett abstützte und Hicks´ Hand hielt. Seit sie zurück waren, hatte er die Seite seines Paratei nicht verlassen. Astrid trat zu Ohnezahn ans Bett heran und wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, um ihn zu beruhigen, wie sie es vor dem Angriff immer wieder getan hatte, doch dieses Mal schüttelte Ohnezahn sie entschieden ab. Er ertrug ihre Berührung im Moment einfach nicht. Etwas ratlos stand Astrid im Raum und wusste nicht so recht weiter. “Nimm es nicht persönlich", versuchte Valka sie zu beruhigen. “Das hat nichts mit dir zu tun. Für uns gibt es einfach kaum etwas schlimmeres, als unserem Paratei nicht helfen zu können. Sei ihm bitte nicht böse.” Astrid seufzte tief. Auch an ihr ging Hicks´ Zustand nicht spurlos vorbei. Die Heiler hatten ihn so gut wie möglich behandelt und angeblich war er stabil, doch er wachte einfach nicht auf. Astrid hingegen hatte seit ihrem Überfall auf die Basis der Jäger kaum bis gar nicht geschlafen. “Vielleicht solltest du dich auch etwas hinlegen”, riet Valka der jungen Wikingerin, unter deren Augen sich dunkle Schatten abzeichneten. Astrids sorgenvoller Blick blieb jedoch auf ihre beiden Freunde gerichtet. “Ich bleibe hier und hab ein Auge auf ihn”, versicherte Valka ihr. “Auf beide.” Kaum hatte nun auch Astrid das Zimmer verlassen, stieß Valka ein tiefes Seufzen aus. Ihre gerade Körperhaltung sackte etwas in sich zusammen und ihre Schultern senkten sich ein Stück weit ab. Möglichst geräuschlos zog sie den Stuhl etwas näher und ließ sich erschöpft darauf sinken. Eine kurze Weile beobachtete sie das unbewegliche Bild vor sich und spürte, wie sich ihr Herz unwillkürlich zusammenzog. “Du fühlst dich schuldig, weil du ihn hättest beschützen müssen, nicht wahr?”, fragte sie so leise, dass Ohnezahn sich nicht ganz sicher war, ob sie mit ihm sprach oder mit sich selbst. Ihr Blick wirkte plötzlich gebrochen und aus der unverwüstlichen Anführerin war in einem Wimpernschlag ein sorgenvolles Häufchen Elend geworden. Und Ohnezahn fühlte, dass sie sein Leiden tatsächlich nachempfand. Sie machte sich die gleichen Vorwürfe wie er und Ohnezahn spürte ihre tiefgreifenden Schuldgefühle. “Es tut mir so leid. Es tut mir so schrecklich leid.” Hicks war verletzt worden, weil er sie retten musste, dabei wäre es ihre Aufgabe gewesen, IHN zu beschützen. Grübelnd betrachtete sie die Schuppen, die sich über Hicks´ Gesicht zogen. Und auch in diesem Punkt hätte sie für ihn da sein müssen. Hicks war ein Paratei und sie hatte ihn damit allein gelassen. Sie hatte ihren Jungen das gleiche durchleiden lassen, wie sie damals. Die gleiche Angst, die gleiche Unsicherheit, die gleiche Gefahr - sie hatte ihren Sohn im Stich gelassen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Ohnezahn sie die ganze Zeit beobachtete und in gewisser Weise ihren Gedanken zugehört hatte. Nachtschatten hatten einfach ein beeindruckendes Kommunikationstalent und die kurze Verbindung, die Valka über ihre gemeinsamen Schuldgefühle mit ihm aufgebaut hatte, hatte genügt, um Ohnezahn Valkas Gedanken spüren zu lassen. Nun war ihr Geheimnis wohl raus. “Danke, dass du so gut auf ihn aufgepasst hast”, bedankte sie sich und rang sich trotz ihrer Schuldgefühle zu einem Lächeln durch. Ohnezahn sortierte die neuen Erkenntnisse noch ein, doch trotzdem konnte er die Mutter seines Paratei nicht den Tränen nah dort sitzen lassen. Ohne Hicks´ Hand loszulassen, stand er auf und legte Valka die andere Hand auf die Schulter. Etwas perplex sah sie ihn an. Eine derart menschliche Geste hatte sie noch nie bei einem Drachen gesehen. Er musste sie von Astrid kopiert haben und setzte sie instinktiv korrekt ein. Ein dankbares Schmunzeln stahl sich auf Valkas Lippen und über ihre Verbindung bedankte sie sich eingehend bei dem Nachtschatten. Valka blieb noch eine Weile an Hicks' Krankenbett und sprach mit Ohnezahn. Sie beide sorgten sich um Hicks und sie beide gaben sich die Schuld an seinem Zustand - und irgendwie half es ihnen beiden, dass sie mit diesen Gefühlen nicht allein waren. Auf Valkas Nachfrage hin zeigte Ohnezahn ihr, wie er und HIcks einander gefunden hatten und wie ihr Weg sie hierher auf Platon verschlug. Es war bereits später Abend, als Valka das Zimmer wieder verließ. Ihr und auch Ohnezahn war nun etwas leichter ums Herz, und sie hatte das Gefühl, dass sie den Nachtschatten nun auch wieder aus den Augen lassen konnte, ohne ihr Versprechen gegenüber Astrid zu brechen. Guten Gewissens und völlig übermüdet verließ sie die Hütte der Berkianer und machte sich auf den Weg zu ihrem eigenen Bett. Hicks wachte mit schrecklichen Kopfschmerzen auf. Sein Schädel dröhnte und sein ganzer Körper tat weh. Mühevoll schlug er die Augen auf und bereute es sofort, denn das helle Tageslicht verschlimmerte das Dröhnen in seinem Schädel noch zusätzlich. Einige Male blinzelte er tapfer gegen das schmerzhafte Blenden an, dann konnte er endlich wieder klar sehen. Er war in seinem Zimmer auf Platon. Und er war nicht allein - Natürlich nicht. Ohnezahn lag zusammengerollt dicht neben ihm, hielt sich mit der einen Hand an Hicks´ Arm fest und umklammerte mit der anderen krampfhaft das unscheinbare Silberamulett. Ein beruhigtes Schmunzeln wanderte auf Hicks´ Lippen. Sein Paratei war ihm nicht von der Seite gewichen, seit… Hicks überlegte. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war die Flucht von der Insel der Jäger. Er war in der Luft gewesen, dann war da dieser stechende Schmerz in seinem Hinterkopf. Der Rest war Schwarzbild. Prüfend sah Hicks seinen rechten Flügel an und bewegte ihn vorsichtig. Er war mit Verbänden versehen worden und schmerzte leicht. Als nächstes betastete er seinen Hinterkopf mit der freien Hand. Auch der war bandagiert und schmerzte weitaus stärker als sein Flügel. Er hatte wohl ganz schön was abbekommen. Ohnezahn war ebenfalls nicht ganz unverletzt geblieben. Einige Schnittwunden und Blutergüsse zogen sich über seinen Körper, allerdings schien er sich jeder Art von Bandage und Behandlung verweigert zu haben. Hicks unterdrückte ein weiteres bittersüßes Schmunzeln, strich eine der schwarzen Strähnen aus Ohnezahns Stirn und enthüllte eine unbehandelte Platzwunde, die klaffend das junge Gesicht verunstaltete. “Tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe, mein Kleiner.” Zärtlich strich er ihm über den Kopf und kraulte ihn, bis sein Paratei ebenfalls die Augen aufschlug. Als Ohnezahn bemerkte, dass Hicks wieder bei Bewusstsein war, war er sofort hellwach und fiel ihm überschwänglich um den Hals. Er hatte solche Angst um seinen Paratei gehabt. Erleichtert schlang er die Arme um ihn, schmiegte sich sehnsüchtig an Hicksˋ Wange und sog dessen vertrauten Geruch tief ein. Hicks kippte bei dieser überschwänglichen Begrüßung unwillkürlich nach hinten, doch Ohnezahn schützte Hicks´ verwundeten Hinterkopf mit seiner Hand, bevor der gegen die Rückwand des Bettgestells knallen konnte. Beruhigend strich Hicks über Ohnezahns Kopf, Nacken, Rücken und Flügelansätze, während der sich energisch an ihn schmiegte. “Ist ja gut. Alles ist gut”, flüsterte er in den schwarzen Haaransatz. “Mir geht's gut und wir sind in Sicherheit.” Eine ganze Weile kuschelten die beiden schweigend und nach und nach kam der aufgewühlte Nachtschatten wieder zur Ruhe. “Was ist denn eigentlich passiert”?, erkundigte sich Hicks nach einiger Zeit und Ohnezahn berichtete ihm, wie sie während ihres Rückzugs beschossen wurden, Hicks am Kopf getroffen wurde, das Bewusstsein verlor und sie ihn zurück nach Platon gebracht hatten. Alle Berkianer hatten es lebendig - wenn gleich nicht ganz unverletzt - von der Insel der Drachenjäger zurück geschafft, und auch die Bewohner Plantons hatten dank ihres gut geplanten Angriffs kaum Verluste erlitten. Und auch, dass Ohnezahn für den verletzten Flügel verantwortlich war, beichtete er ihm mit schuldbewusster Miene. Ohnezahn hatte ihn verletzt, als er Hicks im Fall aufgefangen hatte. Gebrochen war er zum Glück nicht, aber Ohnezahns Klauen hatten in der Hektik des Sturzes die lederne Membran verwundet. Auf Hicks´ Lippen stahl sich beim Anblick seines schuldbewussten Paratei ein wissendes Schmunzeln. “Komm mal her. Sieh mich an.” Beruhigend nahm er dessen Gesicht zwischen die Hände und zwang ihn sanft zum Blickkontakt. “Danke. Du hast mir mal wieder mein Leben gerettet, und mein Flügel wird heilen. Mach dir keine Sorgen.” Liebevoll schmiegte Hicks sich an seinen Paratei und der erwiderte die Geste dankbar. Erleichtert sank Hicks schließlich wieder in die Kissen. Der Überfall war ein Erfolg gewesen, die Herrin von Platon war gerettet und seinen Freunden ging es gut. “Ich schätze, ich sollte wohl auch den anderen sagen, dass ich noch lebe”, stellte Hicks irgendwann fest. Und eine andere Sache, wollte er noch davor unbedingt erledigen. Ohnezahn leckte noch einmal über Hicks´ Halsbeuge und entlockte ihm so ein leises Kichern, bevor er sich erhob und Hicks so erlaubte, aus seinem Bett aufzustehen. Der überprüfte noch einmal, welche Verletzungen er selbst erlitten hatte. Linker Flügel, rechter Flügel - bandagiert aber würde heilen, linker Arm, rechter Arm, linkes Bein und… rechtes Bein. Alles noch wo es hingehörte und funktionierte tadellos oder würde es wieder tun. An Ohnezahn bemerkte er allerdings plötzlich Blut. Seine Platzwunde war bei dessen überschwänglicher Begrüßung wieder aufgebrochen und Blut lief ihm übers Gesicht. “Komm mal her, mein Kleiner.” Vorsichtig tupfte Hicks das Blut mit einem Tuch ab, das auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett lag, doch die Blutung stoppte nicht. Ohnezahn sah ihm in die Augen, doch Hicks´ konnte dessen Bitte leider nicht nachkommen. Stattdessen griff er nun nach der angerührten Wundsalbe, die ebenfalls neben seinem Bett stand und mit der wohl auch seine eigenen Wunden versorgt wurden. „Tut mir leid, Kleiner. Ich kann nicht, was du kannst.“ Beschwichtigend strich Hicks die grüne Kräutermischung auf die Platzwunde an Ohnezahns Schläfe und stillte so dessen Blutung. „Fertig.“ Doch Ohnezahn sah ihn etwas unglücklich an. Irgendwas störte ihn, und er wusste selbst nicht so recht, was genau das war. Aber was auch immer der Grund für dieses seltsame Gefühl war, Hicks sah es ihm ganz deutlich an. „Jetzt schmoll' nicht. Komm mal her.“ Einem Impuls folgend nahm er das Gesicht seines Paratei zwischen die Hände und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Überrascht sah Ohnezahn zu ihm hoch und hatte nun tatsächlich nicht mehr dieses unruhige Gefühl, dass etwas fehlte oder nicht stimmte. Er wusste nicht, was Hicks da grade getan hatte oder was genau es bedeutete, aber es vermittelte ihm die Welle an Zuneigung und Fürsorge, die ihm bei der Behandlung bis eben gefehlt hatte. Die Wunden eines anderen Drachen zu versorgen, war eine sehr persönliche und intime Angelegenheit, die mit viel Nähe und Vertrauen einherging. Bei der Art, wie Menschen sich um Verletzungen kümmerten, vermisste Ohnezahn diese Komponente schmerzlich, doch Hicks' Kuss vermittelte ihm genau diese Vertrautheit und Verbundenheit. Wenngleich die Geste nur sehr kurz und flüchtig war. Hicks selbst machte sich gar nicht so viele Gedanken darüber. Er war einfach nur froh, dass Ohnezahn sich anscheinend wieder wohler fühlte. Endlich hievte er sich aus dem Bett hoch, um die anderen zu suchen, doch sofort befiel ihn ein starkes Schwindelgefühl und ein stechender Kopfschmerz. Reflexartig hielt er sich mit der einen Hand am Bettpfosten und mit der anderen an Ohnezahn fest. Er sollte es wohl doch ruhig angehen lassen. Langsamer als er es gern gehabt hätte, verließ Hicks sein Zimmer und schließlich auch die Hütte der Berkianer. Ohnezahn wich ihm nicht von der Seite, damit Hicks sich an ihm festhalten konnte, sobald ihn der Schwindel wieder übermannte. Im Dorf herrschte das übliche Treiben, aber die Euphorie über die sichere Rückkehr ihrer Anführerin und der anderen Gefangenen war deutlich spürbar. Jeder war ein wenig motivierter bei seiner Arbeit, ihre Schritte etwas beschwingter und jedes Gesicht ein bisschen fröhlicher. Endlich erreichten die beiden Nachtschatten den Turm, betraten die unterste Etage und trafen dort tatsächlich auf Mala, Heidrun, Astrid und Sturmpfeil. “Hicks! Du bist wieder wach. Den Göttern sei Dank", begrüßte ihn Astrid freudig und eilte auf ihren guten Freund zu, um ihn überglücklich zu umarmen. "Wie fühlst du dich?" “Ja, ich bin wieder auf den Beinen, aber mein Schädel brummt ganz schön. Wie lange war ich denn weg?” “Zwei Tage. Wir haben echt angefangen, uns Sorgen zu machen.” “Tut mir leid.” “Es ist sehr erfreulich, dass du wieder unter den Wachen weilst”, begrüßte ihn nun auch Mala mit einem schwachen Nicken. “Du hast dich auf unserer Mission wirklich hervorgetan. Du kannst stolz auf dich sein.” Malas Mimik blieb unverändert, doch Hicks konnte die Anerkennung in ihrer Stimme hören und erwiderte dankbar ihr Nicken. Nun ergriff auch Heidrun endlich das Wort, doch ihre Sorge galt wie immer als Erstes den Drachen. “Du hast seine Wunde versorgt”, stellte sie zufrieden mit einem Blick auf Ohnezahn fest. “Ja. Er hat euch nicht an sich rangelassen, oder?” “Nein. Er hat sich geweigert, irgendwen von uns seine Verletzung behandeln zu lassen.” Hicks warf seinem Paratei einen vielsagenden Blick zu und wuschelte ihm einmal durch die Haare. “Du bist echt unmöglich.” “Eigentlich ist er nur vorsichtig”, schaltete sich eine fremde Stimme ein. “Er ist einfach nicht so zahm, wie die meisten anderen Drachen hier.” Valka, die Herrin von Platon, trat zu ihnen. Sie sah sehr viel besser aus als noch auf der Insel der Jäger. Sie trug frische Kleidung, ihre Haare waren neu geflochten und die tiefen, dunklen Schatten unter ihren Augen waren kaum noch zu sehen. Doch irgendwas an ihrem Blick irritierte Hicks. Fasziniert umrundete sie ihn mehrmals mit etwas Abstand und schien ihren Augen noch immer nicht so recht zu trauen. Geschmeidig wie eine Katze setzte sie einen Fuß vor den anderen. Jede ihrer Bewegungen war durchdacht und ihre Augen ruhten unentwegt auf Hicks. Hicks fühlte sich zunehmend unwohl unter dem durchdringenden Blick der Anführerin Platons und rückte unbewusst näher an seinen Paratei. Der wiederum schien von diesem Verhalten kein bisschen beunruhigt zu sein. Endlich hatte Valka ihre letzte Runde beendet und blieb vor Hicks stehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)