Amigo del alma von Vampyrsoul (Boston Boys 5) ================================================================================ Kapitel 35: El Paso ------------------- »¡Tío Eloy!«, wurde ich gleich dreistimmig begrüßt, als ich aus dem Familienvan stieg. Natürlich waren es die Zwillinge, die zuerst bei mir ankamen und mir mit Anlauf in die Arme sprangen. Ihr kleinerer Bruder musste sich damit zufriedengeben, sich an meine Hüfte zu klammern. »Hallo ihr drei! Wie geht es euch?« »Gut«, antwortete Milagros sofort. Sie schien noch immer dieselbe Plaudertasche zu sein. »Wir haben ganz viele Kälbchen dieses Jahr gehabt. Oh, du musst dir die unbedingt anschauen. Und unsere Zimmer! Wir durften Poster aufhängen!« »Ist gut, ich schau sie mir gleich an. Dafür müsst ihr aber runter.« Ich setze sie ab, doch ihr Zwillingsbruder Alfonso klammerte sich fester an mich. Ich strich durch seine wilden Locken. »Magst du mir auch dein Zimmer zeigen?« Er nickte enthusiastisch, ließ aber meinen Hals nicht los. Stattdessen flüsterte er mir ins Ohr: »Kannst du mich tragen?« Ich verbat mir, die Augen zu verdrehen oder etwas dazu zu sagen. Ich kannte die Einstellung meiner Schwester: Niemand sagte den Kindern, dass Mädchen oder Jungs etwas durften oder nicht durften. Auf den Ärger hatte ich keine Lust. Ich war viel zu froh, sie alle nach fast einem Jahr wiederzusehen. »Klar. Dann muss Papa aber meine Tasche tragen.« Dieser schlug mir freundschaftlich auf die Schulter und lief bereits damit an mir vorbei. Seine Tochter folgte ihm fröhlich springend und fragte, ob darin Geschenke für sie seien. Ich beugte mich zu Jimeno herunter, der noch immer an meiner Hüfte hing. »Na, kleiner Mann. Du bist aber groß geworden!« Mir sprang sofort die Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen ins Gesicht. »Ich bin schon groß! Ich geh schon in die Vorschule!« »Was? Du bist schon so alt?«, fragte ich gespielt überrascht. »Ja! Ich bin schon«, er zählte die Finger an seiner Hand laut auf Spanisch ab und hielt sie mir dann ausgestreckt entgegen, »fünf!« »Oh, dann kommst du ja nächstes Jahr schon in die 1. Klasse. Freust du dich darauf?« Während er aufgeregt nickte, kam mir eine Idee: Vielleicht fiel seiner Mutter ja etwas ein, wie man Maxime den Einstieg in die Schule erleichtern konnte. Immerhin wuchsen auch ihre Kinder zweisprachig auf. Auch wenn es für sie natürlich einfacher war, beide Sprachen in der Schule zu benutzen. Fast alle anderen Schüler und auch Lehrer sprachen ebenfalls beides, manche Kinder sogar nur Spanisch. Ich wuschelte ihm ebenfalls einmal über den Kopf, was er mit einem weiteren Zahnlückengrinsen quittierte. »Wo ist denn eure Mama?« »In der Küche«, murmelte Alfonso und sein kleinerer Bruder schnappte sich meine freie Hand und zog mich in Richtung des Hauses. Während wir darauf zugingen, konnte ich einfach nur staunen. Als Noemí und Jonathan es gekauft hatten, war es fast auseinandergefallen. Nun erstrahlte es in vollem Glanz. Sie hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Auf der Veranda saß mein Vater. Freudig, auch ihn mal wieder zu sehen, strahlte ich ihn an. Doch er musterte mich nur mit ausdrucksloser Miene und blieb dann damit an Alfonso auf meinem Arm hängen. »Eloy, lass doch den Jungen runter! Er ist alt genug, um selbst zu laufen!« Ich zögerte keinen Moment und setzte ihn ab. Dass er mich schon von allein losgelassen hatte, zeigte, dass er genauso viel Respekt vor dem alten Herrn hatte wie ich. Er nahm seinen Bruder an der Hand und rannte mit ihm ins Haus. »Hallo Vater«, grüßte ich, während ich auf die Veranda trat. Er nickte kurz und musterte mich weiterhin eingehend. »Darf man so in Boston als Polizist rumrennen? Mit langen Haaren und unrasiert?« Ich atmete tief durch. Ernsthaft, ich trug schon lange keinen Militärschnitt mehr, aber lang waren meine Haare wirklich nicht. Lediglich bis zu den Ohren, genau nach Vorschrift. Und rasiert hatte ich mich zuletzt am vorherigen Morgen. »Darf man auch in El Paso, Vater.« Er schnaufte. »Esther hätte dich nie so herumlaufen lassen. Steck wenigstens dein Hemd rein!« »Maria ist aber nicht mehr Teil meines Lebens«, erwiderte ich bemüht ruhig. Ich konnte nicht verhindern, dennoch den Saum meines Hemdes zu packen und ihn in die Hose zu stopfen. »Papa, beruhig dich. Eloy ist gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen«, ertönte Lázaros Stimme hinter mir. Erfreut drehte ich mich um und sah meinem Bruder ins Gesicht, der mich anstrahlte. Wir schlossen uns in die Arme. »Es ist schön, dich endlich mal wieder zu sehen.« »Geht mir ganz genauso.« Freundschaftlich klopfte ich ihm auf den Rücken. »Wie geht es dir?« »Ich kann mich nicht beklagen. Du siehst auch aus, als hättest du es dir gutgehen lassen ohne uns.« Er ließ mich los und klopfte leicht auf meinen Bauch. Lachend strubbelte ich meinem kleinen Bruder durch die Haare. »Ich muss den bösen Jungs doch auch etwas an Gewicht entgegensetzen.« Er versuchte, sich zu befreien, schaffte es aber erst, als ich ihn nach einer kurzen Kampelei losließ. Das war so etwas wie ein Ritual zwischen uns. Ich wusste, dass er es nicht mochte, wenn ich seine Frisur durcheinanderbrachte, aber er hatte noch nie eine Chance gehabt. »Deine Mutter wartet drinnen auf dich«, unterbrach uns mein Vater. »Danke«, erwiderte ich ausweichend. Lázaro entschuldigte sich noch einmal kurz, um in den Schuppen zu gehen. Obwohl ich noch nie im Haus gewesen war, seitdem es fertig renoviert war, fand ich die Küche schnell. Ich musste nur meiner Nase folgen. An der Tür blieb ich einen Moment stehen, um den Anblick in mich aufzunehmen. Meine Mutter stand am Herd, während meine Schwester am Küchentisch einige Zutaten schnitt. Es war fast wie früher. Lediglich Maria fehlte in dem Bild. In den letzten zwanzig Jahren hatte sie immer mit in der Küche gestanden. Ich schüttelte den Gedanken ab und trat in den Raum. »¡Hola!« Meine Mutter drehte sich herum und rief erfreut: »Eloy! Komm her mein Junge, lass dich anschauen!« Sie ließ den Kochlöffel in den Topf fallen und kam auf mich zu, um mich in ihre Arme zu ziehen. Erfreut küsste sie meine Wangen ab und ließ nicht zu, dass ich mich aus ihrem Griff befreite, bis sie der Meinung war, ich hätte genug Liebe abgekommen. Scheinbar wollte sie das ganze Jahr an Zärtlichkeiten auf einmal nachholen. »Schön, dass du da bist«, verkündete sie, bevor sie sich wieder dem Topf widmete, in dem es bereits gefährlich brodelte. Dafür fiel mir gleich meine kleine Schwester um den Hals. »Hallo großer Bruder!« »Hallo Kleine!« Auf sie hatte ich mich besonders gefreut. Sie war immerhin auch die Einzige, die regelmäßig mit mir Kontakt hielt. »Jonathan hat deine Sachen nach ... Oh Gott, Lázaro! Nein, bring ihn nicht in die Küche! Geht ins Bad, ihr macht hier alles dreckig!« Mit wedelnden Armen lief sie an mir vorbei auf unseren Bruder zu, der ein vollkommen verdrecktes Kleinkind mit Rotznase auf dem Arm hielt. Zu dritt verschwanden sie um eine Ecke. Ich hatte mich schon gefragt, wo sie Domingo versteckt hielten. Offenbar war er mit seinem Onkel im Stall gewesen. Ich würde ihn später begrüßen, wenn er sauber war. »Kann ich hier etwas helfen?«, fragte ich meine Mutter, obwohl ich die Antwort bereits kannte. »Nein, Schatz, wir schaffen das schon. Du könntest zu deinem Vater auf die Terrasse gehen. Er freut sich bestimmt, wenn ihr ein wenig redet.« Da sie mich nicht ansah, konnte ich es mir erlauben, die Nase zu rümpfen. Da suchte ich mir lieber eine andere Beschäftigung. Ich könnte zum Beispiel mein Schlafzimmer suchen. Ich hatte noch nicht einmal die Treppe gefunden, da hörte ich Kindergeschrei. Nachdem ich den Geräuschen gefolgt war, stand ich im Wohnzimmer, wo die drei älteren Kinder sich auf dem Sofa rauften, während in einer Ecke ein Baby im Laufstall saß und munter vor sich hin plapperte. Den Blick hielt es dabei auf die Geschwister gerichtet, als würde es gerne mittoben. Als ich in den Raum kam, drehte es den Kopf zu mir und kam auf mich zu gekrabbelt. An den Gitterstäben zog es sich nach oben und strahlte mich an. Ich hockte mich davor und fragte freundlich: »Und wer bist du?« Als Antwort erhielt ich nur ein paar gelallte Silben, doch Milagros half aus. Sie löste sich aus dem Knäuel auf dem Sofa und rannte zu mir. »Das ist Luis. Dabei wollte ich doch endlich eine kleine Schwester.« Ich hätte sie ja gern getröstet und ihr gesagt, dass sie die bestimmt auch noch bekam, aber ich war mir nicht sicher, ob Noemí und Jonathan noch weitere Kinder wollten. Immerhin hatten sie auch mit fünf schon alle Hände voll zu tun. »Tío Eloy, warum hast du eigentlich keine Kinder?«, plapperte sie jedoch schon munter weiter. »Weil ich zu alt bin, um noch Kinder zu bekommen.« Zumindest konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, noch einmal mit einem Baby anzufangen. Für ein Wochenende auf Caroline und Maxime aufpassen, war etwas anderes, als das die ganze Woche, Jahr für Jahr, mitzumachen. »Du könntest doch auch eines adoptieren«, schlug sie vor und sah mich dabei hoffnungsvoll an. »Am besten ein Mädchen in meinem Alter.« Ich lachte. Es war schon wirklich schade, dass sie es als einziges Mädchen nur mit Jungs aushalten musste. Das war sicher nicht leicht. »Das ist nicht so einfach. Dafür müsste ich verheiratet sein.« »Dann musst du eben wieder heiraten!«, beschloss sie. »In nächster Zeit hatte ich das nicht vor. Da musst du wohl Onkel Lázaro nerven.« Sie zog eine Schippe. »Tío Lázaro hat gesagt, dass er keine Kinder möchte und die Tiere seine Kinder sind.« Neben uns rumpelte es gewaltig, als die beiden Jungs von der Couch fielen. Jimeno rappelte sich sofort wieder auf und wollte erneut auf seinen Bruder springen, doch dieser jammerte kurz, bevor er zu weinen begann und sich den Kopf hielt. Das war meine Gelegenheit, den inquisitorischen Fähigkeiten meiner Nichte zu entkommen. Zumal der kleine Luis die Schmerzen seines großen Bruders auch zum Heulen fand. Ich nahm die beiden Schreihälse auf den Arm und tröstete sie, während ich sie aus dem Raum trug. Das Baby lieferte ich bei meiner Mutter in der Küche ab, die ganz verzückt von ihrem jüngsten Enkel war und ihn gleich in einen Babystuhl setzte und ihm ein Toast in die Hand drückte. Sofort wurde er ruhig. Alfonso schleppte ich nach oben, wo ich ihn seinem Zimmer absetzte, in das er mich unter Tränen dirigierte. Nachdem ich ihm versichert hatte, dass er nur eine kleine Beule bekommen würde, beruhigte er sich und nutzte die Gelegenheit, mal einen Erwachsenen für sich allein zu haben. Begeistert zeigte er mir seine Bücher, die er vor allem von Lázaro geschenkt bekam, und las mir aus einigen davon vor. Als er dabei ein Buch über tropische Insekten hervorholte, musste ich an Mat denken. Auch in seinem Bücherregal stand ein Buch über Koleopterologie. Zuerst hatte ich mich gewundert, da es überhaupt nicht zu den Fantasy- und Scifi-Büchern passte, die er sonst las, aber er erklärte mir, dass er sich das lediglich gekauft hatte, um einen Bekannten zu nerven, indem er ihm ständig neue Käfernamen gab. Ich verstand den Sinn zwar nicht, aber es klang schon sehr nach Mat. Während ich an ihn dachte und dabei für einen Moment meinen ältesten Neffen vergaß, wurde mir bewusst, dass ich ihn in den nächsten Tagen sehr vermissen würde. Es war schön, meine Familie zu sehen, aber ich freute mich auch darauf, in ein paar Tagen wieder bei ihm und Chico zu sein.   Ich nahm Mutter die Schüsseln ab und stellte je eine vor Jimeno und mich. Die anderen reichte ich an Lázaro, damit er weiter verteilte. Dasselbe tat ich mit den Löffeln. Während Noemí die Tortillas und Luis’ Abendessen holte, brachte Mutter den Chili-Pot. Milagros balancierte einige Schüsseln mit weiteren Beilagen hinter ihr her. Als die ersten Speisen standen, begannen die Jungs sofort darüber zu diskutierten, wer welche Beilagen zuerst bekam. Der ganze Plan wurde jedoch wieder umgeworfen, als die drei Frauen die nächste Ladung auf den Tisch stellten. Scherzhaft mischte sich auch Lázaro ein und behauptete er und ich äßen alles auf, bevor sie etwas bekommen konnten. Während der kleine Domingo es nicht verstand und ihm bereits Tränen in den Augen standen, diskutierte Jimeno mit meinem Bruder, dass wir das nicht schafften. Alfonso beschwerte sich direkt bei seinem Vater, der nur erwiderte, dass er uns half. Ich kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. So ungewohnt war dieser lebhafte Haufen mittlerweile für mich. Außerdem liebte ich es viel zu sehr, sie dabei zu beobachten. »¡Silencio!«, donnerte mein Vater, sobald auch die Frauen saßen. Die Kinder erstarrten regelrecht in ihrer Bewegung, während Lázaro und ich uns eher in der Position aufrichteten. »Eloy, sprichst du das Gebet?« »Natürlich.« Ich faltete die Hände und begann für alle gut hörbar ein Tischgebet zu rezitieren. Es war das älteste, das ich kannte. Für den Anlass fand ich es mehr als angebracht. Sobald das »Amen« heraus war, kam wieder Leben in die Kinder. Sie hibbelten aufgeregt auf ihren Stühlen herum und baten die Erwachsenen um sie herum, ihnen ihre Schüsseln zu füllen. Schon aus Gewohnheit warteten wir alle, bis meine Mutter unserem Vater seine gefüllt und sich selbst genommen hatte. Erst dann taten Noemí, Lázaro, Jonathan und ich den Kindern auf. Wie die Möwen fielen sie über die Beilagen her. Es war ein Wunder, dass nicht das meiste Essen auf dem Tisch, sondern tatsächlich in ihren Schüsseln landete. Als alle mit Essen versorgt waren, wurde es für einen kurzen Moment still, bis unsere Mutter Lázaro in ein Gespräch darüber verwickelte, dass sie ihn in den nächsten Wochen im Garten brauchten. Vater dagegen hatte mit seinen Adleraugen erspäht, dass Domingo seine freie Hand nicht auf dem Tisch behielt und wies ihn zurecht. Jonathan langte an seiner Frau vorbei, die versuchte, Essen in den staunenden Luis zu verfrachten, und legte das Händchen mit einer freundlichen Ermahnung zurück auf den Tisch. Milagros und Alfonso redeten etwas miteinander, dass nur sie verstanden. Vor ein paar Jahren hatten sie damit angefangen und noch heute verstand keiner ihre Geheimsprache. Wobei ich mir sicher war, dass Jonathan und Noemí zumindest eine grobe Ahnung hatten, worum es ging. Jimeno schlapperte und ich half ihm, es wegzuwischen. Dann verwickelte ich ihn in ein Gespräch über die Vorschule. Oder besser: Ich fragte, wie es ihm gefiel und er erzählte mir alles, was nur im entferntesten damit zusammenhing. Irgendwann stiegen auch die Zwillinge in das Gespräch ein und erzählten über ihre Zeit in Vorschule und Kindergarten. Da sie dabei quer über den Tisch schreien mussten, dauerte es nicht lange, bis sich alle auf das Thema geeinigt hatten und wir irgendwann auch beim Thema Schule landeten.   Als die Kinder langsam unruhig wurden, ebbte auch das Gespräch für einen Moment ab. Noemí und Jonathan standen gemeinsam mit den Kindern auf, um den beiden Jüngsten beim Waschen zu helfen und Luis ins Bett zu bringen. Da er noch so klein war, ging das zum Glück sehr schnell. Die anderen Kinder durften noch ein wenig wachbleiben und sich wahlweise im Wohnzimmer oder ihren Kinderzimmern beschäftigen. Als meine Schwester zurückkam, ergriff ich die Gelegenheit: »Jimeno kommt doch nächstes Jahr in die Schule, oder? Habt ihr euch da schon Gedanken gemacht?« Sie lehnte sich etwas zurück und sah mich verwundert an. »Nicht wirklich. Er wird auf dieselbe Schule gehen wir Milagros und Alfonso. Warum fragst du?« »Erinnerst du dich noch an den Kumpel, der öfter auf die Kinder seines Bruders aufpasst.« Sie überlegt kurz und nickte dann. »Der Sohn ist etwa in Jimenos Alter. Er hat mir mal erzählt, dass er nicht in die Schule möchte, weil er dort nur Englisch sprechen darf.« »Was interessieren dich die Kinder anderer Familien?«, mischte sich mein Vater missmutig ein. »Kümmer dich lieber um deine eigene Familie! Domingo erkennt dich nicht mehr, möchtest du, dass es mit Luis genauso wird?« »Vater«, versuchte Noemí, ihn zu beschwichtigen. »Du lässt uns hier im Stich, machst dir ein schönes Leben und mischt dich lieber bei anderen Familien ein!«, ging er darauf überhaupt nicht ein. Ich atmete tief durch. Ich hatte damit gerechnet, dass irgendwann seine Wut darüber durchkommen würde, dass ich nach Boston gezogen war. In seinen Augen hatte ich die Familie im Stich gelassen und meine Pflichten als ältester Sohn vernachlässigt. Damals, als ich zur Army ging, war er stolz auf mich, ich tat etwas für unser Land. Nun trat ich in seinen Augen die Flucht an. Womit er nicht unbedingt unrecht hatte. »Ich hatte meine Gründe. Und danke der Nachfrage, mir geht es sehr gut in Boston. Ich habe unter meinen Arbeitskollegen sogar neue Freunde gefunden. Dennoch vermisse ich meine Heimat.« »Gründe«, schnaubte er. »Vor deiner Frau läufst du weg! Statt ihr wie ein Mann klarzumachen, wo ihr Platz ist. Dass ich sowas noch erleben muss! Mein Sohn kuscht vor einer Frau. Wo soll das nur hinführen?« »Vater!«, mischte sich Lázaro energisch ein. »Die Gründe, warum sich Esther von Eloy scheiden lässt, gehen uns nichts an!« »Verteidigst du jetzt auch noch deinen feigen Bruder?« »Lieber sehe ich Eloy nur einmal im Jahr, aber dafür glücklich, als zu wissen, dass er eine Ehe aufrecht erhält, die weder ihm noch Esther Freude bereitet.« Noemí pflichtete unserem Bruder mit einem ernsten Kopfnicken bei. Mutter legte Vater die Hand auf den Arm, doch er zog ihn energisch weg und stand auf. »Macht doch alle, was ihr wollt! Hier hört doch sowieso niemand mehr auf mich.« »Ich geh ihn mal beruhigen«, erklärte Mutter und folgte ihm. An der Tür blieb kurz sie stehen und lächelte mich an. »Ich freue mich, dass du dich so gut eingelebt hast, auch wenn ich dich lieber in unserer Nähe wüsste. Wir sehen uns morgen früh. Buenas noches.« Wir wünschten ihr ebenfalls eine gute Nacht. Noemí atmete hörbar durch und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, ich hätte dich vorwarnen sollen, dass er noch immer nicht darüber weg ist.« »Ist schon gut. Ich hatte damit gerechnet, dass er es nochmal zum Thema machen würde. Spätestens bei seiner Begrüßung. Ich hoffe, dass ich das in den nächsten Tagen noch klären kann.« »Das wird euch beiden guttun.« Sie drückte noch einmal mit der Hand zu und setzte sich dann wieder aufrecht hin. »Warum ist das so ein Problem für den Jungen, wenn er nur Englisch sprechen darf?« »Mein Kumpel hat erzählt, dass die Mutter Kanadierin ist und der Junge früher häufig mit ihr nach Kanada geflogen ist, weil sie zum Teil noch dort arbeitet und wohnt. Für ihn ist es sein zweites Zuhause. Jetzt muss er aber wegen der Vorschule in Boston bleiben und kann nicht mehr mit.« Immerhin hatte mich Mat beruhigen können, dass die Eltern der Kinder nicht geschieden, sondern nur beruflich viel unterwegs waren. »Er verliert damit also nicht nur ein Zuhause, sondern auch etwas, was er damit verbindet«, schlussfolgerte Noemí und sah mich mit einem traurigen Lächeln an, während sie mir kurz über die Wange strich. »Uff, das ist echt hart. Wenn ich überlege, ich müsste meine Muttersprache aufgeben, fände ich das auch nicht schön«, bestätigte mein Bruder und rutschte ein paar Plätze auf, bis er uns gegenüber saß. »Du suchst also eine Alternative, damit er weiterhin seine Muttersprache sprechen kann?« »Ich suche eher eine Alternative, damit er sich auf die Schule freuen kann. So wie es sich für ein Vorschulkind gehört.« »Weißt du denn, ob es in Boston Grundschulen gibt, die Sprachkurse anbieten? Es ist zwar nicht ganz dasselbe, aber vielleicht würde das schon reichen?«, schlug Noemí vor. Ich zuckte die Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Maxime Spaß daran hätte, in einem Kurs zu sitzen, in dem andere gerade einmal die Grundlagen der Sprache lernten. Andererseits: Vielleicht hätte er Spaß daran, ihnen das beizubringen. Immerhin hatte er das in den letzten Wochen auch bei Chico versucht. »Man kann sicher mal mit ihm darüber reden. Aber ob es so etwas in Boston gibt, weiß ich nicht. Ich hab mich nicht wirklich damit beschäftigt. Es ist mir nur eingefallen, als Jimeno so begeistert von der Vorschule erzählt hat.« »Ein Kommilitone hat seinen High School-Abschluss an einer internationalen Schule gemacht. Da kommen viele unterschiedliche Nationalitäten zusammen. Vielleicht wäre das ja etwas? Ich weiß nur nicht, ob es sowas auf für Grundschulen gibt«, warf mein Bruder als Idee in den Raum. »In El Paso?«, fragte Noemí erstaunt. »Oder in Fort Bliss? Dort soll es eine deutsche Schule geben.« Lázaro lachte. »Nein, irgendwo in Kalifornien. Aber vielleicht gibt es sowas auch woanders. Ich kann ihn mal morgen anrufen, wenn es dich interessiert.« Ich lehnte schnell ab. »Das ist lieb und das klingt wirklich nach etwas, was für den Jungen spannend sein könnte, aber dafür müsste ich erstmal mit seinem Onkel sprechen.« »Warum mit dem Onkel?« »Der Vater und ich ... wir haben kein sonderlich gutes Verhältnis. Er würde mir sicher nicht zuhören. Aber der Onkel, er ist sehr bemüht um die Kinder, er würde sicher zuhören. Und soweit ich das mitbekomme, hört der Vater auf ihn.« »Haha, er kommt wohl mit deinem Temperament nicht klar«, neckte mein Bruder. »Kann gut sein«, ging ich nur halbherzig auf die Provokation ein. »Tun irgendwie viele nicht.« »Wenn wir schon mal unter uns sind: Erzähl doch mal ein wenig von Boston. Vielleicht kommen wir dich ja demnächst mal besuchen, wenn du möchtest«, schlug Noemí vor. Sie hatte schon immer das Talent, Lázaros und meine Neckereien zu ignorieren. »Ich hab doch nur zwei Zimmer in meiner Wohnung. Da passt ihr niemals alle rein«, erwiderte ich grinsend. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich Besuch von ihnen wollte. Ich würde so vieles vor ihnen verstecken müssen. Dennoch erzählte ich ihnen ein wenig über mein Leben in Boston, wobei ich Mat nie explizit erwähnte. Sie sollten ruhig glauben, ›der Onkel‹ sei einer meiner Kollegen. Zum Glück war Jonathan so freundlich uns die Kinder vom Hals zu halten und brachte sie nach und nach ins Bett, sodass wir Geschwister Zeit hatten, uns mal wieder allein zu unterhalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)