Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 1: Erster Schultag -------------------------- Die ersten warmen Strahlen des Tages schienen durch mein Fenster. Tief seufzte ich, zog mir die Decke über den Kopf. Nur noch ein paar Minuten schlaf. Bitte. Doch mein Wecker war nicht auf meiner Seite, verhöhnte mich mit seinem nervigen Klingeln. Ich stellte ihn aus, setzte mich und rieb mir den verspannten Nacken. Wie immer schlief ich unruhig in der Nacht. Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Die Wände weiß, das Zimmer minimalistisch eingerichtet. Mein Bett, ein Schreibtisch auf dem mein Laptop und eine Lampe stand, Drehstuhl, Kleiderschrank und ein großer Spiegel. Das wars. Naja, wenn man von den drei Umzugskartons absah, die mit einem Laken abgedeckt hinter meinem Spiegel standen. Ein Seufzer kam über mich und ich schlug die Decke zur Seite, um mich für die Schule fertig zu machen. Ich ging ins Bad und stieg unter die Dusche. Meine schwarzen Haare ließen sich, wie immer, nicht bändigen. Sie standen zu allen Seiten ab, aber irgendwie mochte ich es. Wenigstens eine Sache, die sich nie ändern würde. Als ich fertig war, zog ich mich an und sah noch einmal kurz in den Spiegel. Meine Schuluniform bestand aus einer schwarzen Hose mit dazu passender Jacke, auf dem das Schulwappen prangte. Ein roter Drache auf gelbem Grund. Dazu ein weißes Hemd und eine Krawatte, ebenfalls mit dem Wappen der Schule. Letztere hasste ich wie die Pest. Wie soll man mit dem Ding richtig Luft bekommen? Ich band sie mir deshalb nur sehr locker um, und hoffte, die Lehrer würde es nicht stören. Meine Umhängetasche für die Schule schnappte ich mir und ging die Treppe runter zur Küche. „Hey, mein Junge, gut geschlafen?“ hörte ich eine gut gelaunte Stimme. Irritiert sah ich in die Küche, aus der sie kam. Mein Vater stellte gerade einen Teller ab und winkte mich lächelnd zu sich. „Na komm schon. Lass und zusammen frühstücken, bevor du in die Schule gehst.“ „Auf einmal?“ fragte ich skeptisch. Er überhörte es und nahm Platz, also setzte ich mich ebenfalls. „Warum die gute Laune?“ Er zuckte mit den Schultern. „Man fängt nicht so oft in einer neuen Schule an, oder?“ Ich schnaubte, stocherte missmutig in meinem Essen. „Hatte ich eine Wahl?“ Obwohl ich leise sprach, wusste ich, dass er mich verstanden haben muss. Doch wieder überhörte er es. „Die neue Uniform steht dir“ versuchte er mich aufzumuntern. „Mhm.“ Er seufzte. „Yusei, du weißt, warum wir umziehen mussten. Meine neue Stelle bringt uns etwas mehr Geld ein, was wir auch brauchen.“ Nein, rede dir nicht ein, dass das der einzige Grund war. Ich hatte einen Nebenjob in der Werkstatt, wir hätten das auch ohne die neue Stelle geschafft. Du weißt, warum wir wirklich weg von alldem sind. Das hätte ich ihm gern gesagt. Stattdessen schwieg ich. Er drehte sich um, um den Teller in die Maschine zu stellen, dabei sagte er fast schon gezwungen beiläufig: „Sag mal, hat sich Kalin mal wieder gemeldet?“ Der Griff um die Gabel in meiner Hand wurde fester. Er war mein bester Freund in Osaka und ich vermisste ihn schrecklich. „Ja. Er ist jetzt der neue Kapitän und es läuft wohl ganz gut mit dem Team.“ Ich hatte es endlich geschafft, mir das Frühstück reinzuzwingen. „Ich muss los“ sagte ich deshalb und stand auf, um mir die Tasche zu schnappen. „Soll ich dich hinfahren?“ „Nein, schon gut ich nehme das Motorrad“ antwortete ich schnell, ehe er mir widersprechen konnte und ging zur Tür raus. Er mochte es nicht, wenn ich damit fuhr. Er fand es immer zu gefährlich. Vor allem in letzter Zeit versuchte er ständig es mir auszureden. Aber es ist eines der wenigen Dinge, die ich aus meinem alten Leben hatte, ich wollte das nicht auch noch verlieren. Außerdem hatte ich zwei Jahre gebraucht um es zu restaurieren. Vorher war es nur ein Haufen Schrott. Die Straße war herrlich frei trotz der Uhrzeit. Ich genoss das Gefühl des Windes in meinem Gesicht und der Sonne, die mich wärmte. Ich liebte die Schnelligkeit, mit der ich über die Straßen von Neo Domino fahren konnte. Ich gebe zu, das ist ein Pluspunkt gegenüber Osaka. Die Schule war nicht sehr weit entfernt, ich brauchte nur 15 Minuten. Ich fuhr mein Motorrad auf den Parkplatz vor der Schule und nahm den Helm ab. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der auf diesem Weg in die Schule gelangte. Hier standen ein paar wirklich schöne Maschinen herum. Ich betrachtete den Ort, an dem ich mein letztes Jahr in der Oberstufe verbringen würde. Das Schuljahr hatte schon vor einigen Wochen begonnen, also wäre ich wieder der Neue. Ich seufzte. Wirklich Lust auf neue Freunde hatte ich nicht. Ich wollte nur meine Alten wiedersehen. Neben mir lief eine kleine Gruppe Mädchen vorbei. Als sie mich sahen, fingen sie an zu tuscheln und zu kichern. Vermutlich erster Jahrgang. Langsam ging ich ins Gebäude und sah mich um. Wo ist das verflixte Direktorat? „Hey, du musst neu hier sein, kann ich dir helfen?“ ertönte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah in die bernsteinfarbenen Augen eines rothaarigen Mädchens. Sie trug die gleiche Uniform wie ich, nur hatte sie statt der Hose einen Rock an, der vermutlich nicht standardmäßig so kurz war. Mit einem höflichen Lächeln und einem leichten Rotschimmer auf ihren Wangen wartete sie auf meine Antwort und legte den Kopf schief. Sie war wirklich niedlich. „Ja, weißt du wo ich den Direktor finden kann?“ „Direktor Crowler? Sicher, der ist die Treppe hoch und dann rechts den Gang entlang. Dritte oder vierte Tür auf der linken Seite, ist ausgeschildert. Ich bin übrigens Aki Izayoi aus der 2B, freut mich dich kennenzulernen!“ Schade, ein Jahrgang unter mir. Wäre schön gewesen, zumindest jemanden aus meiner Klasse zu kennen. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. „Mein Name ist Yusei Fudo, freut mich ebenfalls. Und Danke.“ An der Tür angekommen, klopfte ich und wurde hereingebeten. Es war ein typisches Zimmer für den Direktor einer Schule. Die Wände waren voll mit Aktenschränken und Bücherregalen, sowie Auszeichnungen für akademische Leistungen vergangener Jahrgänge. In der Mitte des Raums stand ein großer Schreibtisch, hinter dem ein langer, dünner Typ mit blondem Pferdeschwanz saß. Plötzlich hallte seine schrille Stimme durch den Raum. „Ah Willkommen, willkommen! Du musst Yusei Fudo sein. Setz dich doch.“ Damit deutete er auf einen der beiden Stühle vor dem Tisch. Während ich mich setzte, holte er eine schmale Akte von einer Ablage hinter ihm, setzte sich und blätterte sie durch. „Also Fudo-kun, du hast hervorragende Noten und ausgezeichnete Bewertungen aus den Klubs in Osaka. Wie ich sehe, warst du Kapitän der dortigen Fußballmannschaft, ist das richtig?“ Ich nickte. „Nun, wir haben ebenfalls ein gutes Team an der Schule, vielleicht willst du dich ja mal vorstellen." Nein danke. Ich hatte ein Team, wieso sollte ich mir ein Neues suchen? Das kam mir wie Verrat vor. „Nein, ich wollte noch keinem neuen Klub beitreten“ antwortete ich stattdessen wahrheitsgemäß. Er stutzte. „Schade. Nun, wie dem auch sei, hier ist dein Stundenplan. Deine Bücher hast du sicher bereits?“ Wieder nickte ich und nahm den Zettel an mich. Es klingelte. Verdammt, bin ich wirklich so spät dran? „Oh, der Unterricht beginnt bereits, nun aber husch, husch in die Klasse! Ich begleite dich noch bis zu deinem Klassenzimmer!“ Während wir die Gänge entlangliefen, schwafelte der Kerl mich über die Geschichte dieser Schule zu. Das Gerede war nicht mehr als ein Rauschen im Hintergrund, stattdessen betrachtete ich den Stundenplan in meiner Hand. Ich hatte gleich Mathe, Klasse 3C, bei Sensei Flannigan. Wir waren angekommen. Crowler machte die Tür auf, schob mich rein und ließ mich dann völlig perplex vor der Klasse direkt neben der Lehrerin stehen. „Sensei Flannigan, das ist Ihr Neuzugang, viel Spaß!“ sagte er noch, bevor er die Tür wieder zuschlug. Was war das denn? Die Lehrerin klatschte einmal in die Hände, während sie mich euphorisch anlächelte. „So, ein paar Minuten zu spät, ich hoffe das wird nicht zur Gewohnheit. Freut mich dich in unserer Klasse willkommen zu heißen! Willst du dich kurz selbst vorstellen?“ „Ähm, sicher.“ Ich drehte mich zu den neugierigen Augen meiner neuen Klasse. Was sollte ich jetzt sagen? „Mein… Name ist Yusei Fudo und ich bin vor ein paar Tagen aus Osaka hergezogen.“ „Na schön, dann Willkommen in Neo Domino Fudo-kun. Da hinten ist noch ein freier Platz, ich hoffe du hängst im Stoff nicht zu sehr hinterher.“ In der vorletzten Reihe sah ich einen freien Tisch am Fenster und ging darauf zu. Als ich mich setzte um meinen Notizblock, sowie das Mathebuch und ein paar Stifte rauszuholen, galten die Blicke meiner Mitschüler noch immer mir. Ich versuchte stur auf die Tafel zu sehen, an der die Lehrerin gerade eine Gleichung schrieb. Langsam drehten sich auch die Köpfe der anderen um, bis auf einen ziemlich großen Jungen, mit kurzen, blonden Haaren. Er saß schräg vor mir und kümmerte sich nicht um den Unterricht. Ich starrte zurück und endlich wanderten auch seine Augen wieder nach vorn. Von wegen ‚Ich hoffe du hängst im Stoff nicht zu sehr hinterher‘. Den Stoff, den sie an die Tafel schrieb, hatten wir bereits am Ende unseres zweiten Jahres. Ich versuchte ihr trotzdem zu folgen, doch nach einer Weile stütze ich den Kopf auf meiner Hand ab und mein Blick schweifte aus dem Fenster. Unten auf dem Platz hatte eine andere Klasse Sport. Ich erkannte den Rotschopf wieder, der gerade ein Paar Aufwärmrunden lief. Wie war ihr Name? Aki, glaube ich. Der Platz sah sehr gepflegt aus. Um das große Rasenstück führte eine Leichtathletikstrecke und dahinter konnte man einige Sandbahnen sehen. Um diesen Platz waren teilweise Tribünen aufgebaut. Ein Knall riss mich aus meinem Gedanken und ich zuckte zusammen. Ich war anscheinend nicht der Einzige, der geträumt hatte. Der Junge mit dem wilden, orangefarbenem Haar rechts neben mir ist gerade von seinem Stuhl gefallen und der Rest der Klasse lachte. Sensei Flannigan hatte ihr Lineal auf dem Tisch aufschlagen lassen und blickte wütend auf die Stelle, an der der Junge sich hochzog, um sich wieder zu setzen. „Hogan-kun, wie oft habe ich dir schon gesagt du sollst in meinem Unterricht nicht schlafen? Und du!“ Damit zeigte sie auf mich und nahm ein Stück Kreide. „Für dich scheint das alles Wiederholungsstoff zu sein, also komm doch bitte nach vorn und löse die Gleichung an der Tafel!“ Ich schluckte und hörte das Getuschel einiger Schüler. Zögerlich stand ich auf und ging nach vorn. Währenddessen musste ich mir die Gleichung selbst einmal ansehen, da ich wirklich nicht zugehört hatte. An der Tafel angekommen nahm ich das mir gereichte Stück Kreide und schrieb, ohne zu zögern, den Lösungsweg samt Lösung daneben. Ein Raunen ging durch die Klasse und ich hörte das Getippe auf den Taschenrechnern. Die Lehrerin sah mich verwundert an. Hab ich was falsch gemacht? Die Lösung ist doch richtig. „Kann ich mich wieder setzen?“ fragte ich. Als sie nickte, legte ich das Stück Kreide wieder hin und ging zu meinem Platz. „Streber“ hörte ich es neben mir grummeln. Ich war mir sicher, das kam von diesem orangefarbenen Igelkopf, und ignorierte ihn. Einige Zeit später hörte ich endlich das erlösende Klingeln und holte meinen Stundenplan wieder hervor. „Wir haben jetzt Japanisch bei Sensei Banner, hier im Klassenzimmer, also musst du den Raum vor Sport in der Dritten nicht verlassen“ hörte ich eine Stimme. Ich sah auf, zu einem Mädchen mit langen, blonden Haaren und nussbraunen Augen, die ebenfalls auf den Zettel in meiner Hand blickte. Zwischen ihrem Gesicht und meinem lagen nur wenige Zentimeter. Dafür, dass ich sie nicht kenne, kommt sie mir ganz schön nah. Ich bemerkte auch die kleine Traube an Mädchen aus meiner Klasse, die sich um meinen Tisch gebildet hatte. Die Blondine stellte sich als Alexis Rhodes vor. Ihre zwei Freundinnen zu meiner Rechten waren Luna und Mizuki. Als ich an ihnen vorbei sah, blickten mich einige Jungs, darunter auch der lange Blonde und der Igelkopf, missmutig an. Hatte ich mir etwa jetzt schon Feinde gemacht? Wie? Währenddessen schnatterten meine Mitschülerinnen munter weiter, doch ich war zu abgelenkt und bekam nur die Hälfte der Namen mit. „Wie ist es denn in Osaka?“ fragte mich eine kleine Braunhaarige. Ich glaube ihr Name war Anzu. „Ähm… ganz schön, ich habe gern dort gelebt.“ „Und warum seid ihr dann umgezogen?“ Die Antwort auf diese Frage ließ mich verstummen. Ich hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. „Jobwechsel“ antwortete ich kühl und entschuldigte mich, um aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich wollte nur allein sein, verdammt! Mein Atem wurde immer hektischer. Nicht schon wieder! Ich ging ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um die aufkommende Panik zu unterdrücken. Ich biss die Zähne zusammen, stützte mich mit den Armen am Waschbecken ab und hielt es dabei so fest, dass meine Knöchel weiß wurden. Ich versuchte angestrengt meine Atmung zu kontrollieren. Was ist nur los mit mir? In letzter Zeit hatte ich das ständig. „Alles in Ordnung?“ hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich schnappte nach Luft und wirbelte herum. Vor mir stand ein Junge, etwas kleiner als ich. Seine kastanienbraunen Augen waren so warm. Ich hätte mich in seinem besorgten, weichen Blick verlieren können. Tatsächlich bemerkte ich, wie mein Atem ruhiger wurde. Anscheinend war es vorbei. Es dauerte, ehe ich meine Stimme wiederfand. „J- Ja, es geht schon, mir … ist nur etwas übel.“ Er kam ein paar Schritte auf mich zu. Ich spürte, wie mein Herz einen Satz machte. Warum? Ob es doch noch nicht vorbei ist? Ruhig bleiben. Atmen. Er war mir schon ganz nah, als er seine Hand auf meine Stirn legte. Ich ging einen Schritt zurück, stieß mit dem Rücken gegen das Waschbecken und hielt mich daran fest. Was macht der Kerl da? Wieder sah ich hinab in diese warmen Augen und mein Herz legte noch einmal an Tempo zu. Langsam tat es weh, so wie es gegen meine Rippen hämmerte. „Ich glaub du hast Fieber, soll ich dich ins Krankenzimmer begleiten?“ sagte er und schaute mich noch immer besorgt an. „Nein“ sagte ich langsam und schüttelte dezent den Kopf. „Nein, ich schaff das schon allein.“ Sein Gesicht erhellte sich. „Ach was! Komm schon, du bist neu hier, oder? Ich hab dich noch nie gesehen.“ Er packte mein Handgelenk und zog mich zum Ausgang. Völlig verwirrt, und mit wackligen Beinen folgte ich ihm wie ferngesteuert Richtung Krankenzimmer. Auf dem Weg dahin stellte er sich als Jaden Yuki vor. Er ging in die 11A. Am Ziel angekommen, ließ er endlich von meinem Arm ab und öffnete die Tür. „Martha!“ rief er. „Hey Martha, der Neue fühlt sich nicht wohl!“ Da ratterte es bei ihm. Er drehte sich zu mir und ich schreckte kurz zurück. „Du hast mir noch gar nicht gesagt wie du heißt!“ sagte er und zog eine Augenbraue hoch. Ehe ich antworten konnte, kam eine etwas ältere Frau mit fast schwarzen, langen Haaren um die Ecke, legte die Hände in die Hüften und maßregelte den Jungen. „Yuki-kun, jetzt brüll doch nicht so herum, hier brauchen ein paar Schüler Ruhe!“ Ihr Blick war streng, doch als ihre Augen zu mir wanderten, wurde ihr Gesicht wieder weich und herzlich. „Dich habe ich hier noch nie gesehen, du musst neu sein. Oder sonst bei bester Gesundheit. Was fehlt dir denn, Junge?“ Bevor ich jedoch antworten konnte, übernahm das Jaden für mich. „Ich hab ihn im Bad kennengelernt. Er war erst kreidebleich und hat dann Fieber bekommen.“ Martha musterte mich. „Hat denn der Schüler, der anscheinend keine eigene Stimme hat-“ In dem Augenblick sah sie Jaden an, bevor sie wieder mit mir sprach. „auch einen Namen?“ „Yusei Fudo.“ Sie lächelte. „Ein schöner Name. Na komm, leg dich auf ein freies Bett, dann untersuche ich dich. Bei welchem Lehrer hast du denn jetzt Unterricht?“ Ich setzte mich in Bewegung und versuchte mich an den Namen zu erinnern. Alexis hatte ihn mir extra noch gesagt, dann fiel er mir wieder ein. „Sensei Banner.“ Sie nickte und ging wieder zu Jaden, der, warum auch immer, noch im Türrahmen stand, um ihm irgendetwas zu sagen. Dann verschwand er, nachdem er mir kurz gewunken hatte. Wieder machte mein Herz einen Satz. Sein Lächeln war dabei so ehrlich und herzlich. Martha kam wieder auf mich zu, zog die Vorhänge zurecht, sodass uns niemand sah und bat mich meinen Oberkörper frei zu machen, um mich abhören zu können. Im Hintergrund hörte ich das Schellen der Klingel. Sie schaute mir vorher in den Rachen und legte mir ein Thermometer in den Mund. Als sie fertig war, zog ich mich wieder an. „Also deine Vitalwerte sind sehr gut, auch deine Temperatur ist in Ordnung. Allerdings bist du wirklich etwas blass. Bis zum Ende der Stunde kannst du dich etwas hinlegen, dann fühlst du dich gleich besser.“ Ich nickte, schließlich hatte ich seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen. Vermutlich war ich wirklich nur erschöpft. Tatsächlich döste ich ein, bis die Schulklingel mich wieder weckte. Ich fühlte mich etwas gerädert, doch besser als vorher. Vermutlich war ich wirklich nur müde. Ich bedankte mich bei Martha und lief zurück in das leere Klassenzimmer. Wir hatten jetzt eine Doppelstunde Sport. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und rannte raus, um pünktlich zu sein. Ich hatte zwar nicht erwartet am ersten Tag gleich Sport zu haben, und deswegen hatte ich auch keine Wechselsachen dabei, doch wollte ich zumindest nicht zu spät kommen. Auf dem Sportplatz angekommen sah ich den Lehrer. Verdammt, wie war sein Name? „Sensei Ushio?“ fragte eine Stimme. Sie kam von dem Orangehaarigen. Der Lehrer drehte sich zu ihm als der Junge, beladen mit Hütchen, weitersprach. „Wohin damit?“ „Verteil sie da hinten! So wie in der letzten Stunde!“ antwortete der dunkelhaarige Mann mit der Narbe im Gesicht. Dieser Hogan rauschte genervt ab als er mich sah. Was zum Teufel hat er gegen mich? Wir haben nicht mal ein einziges Wort miteinander gewechselt! Der Lehrer starrte mich an. „Hey du, wer bist du und warum bist du noch nicht umgezogen?“ „Ich bin Yusei Fudo. Ich habe leider meine Sportklamotten nicht mit“ sagte ich, wobei ich bei meinen letzten Worten etwas kleinlaut wurde. Der Typ stöhnte genervt. „Dann leih dir welche beim Zeugwart, der sollte deine Größe noch haben. Wenn du zu spät kommst, lass ich dich fünf Strafrunden laufen! Du hast noch neun Minuten!“ Dann pfiff er in seine Pfeife und erwartete vermutlich, dass ich zum Zeugwart renne. Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo zum Teufel der steckte. „Wird’s heute noch?“ fragte er und funkelte mich wütend an. „Kann ich helfen?“ ertönte eine Stimme hinter mir. Es war Alexis. Endlich ein freundliches Gesicht. „Ja, ich habe meine Sportsachen vergessen, kannst du mir zeigen wo ich mir welche leihen kann?“ Sie nickte. „Klar, folge mir!“ Zügig gingen wir vom Platz. Hinter mir hörte ich die Stimme von Sensei Ushio. „Acht Minuten!“ Der Kerl geht mir jetzt schon auf den Keks. „Da hinten!“ sagte Alexis. „Dort kannst du dir die Sachen ausleihen, und dort drüben sind die Umkleiden. Also, bis gleich!“ Sie schenkte mir noch ein Lächeln, hob die Hand und rannte wieder auf den Platz. Langsam musste ich mich beeilen. Ich holte mir die Klamotten und zog mich um. In letzter Sekunde schaffte ich es pünktlich auf den Platz. Zumindest die Strafrunden blieben mir erspart. Nach zwei Runden zur Erwärmung gingen die Mädchen zu einer anderen Trainerin und wir hatten weiterhin diesen Sensei Ushio. Da hier wohl bald ein Zehnkampf stattfand, trainierten alle Schüler in den unterschiedlichen Disziplinen für den Wettbewerb. Heute waren es Weitsprung und Hundertmeterlauf. Beim Weitsprung schaffte ich es zumindest in die Top drei der Klasse. Das brachte mir schon wieder diese feindseligen Blicke dieser beiden Jungs ein. Wenn sie ein Problem mit mir haben, könnten sie auch einfach auf mich zugehen, aber nein. Stattdessen veranstalten die hier so einen Kindergarten. Beim Hundertmeterlauf startete ich natürlich unbedingt gegen diesen orangehaarigen Sturkopf. „Auf die Plätze!“ schrie der Trainer. Mein Kontrahent sah noch einmal zu den Mädchen und grinste. Was soll das, müsste der sich nicht konzentrieren? „Fertig!... Los!“ Der Pfiff ertönte und wir rannten los. Er ist schnell, das muss ich zugeben, aber ich habe nicht vor gegen diesen Sturkopf zu verlieren. Wir rannten über die Ziellinie, der Trainer stoppte die Zeit. Es war eng, aber den Zweikampf hatte ich gewonnen. Als ich meine Atmung langsam wieder unter Kontrolle hatte, reichte ich ihm meine Hand. Das war eine Frage des Respekts. Er sah mich an, ebenfalls außer Atem, knurrte und schlug kurz ein. Dann ging er zu seinen Freunden. War das jetzt ein Erfolg oder hasste er mich nun noch mehr? Ich hörte die Stimmen unserer Mitschülerinnen. „Gut gemacht, Fudo-kun! Crow hat bisher noch niemand im Sprint geschlagen!“ Damit hatte ich wohl meine Antwort. Anscheinend sah er mich als Bedrohung. Klasse. In der Mittagspause ging ich zu den Tribünen und setzte mich in die vierte Reihe von unten. Ich wollte mich zurückziehen und die Spannung zwischen mir und den beiden Spinnern nicht weiter ausbauen. Anscheinend waren der lange Blonde und dieser Crow so etwas wie die Anführer der Gruppe. Da passte ich natürlich nicht ins Bild. Ich kannte Kerle wie die Beiden aus meiner alten Schule nur zu gut, auch Kalin war anfangs so. Aber da hatte ich mich ihnen gestellt, und wir wurden Freunde. Doch Lust auf so ein Theater hatte ich definitiv keine, zumal ich keine neuen Freundschaften schließen wollte. Ein Jahr Hass konnte ich aushalten, und bisher waren es nur die beiden. Nach dem Essen hatte ich noch zu viel Zeit, als dass ich ins Zimmer gehen konnte, also holte ich ein recht abgegriffenes Buch aus meiner Tasche heraus und las darin. „Wer sind Miako und Hakase?“ Erschrocken blickte ich zu der bekannten Stimme. „Aki“ sagte ich überrascht. Sie setzte sich zu mir. „Also?“ wollte sie wissen und legte ihren Kopf wieder schief. Ich seufzte. Sie hatte die Widmung auf dem Einband meines Buches gelesen. „Meine Eltern“ sagte ich knapp und machte Anstalten weiterzulesen. Darüber wollte ich wirklich nicht reden. Den Wink verstand sie wohl nicht. „Sie müssen sich wirklich lieben“ sagte sie und lächelte dabei. „Zum ersten Jahrestag an meine geliebte Miako. In ewiger Liebe, dein Hakase“ las sie laut vor. „Das ist echt süß!“ Mein Kiefer spannte sich an, mein Herz pochte wild. „Darüber will ich lieber nicht reden“ murmelte ich nur. „Verstehe. Entschuldige.“ Sie klang geknickt. Klar, war sie zu neugierig gewesen, aber sie hatte mich ja nicht absichtlich verärgern wollen. Ich seufze wieder und klappte das Buch zu. Traurig sah sie mich an. „Schon gut“ sagte ich. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht vor den Kopf stoßen.“ Das heiterte sie auf. Vorsichtig fragte sie weiter. „Worum geht’s denn in dem Buch? Das behandeln wir doch erst in der Uni, nicht?“ Ich blickte wieder auf den Einband. Shakespeares Hamlet. „Kann sein“ sagte ich und sah sie wieder an. „Es geht um einen Prinzen, Hamlet, der den Tod seines Vaters rächen, und den Thron von Claudius, seinem Onkel, zurückerobern will. Natürlich eine ziemliche Tragödie, bei der so ziemlich jede Hauptfigur am Ende stirbt.“ Aki zog die Augenbrauen zusammen. „Nicht sehr romantisch. Warum dann die Widmung?“ Ich schmunzelte. „Hamlet verliebt sich in die schöne Ophelia, doch ihre Liebe war verboten.“ „Das klingt doch schon eher nach Romeo und Julia. Was passiert mit ihr?“ Ich überlegte einen Moment wie ich es am besten beschreiben sollte. „Sie stirbt und Hamlet verfällt dem Wahnsinn“ sagte ich knapp. Bei dieser Ironie musste ich bitter lächeln. „Hm, stehst du auf solche alten Tragödien?“ „Nein, ich habe das Buch in einem unserer Umzugskartons gefunden. Ich habe es nur wegen der Widmung gelesen. Aber Hamlet ist ein interessanter Charakter.“ Sie fragte mich weiter über die Geschichte aus und ich musste ihr Rede und Antwort stehen. ~ Währenddessen ~ Unten auf dem Platz spielten ein paar Mitschüler Fußball. Am Rand standen zwei bekannte junge Männer. „Sieh dir diesen eingebildeten Fatzke an! Erst reißt er Alexis auf und dann auch noch Aki! Die zwei beliebtesten Mädchen aus ihren Jahrgängen. Dem geht’s wohl zu gut!“ sagte Crow, während er den Ball auf den Knien springen ließ und mich dabei fixierte. Der Ball fiel zu Boden und er drehte sich wütend zu seinem Freund. „Jetzt sag doch auch mal was, Jack!“ Dieser lachte nur. „Du bist doch nur eifersüchtig, weil du Alexis seit der Grundschule hinterherrennst und sie trotzdem ein Auge auf den Neuen geworfen hat!“ Zornesröte stieg Crow ins Gesicht. „Sag das nochmal, du Penner!“ Jack packte ihm am Kragen. „Nenn mich noch mal Penner, du Krähe!“ „Hey Jack, Crow!“ Die beiden drehten sich um und ließen voneinander ab. „Hey Jaden, was willst du denn schon hier? Das Training beginnt doch erst nach der Schule“ bemerkte Jack. „Ich weiß, aber ich muss euch noch dringend was sagen! Leo hat sich am Wochenende das Bein gebrochen. Bis zum Wettkampf ist er definitiv nicht fit.“ „Shit, dann müssen wir wohl mit Syrus vorliebnehmen“ sagte Crow. Jaden schüttelte den Kopf. „Der ist ausgestiegen. Zu wenig Zeit, zu viele Klubs.“ „Chazz?“ überlegte Jack. Jaden hob eine Augenbraue. „Der hat doch vor den Sommerferien die Oberstufe beendet und geht nicht mal mehr auf diese Schule. Ist dir das nicht aufgefallen?“ Er zuckte zur Antwort nur mit den Schultern. Entrüstet stöhnte der Orangehaarige auf. „Wo bekommen wir jetzt bitte in drei Wochen einen halbwegs akzeptablen Stürmer her?“ „Hey, Vorsicht!“ riefen einige vom Spielfeld. Der Ball flog in hohem Bogen zur Tribüne. ~ Auf der Tribüne ~ „Verstehe!“ sagte Aki und lächelte. Keine Ahnung ob sie das Ernst meint oder mich nur aufzieht. Da hörte ich einige Schüler schreien. Ich drehte mich in die Richtung, aus der der Ruf kam und sah eine Flanke direkt auf Aki zufliegen. Ziemlich guter Schuss, nur das Ziel wurde anscheinend verfehlt. Ich stand auf, nahm den Ball mit der Brust an, brachte ihn mit dem Knie in die richtige Position und schoss ihn Richtung Tor. Zu meiner Überraschung hielt der Torwart den Schuss nicht mal und er ging glatt rein. Aki folgte dem Ball mit ihren großen Augen. „Das war fantastisch!“ „Mhm“ sagte ich nur und sah auf die Uhr. „Wir sollten langsam wieder ins Gebäude zurück gehen.“ Sie nickte, ich packte meine Sachen zusammen und wir gingen gemeinsam die Tribüne runter, um zum Schulgebäude zurückzukehren. Plötzlich hörte ich von weitem eine bekannte Stimme. „Hey, Yusei!“ Mein Herz machte schon wieder einen Satz, als ich den braunhaarigen Jungen auf mich zu rennen sah. Geht das schon wieder los? Im Schlepptau hatte er meine beiden Lieblingsmitschüler. Kapitel 2: Krankenhaus ---------------------- Die letzten beiden Stunden vergingen tatsächlich wie im Flug, auch wenn ich das Gespräch in der Mittagspause nicht mehr aus dem Kopf bekam. Was ist in diese beiden gefahren, dass sie mich gebeten haben deren Team beizutreten? Naja, wirklich begeistert war nur Jaden. Beim Gedanken an ihn klopfte mein Herz wieder schneller. Seine Worte hallten mir immer noch im Ohr. „Bitte überleg es dir nochmal, bevor du ablehnst“. Ich bog mit dem Motorrad die Einfahrt zu unserem kleinen Haus ein und parkte es in der Garage. Als ich jedoch die Tür aufschloss, wartete dort lediglich ein Zettel auf mich. Hey mein Junge, ich wurde nochmal zur Arbeit gerufen, würdest du dich um den Einkauf kümmern? Ich bin heute Abend wieder daheim. Das Geld liegt auf dem Tisch. Natürlich, so wie bei seinem letzten Job auch. Ich sollte mich wieder daran gewöhnen, länger allein zu Haus zu sein. Ich schreibe vorher lieber noch die Notizen aus dem Japanisch Unterricht ab, die mir Alexis mitgegeben hat und erledige die Hausaufgaben. Ich ging nach oben auf mein Zimmer und startete den Laptop. Verwundert stellte ich fest, dass ich eine unbekannte E-Mail bekommen habe. Hey Yusei! Entschuldige mein Bruder hat mich schon fast erpresst, damit ich dir das hier schicke. - Alexis Darunter war noch ein Link. Was soll das denn? Ich klickte drauf und es leitete mich zu einem Live-Stream weiter. So wie es aussah, war es einer vom Fußballtraining. Im Hintergrund hörte man einige Stimmen, die Kamera war wirklich nicht die Beste. Ich konnte keinen der Spieler erkennen, dafür war das Bild zu unscharf. Durch die weißen Trikots mit der schwarzen Schrift konnte man aber zumindest die Zahlen erkennen. Eine weibliche Stimme konnte man plötzlich ganz deutlich raushören. Leider kannte ich sie nicht. „Hey, hier hat sich jemand zugeschaltet, ich glaube er sieht zu!“ Im nächsten Moment trat Alexis ins Bild und rückte die Kamera noch etwas zurecht, damit man wirklich das ganze Spielfeld sehen konnte. Dann lächelte sie mir entgegen. „Sorry für den Überfall Yusei, beschwer dich morgen bitte bei meinem Bruder, nicht bei mir. Er hat mich gebeten sicherzustellen, dass du dir zumindest ein Training ansiehst bevor du ablehnst.“ Damit trat sie beiseite und ich konnte die Spieler sehen. Es war eine Farce. Sie rannten herum wie ein Ameisenhaufen. Eine Strategie konnte man beim besten Willen nicht erkennen. Einige waren durchaus begabt, doch konnten absolut nicht im Team spielen. Die, die es konnten, hatten keine Ahnung von Technikspielzügen. Die Nummer 11 war die einzige Ausnahme. Seine Pässe saßen punktgenau und er animierte die anderen Spieler endlich zusammenzuarbeiten. Und wo war eigentlich der Trainer? Nach einer halben Stunde klappte ich den Laptop zu. Das war keine Mannschaft, sondern ein zusammengewürfelter Haufen von Angebern und Anfängern. Naja, bis auf diese eine Ausnahme. Das konnte nichts werden, die Zeit hätte ich mir sparen können. Endlich setzte ich mich an meine eigenen Aufgaben. Als ich fertig war sah ich auf die Uhr. Mist! Eilig rannte ich in die Küche, schnappte mir das Geld auf dem Tisch, prüfte nochmal den Kühlschrak und ging los. Das Motorrad konnte ich dieses Mal stehen lassen, schließlich war der Markt nur fünf Minuten zu Fuß entfernt. Schnell hatte ich alles Nötige beisammen, ging wieder Heim und bereitete das Abendessen vor. Das beanspruchte allerdings auch nicht sonderlich viel Zeit. Es war erst 19:30 Uhr. Wo bleibt mein Vater? Ob ich schon mal ohne ihn anfangen soll? Eine halbe Stunde wartete ich noch, dann aß ich ohne ihn eine Kleinigkeit und ging in die Garage. Wenn er ohnehin nicht da ist, kann ich auch nochmal kurz eine Runde drehen. ~Am nächsten Tag~ Ich machte mich fertig und ging wieder in die Küche. Er ist gestern nicht nach Hause gekommen. Langsam machte ich mir Sorgen. Ich wählte seine Nummer auf meinem Handy, doch es ging nur die Mailbox ran. Ich schluckte. Wiederholt sich jetzt alles? Langsam überkam mich wieder die Panik. Ich versuchte sie abzuschütteln, doch es war zwecklos. Wo ist er? Ich wählte wieder seine Nummer. Mailbox. Dann die Notfallnummer, die er mir gegeben hat. Es war die der Station, auf der er als Krankenpfleger arbeitete. „Krankenhaus Neo Domino, Kinderstation, Yuki am Apparat?” meldete sich eine weibliche Stimme. „Hallo, ist Hakase Fudo noch auf der Arbeit?“ fragte ich schnell. Stille trat ein. Dann endlich erklang wieder die Stimme der Frau. „Wer ist da bitte?“ „Sein Sohn, Yusei Fudo.“ Langsam wurde ich wieder nervös. Wieso dauert es so lange ehe sie antwortet? „Mein Lieber, hat dich gestern niemand informiert? Dein Vater hatte einen Rückfall…“ ~ In der Schule ~ „Hey, wo ist der Neue?“ fragte Crow. Alexis sah ihn an. „Yusei? Keine Ahnung, aber der Unterricht geht gleich los, und wenn er bei Sensei Flannigan wieder zu spät kommt, hat er sicher einiges an Extraaufgaben.“ Ein breites Grinsen legte sich auf Crows Gesicht und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Was grinst du so dümmlich? Warum kannst du ihn eigentlich nicht leiden?“ „Du meinst so wie die ganzen Mädels, die ihm am Rockzipfel hängen?“ Jack sah ihn mit einem Blick an, der fast schon ‚Halt die Klappe du Trottel‘ schrie. Alexis sah ihn mit demselben Blick an. „Bist du wirklich so krankhaft eifersüchtig? Ich hab ehrlich gesagt mehr von dir gehalten!“ Sie warf ihre Haare zurück und ging an ihren Platz, ehe es klingelte. Mit knirschenden Zähnen sah er ihr nach. Jack schüttelte nur ein wenig mitleidig den Kopf und drehte sich ebenfalls um, da die Lehrerin den Raum betrat. In der Pause kam Jaden in die Klasse. „Und?“ sagte er und sah sich um. „Wo ist er denn?“ „Kam heute nicht in den Unterricht“ sagte Crow mürrisch. „Schade“ kommentierte er nur und sah Alexis an. „Hast du ihm gestern den Stream geschickt?“ Sie nickte. „Aber er hat die E-Mail nur gelesen und nicht geantwortet. Im Stream selbst war er nur eine halbe Stunde, meinte Carly.“ Er seufzte. „Ja, war nicht unser bestes Training gestern, vermutlich wird er ablehnen.“ Er sah geknickt aus. Alexis schlug ihn gegen die Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken. „AU! Spinnst du?“ beschwerte er sich. Sie sah ihn ernst an. „Seit wann gibst du eigentlich so schnell auf, Brüderchen?“ Er rieb sich die schmerzende Schulter. „Schon gut. Schon gut. Du hast ja recht.“ Seine Augen begannen zu funkeln. „Ich muss wieder los, wir sehn uns später!“ Damit rannte er aus dem Zimmer. Jack sah ihm hinterher. „Ich fasse es nach wie vor nicht, dass ihr Geschwister seid.“ „Halbgeschwister“ korrigierte sie ihn neckisch. Es klingelte. Auch in der zweiten Stunde war Mathematik dran. Nach etwa fünf Minuten öffnete sich die Tür und ein schwarzhaariger Schüler betrat den Raum. „Fudo-kun, schön, dass du uns endlich mit deiner Anwesenheit beehrst!“ sagte sie ironisch. Ich ging auf sie zu, drückte ihr einen Zettel in die Hand und setzte mich dann, ohne ihre Reaktion abzuwarten, auf meinen Platz. Einige Schüler starrten mich an, als hätte ich eben ein Kapitalverbrechen begangen. Die Lehrerin sah mir wütend hinterher, doch ehe sie sich aufregen konnte, las sie sich den Zettel durch. Ihr Blick wurde weicher. Die Klasse war komplett angespannt, sie vermuteten anscheinend einen kommenden Wutausbruch, doch stattdessen steckte sie den Zettel in ihre Schublade und wandte sich wieder der Tafel zu. Einige geschockte Blicke wanderten im Wechsel von mir, zu Sensei Flannigan, als würden sie noch auf irgendeine Reaktion ihrerseits warten. Ich stützte wieder meinen Kopf auf die Hand und sah aus dem Fenster. Als es wieder klingelte packten alle die Sachen zusammen. Wir hatten jetzt eine Doppelstunde Schwimmunterricht. Ich stand auf und folgte den anderen, denn ich wusste nicht wohin ich gehen sollte. Immerhin die Schwimmsachen hatte ich heute mit. Auf dem Gang gesellten sich Jack und Alexis zu mir. Jack blickte noch einmal über seine Schulter zu Sensei Flannigan, die den Raum verließ. „Mann, was hattest du denn für eine Ausrede, dass du ohne Strafarbeiten oder Wutausbruch davongekommen bist?“ fragte er mich. Was will der Typ denn? „Kopfschmerzen“ antwortete ich knapp. Alexis stutzte „Ernsthaft? Als meine Mutter mir mal ein Attest wegen Kopfschmerzen geschrieben hat, warf sie es mir hinterher und verlangte einen 1000 Wörter Aufsatz über das aktuelle Thema von mir.“ Meine Güte, konnten die mich nicht einfach ignorieren? „Migräne“ verbesserte ich mich und hoffte sie würden es endlich dabei belassen. Jack schloss wieder zu Crow auf und Alexis bog mit einem besorgten Blick ab. Die Mädchen hatten wieder Sport und erst am Donnerstag im letzten Block Schwimmen. Endlich ließen mich alle in Ruhe. Wir zogen uns um und gingen zu den Schwimmbahnen. Da stand auch schon wieder dieser Sensei Ushio und brüllte ein paar der jüngeren Schüler an. Wie es aussieht haben hier mehrere Klassen gleichzeitig Unterricht. Wir setzten uns auf die Bänke. Zuerst folgte eine Ansprache, die ich kaum mitbekam. Ich starrte die ganze Zeit auf das spiegelglatte Wasser hinter dem Lehrer. Es war so ruhig. So friedlich. Ich hätte große Lust mich einfach in diesem Wasser zu ertränken. Ein Pfiff riss mich aus meinen Gedanken und der Lehrer rief einige Namen auf. Besagte Schüler standen auf, sprangen ins Wasser und machten sich warm. Plötzlich stellte sich eine Gestalt in mein Blickfeld. Was denn jetzt wieder? Als ich aufblickte, machte mein Herz einen Satz, denn ich sah wieder diese kastanienbraunen Augen, die mich erwartungsvoll anfunkelten. Sein Lächeln war aufrichtig und fröhlich. An was hatte ich bis eben eigentlich noch gedacht? Er stützte die Hände in die Hüfte und beugte sich zu mir runter, bis er nur eine Handbreit vor meinem Gesicht stoppte. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und mein Herz etwa doppelt so schnell schlug, als gesund gewesen wäre. Mein Körper wurde von einem Gefühl übermannt, dass ich lange nicht mehr spürte, aber ich konnte es nicht zuordnen. „Und?“ fragte er erwartungsvoll. „Hast du dich entschieden? Wie findest du unser Team?“ Ich brauchte einen Augenblick, ehe ich antworten konnte. Während er sprach, spürte ich seinen warmen Atem auf meiner Haut. Ich riss mich zusammen und versuchte seinem Blick auszuweichen, da bemerkte ich, wie sich nun auch Crow und Jack angeschlossen hatten. Mit Glück könnte ich die Gesichtsfarbe auf meine angebliche Migräne schieben. „Naja“ begann ich und war sehr darauf bedacht ihm nicht in die Augen zu sehen. „Ich hoffe ihr hattet gestern beim Training einfach nur einen verdammt miesen Tag.“ Meine beiden Mitschüler sahen mich verdutzt an, Jaden war endlich nicht mehr so nah an meinem Gesicht und lachte laut drauflos. Gott ist das ein ansteckendes Lachen. Ich musste schmunzeln und schielte wieder in seine Richtung. Jack zwang meinen Blick durch ein Räuspern wieder zu ihm. Auch der Jüngere hatte seinen Lachanfall wieder im Griff. „Was meinst du damit?“ wollte der lange Blonde wissen. Ich seufzte. Sie können mich ja ohnehin schon nicht leiden, da kann ich ihnen die Wahrheit auch gleich schonungslos sagen. „Was ihr braucht, ist nicht nur ein neuer Stürmer, sondern auch ein Trainer. Das Passspiel ist eine Katastrophe, euer Zusammenspiel kaum vorhanden und die Technik sitzt auch bei kaum jemanden. Außerdem wirkt euer Torwart als hätte er Angst vor dem Ball. Der Einzige, der was draufhatte war die Nummer 11.“ Ich sah die Jungs vor mir an. Jack hatte ein Pokerface aufgesetzt, Crow knirschte mit den Zähnen und Jaden fing an zu grinsen. „Engagiert!“ sagte er fröhlich. Ich schaute ihn perplex an. „Bitte?“ Er lachte. „Na, als Stürmer und Trainer meine ich! Ich glaube du weißt wovon du redest!“ Ein Pfiff, da wurde Jadens Name genannt. „Ach verdammt, ich bin dran, wir reden später weiter. In der Mittagspause auf dem Fußballplatz, ja?“ sagte er und hob die Hand, während er zum Becken lief. Was ist gerade passiert? Crow stöhnte genervt. „Na schön, du hast unseren kleinen Kapitän gehört, willkommen im Team!“ Hatte ich hier eigentlich auch so etwas wie Mitspracherecht? Wieder ein Pfiff. Nun wurden auch wir aufgerufen. Die Stunde zog sich ewig hin, ehe wir uns wieder umzogen und zum Mittagessen Richtung Fußballplatz liefen. „Mann, hab ich Hunger!“ jammerte Crow. Jack sah ihn an. „Lass mich raten, du hast dein Essen schon wieder zuhause vergessen.“ Der Orangehaarige grummelte. „Ja liegt vermutlich noch auf dem Küchentisch.“ Wortlos warf ich ihm ein eingepacktes Brötchen zu. Er fing es und sah mich völlig verdattert an. „Was ist das?“ fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. Frau Yuki hatte es mir heute im Krankenhaus mitgegeben, als ich meinen Vater besucht habe. Ich hatte vergessen mir etwas einzupacken, bevor ich los ging. „Käse glaub ich“ sagte ich und biss selbst in ein zweites Brötchen. „Ja, aber warum gibst du mir das?“ fragte er und zog eine Augenbraue nach oben. Ich sah ihn verständnislos an. „Kannst du mit Hunger spielen?“ Sein Magen knurrte wie zur Antwort. „Öhm … Naja … Danke.“ Alexis, Jaden und Aki kamen mit einem weiteren Mädchen, das ich nicht kannte, auf dem Rasen an und setzten sich zu uns. Das Mädchen hatte lange, schwarze Haare und eine ziemlich große Brille. Sie setzte sich neben Jack und gab ihm zur Begrüßung einen Kuss. Der Rotschopf begrüßte mich überschwänglich. „Hey Yusei, wie geht’s dir?“ Ich nickte. „Ganz gut.“ Als sie sich neben mich setzte, deutete ich mit dem Kopf Richtung Jack. „Er hat ne Freundin?“ Sie folgte meinem Blick „Ja, das ist Carly, sie geht auch in meine Klasse. Die beiden sind eigentlich schon seit der Unterstufe ein Paar.“ Alexis betrachtete Crow neugierig. Der sah sie an und wurde rot. „I- Ist was?“ Plötzlich schaltete sich Jaden ein. „Hey, das sieht aus wie diese Krankenhausbrötchen, die uns unsere Mutter manchmal von der Nachtschicht mitbringt.“ Krankenhaus? Mutter? Da fiel der Groschen. Sein Name war doch Jaden Yuki. So ein dämlicher Zufall. Ich verschluckte mich und fing an zu husten. „Alles in Ordnung?“ fragte er. „Ja, schon gut. Hab mich nur verschluckt.“ Crow wandte sich wieder an Alexis. „Keine Ahnung, das hat Yusei mir gegeben.“ Ach verdammt, hättest du es nicht dabei belassen können? Sie sah mich sorgenvoll an. „Warst du wegen der Migräne in der ersten Stunde etwa im Krankenhaus?“ Nicht die schlechteste Ausrede. „Ähm ja, mein Vater ist etwas … überfürsorglich“ log ich. „Das erklärt endlich warum du damit bei Sensei Flannigan durchgekommen bist!“ sagte Crow und biss ab. Die Blondine nickte. „Stimmt“. „Ich hoffe das kommt nicht zu häufig vor, wenn du als Stürmer anfängst“ bemerkte Jack. Aki drehte sich freudig zu mir um. „Du hast zugestimmt?“ Nein. „Naja eigentlich-“ „Ja! Er ist unser neuer Stürmer Schrägstrich Trainer!“ fiel mir Jaden wieder ins Wort. Meine Güte, warum werde ich eigentlich nicht gefragt ob ich einverstanden bin. Ich seufzte und gab mich geschlagen. „Ein Monat“ sagte ich nur. Alle blickten mich fragend an. „Wenn ich in einem Monat keine Besserung sehe, bin ich raus.“ Das war für Jaden ein klares Ja. Er grinste. Als ich dieses Funkeln in seinen Augen sah, wich ich seinem Blick aus und redete schnell weiter. „Ich kann auch nicht jeden Tag nach dem Unterricht trainieren! Montag, Mittwoch und Freitag reichen aus. Die restlichen Tage müsst ihr wiederholen was besprochen wurde.“ Ich hatte das Gefühl Jaden würde vor Freude platzen. „Also ist es beschlossene Sache! Vielleicht schaffen wir es dieses Mal auch endlich in die Regionalmeisterschaft!“ Wenn ich an mein altes Team denke, ist sein Gedanke mehr als nur optimistisch. Ich gab einen belustigten Laut von mir. „Wenn ihr es tatsächlich bis in die Regionalmeisterschaft bringt, dann bleib ich im Team“ sagte ich scherzhaft. Keine Ahnung was mit Jack und Crow los war, doch anstatt mich zu ignorieren oder mich mit giftigen Blicken zu durchbohren, boten sie mir Hilfe als Laborpartner in Chemie an. Ich gebe es ungern zu, doch die Hilfe konnte ich wirklich brauchen. In diesem Fach lag meine alte Schule anscheinend tatsächlich zurück. Auch in Bio waren sie echt nett. Nach dem Unterricht gingen wir Richtung Parkplatz, da schlossen sich Alexis und Jaden an. „Wenn ich noch einen toten Frosch sezieren muss, werde ich mich übergeben“ jammerte sie. Sie sah tatsächlich etwas blass aus. Ich ließ das unkommentiert und schweifte in Gedanken wieder ab, bis wir an den Motorrädern ankamen. Ich bog zu meinem ab und verabschiedete mich. Zu meiner Überraschung folgten mir Jack und Crow. Auch die Geschwister blieben interessiert stehen. Crow ließ einen anerkennenden Pfiff hören, als ich meinen Helm aus der dafür vorgesehenen Einbuchtung unter dem Sitz des Motorrads holte. „Schicke Maschine, ist das Marke Eigenbau?“ Ich nickte. Warum war der Kerl auf einmal so freundlich? Als ob Jack meine Gedanken gelesen hätte, beugte er sich zu mir rüber und flüsterte mir ins Ohr, während Crow mein Fahrzeug musterte. „Alexis hat ihm heute Morgen den Kopf gewaschen, was dich betrifft. Er war nur eifersüchtig.“ Ich sah ihn erstaunt an. Warum sollte er auf mich eifersüchtig sein? Die anderen beiden Motorräder gehörten wohl Jack und Crow, zumindest begaben auch sie sich langsam zu ihren Maschinen und ließen sie aufheulen, ehe sie davonfuhren. Vorher verabschiedeten sie sich von uns und ließen mich etwas perplex zurück. Ich hörte ich ein Hupen, drehte mich um und sah Frau Yuki hinter dem Steuer eines Kleinwagens. Schnell setzte ich mir endlich meinen Helm auf, ehe sie mich erkennen konnte. Alexis und Jaden winkten ihr zu und verabschiedeten sich von mir ehe sie einstiegen. Dann fuhr ich los. * Die Sicht von Jaden * Ich sah das rote Motorrad von Yusei noch vom Parkplatz fahren, ehe sich meine Mutter zu uns drehte. „Es tut mir leid, ich muss nochmal ins Krankenhaus, ich habe was vergessen.“ Ich stöhnte genervt. „Ach komm schon, Mama, ich hab heute eine Tonne Hausaufgaben auf! Und dann wollte ich noch was für das Training morgen vorbereiten.“ Sie lächelte. „Wird nicht lange dauern, mein Spatz. Ich habe nur eine Akte vergessen und muss schnell noch was mit meinem Chef abklären.“ Nach der 20-minütigen Autofahrt parkte sie den Wagen auf dem Gelände. „Wollt ihr noch mit reinkommen? Die Kinder würden sich sicher freuen mal ein paar neue Gesichter zu sehen!“ Hm, eigentlich keine üble Idee. Ich könnte Naoya mal wieder besuchen. Alexis und ich stimmten zu und zusammen liefen wir auf das große Hauptgebäude zu. Plötzlich stupste mich Alexis an und ich sah verwundert zu ihr. „Hey, ist das nicht Yuseis Motorrad?“ Was? Ich folgte ihrem Blick und sah wirklich sein auffälliges Fahrzeug. Es war knallrot, mit weißen Rallystreifen an der Seite. Als wir das Gebäude betraten, entdeckte ich Yusei noch im Aufzug, ehe er sich schloss. Schnell lief ich darauf zu und beobachtete, in welchem Stockwerk er hielt. Fünftes Obergeschoss. Verwundert betrachtete ich die Übersicht. „Was will er denn auf der Geschlossenen?“ murmelte ich und sah meine Schwester an. Sie zuckte nur mit den Schultern. Als unsere Mutter dazukam, stiegen wir in den Aufzug. Sie drückte den Knopf für die Kinderstation, Alexis wählte die fünf. Unsere Mutter sah uns fragend an und Alexis grinste. „Mir ist eingefallen, dass wir noch einen Freund besuchen wollten.“ Die Krankenpflegerin zog die Augenbrauen zusammen. „Wirklich? Welcher eurer Freunde liegt denn auf der geschlossenen Station für psychische Krankheiten?“ „Musst du nicht hier raus?“ fragte ich als sich die Tür öffnete. Perfektes Timing. Sie verließ den Fahrstuhl. „In 10 Minuten treffen wir uns wieder am Eingang, oder ich komme hoch.“ Die Tür ging wieder zu. Ich schielte zu meiner Schwester „Sag mal… was machen wir hier eigentlich? Willst du Yusei wirklich folgen? Ich hab irgendwie das Gefühl, dass ihm das nicht so recht wäre.“ Sie sah mich geheimnisvoll an. „Willst du nicht auch wissen, warum er die ganze Zeit so komisch ist?“ Ich zuckte mit den Schultern, platzte aber auch förmlich vor Neugier. Allerdings hatte ich wirklich meine Zweifel, ob das so eine gute Idee war. Als sich die Tür öffnete gingen wir zur Rezeption. Yusei war nirgends zu sehen. „Kann ich euch helfen?“ fragte ein nett aussehender junger Mann. „Ja, wir wollten jemanden besuchen!“ sagte Alexis und lächelte. Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Man, kann die Lügen wie gedruckt, der Schauspielklub macht sich wirklich bezahlt. „Wie heißt denn euer Freund?“ fragte der Mann. Wir wussten nicht mal wen Yusei eigentlich besuchte, also mussten wir bei der Antwort etwas tricksen. „Unser Freund ist eben schon vorgegangen. Schwarze Haare, Stachelkopffrisur, dunkelblaue Augen. Sein Name ist Yusei Fudo.“ Der Mann tippte etwas in die Tastatur. „Ah ja, er ist bei Hakase Fudo, Raum 517“ sagte er dann. Das war erschreckend einfach. Eilig fügte er hinzu: „Wenn ihr irgendwelche scharfen Gegenstände dabeihabt, bitte ich euch sie bei mir abzugeben. Ihr erhaltet sie wieder, sobald ihr die Station wieder verlasst.“ Ich überlegte kurz aber mir fiel nichts ein, was auf die Beschreibung passen könnte. Alexis gab ein kleines Nähset aus ihrer Tasche ab. Danach gingen wir los und suchten besagte Zimmernummer. „Wen er wohl besucht?“ fragte Alexis. Ich fühlte mich sichtlich unwohl. „Ich glaube wirklich das war keine gute Idee, lass uns wieder umkehren!“ „Sei nicht so ein Feigling! Der Kerl redet ja kaum, vielleicht brauch er ja unsere Hilfe.“ Am Zimmer angekommen sahen wir durch die Lamellen der Jalousie am Fenster ins Zimmer und entdeckten Yusei mit verschränkten Armen an der Wand angelehnt. Der Mann, der neben ihm auf dem Bett lag, sah ihm auf dem ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Er hatte die gleiche Frisur und den gleichen Körperbau, nur sah er schon älter aus, war größer und seine Augen waren weitaus heller als die von Yusei. Der Mann redete leise auf ihn ein. Wir beobachteten ihn unschlüssig, wie er immer verkrampfter wurde. „Jetzt sind wir hier, und was jetzt?“ flüsterte ich. Plötzlich löste Yusei seine angespannte Körperhaltung und fing an den Mann anzubrüllen. Wir konnten ihn sogar leise durch die Wand hören. „Was bildest du dir eigentlich ein? Hattest du vor mich hier allein zu lassen?! Denk doch wenigstens nur einmal nicht nur an dich!“ Oh je, das hätten wir wohl nicht hören sollen. Bei seinen letzten Worten liefen ihm vereinzelte Tränen die Wange runter. Der Mann sah ihn schockiert an und Yusei ging auf die Tür zu. Ich war wie in einer Starre, aber Alexis schnappte sich meinen Arm und zog mich um die Ecke, damit Yusei uns nicht entdecke. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick öffnete er die Tür und knallte sie hinter sich zu. Wir waren mucksmäuschenstill. Mein Herz raste und ich schluckte schwer. Ich hatte das Gefühl, als könnte er meinen Herzschlag hören, so laut wie es gegen meine Rippen hämmerte. Wir hörten keine Schritte, also stand er vermutlich noch immer vor der Tür. „Scheiße!“ fluchte er plötzlich leise und wir hörten Schritte, die nach und nach leiser durch die Gänge hallten. Alexis sah um die Ecke um zu sehen ob die Luft rein war. „Ich glaube das ist sein Vater da drin“ sagte sie. „Lass uns doch mal mit ihm reden.“ „Spinnst du?“ fuhr ich sie an. „Das geht uns wirklich nichts an, hast du seine Reaktion gesehen? Ich glaube wir haben schon zu viel gesehen!“ „Dann geh ich eben allein rein und du stehst Schmiere“ entgegnete sie und ging auf das Zimmer zu. „Alexis!“ sagte ich und schnaubte. „Dieser Dickschädel! … Warte!“ Sie klopfte und öffnete die Tür. Ich folgte ihr grummelnd. Der Mann im Bett musterte uns. „Wer seid ihr?“ fragte er. Ich schloss die Tür hinter mir, während Alexis antwortete. „Wir sind Freunde von Yusei.“ Er lachte nur müde. „Hat er euch etwa von der Sache erzählt? Sieht ihm gar nicht ähnlich. Mein Sohn ist eigentlich seit einiger Zeit ziemlich verschlossen.“ „Naja um ehrlich zu sein“ setzte ich an und sah ihn verlegen an. „Wir sind ihm gefolgt. Wir haben uns Sorgen gemacht… Was ist denn genau passiert?“ Das Gesicht des Mannes wurde weicher und traurig. Er hob seinen linken Arm ein Stück an, betrachtete ihn und strich mit der anderen Hand darüber. Plötzlich fielen mir die Verbände an seinem Unterarm auf. Erschrocken realisierte ich, weswegen der Mann hier war. Meiner Schwester war es anscheinend auch aufgefallen, denn sie sah ihn genauso erschrocken an. „Uns geht es vermutlich beiden nicht so gut in letzter Zeit. Aber …“ Er schmunzelte. „Ich glaube irgendwas an dieser Schule scheint ihm gut zu tun. Er hat seit Wochen keine wirklichen Gefühle mehr gezeigt. Dass er mich so anschreit ist ein gutes Zeichen.“ Er senkte den Arm und sah mir tief in die Augen. „Würdet ihr mir einen Gefallen tun?“ Ich nickte zaghaft. „Solange ich hier bin… könntet ihr ein Auge auf ihn haben? Er ist alles an Familie was ich noch habe und ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt.“ „Sicher“ sagte Alexis traurig. Ich sah sie an. „Wir sollten jetzt gehen, unsere Mutter wartet bestimmt schon.“ Sie nickte und wir verabschiedeten uns. Auf dem Weg zum Ausgang sah Alexis bedrückt zu Boden. „Du hattest Recht… Das ging uns wirklich nichts an.“ Kurz vor der Rezeption blieben wir wie erstarrt stehen. Dort stand unsere Mutter und redete mit Yusei. „Ah, da seid ihr ja!“ sagte sie. Er drehte sich um und musterte uns mit schockgeweiteten Augen. Ich hatte das Gefühl für einen Moment hörte mein Herz auf zu schlagen. „Was… was macht ihr denn hier?“ murmelte er. Kapitel 3: Neugier ------------------ Ich bin gestern einfach aus dem Krankenhaus abgehauen, weil ich ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen konnte. Wie sollte ich ihnen heute in der Schule nur begegnen? Beim Gedanken daran verkrampfte sich mein Magen unangenehm. In der Küche mache ich mir mein Mittagessen zurecht und fuhr los. Ausgerechnet heute musste es ja auch anfangen in Strömen zu regnen. Auf dem Parkplatz stellte ich mein Motorrad ab. Die Maschinen von Jack und Crow waren an diesem Tag nicht zu sehen. Im Schulgebäude wuselten einige Schüler über die Gänge und unterhielten sich angeregt miteinander. Ich hatte in der ersten Stunde Wahlpflichtfach. Da Kunst und der Werkunterricht bereits voll waren, musste ich mich wohl oder übel in Musik einschreiben. Wo war denn jetzt der Musikraum? Schnell sah ich auf dem Plan nach, da überkam mich ein kalter Schauer. Meine Jacke hatte das Gröbste vom Regen von mir ferngehalten, trotzdem war meine Kleidung klamm und ich fing langsam an zu frieren. Kurz überlegte ich meine Klamotten für das Fußballtraining am Nachmittag anzuziehen, da hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme. „Guten Morgen, Yusei“ sagte Alexis schüchtern. Ihr Bruder war an ihrer Seite und hatte den Blick gesenkt. Ich schnaubte, ballte die Hände zu Fäusten und wandte mich von ihnen ab um zu gehen, doch da meldete sich Jaden und der Klang seiner Stimme ließ mich in meiner Bewegung stoppen. „Entschuldige!“ setzte er an. Mein Herz beschleunigte sich wieder und mein Atem ging rasch. „Ich verstehe, wenn du wütend bist…“ Wütend ist kein Ausdruck. Ich kannte die Beiden gerademal zwei Tage und schon mischen die sich in meine Angelegenheiten ein! Aber seine traurige Stimme ließ die Wut verebben und machte Platz für die Leere. Meine Hände entspannten sich wieder. Ich senkte ebenfalls den Blick und stand immer noch mit dem Rücken zu ihnen gewandt. „Schon gut“ sagte ich monoton und war endlich wieder Herr meines Körpers. Ich setzte mich in Bewegung ohne mich noch einmal umzudrehen, doch konnte ich ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Diese verfluchten, mitleidigen Blicke. * Die Sicht von Alexis * Schon rauscht er wieder ab, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Traurig blickten mein Bruder und ich ihm nach. Bevor er jedoch um die Ecke bog, hielt Crow ihn auf und schien sich kurz mit ihm zu unterhalten, dann lief er weiter. Crow kam auf uns zu. „Man, was ist dem denn wieder für ne Laus über die Leber gelaufen? Also echt, der Typ sollte sich mal entspannen!“ Ich sah ihn verwundert an. „Wieso, was hat er denn gesagt?“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Rein gar nichts, er hat mich nur ignoriert! Ich hab ihn gefragt warum er rumrennt wie ein begossener Pudel und ob er ernsthaft bei dem Wetter auf seinem Bike zur Schule kommt. Ernsthaft: bei dem Mistwetter frag ich doch meine Eltern ob sie mich fahren!“ Er schnaubte. „Will sicher nur den coolen Macker raushängen lassen!“ Die Wut in meinem Bauch ließ meine Fingerspitzen zucken und ich hätte Crow am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Aber das hätte ich schlecht erklären können, ohne die Sache von gestern auszuplaudern. Mein Bruder war da weniger zurückhaltend. „Man, du kannst manchmal echt ein Idiot sein!“ fuhr er seinen Freund an. Schnell legte ich ihm eine Hand auf die Schulter, sah ihm in die Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Crow sah ihn nur fassungslos an, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Was ist denn mit dir jetzt los?“ „Ach, vergiss es!“ schnaubte Jaden. Mein Sandkastenfreund schaute noch immer völlig verwirrt zwischen mir und meinen Bruder hin und her. Dann seufzte er. „Naja, wie auch immer, sehen wir uns heute beim Training? Der Wetterbericht sagt bis zum Nachmittag soll der Regen aufhören.“ Ganz blödes Thema, denn schon sah mein Bruder wieder am Boden zerstört aus. „Nein, diese Woche bin ich leider raus.“ „WAS? Du bist unser Kapitän, du kannst doch nicht einfach Blau machen!“ Als Jaden weiterhin still blieb, antwortete ich für ihn. „Wir haben bis Ende der Woche Klub-Verbot und Hausarrest bis Sonntag.“ Er sah mich geschockt an. „Was, du auch Alexis?“ Ich konnte seine Verwunderung verstehen. Ich war immer eine Musterschülerin und hatte noch nie Ärger bekommen, anders als mein Bruder, der eigentlich ständig wegen irgendeinem Blödsinn beim Direktor saß. Aber Klub-Verbot war eine ganz neue Strafe unserer Mutter. Sie war unheimlich sauer, als sie erfahren hat, dass wir Yusei hinterhergeschlichen waren. Ich nickte zur Bestätigung und sah auf die Uhr. „Wir müssen langsam los, der Unterricht fängt in fünf Minuten an.“ Im Musikraum angekommen, staunte ich nicht schlecht, als Yusei plötzlich mit verschränkten Armen auf einem der Stühle etwas abseits von den anderen saß. Ich hätte ihn nicht für den musikalischen Typen gehalten. Andererseits sind die restlichen Kurse sicherlich schon voll. Sollte ich mich zu ihm setzen und die Wogen etwas glätten? Aber vermutlich würde er mich nur zurückweisen. Frustriert schüttelte ich den Kopf. Bis zur Weihnachtsaufführung hatten alle Klassen der zweiten und dritten Jahrgänge gemeinsam Unterricht, um die Aufführung einzustudieren. Hinter mir kam Aki in den Raum und begrüßte mich. Als sie Yusei sah, huschte der rothaarige Wirbelwind auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Ich musste schmunzeln. Die beiden wären wirklich ein süßes Paar. Da klingelte es, und ich suchte mir schnell einen Platz, als Sensei Fontaine, eine Frau mittleren Alters mit brünettem, immer hochgestecktem Haar, in den Raum kam und um Ruhe bat. Wie jeden Tag ging sie die Namen der Schüler durch. Als sie bei unserem schwarzhaarigen Sorgenkind ankam, stockte sie kurz und sah ihn über ihre Halbmondbrille an. „Yusei Fudo… Der Sohn von Miako Fudo?“ Alle Blicke ruhten plötzlich auf ihm, der sich sichtlich unwohl fühlte und seine geschlossene Körperhaltung beibehielt. Er wich dem Blick der Musiklehrerin aus und verneinte. Aki warf ihm einen unschlüssigen Blick zu. Sensei Fontaine stutzte kurz, machte dann aber weiter mit den nächsten Schülern. Was war das denn? Der restliche Unterricht verlief ohne Zwischenfälle, auch wenn Yusei sich aus fast Allem raushielt. Als es klingelte packten alle Schüler zusammen und stürmten aus dem großen Musikraum. Ich wartete vor dem Eingang auf ihn, um mich endlich mit ihm auszusprechen, doch zu meiner Überraschung kam Aki als letzte aus dem Raum raus und schloss die Tür hinter sich. „Wo bleibt denn Yusei?“ frage ich sie. Da schauten mich ihre großen, bernsteinfarbenen Augen fragend an. „Der ist noch drin. Sensei Fontaine wollte noch mit ihm sprechen.“ Merkwürdig. Hatte das was mit dieser Miako zu tun, von der sie vorhin geredet hat? Wenn ich mich recht erinnere, ist unsere Lehrerin ebenfalls in Osaka aufgewachsen. Aki musterte mich noch immer. „Hallo, Erde an Alexis!“ Ich schreckte kurz hoch. „E-Entschuldige ich war nur in Gedanken. Lass uns aufs Gelände gehen, du hast doch jetzt auch eine Freistunde, weil Sensei Banner sich krankgemeldet hat, oder?“ Sie nickte und zusammen gingen wir die Gänge entlang als sie die Stille durchbrach. „Sag mal, stehst du auf Yusei?“ Völlig geschockt stolperte ich kurz und konnte mich eben noch abfangen. Abwehrend hob ich die Hände. „Nein, nein! Der ist nicht mein Typ! Warum fragst du?“ antwortete ich mit einem schiefen Lächeln. Sie legte den Kopf schief „Naja, du starrst ihn die ganze Zeit an.“ Ich kann ihr ja schlecht sagen, dass ich Schuldgefühle habe, weil ich ihn mit meiner verdammten Neugier verletzt habe. „Nein, mach dir keine Sorgen“ antwortete ich nur und sah sie mit einem verschmitzten Lächeln an. „Bist du denn in ihn verknallt?“ Plötzlich wurde sie hochrot. Ertappt. Doch dann senkte sie den Blick und starrte traurig auf den Weg vor ihr. Habe ich sie gekränkt? „Hey, was ist denn los?“ versuchte ich sie aus ihren Gedanken zu reißen. Ein paar Meter des Weges sagte sie nichts, dann gab sie mir zögerlich eine Antwort. „Naja … ich dachte schon, aber dann hat er Sensei Fontaine angelogen, und sowas kann ich nicht leiden.“ „Angelogen? Er hat doch die gesamte Stunde überhaupt nichts gesagt.“ Sie blickte endlich wieder auf. „Am Anfang hat sie ihn doch nach seiner Mutter gefragt, und da hat er einfach gelogen.“ Was? „Woher willst du das denn wissen? Kennst du seine Eltern?“ frage ich überrascht. Sie schüttelte den Kopf „Nein, woher denn? Aber am Montag hat er ein Buch gelesen, und auf dem Einband standen die Namen seiner Eltern. Und so häufig kommt sein Nachname ja auch nicht vor!“ schlussfolgerte sie. Damit hat sie Recht, aber warum sollte er wegen sowas Banalem lügen? Da fielen mir wieder die Worte seines Vaters im Krankenhaus ein. ‚Er ist alles an Familie was ich noch habe‘ hatte er gesagt. Ob sie sich getrennt haben? Zumindest würde das seine kleine Lüge erklären. Als meine Eltern sich trennten, hatte ich auch eine stärkere Bindung zu Jadens Vater als zu meinem Eigenen, weswegen ich immer sagen würde er wäre mein Vater. „Alexis?“ reißt mich die Stimme der Rothaarigen wieder aus meinen Gedanken. „Man, du bist aber heute oft abgelenkt“ bemerkte sie. Dann schien sie selbst nachzudenken und ihr Gesicht erhellte sich. „Hey! Wir können ja im Internet nach ihr suchen! Carly findet doch alles raus!“ Das ist genau der Grund, weswegen Yusei sauer auf mich ist. Weil ich mich in seine Familienangelegenheiten gemischt habe! „Ich glaube das ist keine gute Idee“ sage ich bedrückt, doch sie schien mich nicht zu hören, beschleunigte ihren Schritt und bog in die entgegengesetzte Richtung des Geländezugangs ab. Verwirrt folgte ich ihr. „Hey, was hast du denn vor?“ frage ich nervös. Will sie das wirklich machen? Sie drehte sich kurz zu mir. „Bibliothek! In der Freistunde treibt sich doch Carly immer dort rum!“ „Hör mal Aki, ich glaube wirklich, dass das keine gute Idee ist. Er wird sicher sauer sein!“ entgegnete ich ihr als ich wieder zu ihr aufgeschlossen hatte. Dafür, dass sie kleiner ist als ich, hat sei ein ganz schönes Tempo drauf! „Ach was!“ trällerte sie „Warum sollte er? Wenn er die Wahrheit sagt, finden wir ja doch nichts raus. Wenn er gelogen hat, werde ich ihn mal darauf ansprechen.“ Ganz schlechte Idee. Wie soll ich ihr das nur verständlich machen? Bis gestern wäre ich von diesem Vorschlag selbst begeistert gewesen. Aber es war schon zu spät, denn wir waren an unserem Ziel angekommen und Aki hatte Carly schon gesichtet und ihr Anliegen geschildert. Die bebrillte Schwarzhaarige war natürlich sofort Feuer und Flamme. Wenn aus der nicht mal eine kleine Reporterin wird. Sie setzte sich sofort an den Rechner und klickte sich durch ein paar Seiten. Nach einigen Minuten drehte sie sich zu uns. „Ich habe eine Miako Fudo gefunden“ flüsterte sie. „Sie ist anscheinend eine kleine Berühmtheit in Osaka. Sie scheint Pianistin zu sein!“ Wahnsinn, was sie in so kurzer Zeit alles rausfindet. „Aber es kann trotzdem sein, dass das nicht Yuseis Mutter ist! Am besten wir vergessen die Sache wieder!“ versuchte ich einzulenken. Da drehte sich Carly zu mir und musterte mich argwöhnisch. „Also bitte, wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit dafür? Name und Stadt passen doch! Und dann noch der Einband seines Buches!“ Langsam bekomme ich Bauchschmerzen. Sie widmete sich wieder dem Bildschirm und klickte sich durch ein paar Artikel. „Hmm… Der hier ist schon etwas älter. Hier steht sie ist Einzelkind einer angesehenen Musikerfamilie… Ach herrje! Sie wurde verstoßen, weil sie einen Mann aus der Mittelschicht geheiratet hat. Dass es sowas heutzutage noch gibt!“ Dann schloss sie die Seite wieder und scrollte weiter. Aki deutete aufgeregt auf einen Link. „Oh, schau mal da! Das ist ein Video von einem Auftritt!“ Schnell klickte Carly darauf und reichte uns die Kopfhörer. Zerknirscht aber neugierig nahm ich sie an mich und setzte sie auf. Am unteren Bildrand konnte man ein Publikum erkennen. Der größte Teil des Bildes wurde aber von einer kleinen Bühne ausgefüllt. Sie war leer, bis auf einen glänzenden, schwarzen Flügel mit einer kleinen Bank davor. Am linken Bildrand erschien eine wirklich schöne, junge Frau, mit dunkelbraunem Haar, dass sie hochgesteckt hatte. Sie trug ein einfaches, weißes Kleid, dass sich von dem schwarzen Instrument hinter ihr abhob. Ihre tiefblauen Augen sahen exakt aus wie die von Yusei, das konnte ich nicht abstreiten. Sie verbeugte sich und nahm Platz. Dann begann sie zu spielen. Es war eine wunderschöne, melancholische Melodie, die mir eine Gänsehaut bescherte. Auch Carly und Aki starrten wie gebannt auf den Clip. Wir hörten das Lied bis zum Ende. Als sie fertig war, setzte sie zu einem neuen Lied an, da kam ein kleiner, schwarzhaariger Junge auf die Bühne gerannt. Aus dem Publikum hörte man Getuschel und Gekicher. Der Kleine war nicht älter als sechs Jahre und strahlte die Frau mit großen, blauen Augen und einem entzückenden Lächeln an. Diese Frisur aber war unverkennbar. „Ooooohhh! Ist das Yusei?“ fragte Aki mit roten Wangen und einem belustigten Grinsen. Carly kicherte. „Sieht ganz danach aus, und ich glaube auch nicht, dass das zum Auftritt gehört!“ Der Kleine krabbelte auf die Bank neben die Frau, die ihn erst verwirrt, dann aber liebevoll ansah. Sie schenkte ihm ein atemberaubendes Lächeln und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin der Kleine ebenfalls freudestrahlend grinste. Dann nahm sie ihn auf ihren Schoß und legte seine Hände auf das Klavier. Der Junge schien begeistert und sah noch einmal zu seiner Mutter hoch, die das Lied anspielte. Wenn man die Augen schloss, hörte man nicht einmal, dass da zwei Personen spielten, geschweige denn, dass die zweite Person ein kleines Kind war. Es war ein heiteres Lied und als es endete, hob die Frau den Kleinen von ihrem Schoß. Er bekam einen schallenden Applaus vom Publikum. Ich musste schmunzeln, als ich sah wie der Junge rot wurde und den Blick senkte. Dann sah er fast schüchtern zu seiner Mutter, die ihm bekräftigend zunickte. Er strahlte, verbeugte sich und verließ wieder die Bühne. Carly stoppte das Video, setzte die Kopfhörer ab und drehte sich zu mir um. „Na? Willst du immer noch abstreiten, dass das Yuseis Mutter ist?“ Ich seufzte und legte ebenfalls das kleine Gerät ab. „Nein, aber es geht uns trotzdem nichts an, warum er gelogen hat!“ Sie machte eine Schnute. „Na schön, aber es würde mich wirklich interessieren, warum er das abstreitet.“ „Mich auch!“ warf Aki ein. „Ich meine, er sah so glücklich aus!“ Wieder wurde sie etwas rot im Gesicht. Zugegeben das war ein wirklich niedlicher Auftritt und man sah, dass diese Frau den Kleinen liebt, aber da war Yusei noch ein Kind. Aki sah mich mit einem Grinsen an. „Ob er immer noch spielen kann? Vielleicht wollte Sensei Fontaine deswegen mit ihm reden!“ Ich überging die Frage und schüttelte verzweifelt den Kopf. „In den Jahren zwischen diesem Video und heute ist sicher viel passiert. Vielleicht haben sich seine Eltern getrennt und er lebt seitdem bei seinem Vater. Vielleicht ist er sauer auf sie oder so, aber noch einmal: das geht uns nichts an!“ Während meiner Moralpredigt schloss Carly die Seite und widmete sich wieder einigen Artikeln. Ich war schon kurz davor zu platzen, da zog sie die Luft schnell ein und hielt sich die Hand vor den Mund. Aki wirkte verwirrt unsere Freundin so zu sehen. „Hey Carly, was ist denn los?“ fragte sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Auch ich sah besorgt zu ihr und dann zu dem Artikel. Doch bevor ich ihn lesen konnte, hörte ich eine ruhige, tiefe und irgendwie bedrohliche Stimme hinter mir, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Was genau macht ihr da?“ Schnell drehten wir uns um und sahen in tiefblaue Augen, die nur zu Schlitzen geformt waren. Yusei hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah jeden von uns mit einem unergründlichen Blick an. Als seine Augen jedoch auf mir ruhten, wurde er missbilligend und fast schon kalt. Ich schluckte. Langsam beugte er sich an Carly vorbei, die zur Salzsäule erstarrt war, und schloss mit einem Klick alle Tabs. Währenddessen murmelte er ihr leise irgendetwas ins Ohr. Ich konnte es nicht verstehen. „Was habt ihr euch denn überhaupt angesehen?“ Ich zuckte zusammen. Erst jetzt bemerkte ich, dass Crow und Jack ebenfalls mit ihm die Bibliothek betreten hatten. Crow schien auf eine Antwort zu warten. „Ähm …“ setze Aki an, wurde jedoch von Yuseis Blick zum Schweigen gebracht. Oh man, jetzt ist er nicht nur sauer auf mich, sondern auch auf Aki und Carly. Er wandte sich schon ab zum Gehen, hielt aber in seiner Bewegung inne. „E-Es … tut … mir Leid!“ schluchzte Carly. Yusei drehte sich noch kurz um, sah sie mit einem emotionslosen Blick an und ging. Jack trat sofort an die Seite seiner Freundin und nahm sie in den Arm. „Was entschuldigst du dich denn?“ fragte er verwirrt und sah unserem schwarzhaarigen Mitschüler hinterher. „Hey! Was hast du ihr gesagt, dass sie sich jetzt so scheiße fühlt?!“ Yusei ignorierte Jack, da kam auch schon die etwas ältere Bibliothekarin um die Ecke. „Junger Mann! Brüllen Sie hier gefälligst nicht so rum, das ist eine Bibliothek!“ Geknickt sah ich zu Jack. „Er hat nichts falsch gemacht, sondern wir.“ „Hey, wenn er ein Problem hat, soll er gefälligst auch mit der Sprache rausrücken! Der Kerl sagt ja nie was!“ schaltete sich Crow ein. Ich blitzte ihn wütend an, was ihn zurückschrecken ließ. „Habt ihr ihn nicht Anfang der Woche auch so behandelt?“ Wie ein angeschossener Hund murmelt er irgendwas in sich hinein, war abgesehen davon aber still. Bis kurz vor dem Klingeln sahen wir Yusei nicht wieder. Auch zum Mittagessen war er spurlos verschwunden, was meinen Bruder ziemlich verstimmte, wollte er doch eigentlich mit ihm reden. Carly war nicht mehr ganz so aufgelöst, aber die gesamte Pause über still. In den letzten beiden Stunden ignorierte Yusei mich, und zum Schlussklingeln hatte er fast fluchtartig den Raum verlassen. Ich seufzte. Das wird wohl eine Weile dauern, ehe er wieder mit sich reden lässt. Allerdings frage ich mich wirklich warum Carly so aufgelöst war. * Die Sicht von Yusei * Endlich hörte ich das erlösende Klingeln der Schulglocke, die das Ende des Tages verkündete. Leider hatte ich ja noch ein Versprechen gegeben, nach dem Unterricht das Fußballteam zu trainieren. Ich fand durch Zufall heraus, dass Sensei Ushio eigentlich dafür verantwortlich war, aber der hatte sich dazu entschlossen sich dem Baseball-Team zu widmen und nur ein- oder zweimal im Monat nach dem Rechten zu sehen. Ich packte schnell meine Sachen, ehe mich Alexis wieder in ein Gespräch verwickeln konnte und ging zu den Umkleiden. Tatsächlich war ich schon der Erste auf dem Platz, weswegen ich die Zeit nutzte um ein paar Runden zu laufen. Es war ein befreiendes Gefühl meine Wut, die sich über den Tag angestaut hatte, endlich loszuwerden. Ich habe über die Sache mit meinem Vater hinweggesehen, aber dass dieses Mädchen wirklich weiterbohrt nehme ich ihr übel. Auch, dass sie ihre Freundinnen mit reingezogen hatte. Ich hoffe Carly hält ihren Mund, anscheinend hat sie den offenen Artikel als Einzige gelesen. Irgendwann kamen auch die restlichen Schüler auf dem vom Regen aufgeweichten Platz an und waren neugierig, wie das Training verlaufen wird. Erstaunlicherweise hörte die Mannschaft tatsächlich auf meine Anweisungen, selbst Jack und Crow, die mich seit meinem feindlichen Auftritt in der Bibliothek wieder ignorierten. Wenn man den Anderen erstmal sagte was sie machen mussten, waren sie gar kein so hoffnungsloser Haufen wie ich dachte. Allerdings bezweifelte ich wirklich, dass sie es bis zur Regionalmeisterschaft schaffen würden. Jede Wette gewinnen wir nicht einmal eines der Qualifikationsspiele. Ich erinnerte mich noch daran, dass es letztes Jahr schon ein hartes Stück Arbeit war in die Regionals zu kommen, und mein altes Team war bedeutend besser in Form. Nach dem Training legte ich ihnen noch einige Übungen ans Herz und ging schnell zu den Umkleiden, dann zum Parkplatz. Plötzlich wurde ich von Jack und Crow aufgehalten. „Raus mit der Sprache! Warum ist meine Freundin seit der Sache in der Bibliothek so traurig? Was zur Hölle hast du ihr gesagt?“ fauchte Blondschopf mit einem bissigen Unterton. „Sie hat sich in meine Angelegenheiten eingemischt, da habe ich ihr nur gesagt sie soll den Mund halten“ sagte ich resigniert. Plötzlich spürte ich einen Schmerz an meiner Wange, und ich musste mich an meinem Motorrad abfangen, um nicht zu fallen. Der Kerl stand wutentbrannt vor mir, die Hände zu Fäusten geballt, Crow hielt sich zurück. Na schön, den einen Schlag lasse ich ihm durchgehen, weil Carly sich wegen mir schlecht fühlt. Ich rappelte mich auf, nahm meinen Helm an mich und sah ihn ausdruckslos an. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, aber sein Körper zitterte nicht mehr vor Wut. Er ließ die Hände sinken. Anscheinend hatte er sich wirklich schnell wieder abreagiert. „Schön. Kann ich jetzt losfahren?“ sagte ich. Seine Antwort war lediglich ein Schnauben, dann rauschte er ab. Ich hatte mich innerlich schon auf eine Prügelei gefasst gemacht und war überrascht als die beiden plötzlich gingen. Soll mir recht sein, ich wollte nur noch ins Bett. Irgendwie fühle ich mich nicht so gut. Kapitel 4: Besuch ----------------- * Die Sicht von Jaden * Ich war gestern ziemlich enttäuscht, als wir Yusei während der Mittagspause nicht gefunden hatten. Ich muss mich endlich richtig bei ihm entschuldigen! Das macht mich noch wahnsinnig! Nach dem, was Alexis mir gestern erzählt hatte, war er jetzt noch wütender auf sie. Ehrlich gesagt war sie da aber selbst dran schuld. Als wir zur Schule fuhren, legte sich eine Stille über uns, was auch unserer Mutter auffiel. „Was ist denn mit euch beiden los? Normalerweise redet ihr doch auf dem Schulweg ununterbrochen. Vor allem du, Jaden.“ Ich seufzte. Der Gedanke an diesen blöden Dienstagnachmittag machte mich immer noch traurig. „Naja, wir haben Yuseis Vater versprochen, dass wir ein Auge auf ihn haben. Aber er geht uns die ganze Zeit aus dem Weg!“ Sie lächelte mich sanft durch den Rückspiegel an. „Könnt ihr es ihm verübeln? Er macht zurzeit einiges durch, und kennt euch kaum. Anscheinend will er noch keine Hilfe annehmen, aber das wird schon. Sein Vater ist ebenso ein Sturkopf! Ihr müsst wissen, wir kennen uns schon länger als nur die eine Woche die er bei mir auf der Station gearbeitet hat.“ Vermutlich schaute ich meine Mutter ebenso überrascht an wie meine Schwester. Woher kennt die denn jemanden aus Osaka? Sie lachte nur über unsere Gesichter. „Wenn ihr euch sehen könntet! Ja, ich kenne Hakase Fudo seit etwa zwei Jahren. Wir sind uns mal auf einer Tagung begegnet und seitdem stehen wir in flüchtigem Kontakt. Ich war es auch, die ihm die freie Stelle bei uns ans Herz gelegt hat, nach-“ Mitten im Satz brach sie ab und schüttelte den Kopf. „Ist nicht so wichtig. Wir sind da.“ Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass wir schon an der Schule waren. Alexis stieg zuerst aus. Ich blieb noch kurz bei meiner Mutter im Auto sitzen. „Sag mal, Mama?“ Sie drehte sich zu mir. „Was ist denn, mein Spatz?“ Normalerweise hasste ich es, wenn sie mich so nannte, aber heute ignorierte ich das mal. Ich spielte nervös mit den Fingern in meinem Schoß und hatte den Blick gesenkt. „Weißt du wie wir ihm helfen können?“ Als keine Antwort kam, sah ich zu ihr auf. Sie schien zu überlegen, dann sah sie mich sanft an. „Gib ihm Zeit“ war ihre einzige Antwort. Wieder seufzte ich. „Toller Ratschlag!“ Ich griff zur Autotür, öffnete sie und stieg aus. Dann winkten ich und meine Schwester ihr kurz zum Abschied, ehe wir in das Gebäude gingen. „Was hast du denn noch mit Mama im Auto gemacht?“ fragte sie mich plötzlich. „Ich hab sie nur was gefragt, ist nicht wichtig.“ Sagte ich und bog in die Richtung meines Klassenraums ab. Dort angekommen, begrüßte mich Jim, unser Abwehrspieler in der Mannschaft. Er war einen Kopf größer als ich und hatte kurze, schwarze Haare. Seine dunkelgrünen Augen musterten mich. „Sag mal, ist alles ok? Du wirkst geknickt.“ Oh Mann, dem Kerl entgeht aber auch gar nichts. Da fiel mir etwas ein und ich setzte ein Grinsen auf. „Ach was, alles gut. Sag mal, wie lief denn das Training gestern?“ Zu meiner Verwunderung zog er eine Grimasse. „Also echt, der Kerl, den du uns da vor die Nase gesetzt hast, ist wirklich seltsam! Ständig hat der uns Anweisungen gegeben wie und wo wir den verdammten Ball treten sollen, und die ganze Zeit hat er diesen strengen Gesichtsausdruck gehabt. Der hat nicht einmal eine Miene verzogen! Aber zugegeben: selbst Aster und Ohara haben mal ein paar ordentliche Pässe geschafft, also hat es wohl gewirkt.“ Ich grinste. „Sag ich doch!“ Auch er wirkte belustigt „Na gut. Ja, hast recht, aber wenn der noch einmal mit Hausaufgaben um die Ecke kommt, boykottiere ich. Als hätte ich nichts anderes zu tun!“ „Ach komm schon, von nichts kommt nichts. Hat er sich sonst gut im Team eingefunden?“ Jim musterte mich und schien seine Worte sorgfältig zu wählen. „Naja, wir haben ihm nicht widersprochen oder so, aber seine ganze Art war irgendwie recht abweisend und kühl. Da hat keiner von uns wirklich was mit ihm zu tun haben wollen. Ich weiß echt nicht, ob der bei uns reinpasst.“ Das waren nicht unbedingt die Worte die ich hören wollte, aber zumindest lehnte das Team ihn nicht komplett ab. ~*~ Zu meiner Enttäuschung war Yusei heute überhaupt nicht in der Schule. Auf meine Nachfrage hin wusste auch niemand wo er steckte. Da fiel mir wieder ein was sein Vater gesagt hat, und warum er auf der Station im fünften Stock liegt. Besorgt nahm ich Alexis in der Mittagspause kurz beiseite. „Was ist denn?“ fragte sie. „Naja… was ist, wenn er heute wegen eines bestimmten Grunds nicht in der Schule war?“ Sie schaute mich nur fragend an und zog eine Augenbraue nach oben. „Naja, irgendeinen Grund wird er sicher haben heute nicht aufzutauchen. Vielleicht ist er einfach krank.“ Ich packte sie an beiden Schultern und sah in ihr überraschtes Gesicht. „Ja, aber sein Vater hat doch auch gesagt es geht ihnen beiden nicht gut. Was, wenn er auch… Ich meine nach der Sache von gestern, da…“ Ich brach ab, aber Alexis verstand meine Sorge. Ihre Augen weiteten sich. Doch dann riss sie sich zusammen und nahm meine Hand. „Hey, geh nicht gleich vom Schlimmsten aus! Ich glaube Mama hat eine Telefonnummer vom Haus, sie kann ja mal anrufen. Zusätzlich schicke ich ihm noch eine E-Mail.“ Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer unserer Mutter und ging etwas abseits zum Telefonieren. Ein paar Minuten später kam sie wieder zu mir. „Siehst du? Mach dir keine Sorgen, sie ruft mal bei ihm an, und jetzt komm!“ Sie griff mein Handgelenk und zog mich ein Stück zu unseren Freunden, die heute auf der Tribüne saßen, da der Rasen noch immer zu nass vom Regen war. Wir setzten uns dazu und unterhielten uns. Währenddessen tippte Alexis auf ihrem Handy, sie schien wohl die Mail zu schreiben. Carly war wieder besser gestimmt als gestern, doch sobald man sie auf diesen Artikel ansprach, senkte sie ihren Blick, wurde still und spielte am Saum ihres Rockes. „Man Carly! Was hat er dir gesagt?“ platzte es aus Jack heraus. „Ich schwöre, wenn er dir gedroht hat, dann-“ Erschrocken blickte sie auf und legte ihrem Freund beruhigend eine Hand auf den zitternden Arm, dessen Hand sich wieder zur Faust geballt hatte. „Nein, er hat mir nicht gedroht! Wirklich nicht! Ich will nur nicht darüber reden.“ Jack beruhigte sich wieder etwas, aber er sah noch immer angepisst aus. „Der Typ bringt echt alles durcheinander! Wieso ist er nicht in seiner verdammten Heimatstadt geblieben?“ Alexis schaute auf ihr Handy und nuschelte geistesabwesend: „Ich glaube da hatte er keinen Einfluss drauf. Er will genauso wenig hier sein wie du ihn hier haben willst.“ Crow sah sie neugierig an. „Wieso? Was weißt du denn?“ Erschrocken blickte sie auf und realisierte anscheinend jetzt erst, was sie gesagt hatte. „Ähm, naja, er hat doch am Montag gesagt, er ist wegen eines Jobwechsels hier. Ich wäre sicher auch wütend, wenn meine Eltern mich in eine andere Stadt mitnehmen.“ Sie weiß sich wirklich gut aus der Affäre zu ziehen. Gruselig. Ob Mama oder Yusei ihr schon geantwortet haben? Sie schien meinen Blick zu spüren, denn sie sah mich an und schüttelte leicht den Kopf. ~*~ Die Stunde bei Sensei Flannigan zog sich wie Kaugummi und natürlich gab es einen Berg an Hausaufgaben bis Montag. Großartig! Nach der Schule wartete mein Vater auf dem Parkplatz auf mich. Alexis hatte heute länger Schule und wird von einer Freundin mitgenommen. Bin ich froh, wenn der Hausarrest vorbei ist und die beiden uns nicht mehr ständig überwachen. „Schönen Tag gehabt?“ fragte er mich. Als Antwort zuckte ich nur mit den Schultern und stieg ein. „Wir müssen vorher nochmal schnell ins Krankenhaus zu deiner Mutter“ sagte er als wir losfuhren. Da wurde ich hellhörig. Geht es um Yusei? Mein Herz raste bei dem Gedanken, dass ihm was zugestoßen sein könnte. Ich schluckte und fragte meinen Vater nach dem Grund. Inständig hoffte ich, dass Mama nur was zuhause vergessen hatte. „Es geht irgendwie um einen Klassenkameraden deiner Schwester. Er ist wohl nicht ans Telefon gegangen und wohnt zurzeit allein. Deine Mutter macht sich Sorgen um ihn, du kennst sie ja.“ Ich starrte ihn ungläubig an und merkte kaum wie jede Farbe aus meinem Gesicht verschwand. Das war genau die Bestätigung meiner Befürchtungen. „Und… warum fahren wir dann zu Mama?“ fragte ich heiser. Ich hatte einen Kloß im Hals. Er musterte mich. „Ich soll kurz nach dem Rechten sehen, er wohnt nicht sehr weit von uns entfernt. Deine Mutter hat den Schlüssel vom Vater des Jungen bekommen. Der liegt im Krankenhaus.“ Er seufzte. „Armer Kerl. Der Junge ist die nächsten sechs Wochen auf sich gestellt.“ Mein Vater ist genauso mitfühlend wie Mama. Wahrscheinlich haben die beiden deshalb Berufe, in denen sie Menschen helfen können. Die Fahrt bis zum Krankenhaus fühlte sich wie ein Weg von einer Stunde an, dabei fuhr mein Vater schon so schnell er konnte, ohne einen Strafzettel zu kassieren. Insgesamt waren wir nur 15 Minuten unterwegs. Papa wartete im Auto und ich sollte schon rein gehen, sodass wir uns die Parkplatzsuche sparen konnten. Ich rannte schon halb durch das Krankenhaus bis zu meiner Mutter. „Ah, da bist du ja, Jaden!“ hörte ich eine Stimme aus dem Schwesternzimmer. Ich drehte mich um und sah meine Mutter auf mich zulaufen. In ihrer Hand hatte sie einen Schlüssel und einen Zettel. „Hat dein Vater dir gesagt um was es geht?“ fragte sie mich. Nervös nickte ich. „Gut, dann hör zu: Ich hoffe natürlich, dass es Yusei gut geht, aber falls er verletzt oder nicht da ist, rufst du mich sofort an, ja? Oh, ich hoffe er ist klüger als sein Vater!“ Ich sah sie schockiert an. Hat sie etwa die Gleiche schlechte Ahnung wie ich? Ein leichtes Zittern überkam mich. Plötzlich spürte ich ihre Hände an meiner Schulter und zuckte zusammen. Sie blickte mich mitfühlend an. „Entschuldige, vergiss das! Er liegt sicher nur mit einer Erkältung im Bett und hat das Telefon ausgestöpselt, um seine Ruhe zu haben. Auf dem Zettel steht seine Adresse. Jetzt aber schnell!“ Ich nahm ihr die Sachen ab und lief zum Parkplatz, wo mein Vater vor dem Eingang wartete. Yuseis Haus war wirklich nicht sehr weit von unserem entfernt. Vor dem Gebäude blieben wir stehen. „Es tut mir leid Jaden, aber es ist schon recht spät, und ich habe einen wichtigen Termin. Wäre es okay für dich selbst nach dem Rechten zu sehen und dann nach Hause zu laufen?“ Ich nickte und stieg aus. Der Schlüssel war schon in meiner Hand, da hörte ich den Wagen meines Vaters wegfahren. Ich klingelte. Nach einem gefühlt unendlich langen Moment, kam jedoch keine Reaktion. Mit zitternder Hand steckte ich den Schlüssel ins Schloss und hielt kurz inne. Was, wenn er verletzt ist? Wie kann ich ihm schon helfen? Und was wir er sagen, wenn ich plötzlich in seinem Haus stehe und es ihm gut geht? Schaut er mich dann wieder mit diesem geschockten Blick an und ignoriert mich wieder? Ich schüttelte den Kopf um diese Gedanken loszuwerden und drehte den Schlüssel. Die Tür öffnete sich und vorsichtig trat ich ein. Ich kam in einen Flur, der nur spärlich eingerichtet war. Ich sah nichts Persönliches in diesem Raum, in dem nur ein paar Türen abgingen und eine Treppe, die nach oben führte. „Yusei?“ rief ich zaghaft. Keine Antwort. Oh, bitte lass ihm nichts zugestoßen sein! Hinter der ersten Tür auf der linken Seite war die Garage. Sein Motorrad stand da, er war also vermutlich im Haus. Außerdem konnte ich einige Möbelstücke unter mehreren großen, weißen Laken sehen, sowie mehrere Umzugskartons. Schnell schloss ich die Tür und ging durch die Nächste. Die Küche. Dahinter war das Wohnzimmer, aber auch hier war er nicht. Ich ging wieder zurück und öffnete die letzte Tür, die sich als Zugang zum Bad herausstellte. Ich wurde immer nervöser und ging die Treppe rauf. Oben angekommen waren wieder vier Türen. Dieser Flur war leer und hatte am Ende des Gangs ein Fenster. Wieder rief ich seinen Namen und bekam keine Antwort. Ich fing auf der linken Seite an und öffnete die erste Tür. Ein Bad, etwas größer als das im Erdgeschoss. Die nächste führte mich in ein kleines Schlafzimmer. Gegenüber vom Schlafzimmer war ein fast leerer Raum. Nur ein paar weitere Umzugskartons und ein großer Gegenstand, von einem Laken abgedeckt standen darin. Was sollte das denn? Dann stand ich vor der letzten Tür und mich überkam wieder dieses wilde Herzklopfen. Hier musste er doch jetzt sein. Ich schluckte und drückte die Klinke nach unten. Vorsichtig öffnete ich das Zimmer und ließ meinen Blick schnell durch den Raum schweifen. Ein Schreibtisch mit Drehstuhl, ein Kleiderschrank, ein Spiegel und ein Bett. In diesem lag mein schwarzhaariger Freund auf dem Rücken und rührte sich nicht. „Yusei!“ rief ich wieder und ging schnellen Schrittes auf sein Bett zu. Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante. Er atmete flach und zitterte. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Er lebte. Aber seine Haut war bleich und schweißnass. In seinen Augenwinkeln konnte ich getrocknete Tränen sehen, er tat mir so unendlich leid. Langsam legte ich ihm eine Hand auf die Stirn. Sie war heiß. Er hatte ziemlich hohes Fieber. „Yusei“ flüsterte ich wieder und betrachtete ihn mit einem sorgenvollen Blick. Unbewusst wanderte meine freie Hand zu seiner und hielt sie fest. Er war eiskalt. Ich spürte einen leichten Druck auf meiner Hand. Seine Lider flackerten und öffneten ein Stück. Desorientiert ließ er seine tiefblauen Augen durch sein Blickfeld schweifen und schließlich ruhten sie auf mir. Sie hatten ihren Glanz verloren und waren glasig und trüb. Ich versuchte zu lächeln, doch mein Magen verkrampfte sich bei seinem Anblick. „Hey, Yusei, ich hab mir schon Sorgen gemacht“ sagte ich leise. Zu meiner Verwunderung legte sich für einen kurzen Augenblick ein Lächeln auf seine Lippen, ehe er seine Augen wieder schloss. Ich wusste nicht warum, aber mein Herz schlug wie wild in meiner Brust als ich diesen Gesichtsausdruck sah. Es war das erste Mal, dass ich ihn Lächeln sah. Langsam zog ich mich zurück und verschwand im Bad, um ein Fieberthermometer zu suchen. Schnell fand ich es, lief zu ihm und setzte mich wieder auf die Bettkante. Strich ihm vorsichtig mit der Hand über seine Wange, um ihn zu wecken. Wieder öffnete er langsam seine Lider und sah mich an. Ich lächelte zuversichtlich und begann leise mit ihm zu sprechen. „Hey Yusei, ich würde gerne dein Fieber messen, würdest du deinen Mund öffnen?“ Es dauerte einen kleinen Moment, ehe er verarbeitet hatte, was ich sagte, doch dann öffnete er seinen Mund ein Stück, sodass ich ihm das Thermometer unter die Zunge legen konnte. „Und jetzt aufpassen, dass es nicht rausfällt“ sagte ich mit einem Grinsen, ehe ich wieder in das Bad lief. Hier muss es doch irgendwo eine Schüssel und ein Tuch oder sowas geben. Ich wurde fündig und füllte die Schüssel mit kühlem Wasser, ehe ich wieder zu ihm lief und ihm einen kalten Umschlag gegen das Fieber auf die Stirn legte. Er hatte seine Augen wieder geschlossen. Dann ging ich in das andere Schlafzimmer und holte eine zweite Decke, um den Rest seines Körpers zu wärmen. Das Thermometer piepte. Vorsichtig nahm ich es an mich und las die Zahl ab. 39,7°C. Das ist ziemlich hoch, ich sollte Mama anrufen, also wählte ich ihre Nummer und schloss Yuseis Zimmer hinter mir. Sie ging schon nach dem ersten Klingeln ans Handy. „Jaden, was ist passiert?“ fragte sie aufgeregt. Ich versuchte sie zu beruhigen. „Alles gut, nichts Schlimmes! Es geht ihm aber ziemlich schlecht. Er hat 39,7 Fieber und ist eiskalt. Ich weiß nicht was ich sonst noch machen soll. Ich hab ihm eine zweite Decke geholt und einen kühlen Umschlag gemacht!“ ratterte ich meine Vorgehensweise runter. Sie schien kurz zu überlegen. „Erstmal hast du das sehr gut gemacht, mein Spatz. Weißt du wo das Badezimmer ist?“ Ich bestätigte ihr das und sie forderte mich auf ein kleines Medizinschränkchen zu suchen. „Gefunden!“ sagte ich. Es war hinter einem Spiegel. Sie nannte mir ein paar Medikamente, die ihm jetzt helfen würden, doch davon fand ich nur eine Paracetamol. Sie seufzte. „Naja, besser als nichts. Kannst du sie ihm gegen das Fieber geben? Er muss aber unbedingt etwas dazu trinken, auch wenn er erschöpft ist! In drei Stunden habe ich Feierabend, dann komme ich zu dir, mein Spatz. Ist es in Ordnung, wenn du bis dahin bei ihm bleibst?“ Für diese Antwort brauchte ich nicht lange überlegen. „Ja, klar.“ Ich beendete das Telefonat und holte ein Glas Wasser aus der Küche, ehe ich wieder zu Yusei ins Zimmer schlüpfte. Noch immer lag er so regungslos da, wie ich ihn vorgefunden hatte. Ich setzte mich neben ihn und strich ihm die Strähnen aus dem Gesicht, wodurch er wieder wach wurde und mich ansah. „Yusei, du musst was trinken. Ich hab hier was gegen dein Fieber, schaffst du es dich hinzusetzen?“ Langsam regte er sich und versuchte Folge zu leisten, aber man konnte ihm die Anstrengung in seinem Gesicht ablesen. Ich stellte das Glas Wasser neben dem Bett ab und schob ihm eine Hand zwischen die Matratze und seinen Rücken und half ihm hochzukommen. Als er aufrecht saß, hatte ich ihn noch immer abgestützt und spürte seinen flachen, heißen Atem an meinem Schlüsselbein, weil er den Kopf durch seine Erschöpfung gegen meine Schulter legte. Inständig hoffte ich, dass er meinen erhöhten Herzschlag nicht mitbekam. „Du… Du musst die hier runterschlucken und etwas trinken.“ Er nickte kaum merklich und hob leicht seine zitternde Hand, doch ließ sie gleich wieder sinken. Er war zu schwach. Wie lange lag er in diesem Zustand eigentlich schon allein in diesem einsamen Haus? Eine Träne vernebelte mir die Sicht und ich musste sie wegblinzeln. Dann führte ich die Tablette zu seinem Mund und sah wie er ihn zaghaft einen kleinen Spalt öffnete. Für einen kurzen Augenblick berührte ich seine weichen Lippen, ehe ich schnell zu dem Glas griff und mein Herz dafür verfluchte, dass es Luftsprünge in meiner Brust zu machen schien. Ich setzte ihm das Glas an die Lippen. „Bitte trink!“ flüsterte ich. Erleichtert stellte ich fest, dass er es schaffte ein wenig zu trinken, ehe er sich verschluckte. Ich stellte das Glas wieder ab und lehnte ihn ein Stück weiter nach vorn, damit er das Wasser abhusten konnte. Vollkommen erschöpft sackte er in meinen Armen zusammen und brauchte anscheinend all seine Kräfte um nicht sofort wieder einzuschlafen. Sachte legte ich ihn wieder in sein Kissen und deckte ihn zu. Der Umschlag lag auf der Decke und ich erneuerte ihn um ihn wieder auf seine Stirn zu legen. Er war wieder eingeschlafen. Jetzt heißt es wohl warten, bis meine Mutter kommt. Ich setzte mich auf den Boden neben dem Bett und stützte meine Arme neben ihm ab. Beobachtete, wie seine Brust sich hob und senkte. Sein Atem war flach, aber gleichmäßig. Keine Ahnung wie lange ich ihn in dieser Position beobachtete aber langsam senkte sich mein Kopf und ich schlief ein. * Die Sicht von Yusei * Ich hatte wieder diesen Alptraum. Eine liebevolle Stimme, ein Schrei, ein Knall und dann diese bedrückende Stille. Wie oft verfolgten mich diese Geräusche schon in den letzten Wochen? Ich hatte aufgehört zu zählen. Doch noch wie am ersten Tag jagten sie mir einen kalten Schauer über den Rücken. Angst, Verzweiflung, Trauer. All diese Gefühle übermannten mich erneut und drohten mich in die Tiefe zu reißen. Wie lang lag ich hier schon? Alles um mich herum war dunkel und kalt. Doch dann sah ich diesen gleißenden Lichtstrahl. Er wärmte mich, schenkte mir ein Gefühl von Geborgenheit, wie lange nicht mehr. Ich ging auf ihn zu und spürte eine Berührung an meiner Hand. Verzweifelt versuchte ich daran Halt zu finden. Eine Stimme. Wo kam sie her? Mit aller Kraft versuche ich meine Augen zu öffnen. Ich war in meinem Zimmer, aber wo kam dieses wohlige Gefühl her? Mein Blick schweifte durch den Raum und dann sah ich ihn. Er macht sich wohl Sorgen. Bitte schau mich nicht mit diesen mitleidigen Augen an! Wie kann ich ihn nur aufmuntern? Ich freute mich so ihn zu sehen und lächelte, doch dann wurde es wieder schwarz. Die Kälte drohte mich erneut zu übermannen, als ich plötzlich eine Bewegung an meiner Wange spürte. Wieder versuchte ich meine Lider zu bewegen und meine Augen trafen die kastanienbraunen Seen meines Gegenübers. Sie gaben mir Halt. Er hat mir eine Frage gestellt. Was hat er gesagt? Fieber. Er wollte Fieber messen? Ich versuche meinen Mund zu öffnen und spürte gleich im nächsten Moment etwas Kaltes darin. Es war ein seltsames Gefühl. Doch dieses Lächeln in seinem Gesicht. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, aber er war schon wieder verschwunden. Wieder schloss ich meine Augen und versuchte etwas Ruhe zu finden, aber es wollte mir nicht gelingen. Irgendwas machte er um mich herum aber ich war zu schwach um ihn zu beobachten. Das kalte Stäbchen in meinem Mund wurde langsam warm und ich hörte ganz leise ein Piepen. Dann verließ es meinen Mund wieder. Erneut legte sich diese Stille um mich herum und verschluckte mich. Ich versuchte mit aller Kraft wach zu bleiben und spürte kurze Zeit darauf eine Berührung in meinem Gesicht. Wieder öffnete ich die Augen und war froh, dass er noch da war. Bitte geh nicht schon wieder weg! Er bat mich etwas zu trinken. Jetzt erst merkte ich wie trocken mein Mund eigentlich war. Ich versuchte mich aufzusetzen aber egal wie sehr ich es versuchte, es gelang mir nicht. Dann nahm ich seine Wärme wahr und mir wurde schwindlig. Plötzlich saß ich in meinem Bett und spürte die Nähe und die Wärme meines Gegenübers. Zufrieden und erschöpft legte ich meinen Kopf an seine Schulter. Ich hörte seinen Herzschlag, nahm seinen Duft wahr. Er bat mich eine Tablette zu nehmen, doch ich konnte mich kaum bewegen. Verdammt. Dann aber spürte ich seine Finger an meinen Lippen. Kurz darauf gab er mir etwas Wasser. Gierig trank ich es, denn ich hatte unglaublichen Durst. Durch meinen Körper ging ein Beben und ich verschluckte mich. Wieder verließ mich die Kraft. Doch dieses Mal wurde ich nicht von der Dunkelheit gefangen genommen. Ich fühlte mich wohl. Ich wusste, dass er an meiner Seite war. Ich driftete in einen traumlosen Schlaf und bemerkte zum ersten Mal seit langem, wie ich mich entspannte. Ein Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Hatte ich mir diese Fürsorge nur eingebildet? Ich fühlte mich besser. Langsam öffnete ich meine Augen und drehte den Kopf, sodass ich mein Zimmer betrachten konnte. Da lag er, mit dem Kopf auf meinem Bett abgestützt. Draußen dämmerte es schon langsam und die tiefstehende Sonne warf einen warmen Lichtschein auf ihn. Er sah so friedlich aus. Ich wollte diesen Moment genießen, ihn in meinem Gedächtnis abspeichern. Warum nur fühlte ich mich in seiner Nähe so wohl? Da hörte ich wieder das Geräusch, dass mich weckte. Die Türklingel. Wer könnte das denn um diese Uhrzeit sein? Jaden schlief friedlich weiter und schnarchte leise. Ich schmunzelte und fuhr ihm durchs Haar, ehe ich mich wieder zusammenriss. Was sollte das? Ich hatte einfach das Bedürfnis ihn zu berühren. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Ich schlug die Decke zur Seite, versuchte mich aufzusetzen und bemerkte, dass ich mich nun besser bewegen konnte. Da fiel plötzlich ein Tuch von meinem Kopf. Verwundert musterte ich es und bemerkte jetzt auch die zusätzliche Decke meines Vaters in meinem Bett. Wieder wanderte mein Blick zu meinem schlafenden Freund. Hatte er sich die ganze Zeit um mich gekümmert? Ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen und stand langsam und leise auf, um ihn nicht zu wecken. Als ich das Zimmer verließ, schnappte ich mir noch ein Shirt und zog es mir über, während ich vorsichtig die Treppe runterstieg. Mir war noch immer etwas schwindlig. An unserer Haustür angekommen, öffnete ich diese und sah in das verwunderte Gesicht von Frau Yuki. „Yusei?“ fragte sie verwirrt. „Wo ist Jaden, er war doch bei dir, oder?“ Ich nickte. „Er ist oben eingeschlafen.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Kratzen. Mein Hals fühlte sich wahnsinnig trocken an und schmerzte. Die brünette Frau vor mir sah mich mit einem strengen Blick an. „Jetzt aber wieder ab ins Bett mit dir! Du siehst ja furchtbar aus!“ Sie legte mir ihre Hand auf die Stirn. Die Berührung ließ mich kurz zusammenzucken. „Zumindest dein Fieber scheint gesunken zu sein“ fügte sie beruhigt hinzu. Ich ging die Treppe nach oben und Frau Yuki folgte mir. Belustigt stellte ich fest, dass er sich keinen Millimeter bewegt hatte. Ich setzte mich neben ihn auf das Bett und seine Mutter betrat den Raum. „JUNGER MANN, WAS MACHST DU DA?“ rief sie laut. Mir klingelten die Ohren und Jaden erschreckte sich so sehr, dass er zur Seite umkippte. Verwirrt richtete er sich auf und sah zu seiner Mutter. „Mama? Wie bist du denn hier reingekommen?“ „Yusei hat mich reingelassen. Also ehrlich, er sollte im Bett liegen bleiben und stattdessen läuft er hier im Haus rum, weil du schläfst!“ „Yusei?“ fragte er verwundert und drehte seinen Kopf zu mir. Ich saß noch immer auf dem Bett neben ihm und stellte verwundert fest, dass er rot anlief. Ging es ihm etwa wie mir? Auch mir schoss die Hitze wieder ins Gesicht und ich wandte den Blick ab um seine Mutter anzusehen. „Machen Sie ihm bitte keinen Vorwurf, Frau Yuki, er hat sich wirklich lieb um mich gekümmert.“ Ich musste husten und sollte wirklich was trinken. Mein Hals bringt mich noch um. Sanft wurde ich wieder ins Bett gedrückt und hatte die Decke über meinem Körper. Ich lag auf der Seite und über mir stand Jadens Mutter. Sie lächelte. „Du solltest dich noch etwas ausruhen, und nenn mich doch bitte Naomi.“ Schamesröte legte sich auf mein Gesicht. Es war mir unangenehm sie beim Vornamen zu nennen. Sie kicherte nur über meine Reaktion und half dann ihrem Sohn auf. „Also ehrlich Jaden, du bist der einzige, den ich kenne, der während eines Krankenbesuchs einschläft! Würdest du kurz das Zimmer verlassen? Ich will mit Yusei allein sprechen.“ Er nickte etwas überfordert und folgte ihrer Anweisung. Ich hörte seine Schritte die Treppe runter und betrachtete wieder die Frau vor mir. „Wie fühlst du dich?“ fragte sie. „Besser. Jaden hat mir wirklich geholfen.“ Sie nickte. „Darf ich dich kurz untersuchen?“ „Ähm, sicher.“ Sie tastete meinen Bauch ab und untersuchte mit einem Stethoskop die Lunge und das Herz. Dann prüfte sie nochmal meine Temperatur. „Ich habe deinem Vater Bescheid gesagt wie es dir geht, ich hoffe das ist in Ordnung.“ Ich nickte. Als sie fertig war, kam Jaden mit einer großen Tasse ins Zimmer. „Ich hab Tee gemacht, falls du was willst“ sagte er und legte ein Grinsen auf. Da fiel mir mein trockener Hals wieder ein und ich nahm das Getränk dankend entgegen. Seine Mutter strich ihm lächelnd durchs Haar, was ihn anscheinend verärgerte. Dann drehte sie sich wieder zu mir. „Ich schau morgen früh noch mal bei dir vorbei, wenn das okay für dich ist. Heute ruhst du dich erst einmal aus.“ „Danke“ antwortete ich und sah zu Jaden. „Euch beiden!“ Unweigerlich musste ich lächeln. Es war ein ehrliches und aufrichtiges Lächeln. Er grinste mich an und wandte sich dann ab um die Treppe runterzugehen. Seine Mutter verabschiedete sich ebenfalls und schloss die Tür hinter sich. Ich war wirklich müde, also legte ich mich wieder hin und driftete augenblicklich in einen seligen Schlaf. Kapitel 5: Nachhilfe -------------------- Als ich aufwachte, ging es mir bedeutend besser als noch am Vortag. Meine Schmerzen waren weg, und anscheinend war auch das Fieber verschwunden. Es war noch ziemlich früh am Morgen. Ich setzte mich auf und streckte mich, um die Verspannungen in meinem Körper loszuwerden. Kurz zuckte ich zusammen, denn ich hörte die Stimme von Jadens Mutter im Flur, die meinen Namen rief. Ich musste mich vermutlich erst einmal daran gewöhnen, dass sie den Schlüssel meines Vaters hatte. Ein leises Klopfen war an der Tür meines Zimmers zu hören, und ich bat sie herein. Meine Stimme klang noch immer heiser und kratzig. Sie kam rein und lächelte mir entgegen. „Du siehst schon wieder viel besser aus, Yusei!“ „Ich fühle mich auch schon besser, danke für Alles.“ „Ach was, das ist doch selbstverständlich. Schließlich bin ich eine alte Freundin von Hakase und habe ihm versprochen, nach dem Rechten zu sehen.“ Verstehe, sie ist also die Bekannte, die ihm den Job im Krankenhaus verschafft hat. Ich gab einen belustigten Laut von mir. Irgendwie hatte ich das schon geahnt. Sie untersuchte mich noch einmal und nachdem sie fertig war, durchbrach ich die Stille. „Frau Yuki?“ Sie sah auf. „Hatten wir uns nicht auf Naomi geeinigt?“ Nein, ehrlich gesagt, hat nur sie sich darauf geeinigt. Sie lachte und setzte sich auf die Bettkante. „Du wirst dich daran gewöhnen, Yusei. Mich wirst du so schnell nicht los.“ Ich schmunzelte. Die Aussicht war wirklich schön, die nächsten Wochen nicht immer allein sein zu müssen, auch wenn ich mir ständig das Gegenteil einredete. „Na schön. Naomi?“ Es fühlte sich so seltsam an, sie beim Vornamen zu nennen! „Wie geht es meinem Vater?“ Sie strich mir kurz durchs Haar und lächelte. „Der wird schon wieder, glaub mir. Im Krankenhaus wird ihm geholfen, und wenn du ihn ab und zu besuchst, wird er schneller wieder gesund. Ich weiß, wie hart es für euch beide ist, und du kannst jeder Zeit zu mir oder meinem Mann kommen, wenn du dich schlecht fühlst.“ Ich schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Meine Hände krallten sich fester in meine Decke. Das waren wirklich die Worte einer liebevollen Mutter. Jaden und Alexis hatten großes Glück sie zu haben. Plötzlich spürte ich, wie sie ihre Arme um mich legte, und mich fest an sich drückte. Ich riss die Augen auf, und bemerkte erst jetzt, dass sie tränenverschleiert waren. Ich schluchzte und wollte die Tränen unterdrücken. „Halt dich nicht zurück. Wenn du deine Gefühle rauslässt, geht es dir besser, glaub mir“ sagte sie leise. Aber ich will sie nicht rauslassen! Ich will nicht, dass sie mich einholen! Ich will diese Angst nicht wieder fühlen! Am liebsten würde ich gar nichts mehr spüren… Sanft beendete sie die Umarmung, hielt mich an den Schultern und sah mir direkt in die Augen. Sie seufzte. „Irgendwann wirst du dich deinen Gefühlen stellen müssen, oder du gehst daran zu Grunde, wie dein Vater.“ Das waren harte Worte, aber vielleicht hatte sie recht. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und brachte ein halbherziges Lächeln zustande. „Mag sein, aber noch bin ich dafür nicht bereit.“ Sie akzeptierte meine Entscheidung und verließ kurz den Raum, ehe sie ein paar Minuten später mit einer dampfenden Schüssel zurückkam. Es duftete wirklich gut. „Die ist nach dem Rezept meiner Mutter. Iss auf, dann geht es dir gleich besser. Ich muss jetzt ins Krankenhaus fahren, aber wenn du noch was brauchst, ruf mich an. Ich lege dir meine Nummer auf den Tisch.“ Sie nahm einen kleinen Zettel und platzierte ihn neben meinen Laptop, dann verabschiedete sie sich und ging. Ich sah auf die volle Suppenschüssel in meiner Hand und musste schmunzeln. Sie war wirklich sehr nett. Kein Wunder, dass ich Jaden so gut leiden kann. Wieder dachte ich an diese kastanienbraunen Augen, und sein Lachen hallte in meinen Ohren. Vielleicht mochte ich ihn sogar mehr als ich zugeben würde. * Die Sicht von Jaden * Den ganzen Tag schon lief ich mit einem dicken Grinsen im Gesicht herum. Nicht nur, dass meine Mutter sagte es würde Yusei wieder besser gehen. Für meine Hilfe gestern hatte sie mir erlaubt heute am Fußballtraining teilzunehmen. Alexis sagte zwar sie würde sich für mich freuen, aber sie war traurig und wütend darüber, den Schauspielklub heute sausen lassen zu müssen. Nach der Schule rannte ich sofort zu den Umkleiden. Ich konnte es kaum erwarten endlich wieder zu spielen. Am Platz angekommen, war meine Mannschaft überrascht mich zu sehen. „Hey, Jaden, dachte du hättest Fußballverbot!“ sagte Crow und grinste. „Meine Mutter hat mir das Training heute erlaubt!“ sagte ich fröhlich. Jim kam auf mich zu und schlug mir freundschaftlich gegen die Schulter. „Klasse! Dann wird das Ganze ja entspannter als am Mittwoch!“ Ich grinste ihn an. „Kannst du vergessen, Jim!“ Jim sah enttäuscht aus, da kam Aster auf ihn zu und lachte. „Oh Gott, dein Blick ist fantastisch! Ich hab dir doch gesagt, Jaden will jetzt Ernst machen!“ Ich nickte. „Aster hat Recht! Wir haben nicht mal mehr drei Wochen bis zum ersten Qualifikationsspiel. Wir haben zwar einen Ersatz für Leo, aber wir sind aktuell so schlecht, dass selbst Sensei Ushio uns abgeschrieben hat.“ „Klasse Motivationsrede, Kapitän“ sagte Jack sarkastisch, wenn auch mit einem belustigten Unterton. Ich ignorierte ihn gekonnt und fuhr weiter aus. „Wir werden denen zeigen, dass wir die Regionals auch aus eigener Kraft rocken werden! Aber dafür müsst ihr endlich euren Arsch hochbekommen! Also, wer zieht mit?“ Die entschlossenen Gesichter meiner Mannschaft waren Antwort genug. „Na schön, ich hab von Jim gehört, dass Yusei euch ein paar Übungen auferlegt hat. Könnt ihr mir eure Fortschritte zeigen?“ Beim Namen unseres neuen Stürmers verzog unser Torwart Hiroshi das Gesicht als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Er war im ersten Jahrgang der Oberstufe und ziemlich groß für sein Alter. Ich nahm ihn kurz beiseite, während der Rest ein paar Aufwärmrunden lief. „Was ist denn los?“ fragte ich ihn. Er senkte den Blick. „Naja, er hat mich vorgestern ziemlich durch die Mangel genommen.“ Ich sah ihn verwirrt an. „Wieso?“ „Er sagte, wenn ich weiterhin Angst vor dem Ball hätte, dann sollte ich das mit dem Fußball lassen.“ Es tat mir zwar Leid für Hiroshi, aber ich konnte nicht anders als lauthals zu lachen. Das brachte mir natürlich einen zornigen Blick ein. Als ich mich wieder im Griff hatte, fragte ich ihn was Yusei noch gesagt hätte. Er überlegte. „Naja, ich soll erstmal die Ballaufnahme richtig üben.“ Scheint logisch. Dadurch bekommt er ein Gefühl für den Ball, ohne dass er in einer Affengeschwindigkeit auf ihn zufliegt. „Und hast du geübt?“ Er nickte. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. „Na, dann zeig mir das nach deinen zwei Runden.“ Das Training verlief wirklich ziemlich gut. Was auch immer Yusei mit meinem Team gemacht hatte, es hatte funktioniert. Ich konnte, im Vergleich zu Montag, eine deutliche Verbesserung sehen. Als ich die Mannschaft für ein kleines Probespiel in zwei Teams aufteilte, hörte ich eine nur allzu bekannte Stimme hinter mir. „Wenn das mal nicht das schlechteste Fußballteam ganz Japans ist!“ Nicht der Typ schon wieder. Genervt drehte ich mich um und sah in die stahlgrauen Augen meines Gegenübers. „Tanaka. Was willst du hier, du gehst nicht auf diese Schule!“ Ich konnte den Kerl nicht ausstehen. Er ging auf die Bei-Tan Schule im Norden der Stadt, und war dummerweise ein verdammt guter Spieler, was er bei wirklich jedem Freundschaftsspiel zwischen den Schulen auf seine arrogante Art unter Beweis stellte. „Nicht so feindselig! Ich wollte nur einem alten Freund Hallo sagen und ihn um ein kleines Spiel bitten.“ „Und verrätst du mir auch, warum ich das annehmen sollte?“ Er lachte süffisant. „Hast du dir die Spielaufstellung für die Regionalmeisterschaftsqualifikation angesehen? Wir haben überhaupt nicht die Möglichkeit, euch in den Boden zu stampfen!“ Die Aufstellung war schon draußen? Es wäre Sensei Ushios Aufgabe gewesen sie mir auszuhändigen. Auf den Kerl kann man sich echt nicht verlassen! „Wann und wo?“ fragte Jack und blitzte Tanaka wütend an. Der Typ und sein verdammter Stolz. „Auf dem Trainingsplatz im Park, hier in der Nähe, Sonntag 12 Uhr ist Anpfiff. Wenn ihr nicht kommt, sehe ich es als Beweis, dass ihr nicht den Mumm habt euch mit uns zu messen! Also, bis dann.“ Mit einem süffisanten Grinsen ging dieser aufgeblasene Schnösel erhobenen Hauptes vom Gelände. Ich drehte mich zu Jack. „Sag mal, was sollte das denn?“ „Ach, komm schon! Eine Revanche war längst überfällig. Sieh es als zusätzliches Training.“ Ich sah ihn verärgert an. Beim letzten Mal hatten die Kerle uns 17:2 fertig gemacht, und das war erst ein halbes Jahr her. Plötzlich fiel mir etwas viel Hinderlicheres ein. „Sag mal, ist dir bewusst, dass ich noch immer Hausarrest habe? Wie soll ich mich bitte aus dem Haus schleichen, wenn meine Eltern beide einen freien Tag haben?“ „Du hast es doch heute auch zum Training geschafft, also.“ „Ja, aber das ist was anderes!“ Crow legte mir eine Hand auf die Schulter. „Hey, vielleicht verstehen sie das. Ansonsten helfe ich dir beim Ausbruch!“ Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht, und auch, wenn mir nicht danach war, musste ich über so viel Zuversicht lächeln. „Wir beenden erstmal das Training, dann sehen wir weiter“ Gesagt, getan. Wegen Jacks übereilter Zusage triezte ich das Team bis zur Erschöpfung. In der Umkleide fiel Crow ein weiteres Problem ein. „Weiß eigentlich jemand, ob unser Stürmer bis dahin wieder gesund ist? Alexis meinte, er liegt mit einer fetten Erkältung im Bett. Wir können nicht nur mit zehn Leuten antreten!“ Verdammt, er hat Recht! So, wie Yusei gestern aussah, war ich nicht sicher, ob er bis Sonntag wieder fit wäre. „Ich kann ihn ja mal fragen“ sagte ich in Gedanken. Jack sah mich verwundert an. „Hast du Kontakt zu ihm?“ Ich spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen als ich an gestern zurückdachte. Da fiel mir ein, dass ich seine Nummer gar nicht hatte. Ich würde meine Mutter fragen müssen, sobald ich den Hausarrest angesprochen hätte. Oder ich frage Alexis nach seiner E-Mail. „Jaden?“ Ach ja, ich war ihm immer noch eine Antwort schuldig. „Meine Schwester hat seine Mail Adresse, ich werde ihm mal schreiben.“ Auf dem Heimweg wurde ich von Aster mitgenommen, der von seinem Bruder abgeholt wurde. Er wohnte nur ein paar Häuser weiter. Als ich zu Hause ankam, stellte ich fest, dass meine Eltern allem Anschein nach noch nicht da waren. Ich klopfte an Alexis Zimmertür und, ohne eine Antwort abzuwarten, trat ich ein. Sie saß am Schreibtisch und telefonierte. Ohne ihr Telefonat zu beenden, warf sie mir einen bösen Blick zu und scheuchte mich mit einer Handbewegung wieder raus. Ach, verdammt, das war wohl nichts. Na schön, ein guter Zeitpunkt sich endlich mal an diese dämlichen Aufgaben von Sensei Flannigan zu setzen. Ich verstand rein gar nichts. Oh man, ich hasse Mathe. Nach einer halben Stunde hatte ich keine Lust mehr, klappte motivationslos das Heft zu und lief in die Küche. In diesem Moment schloss meine Mutter die Tür auf. „Ah, Jaden, könntest du mir mit den Einkäufen helfen?“ Ich nickte und lief zum Auto, um mir ein paar Tüten zu schnappen. „Danke, mein Spatz. Stell sie doch bitte auf den Tisch. Meine Güte, ist das schon spät geworden. Ich muss noch mal los, ich wollte noch schnell nach Yusei sehen.“ „Apropos Yusei …“ setzte ich an, denn das war meine Gelegenheit sie wegen seiner Nummer und dem Spiel am Sonntag anzusprechen. „Ich wollte ihn noch was fragen. Wir haben am Sonntag ein Freundschaftsspiel gegen die Bei-Tan Oberschule und ich wollte ihn informieren, weil er ja unser neuer Stürmer ist.“ „Diesen Sonntag?“ fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben. Einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte ich ja, dass sie es einfach vergessen würde, aber das konnte ich wohl vergessen. Geknickt sah ich zu Boden. „Ich weiß. Der Hausarrest. Aber ich wollte zumindest Yusei fragen. Ohne ihn hätte mein Team sonst nur neun Spieler, und dann würden sie definitiv verlieren.“ Ein leises Kichern ließ mich wieder aufblicken. Macht sie sich über mich lustig? „Und du wolltest mich nicht zufällig fragen, ob du an dem Spiel teilnehmen darfst, oder?“ Wieso durchschaut sie mich eigentlich immer sofort? Sie schien zu überlegen. Mein Hoffnungsschimmer kehrte zurück. „Na schön, nur für das Spiel.“ Innerlich machte ich schon Freudensprünge, wäre da nicht dieses kleine Wörtchen gewesen, dass sie als nächstes sagte „Aber, …“ Natürlich. Irgendein Haken musste ja dabei sein. „Da ich heute noch einiges zu erledigen habe, müsstest du für mich mit dem Fahrrad zu Yusei fahren und nach ihm sehen, in Ordnung?“ Ich grinste. Mit der Bedingung konnte ich durchaus leben. Ich fiel ihr mit einem „Danke!“ um den Hals und wollte schon schnell zur Garage laufen, wo mein Fahrrad stand. „Warte noch kurz!“ rief mir meine Mutter hinterher. Sie kam auf mich zu und hielt mir einen Umschlag hin. „Könntest du ihm das hier geben? Der ist von seinem Vater.“ Ich steckte den Brief in die Innentasche meiner Jacke und nickte. Dann betrat Alexis den Raum, die anscheinend endlich fertig mit ihrem Telefonat war. „Fährst du zu Yusei?“ fragte sie. Sie hat wohl den Rest des Gesprächs mitbekommen. Ich nickte. „Warte, dann gebe ich dir noch die Mitschriften vom Unterricht mit den er verpasst hat.“ Sie verschwand in ihrem Zimmer und kam kurz darauf wieder zurück, um mir einen kleinen Stapel Hefte in die Hand zu drücken. Jetzt muss ich wohl doch meine Tasche holen. Grummelig ging ich in mein Zimmer, legte die Hefte auf meine Aufgaben, und suchte meine Tasche. Als ich sie gefunden hatte, nahm ich den Stapel auf meinem Tisch und packte alles ein, um endlich losfahren zu können. Ich verabschiedete mich, ging endlich in die Garage und trat in die Pedale. Zwar war ich nur einmal bei ihm, aber ich kannte diese Gegend auswendig, weil wir hier schon wohnten, solange ich zurückdenken konnte. An seinem Haus angekommen, stellte ich das Fahrrad an der Wand ab, und betätigte die Klingel neben der Tür. Überraschenderweise öffnete er mir nur einen Augenblick später. Ich blickte in zwei verwirrte, tiefblaue Augen. „Jaden?“ fragte er verdutzt. Ich grinste. „Hey, kann ich reinkommen?“ Etwas überfordert trat er einen Schritt beiseite und ließ mich rein. „Was machst du denn hier?“ fragte er während er die Tür schloss. „Freust du dich gar nicht, mich zu sehen?“ fragte ich neckisch, woraufhin sein Gesicht etwas röter wurde. Ob er noch Fieber hat? Doch dann legte er ein sanftes Lächeln auf, das mein Herz wieder schneller schlagen ließ. „Doch sicher, ich habe nur nicht damit gerechnet.“ Er ging durch die Küche, in das angrenzende Wohnzimmer. Ich zog die Schuhe aus und lief ihm nach. Erst jetzt bemerkte ich, dass er immer noch etwas heiser war. Vielleicht ist er bis Sonntag noch gar nicht fit genug für das Spiel. Als wir im Wohnzimmer ankamen, lief leise der Fernseher. Er setzte sich im Schneidersitz auf das große Sofa und legte eine dünne Decke über seine Schultern. Dann drehte er seinen Kopf wieder zu mir. „Willst du dich nicht setzen?“ „Hm? Ach so, ja.“ Ich stellte meine Tasche ab, setzte mich neben ihn und sah auf den Fernseher. Es lief ein Mitschnitt von einem Konzert. Man sah eine brünette Frau an einem Flügel sitzen. „Du stehst auf Klaviermusik?“ fragte ich und sah ihn an. Sein Blick ruhte anscheinend schon die ganze Zeit auf mir, denn er bemerkte jetzt erst, dass der Fernseher lief. Schnell nahm er die Fernbedienung und stellte das Gerät aus. Etwas verwundert über diese Reaktion musterte ich ihn. „Ist dir das peinlich?“ riet ich ins Blaue. Er schüttelte nur den Kopf. „Nein, ich bin nur gern allein, wenn ich mir solche Konzerte ansehe.“ Seltsam. „Hat deine Mutter dich gebeten, nach mir zu sehen?“ fragte er plötzlich. „Ja, zum Teil. Ich wollte dich aber auch was fragen.“ Neugierig ruhten seine schönen, blauen Augen auf mir und warteten darauf, dass ich weitersprach. „Naja, wir haben am Sonntag ein Freundschaftsspiel im Park. Wobei, Freundschaftsspiel passt nicht ganz, es ist mehr eine Revanche. Jedenfalls wollte ich fragen, ob du dabei wärst, aber wenn es dir nicht gut geht, verstehe ich das.“ „Okay.“ Etwas perplex starrte ich ihn an. „Bist du dir sicher? Ich meine, du klingst noch nicht wirklich gesund, und ich will nicht, dass es dir dann wieder schlechter geht.“ Er schüttelte belustigt den Kopf. „Nein, mir geht es soweit wieder gut. Ich bin sicher, bis Sonntag bin ich wieder fit. Außerdem fehlt euch ohne mich ein Spieler. Du müsstest mir nur sagen, wo dieser Park ist und wann genau ich da sein soll.“ Erfreut sprang ich auf. „Großartig! 12 Uhr ist Anpfiff, ich hol dich etwa eine halbe Stunde vorher ab, der Park ist in der Nähe der Schule. Meine Mutter hat für die Zeit des Spiels auch meinen Hausarrest aufgehoben! Ach so, da fällt mir was ein.“ Ich kramte in der Innentasche meiner Jacke nach dem Brief und überreichte ihn Yusei. Zögerlich nahm er ihn entgegen. „Was ist das?“ Ich zuckte nur mit den Schultern. „Meine Mutter meinte nur, der wäre von deinem Vater und ich soll ihn dir geben.“ Er musterte mich skeptisch, dann öffnete er den Brief. Während er ihn las, setzte ich mich wieder neben ihn auf das Sofa und beobachtete sein Gesicht. Ich wusste ja, dass das ein empfindliches Thema war. Was auch immer in diesem Brief stand, irgendwas bedrückte ihn. „Alles in Ordnung?“ fragte ich ihn deshalb. Er faltete das Stück Papier und legte es auf dem niedrigen Tisch ab, währenddessen antwortete er schlicht mit einem zustimmenden Laut. Stille durchzog den Raum, doch ich wollte nicht, dass er sich wieder in seine Gedanken zurückzog. Deswegen versuchte ich das Thema zu wechseln. „Alexis hat mir übrigens ihre Mitschriften für dich mitgegeben.“ Damit riss ich ihn anscheinend aus seinen trüben Gedanken und lächelte. Schnell nahm ich mir meine Tasche und reichte ihm den Stapel Hefte in meiner Hand. Er nahm sie entgegen und sah sie sich durch, doch ich wunderte mich warum er plötzlich schmunzelte. „Bist du sicher, dass das dazu gehört?“ fragte er mich belustigt und hielt eines der Hefte hoch. Ich verzog das Gesicht. „Nein, das sind meine blöden Mathe Hausaufgaben, die sind wohl dazwischen gerutscht.“ „Kein Mathe-Fan?“ fragte er, doch die Antwort kannte er vermutlich schon, denn ich machte noch immer ein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter. „Jetzt mal ehrlich! Wer auch immer sich diese blöde Vektor-Rechnung ausgedacht hat, gehört gesteinigt! Mit zwei Dimensionen kam ich ja irgendwann klar, aber Berechnung im dreidimensionalen Raum?! Ernsthaft? Wer denkt sich denn so einen Blödsinn aus?“ Er lachte. Es war ein wirklich schönes Lachen, dass mir ein wohliges Gefühl bescherte. Eigentlich hätte ich jetzt sauer sein sollen, aber ich hatte ihn noch nie wirklich lachen gehört und war froh, dass er nicht mehr so deprimiert war. Unwillkürlich lächelte ich ebenfalls, trotzdem musste ich mich etwas echauffierten. „Was gibt’s denn da zu lachen? Verstehst du den Blödsinn?“ „Soll ich es dir erklären?“ fragte er nur und schenkte mir ein wirklich schönes Lächeln. Gut, mit der Antwort hatte ich jetzt nicht gerechnet, und auch nicht mit der Hitze, die mir wieder ins Gesicht schoss. Ob das an ihm lag, oder daran, dass ich mich angesteckt haben könnte, wusste ich nicht. Ich wandte den Blick ab. „Naja, wenn du willst… Aber ich bin wirklich schlecht in dem Fach.“ „Schlag deine Aufgaben schon mal auf, ich hol noch ein paar Sachen“ sagte er und verließ den Raum. Ich befolgte seine Aufforderung und sah mich danach noch etwas im Raum um. Wie in den anderen Zimmern auch, war hier nichts Persönliches zu finden. Hier stand nichts, was etwas über die Bewohner des Hauses ausgesagt hätte. Keine Bilder, keine Andenken irgendwelcher Reisen, keine Dekoration, die den Raum wohnlicher gemacht hätte. Klar, sie waren erst hergezogen, aber soweit ich weiß, war das schon zwei Wochen her, und im Haus waren stellenweise immer noch viele Umzugskartons zu finden. Zugegeben, er hatte vermutlich anderes im Kopf als die Einrichtung des Hauses. Immerhin kam der Umzug plötzlich, dann die Sache mit seinem Vater und jetzt seine Krankheit. Das Geräusch von Schritten riss mich aus meinen Überlegungen, und Yusei betrat den Raum. Beladen mit ein paar Stiften, einem Lineal, Zetteln und einem Taschenrechner. Er nahm wieder neben mir Platz und sah sich die Aufgaben durch. „Na schön, es ist eigentlich ganz einfach, wenn man den Dreh raushat. Schau“ sagte er und deutete auf ein paar Zahlen. „Das sind die Punkte, die du hast. Jetzt musst sie im Koordinatensystem eintragen. Dann musst du nur noch den Abstand berechnen. Aber dazu kommen wir später, trag erstmal die vier Punkte ein. Die Zahlen beschreiben die Lage der Punkte im Raum. Die Erste X, die Zweite Y und die Dritte Z.“ Wer auch immer auf die saublöde Idee kam, Mathe mit Buchstaben zu bombardieren, war echt bekloppt. Aber zumindest verstand ich den ersten Teil. Doch schon beim System zeichnen hörte ich einen belustigten Laut von rechts. „Nein, der Winkel ist falsch, schau“ Er rückte das Lineal zurecht und berührte dabei sanft meine Hand. Sofort stellte sich wieder dieses wilde Herzklopfen bei mir ein und meine Hände wurden schwitzig. Hab ich mich doch angesteckt? Aber als ich zu Hause war, ging es mir noch gut. Ich fühlte mich nur so, wenn Yusei in meiner Nähe war. „Jaden?“ Ich traute mich nicht aufzusehen, denn mein Gesicht war sicher rot von der Hitze. „Hm?“ sagte ich nur und empfand meine Stimme als unnatürlich hoch. „Du musst schon den Strich ziehen.“ Strich? Welcher Strich? Ach ja, die letzte Achse. Ich setzte den Bleistift an und führte ihn über das Blatt, dann nahm er seine Hand wieder zurück. Leider verging dadurch nicht das Herzklopfen. Ich versuchte mich zu konzentrieren und die Aufgabe zu erledigen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. „Schau mal, XY ist hier, und wenn du im 45 Grad Winkel nach oben gehst, hast du deinen Punkt“ versuchte er mir auf die Sprünge zu helfen. Dabei kam er mir schon wieder ganz nah. Meine Güte, ist das warm hier drin! Irgendwann hatte ich es endlich geschafft alles einzutragen, aber jetzt kam er mir mit irgendwelchen Formeln und langsam wurde mir schwindelig. Er bewies wirklich eine Engelsgeduld und erklärte mir jeden Schritt mehrmals, ehe ich es wirklich verstanden hatte. So gingen wir Aufgabe für Aufgabe durch und trotz der Tatsache, dass ich so unkonzentriert war, hatte es irgendwann Klick gemacht. Bei dem letzten Rechenproblem klingelte das Haustelefon und Yusei stand auf. Innerlich war ich dankbar dafür, dass seine Nähe mich nicht mehr so ablenkte, aber irgendwie fehlte jetzt etwas. „Fudo?“ meldete er sich. „Ah, Hallo… Ja, er ist da… Nein, wir haben nur die Zeit bei seinen Hausaufgaben vergessen.“ Yusei musste kurz das Telefon etwas von seinem Ohr weghalten. Anscheinend war sein Gesprächspartner sehr laut. Den Gesprächsfetzen nach zu urteilen sicher meine Mutter und wie ich sie kenne, hat sie sich eben totgelacht, als er sagte ich mache meine Hausaufgaben. Typisch. „Ja, ich sag ihm Bescheid… Das Gleiche, Tschüss.“ Damit legte er auf und kam wieder auf das Sofa. „Lass mich raten. Meine Mutter.“ Er versuchte, etwas erfolglos, ein Lachen zu unterdrücken. Ich konnte nicht anders und musste ebenfalls grinsen. „Ja, sie hat anscheinend versucht dich zu erreichen, aber dein Handy war aus.“ „Was?“ ich kramte nach meinem Handy und tatsächlich: Akku leer. Oh je, ich hoffe das gibt keinen Ärger. „Sie sagte, du sollst schnell nach Hause kommen, das Abendessen ist fertig und dein Vater ist auch schon da.“ Ist es wirklich schon so spät? Ich sah Yusei an, und in seinem Lächeln steckte eine unübersehbare Melancholie. Nachvollziehbar. Ich würde zu meinen Eltern und zu meiner Schwester fahren, die schon auf mich warten, aber er würde wieder hier allein sein. Da kam mir eine Idee. „Hey, willst du nicht mitkommen?“ Etwas perplex starrte er mich an und suchte nach einer Antwort, dann schlich sich wieder ein Lächeln auf seine Lippen und er wandte den Blick ab. „Nein, schon gut, geh nur. Ich hab schon gegessen“ sagte er kleinlaut und wurde rot. Das erste Wort, was mir dazu einfiel war einfach: süß. Süß? Wie komm ich denn darauf? Er ist größer als ich, und außerdem ein Mann. Wie zur Hölle komme ich da bitte auf süß? Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln. „Bist du sicher? Ich glaube wirklich sie hätten nichts dagegen!“ Er schüttelte den Kopf. „Alles gut, ich muss sowieso noch was für morgen vorbereiten“ sagte er und stand auf, um die Unordnung auf dem Tisch zu bereinigen. „Aber morgen ist doch Samstag, was hast du denn vor?“ fragte ich neugierig. Sofort bereute ich es, den Mund aufgemacht zu haben, denn als ich mich das letzte Mal eingemischt hatte, war er sauer gewesen. Doch meine Sorge war unbegründet. „Ich habe eine Zusage für einen Nebenjob bekommen, und morgen ist mein erster Tag. Ich soll mir aber vorher noch einige Unterlagen durchlesen, die sie mir zugeschickt haben“ beantwortete er meine Frage. Da er ja schon so ehrlich ist, kann ich auch weiterbohren. „Und welcher Nebenjob?“ fragte ich daher mit einem Lächeln. Er sah mich an und erwiderte es. „In einer Werkstatt. Ich werde vermutlich erst bei den Unterlagen anfangen, wie damals in Osaka, aber das stört mich nicht.“ „Ach stimmt, du hast ja dein Motorrad auch selbst gebaut, oder?“ „Na ja, so ähnlich. Ich habe es aus Einzelteilen vom Schrottplatz zusammengebaut. Mein damaliger Chef aber hat viele Teile seiner Räder selbst gebaut, also würde ich sagen, ich habe es nur restauriert. Jetzt solltest du aber los, sonst macht sich deine Mutter noch Sorgen wo du steckst!“ „Hast Recht, aber gib mir vorher noch kurz dein Handy, ja?“ Wieder erntete ich einen verwirrten Blick. „Was willst du denn damit?“ „Wirst du schon sehen“ sagte ich mit einem Grinsen. Er musterte mich skeptisch, kam aber meiner Bitte nach. Ich nahm das Handy entgegen und tippte etwas ein. „So, fertig!“ sagte ich erfreut. „Ich hab dir meine Nummer eingespeichert, dann kannst du mir sagen, wie es war, ja?“ Ich hielt ihm das kleine Gerät entgegen. Als er es wieder an sich nahm, berührten sich unsere Hände abermals und ich bekam eine wohlige Gänsehaut. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, packte ich schnell meine Sachen zusammen und ging zur Haustür. Yusei folgte mir. Zum Abschied hob ich noch die Hand, setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr los. Auf dem Heimweg kam mir plötzlich wieder die Erinnerung dieser Berührung unserer Hände in den Kopf. Seine Haut war so weich. Er nahm meine Gedanken den gesamten Heimweg über in Besitz. Kapitel 6: Das Spiel -------------------- Als Jaden das Haus verließ, ruhte mein Blick noch eine Weile auf ihm, bevor er in eine Seitenstraße bog. Ich wusste nicht warum, aber plötzlich fühlte ich wieder diese Leere, die ich schon den ganzen Tag spürte. Zumindest bis er hier aufgetaucht war. Es war, als würde er sie ausfüllen. Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Genauso wenig konnte ich mir dieses Herzklopfen erklären, als sich unsere Hände berührt hatten. Ich ging wieder ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Es lief noch immer das letzte Konzert meiner Mutter. Wie sehr ich ihre Musik liebte. Sie schenkte mir Trost und Wärme. Selbst jetzt. Eine ganze Weile saß ich noch so da, lauschte ihrer Musik und war wie in Trance. Als das Video beendet war, stellte ich den Fernseher wieder aus und las endlich die Unterlagen, die mir mein Chef geschickt hatte. Dabei wanderte mein Blick immer wieder zu meinem Handy auf dem Tisch. Sollte ich ihm schreiben? Aber was? Und warum wurde ich so nervös bei diesem Gedanken? Könnte es sein… Nein. Das war absurd. Also las ich weiter und als ich fertig war, aß ich noch eine Kleinigkeit. Wieder wanderte mein Blick zu meinem Handy. Ich seufzte und nahm es an mich. Langsam tippte ich einige Worte und löschte sie wieder. Warum war das denn so schwer? Einige Male wiederholte ich es noch, ehe ich eine halbwegs sinnvolle Nachricht verfasst hatte und diese abschickte. Sofort bereute ich es und mein Herzschlag ging schneller. Mein Magen verkrampfte sich. Erneut las ich die Nachricht durch. Hey Jaden, ich hoffe ich konnte dir weiterhelfen, und dass du gut Zuhause angekommen bist. Danke nochmal für deinen Besuch, ich habe mich wirklich gefreut. Yusei Keine Ahnung, warum mir das so peinlich war. Wollte er überhaupt, dass ich ihm schreibe? Immerhin erwartet er ja erst morgen eine Nachricht von mir. Ich wollte mich auch nicht aufdrängen. In meiner Grübelei bemerkte ich zuerst den SMS-Ton meines Handys nicht. Als ich auf den Absender sah, sackte mein Herz ein paar Etagen tiefer. Jaden. Hey Yusei! Kein Problem, hab ich gern gemacht :) Ich glaub, ich hatte noch nie einen so guten Nachhilfelehrer wie dich! Ich hab heute zum ersten Mal verstanden, was Sensei Flannigan eigentlich von mir will. Und selbstverständlich bin ich gut Zuhause angekommen ;) Hast du das Zeug schon gelesen, dass dir dein Chef geschickt hat? Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und mein Bauch kribbelte angenehm. Ich antwortete ihm und wir schrieben noch recht lang an diesem Abend. Und fast die gesamte Zeit über bekam ich dieses Grinsen einfach nicht aus meinem Gesicht. ~*~ Mein erster Arbeitstag war wirklich angenehm. Ich hatte etwas eigensinnige, aber wirklich nette Kollegen. Wie erwartet, wurde ich bei den Ablagen eingeteilt und musste zum Großteil Rechnungen sortieren und abheften. Aber das störte mich nicht. Ich mochte diese Aufgaben, lenkten sie mich doch von meinen eigentlichen Problemen ab. Eine größere, durchaus angenehmere Ablenkung, war jedoch Jaden. Ich hatte das Gefühl, uns gingen die Themen einfach nicht aus. So verbrachte ich den Großteil des restlichen Tages damit, mit ihm zu schreiben. Bei jeder seiner Nachrichten spürte ich meinen Herzschlag etwas mehr. Solche Gefühle hatte ich nicht einmal damals, bei meiner ersten Freundin. Moment. Hatte ich Jaden eben mit meiner letzten Beziehung verglichen? Was ist nur mit mir los? Um mich auf das morgige Spiel vorzubereiten, schaute ich mir noch ein paar Mitschnitte von Fußballspielen der Bei-Tan Oberschule an. Die Nummer 7 war wirklich gut, doch verließ er sich nicht auf sein Team und spielte oft im Alleingang. Vielleicht kann man sich das ja noch zunutze machen. Am nächsten Tag wartete ich bereits in meinen Fußballklamotten vor meinem Haus auf Jaden. Er war ziemlich spät dran. Ich wollte ihn schon anrufen, da sah ich ihn mit dem Fahrrad aus der Seitenstraße biegen. Als er vor mir zum Stehen kam, war er völlig außer Atem. „Es… tut mir… verdammt leid!“ sagte er, wobei er zwischen den Worten aufatmen musste. Ich lächelte ihn an. „Dir ist bewusst, dass wir uns verspäten, wenn wir jetzt laufen, oder?“ Da sah ich in schuldbewusste, kastanienbraune Augen. „Das ist alles meine Schuld, ich hoffe du bist nicht sauer!“ Wie sollte ich ihm bei diesem Blick böse sein? Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber wenn wir pünktlich sein wollen, müssen wir das Motorrad nehmen.“ Als ich seinen geschockten Blick sah, kostete es mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht loszulachen. „Mach dir keine Sorgen, ich fahre vorsichtig und ich habe einen zweiten Helm. Du müsstest nur mein Navi spielen“ sagte ich mit einem leichten Grinsen. Er schluckte, stimmte aber zu, also holte ich mein Fahrzeug aus der Garage und warf ihm meinen Ersatzhelm in die Arme. Als er hinter mir Platz genommen hatte, spürte ich wie er zitterte. „Keine Sorge, ich bin ein guter Fahrer, du musst dich nur gut festhalten.“ Er schlang seine Arme um meine Taille und mir wurde kurz anders, aber ich musste mich konzentrieren. „Bereit?“ fragte ich sanft. Ich spürte wie er nickte und fuhr los. Er führte mich bis zum Park, wo ich bereits Jacks Motorrad sah. Wir kamen daneben zum Stehen und stiegen ab. Jaden stand ziemlich wackelig auf den Beinen. „Alles in Ordnung?“ fragte ich deshalb besorgt. Doch er winkte nur ab, sammelte sich und antwortete: „Sicher, aber das war verdammt schnell! Ich bin noch nie Motorrad gefahren.“ Entgegen seiner Aussage sah er etwas blass im Gesicht aus. „Dafür hast du dich ziemlich gut gehalten“ sagte ich lächelnd und sah auf die Uhr. Wir hatten noch genügend Zeit, um uns mit den Anderen zu treffen und alles abzusprechen. Nachdem ich die Helme verstaut hatte, liefen wir los und sahen kurz darauf auch den Rest der Mannschaft. „Hey! Da seid ihr ja!“ rief Crow und winkte uns zu sich. „Ich hab eigentlich erwartet, dass du zu spät kommst, Jaden.“ „Echt jetzt?“ grummelte er. Im Augenwinkel sah ich den Spieler mit der Nummer 7, den ich gestern in den Spielausschnitten gesehen hatte. Er kam auf uns zu und grinste hinterhältig, fast schon bösartig. „Sieh mal einer an, ihr habt euch wirklich getraut heute aufzutauchen!“ Dabei klatschte er in seine Hände und redete überheblich weiter. „Hätte ich euch wirklich nicht zugetraut. Wie hoch wollt ihr denn heute verlieren?“ Nie war mir ein Mensch von vornherein so unsympathisch wie dieser Kerl. Jaden grinste ihm nur entschlossen entgegen. „Wir werden ja sehn wer heute vom Platz gefegt wird, Tanaka!“ Jack kämpfte anscheinend mit sich, um dem Typen nicht an die Gurgel zu gehen. „Hm.“ Mehr bekam Jaden nicht als Antwort von dem Typen, dessen hochnäsiges Grinsen sich sogar noch verstärkte, ehe er zu seiner Mannschaft ging. Doch bei seinem Abgang fiel mir etwas Seltsames an seinem Gang auf. „Na schön, Jungs“ setzte Jaden an. „Heute werden wir diesem aufgeblasenen Idioten zeigen was wir können! Ihr müsst versuchen, Tanaka so gut wie möglich zu decken. Er ist ihr stärkster Spieler und darf so selten wie es geht an den Ball kommen!“ „Nein“ fiel ich ihm gedankenverloren ins Wort, während ich immer noch diesem Typen hinterher sah. Jack blitzte mich wütend an. „Was meinst du mit ‚Nein‘? Du kennst die Mannschaft nicht mal! Wie willst du da-“ Jaden hob eine Hand und bedeutete ihm so still zu sein. „Was denkst du?“ Ich sah dem Typen immer noch hinterher. „Seht ihr wie er läuft?“ fragte ich und die Blicke der anderen Spieler wanderten zu Tanaka. „Was soll denn an seinem Gang so besonders sein?“ fragte mich Crow verwirrt. Auch die anderen sahen mich neugierig an. „Er zieht sein rechtes Bein ein wenig nach. Sieht aus, als wäre er vor kurzem verletzt gewesen“ sagte ich und sah meiner neuen Mannschaft entgegen. „Außerdem ist er ein Einzelgänger. Er ist zu stolz, um den Ball zu den anderen Spielern zu passen. Ich habe mir gestern ein paar ihrer vergangenen Spiele angesehen. Er ist das Zentrum der Mannschaft, aber das ist eine verdammt brüchige Strategie. Konzentriert eure Deckung nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Anderen. Sollte er am Ball sein, nehmt ihn euch von Tanakas rechter Seite aus. Das ist sein schwaches Bein. Und wegen seines Stolzes wird er den Zweikampf nicht durch ein Passspiel beenden.“ Jack gefiel was er hörte, denn jetzt grinste er diabolisch. „Verstehe, wenn das so ist!“ Auch Jaden grinste mich an. „Na dann! Machen wir sie fertig!“ Zustimmende Rufe der anderen Spieler folgten und wir liefen auf den Platz. Ich ließ mich kurz zu Hiroshi zurückfallen, der mich nervös ansah. Ob ich zu streng mit ihm war? „Alles okay?“ fragte ich. Er musste schlucken, nickte jedoch. „Wenn dir der Ball zu schnell entgegenkommt, schlag ihn einfach mit der Faust weg und versuch nicht ihn zu halten. Aster und Ohara werden ihn schon annehmen.“ Kurz noch sah er mich verwundert an, stimmte aber zu. Den Schiedsrichter spielte ein Junge aus dem ersten Jahrgang der Bei-Tan Oberschule. Punkt 12 Uhr standen alle in Position. Jaden hatte uns nach dem 4-4-2 System aufgestellt. Er und ich fungierten als Stürmer. Jack und Crow waren die Außenverteidiger, Daichi spielte als offensives Mittelfeld, Gendo als defensiver Mittelfeldspieler. Ohara und Aster waren die Innenverteidiger, Jim und Chumley die Außenverteidiger. Hiroshi stand im Tor. Wie zu erwarten war, spielte Tanaka als einziger Stürmer, mit zwei weiteren Offensivmittelspielern. Dafür hatten sie eine starke Verteidigung ausgebaut. Einfach wird das wohl nicht. Der junge Schiedsrichter hob seine Stimme. „Na schön, das Spiel geht 60 Minuten, Halbzeit nach 30 Minuten. Die Regeln sind wie bei der Regionalmeisterschaft!“ Ein Pfiff ertönte und der Ball flog in die Luft. Jaden hatte den Ball ziemlich schnell im Besitz. Leider wurde er von zu vielen Spielern abgehalten weiterzukommen. Die Mannschaften kannten sich schon, daher wurde er gut gedeckt. Er sah sich um, passte den Ball zu mir und ich konnte ihn problemlos weiter nach vorn spielen. Ein Schuss. Tor. Der gegnerische Keeper war vollkommen entsetzt, ebenso wie Tanaka. Keiner von denen hatte mich auf dem Schirm, aber das würde sich jetzt ändern. „Guter Schuss!“ lobte mich Crow plötzlich. Ich schmunzelte und spielte weiter. Der Rest unserer Mannschaft versuchte auf Zeit zu spielen. Als Tanaka unserem Tor gefährlich nah kam, setzte er wieder ein überhebliches Grinsen auf. Scheinbar hatte Aster den Tipp mit der Verletzung aber ernst genommen und konnte den Ball wieder nach vorn spielen. Völlig entsetzt drehte sich die Nummer 7 um und man konnte langsam sehen, wie Wut in seinen stahlgrauen Augen blitzte. Jetzt wurde natürlich auch ich gedeckt, weswegen Jaden es ziemlich schwer hatte, mir den Ball zuzuspielen. Er passte zu Jack, der nun Tanaka wieder gegenüberstand. Der Blondschopf wich ihm mit einer gekonnten Drehung aus, stand dann aber allein vor den beiden Innenverteidigern. Da die gegnerischen Verteidiger den Zweikampf verfolgten, konnte ich mich aus ihrer Deckung befreien und rannte. Ich stand frei. Warum spielt er den Ball nicht zu mir? Ich habe freies Schussfeld! Endlich schien er mich im Augenwinkel zu sehen, und spielte mir einen hohen und ungenauen Pass zu. Dummerweise sah das auch Tanaka, der jetzt auf mich zu rannte. Bevor ich den Ball annehmen konnte, hatte ich seinen Ellenbogen in der Magengegend, sodass ich für einen kurzen Moment durch den Schmerz abgelenkt war. Er nutzte seine Chance und rannte mit dem Ball wieder nach vorn. Ich hielt mir den Magen und stand leicht gekrümmt da. Na warte, das zahle ich dir heim. „Alles in Ordnung?“ fragte Jaden besorgt. Ich riss mich zusammen. „Sicher, war nur ein kurzer Schmerz.“ Er funkelte dem gegnerischen Stürmer wütend hinterher. „Warum wurde das nicht gepfiffen?“ „Mach dir nichts draus. Der Schiedsrichter sieht aus, als hätte er nicht sonderlich viel Erfahrung.“ Leider konnte sich die Nummer 7 an den Verteidigern vorbeiwinden und schoss auf das Tor zu. Ich grinste entschlossen. Endlich hatte Hiroshi Fortschritte gezeigt und den Ball abgewehrt. Nicht gehalten, aber immerhin. Scheint, als würde er doch auf meine Tipps hören. Ohara nahm den Ball an, wie vorausgesagt, und spielte ihn Crow zu. Der war schneller als die anderen Spieler und ließ sie hinter sich. Gerade als er zu Jack passen wollte, hörten wir einen Pfiff. Halbzeit? Ernsthaft? Die Mannschaften sammelten sich am Spielfeldrand. „Ach verdammt!“ stieß Crow aus. „Wir hätten eine größere Führung, wenn wir nur zwei Minuten länger Zeit gehabt hätten!“ „Ich wundere mich, dass wir überhaupt in Führung sind“ sagte Gendo, wofür er sich nur einige gereizte Blicke einfing. „Ich würde mal behaupten, dass das an Yuseis Beobachtung lag.“ Ich sah Jim überrascht an, der mich daraufhin angrinste und mir anerkennend gegen die Schulter schlug. Seltsamer fand ich es, dass auch Jack ihm zustimmte und noch etwas einwarf. „Heute machen wir sie fertig! Die Blamage vom letzten Mal lass ich nicht auf mir sitzen.“ Nach einer kurzen Pause hörten wir wieder den schrillen Pfiff. Dieses Mal gingen sie aggressiver vor. Einige ihrer Verteidiger preschten nun ebenfalls nach vorn, was mir und Jaden aber den Weg frei räumte. Leider war ihr Torwart besser als gedacht und wir konnten unsere Chancen nicht nutzen. Der rechte Mittelstürmer des Gegnerteams hatte den Ball und sprang über die Grätsche von Ohara und Aster. Damit hatte er freie Bahn auf das Tor. Ausgleich. Hiroshi konnte den unmöglich halten. Der weitere Spielverlauf war sehr ausgeglichen. Wir hatten nur noch wenige Minuten zu spielen, da hatte wieder Jaden den Ball und rannte auf das Tor zu, doch Tanaka reichte es. Er grätschte in Jadens Lauf und traf nicht nur den Ball, sondern auch das Sprunggelenk unseres Kapitäns mit voller Wucht. Jaden ging daraufhin mit einem Aufschrei zu Boden. Ein Pfiff. Das Spiel wurde unterbrochen. Tanaka hatte eine gelbe Karte, doch das interessierte mich im Moment wenig, denn Jaden lag immer noch am Boden. Ich kniete mich neben ihn und versuchte ihm aufzuhelfen. „Alles Okay? Kannst du aufstehen?“ Er biss die Zähne zusammen und setzte sich auf. Ein Auge kniff er zu, während er versuchte aufzustehen, aber er konnte mit dem linken Fuß nicht auftreten. Ich musste ihn stützen, damit er nicht umfiel. Währenddessen sammelten sich auch die anderen Spieler um uns herum. „Ich glaube, weiterspielen kann ich damit nicht. Schafft ihr den Rest allein?“ fragte er und sah den Rest der Mannschaft schon fast schuldbewusst an. Jack hatte genug gesehen. Er ging auf Tanaka zu und packte ihn am Kragen. Die Selbstzufriedenheit wich aus dem Gesicht des Stürmers und er wurde blass. „Du mieser, kleiner-“ knurrte der Blonde. „Jack!“ unterbrach ich ihn. Verwirrt sah er zu mir und hatte sein Gegenüber noch immer in seinem Griff. Ich schüttelte leicht den Kopf, dabei sah ich diesen Bastard von einem Gegner wutentbrannt an. „Er ist es nicht wert, sich deswegen eine rote Karte einzuhandeln, auch wenn ich dich verstehen kann.“ Jack schnaubte und ließ unsanft von ihm ab. Währenddessen widmete ich mich wieder Jaden. „Wir haben nicht mehr lange zu spielen, wir schaffen das schon. Mach dir keine Sorgen. Aber den Knöchel solltest du kühlen.“ „Ich hab eine kleine Kühlbox mit, da ist noch ne Limo drin“ sagte Chumley. Hm, das wird erstmal gehen. Vorsichtig gingen wir zum Spielfeldrand, dabei wurde Jaden von Crow und mir abgestützt. Unser rundlicher Außenverteidiger hielt dem Verletzten das kühle Getränk hin, dieser lehnte es an seinen Knöchel und zuckte kurz zusammen. In mir baute sich eine unglaubliche Wut auf. „Hey, jetzt schau nicht so!“ sagte Jaden und sah mich mit einem Grinsen an. „Ist wahrscheinlich einfach verstaucht, mach dir keinen Kopf.“ An alle anderen gewandt sprach er weiter. „Vermutlich bekommen wir einen Freistoß. Hat jemand Lust auf ein kleines Täuschungsmanöver? Die Typen erwarten sicher, dass Yusei schießt, stattdessen kann Jack ja endlich mal seine Rache bekommen, damit er uns nicht die ganze Zeit auf den Keks geht.“ Crow lachte laut auf, Jack gefiel die Idee. Als wir wieder auf das Spielfeld liefen, sagte der Schiedsrichter einen Freistoß an. Jack und ich standen ein paar Schritte voneinander entfernt. In der Reihe von Gegenspielern stand auch Tanaka. Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und hoffte, dass er dadurch den Köder schluckte. „Willst du die linke, oder die rechte Ecke?“ murmelte ich an Jack gerichtet, doch starrte ich noch immer diesen Idioten an. Aus Jacks Stimme konnte ich ein Grinsen raushören als er antwortete. „Ich nehm die Rechte, danke.“ Ein Pfiff und wir rannten zeitgleich los. Ich legte etwas an Geschwindigkeit zu, sodass ich ein wenig vor Jack rannte. Kurz bevor wir den Ball erreichten, schrie Tanaka: „Der Kleinere wird schießen!“ Ich grinste. Er hatte es also geschluckt. Ich täuschte einen Schuss in die linke Ecke an, wodurch die Verteidiger, sowie der Torwart in diese Richtung sprangen, doch dann drehte ich mich weg und Jack schoss. Als unsere Gegner realisierten, dass sie uns auf den Leim gegangen waren, war es schon zu spät. Der Ball ging ins Netz und rollte wie in Zeitlupe über den Rasen. Die Stille wurde plötzlich durch die Jubelrufe unseres Teams unterbrochen. Tanaka starrte mich noch immer erschrocken an, doch ich schenkte ihm ein kurzes, triumphierendes Lächeln und ging zu meiner Mannschaft. Wir hatten es geschafft. „Na, Jack, wie fühlst du dich jetzt?“ fragte Crow schelmisch. Als Antwort bekam er ein siegreiches Grinsen, dann sah der Blondschopf zu mir. „Gutes Spiel. Ich muss gestehen, du hast was drauf.“ „Wow, ein Lob vom großen Jack Altas. Darauf kannst du dir was einbilden!“ scherzte Jim. „Aber ernsthaft, gut gemacht!“ Warum? Ich hatte nicht mal das Siegtor geschossen. Ohne den Freistoß hätten wir vermutlich verloren. „Sag mal, Jaden?“ setze Daichi an. „Wie kommst du denn jetzt nach Hause? Du bist doch sicher wieder mit dem Fahrrad hier, nicht?“ „Nein, wir sind auf meinem Motorrad hergekommen“ sagte ich und sah Jaden an, der noch immer am Boden saß. „Ich fahr ihn schon wieder nach Hause.“ Er sah mich etwas überfordert an und grinste dabei schief. „Danke, aber bitte nicht wieder so schnell!“ Ich lachte. „Nein, keine Sorge, dieses Mal haben wir ja Zeit.“ Die anderen verabschiedeten sich und Crow half mir wieder Jaden abzustützen, während wir zu dem kleinen Parkplatz liefen. Jack lief neben uns her, denn auch er war mit seinem Fahrzeug hier. „Ihr seid inzwischen echt dicke miteinander, nicht?“ fragte der Igelkopf. „Klar! Ich mochte ihn von Anfang an“ erwiderte Jaden grinsend. Ich senkte den Blick, denn mir schoss wieder diese Hitze in den Kopf. Stimmt, jetzt wo ich zurückdenke, war er vom ersten Tag an sehr nett zu mir. Wieder schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen, als ich an unser erstes Aufeinandertreffen dachte. Ich hatte kaum mitbekommen, dass wir bereits neben meinem Motorrad standen. Als Jaden sich an dem Fahrzeug abgestützt hatte, verabschiedete sich auch Crow. Jack stieg auf seine Maschine und hatte das Visier seines Helmes noch oben. „Na dann, kommt heil an.“ Damit klappte er das Visier runter und fuhr los. Ich gab Jaden den Helm und er nahm ihn freudig entgegen. „Was ist denn mit dir los? Ich dachte du kannst Motorrad fahren nicht leiden“ fragte ich belustigt. Ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen als er sprach. „Na ja, wahrscheinlich werde ich niemals allein auf so eine Höllenmaschine steigen, aber ich vertraue dir!“ Da war es wieder. Dieses Kribbeln in meinem Bauch. Er vertraut mir? Aber wir kennen uns doch noch gar nicht lang. „Na los, lass uns fahren!“ bestimmte er glücklich lächelnd. Ich konnte nicht anders als es ihm gleichzutun. Ich setzte ebenfalls meinen Helm auf, um dann auf meine Maschine zu steigen. Wieder schlang er seine zierlichen Arme um meine Taille und schmiegte sich an meinen Rücken. Zum Glück konnte er jetzt mein Gesicht nicht sehen, also fuhr ich los, dieses Mal aber etwas langsamer. Wir fuhren an meinem Haus vorbei und bogen in die Seitenstraße ein, aus der er heute Morgen rauskam. „Jetzt musst du mir aber sagen wo ich lang muss, ich kenne deine Adresse nicht.“ „Hm?“ bekam ich nur als Antwort. Anscheinend war er gerade in Gedanken. Ich schmunzelte und drehte meinen Kopf leicht über meine Schulter, damit er mich besser verstand. „Du musst mir sagen wo ich abbiegen soll.“ „Ach so! Ja! Da vorne an dem Café rechts, dann an der dritten Kreuzung links und wir sind fast da.“ Mit diesen Worten vergrub er sein Gesicht wieder in meiner Jacke und verstärkte seinen Griff ein wenig. Ob ihm doch etwas übel ist? Vorhin war er ja auch recht blass als er abgestiegen ist. Ich folgte seiner Beschreibung und sah den quietschgelben Kleinwagen von Jadens Mutter am Fußweg stehen. Das ist dann vermutlich sein Haus. Ich hielt hinter dem Wagen an und stellte dann den Motor ab. „Wir sind da“ sagte ich, da er seinen Griff noch immer nicht gelöst hatte. Das schien ihn wieder aus seinen Gedanken zu reißen, denn er ließ mich schnell los und setzte den Helm ab. Ich stieg von meinem Fahrzeug und nahm ihn an mich. „So, jetzt müssen wir dich nur noch bis ins Haus bekommen“ sagte ich währenddessen. Er stand wieder auf einem Bein neben meinem Motorrad und hielt mir seine Hand hin. Ich lächelte und nahm sie entgegen, um ihn bis zur Tür abzustützen. Da dieses Unterfangen aber anscheinend ziemlich schmerzhaft für ihn war, blieb ich nach ein paar Schritten stehen. Wir standen immer noch auf dem Fußweg. „Was ist denn los?“ fragte er. Ich schüttelte nur belustigt den Kopf. „Das kann man sich ja nicht mit ansehen“ sagte ich scherzhaft und nahm ihn kurzerhand auf meine Arme, um ihn bis zur Tür zu tragen. Ich hatte eigentlich mit Protest gerechnet, doch er lag ganz ruhig in meinen Armen und hatte sein Gesicht an meiner Schulter vergraben. Mein Herz schlug dabei schneller, ich hoffte er würde es nicht merken. An der Tür setzte ich ihn vorsichtig wieder ab, dabei hatte er den Blick noch immer gesenkt. „D-Danke“ stotterte er. Ich sah ihn besorgt an. „Ich hoffe dir ist nicht wieder schlecht“ sagte ich und nahm sein Kinn etwas höher, damit er mich endlich ansah. Entgegen meiner Erwartung war er nicht blass, sondern knallrot. Ehe ich etwas darauf sagen oder reagieren konnte, öffnete sich die Tür des Hauses und ich zog meine Hand schnell wieder zurück. Frau Yuki sah uns verwirrt an „Jaden? Ich habe dich gar nicht so früh wieder erwartet. Und was machst du hier, Yusei?“ „Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Ich habe Jaden auf dem Motorrad mitgenommen, weil er sich den Knöchel verletzt hat. Ich wollte ihn nur zu Hause absetzen.“ Ich hatte das Gefühl mein Herz zerspringt jeden Moment in meiner Brust, seit ich in Jadens Gesicht gesehen habe. „Aber nein, du störst nicht“ sagte seine Mutter mit einem Lächeln im Gesicht. „Es war sehr freundlich, dass du meinen Sohn hergefahren hast. Ich danke dir.“ „Keine Ursache“ sagte ich geistesabwesend. In Gedanken war ich noch immer bei den erschrockenen Rehaugen, die mich aus dem knallroten Gesicht ansahen. Ich riss mich zusammen und sah seine Mutter an. „Ich muss wieder los, ich wollte meinen Vater heute besuchen, aber vorher muss ich noch schnell nach Hause.“ „Sag ihm liebe Grüße von mir“ sagte sie und wandte sich dann an Jaden. „So und jetzt sehe ich mir mal deinen Knöchel an. Komm rein, mein Spatz.“ Ohne ein weiteres Wort hüpfte er auf seinem gesunden Fuß ins Haus und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Hatte ich ihn irgendwie verletzt? Jadens Mutter riss mich mit ihrer Stimme aus meinen Grübeleien. „Ist irgendwas passiert? So still habe ich ihn selten erlebt.“ Ich wusste auch nicht was mit ihm los ist. „Keine Ahnung“ murmelte ich wieder, verabschiedete mich und ging zu meinem Motorrad. Zuhause angekommen stieg ich unter die Dusche, doch wirklich entspannen konnte ich mich nicht. Was war denn eben mit ihm los? Warum ist er so rot angelaufen, und warum ging er ins Haus, ohne sich zu verabschieden? Und die nicht weniger interessante Frage: Warum verletzte mich das so sehr? Als ich fertig war, ging ich mit meinem Handtuch um der Hüfte ins Wohnzimmer, wo ich mein Handy abgelegt hatte. Ich brauche endlich Antworten, das macht mich noch wahnsinnig! Also setzte ich mich aufs Sofa und schrieb Jaden eine Nachricht. Hey, ich hoffe deine Verletzung ist nicht so schlimm. Ist alles in Ordnung bei dir? Wenn ich etwas falsch gemacht haben sollte, sag es mir bitte. Ich seufzte und legte das Handy neben mir ab. Da fiel mir der Brief von meinem Vater ins Auge. Stimmt, deswegen muss ich meinen Vater nachher auch noch ansprechen. Ich ließ mich in die Rückenlehne sinken und versuchte meine Gedanken zu ordnen. * Die Sicht von Jaden * Ich war gerade im Wohnzimmer angekommen und hörte meine Mutter, wie sie sich von Yusei verabschiedet hatte. Ungeschickt ließ ich mich auf das Sofa sinken, dabei vergaß ich völlig meinen verletzten Knöchel, der sich jetzt mit einem stechenden Schmerz meldete. Ich lehnte mich an und schloss die Augen. In Gedanken war ich wieder in dem Augenblick, als Yusei mich plötzlich hochnahm. Ich spürte noch immer seine starken Arme an meinem Rücken und meinen Beinen. Spürte noch immer mein wild pochendes Herz, dass sich einfach nicht beruhigen wollte. Fühlte die Hitze in meinem Gesicht. Als ich mich an seine Schulter lehnte, spürte ich auch sein Herz, und es ging ihm wie mir. Ich war wie in einer Starre. Ich konnte mich weder bewegen, noch etwas sagen. So kenne ich mich gar nicht. Als er mich dann absetzte, brachte ich kaum ein Wort heraus. Es war mir so peinlich, als er meinen Kopf hob und mein Gesicht sah. Die Stelle, an der er mein Kinn berührte, kribbelte noch immer. Was ist nur los mit mir? Als ich meine Augen wieder öffnete, erschreckte ich mich fast zu Tode, denn meine Mutter saß direkt neben mir und starrte mich an. Wie lange sitzt die denn da schon? „Wa-Was ist denn jetzt los?“ fragte ich völlig perplex. „Geht’s dir gut?“ „Ja, mir tut nur der Knöchel weh…“ sagte ich nicht ganz so überzeugend. Meine Mutter hob eine Augenbraue „Verstehe, und da ist nicht noch Etwas, dass mit Yusei zu tun haben könnte, oder?“ Wieder wurde ich rot und wandte den Blick schnell ab, ehe sie es bemerken konnte. „Warum? Nein, mir geht’s gut!“ „Und warum hast du ihn einfach ohne ein Wort stehen lassen? Er war deswegen ziemlich geknickt!“ Erschrocken sah ich sie nun doch wieder an. Ich wollte nicht, dass er sich jetzt schlecht fühlt. Wieder senkte ich den Blick. Mein Magen verkrampfte sich unangenehm. Ich bin echt ein Trottel. Sie sah wohl, dass ich traurig war und seufzte. Als ich aber aufsah, schaute sie mich nicht besorgt an, sondern glücklich. Was ist denn jetzt kaputt? „Warum guckst du mich so an?“ fragte ich skeptisch. „Nichts!“ trällerte sie und ging aus dem Raum. Was ist denn mit der jetzt los? Kurze Zeit später kam sie mit einer weißen, und einer blauen Mullbinde, sowie einer Schiene zurück ins Zimmer und grinste noch immer vor sich hin. Langsam wird’s gruselig. Sie verband meinen Knöchel und legte die Schiene an. Dabei schaute sie die ganze Zeit so selig. „Sag mal, Mama? Geht’s dir gut?“ Sie kicherte „Ja, sehr gut, mein Spatz. Du darfst deinen Fuß jetzt nicht belasten. Leg ihn am besten hoch und entspann dich etwas. Wie lief denn das Spiel, abgesehen von deiner Verletzung?“ „Ganz gut, wir haben 2:1 gewonnen“ antwortete ich etwas verwirrt. „Freut mich, ich mach dir dein Mittagessen warm, willst du vorher lieber noch Duschen? Aber mach mir bloß den Verband nicht nass!“ Das war keine schlechte Idee. Ich fühlte mich total verschwitzt, und konnte eine Dusche vertragen. „Ja, ich geh ins Bad“ antwortete ich deshalb und humpelte drauf los. Durch den Verband und die Schiene tat es nicht mehr ganz so weh. Das Waschen gestaltete sich zwar als Herausforderung, weil das eine Bein ja nicht nass werden durfte, aber irgendwann hatte ich das auch geschafft, und ging, beziehungsweise humpelte, wieder in die Küche. Ich hatte einen Riesenhunger. „Setz dich doch ins Wohnzimmer, ich bring dir dein Essen gleich. Und leg das Bein bitte hoch, sonst bessert sich nichts.“ Ich folgte ihrer Aufforderung und saß ganz brav auf dem Sofa. Und natürlich hatte ich mein Handy wieder wer weiß wo, sodass ich mich nicht beschäftigen konnte. Ich seufzte. Dabei wollte ich doch Yusei schreiben, und mich entschuldigen. „Dein Telefon hat übrigens geklingelt“ sagte meine Mutter und kam mit einem Teller ins Zimmer. „Echt? Wo denn? Ich hab keine Ahnung wo es liegt.“ Sie seufzte. „Typisch. Deswegen erreiche ich dich auch nie“ sagte sie und stellte den Teller vor mir ab. „Ich glaube es kam aus deiner Jacke.“ Wo hatte ich jetzt wieder die Jacke hingelegt? Ein Blick zur Seite: gefunden. Schnell fischte ich das Handy raus und mein Herz blieb für einen Moment stehen. Yusei kam mir schon zuvor. Als ich die SMS las, spürte ich einen Stich in meiner Brust. Er hatte Schuldgefühle. Da spürte ich eine Hand auf meinem Kopf und zuckte kurz zusammen. Meine Mutter sah mich mit einem warmen Lächeln an. „Iss erstmal was, mein Spatz. Mit leerem Magen schreibt man nur dummes Zeug.“ „Hör auf mich Spatz zu nennen“ grummelte ich. Aber im Prinzip hatte sie recht. Nach dem Essen nahm ich mir wieder mein Handy. Ich hatte etwa 100 Nachrichten im Kopf verfasst, aber wirklich zufrieden war ich nicht, also tippte ich einfach drauf los. Entschuldige, dass ich dir jetzt erst antworte. Nein, die Verletzung ist nicht schlimm. Wie ich schon sagte: nur eine Verstauchung :) Bei mir ist alles in Ordnung, ich war nur müde, das hatte nichts mit dir zu tun! Du hast wirklich NICHTS falsch gemacht! Danke nochmal fürs Heim bringen, und sag deinem Vater liebe Grüße. * Die Sicht von Hakase * Ich war gerade fertig mit einer weiteren Therapiesitzung. Wie immer hatte ich nicht wirklich viel gesagt, und der Arzt war mittlerweile vermutlich unzufrieden. Ich verabscheute diesen Ort und wollte nur noch nach Hause, zu meinem Sohn. Ob es ihm wieder besser geht? Naomi sagte, er wäre krank und hätte vor ein paar Tagen sehr hohes Fieber gehabt. Ich machte mir schreckliche Sorgen um ihn, aber ich konnte ihn leider nicht anrufen oder besuchen. Der Kontakt zur Außenwelt war hier nur sehr beschränkt. Das ist alles meine Schuld! Was hat mich nur geritten dieses Skalpell anzusetzen? Hätte Naomi mich nicht im Lager gefunden, wäre ich vermutlich tot. Ich hatte ihr so viel zu verdanken. Sie kümmerte sich um Yusei und hielt mich immer auf dem Laufenden, wenn sie da war. Ich wünschte nur, ich wäre nicht die ganze Zeit so müde. Der Tabletten-Cocktail, den ich jeden Tag bekam, hatte wirklich so seine Nebenwirkungen. Ich lag im Bett und starrte aus meinem Fenster in den weiten, blauen Himmel. Miako. Ich denke so oft an dich. Ich wünschte, du wärst hier. Ich wünschte, du könntest dich statt meiner um Yusei kümmern. Er ist ein guter Junge. Du bist sicher so stolz auf ihn, wie ich es bin. Ich spürte die warmen Tränen, die meine Wange hinabliefen, doch ich ignorierte sie. Warum bin ich noch hier? Wie gern wäre ich bei dir, mein Liebling. Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Schnell wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht und setzte mich aufrecht hin. „Herein“ sagte ich. Wer würde mich schon besuchen? Naomi hatte heute einen freien Tag. Doch ich war freudig überrascht, als mein Sohn plötzlich durch die Tür kam und sie hinter sich schloss. “Wie geht’s dir?“ fragte er mich leise. Er macht sich wohl noch immer Sorgen um mich. Ich kann ihn verstehen, wäre es andersherum, würde ich platzen vor Sorge. Doch ich überging seine Frage, denn ich konnte nicht ehrlich darauf antworten, ohne dass er sich schlecht fühlen würde. „Keine Sorge, wie geht es dir denn? Naomi sagte du wärst krank. Geht es dir wieder besser?“ Er nickte zaghaft und musterte mich. Vermutlich gab ich einen schrecklichen Anblick ab. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich. „Sag mal, …“ setzte er an und spielte nervös mit seinen Fingern. Was hat er nur auf dem Herzen? „Dein Brief“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. „Hast du das wirklich ernst gemeint?“ Ich richtete niedergeschlagen den Blick auf meine Hände in meinem Schoß und suchte nach den richtigen Worten. Ich bürde ihm so viel auf. Ich bin wirklich ein schrecklicher Vater. Er legte mir tröstend eine Hand auf den Unterarm und ich sah verblüfft auf. Noch immer wartete er geduldig auf eine Antwort. Er sah so traurig aus. Ich seufzte. „Ja leider, tut mir leid. Der Termin ist in drei Wochen, doch bis dahin bin ich hier noch nicht raus. Wenn aber keiner von uns geht, dann …“ Ich brach ab. Ich konnte es einfach nicht laut aussprechen. „Schon gut“ sagte er und zog seine Hand wieder zurück. „Ich schaff das schon, du musst mir nur eine Entschuldigung für die Schule schreiben.“ Er will es wirklich machen? Ich spürte wieder aufkommende Tränen, doch ich hielt sie zurück. Stattdessen sagte ich einfach nur: „Danke, Yusei“ und versuchte mich an einem Lächeln. Auch er hob die Mundwinkel ein Stück, aber glücklich war er mit der Situation auch nicht. Wie auch? Schnell versuchte ich das Thema zu wechseln, ehe er mich noch trauriger ansehen konnte. „Wie läuft es eigentlich in der Schule? Gibt es irgendetwas Neues?“ „Hm, nein, in der Schule läuft es wie immer. Aber ich bin jetzt im Fußballteam und wir hatten heute unser erstes Spiel.“ Was hat er gerade gesagt? Und … lächelt er etwa? Es war nur ein kurzer Augenblick, aber es war kein gestelltes Lächeln. Ich versuchte meine Verwirrung nicht zu sehr zu zeigen. „Das freut mich, wie ist es denn ausgegangen? Nach deinem Blick zu urteilen, habt ihr gewonnen, nicht?“ „Ja, 2:1. Ach, und noch was. Ich habe endlich die Zusage von der Werkstatt bekommen. Gestern war mein erster Arbeitstag.“ „Ich freu mich für dich, Yusei. Wie lief es denn? Ich nehme an, du musstest wieder in der Buchhaltung anfangen, habe ich recht?“ Ehe er jedoch antworten konnte, klingelte sein Telefon. Er sah mich unschlüssig an, aber ich bedeutete ihm, dass es okay war. Also holte er es aus seiner Jackentasche und las anscheinend eine Textnachricht. Meine Augen wurden immer größer als ich ihn beobachtete. Plötzlich hatte er ein seliges Lächeln auf den Lippen und auf seinen Wangen erschien ein leichter Rotschimmer. Ist er etwa…? Ich grinste ihn an. „Du bist verliebt.“ Seine Reaktion war köstlich. Er schaute mich völlig erschrocken an und wurde knallrot im Gesicht. „W-Was? So ein Quatsch!“ Ich konnte nicht anders, und musste einfach kurz lachen. „So etwas kannst du nicht verheimlichen. Ich kann es doch sehen. So glücklich hast du nicht mal auf Nachrichten reagiert, als du damals mit Sherry zusammengekommen bist! Also, wer ist die Glückliche?“ „I-Ich weiß nicht, wovon du redest! Die Mädchen in der Schule sind sehr nett, aber ich habe mich nicht verliebt!“ Ich stutzte. Er war schon immer ein schlechter Lügner, meistens hatte ich ihn sofort durchschaut. Aber jetzt schien er die Wahrheit zu sagen, was seine Mitschülerinnen betrifft. Da hatte ich eine weitere Idee. „Ein junger Mann?“ Wenn es irgendwie möglich war, nahm sein Gesicht einen noch dunkleren Rotton an. Ich hatte also Recht und grinste ihm entgegen. „Hör auf so zu grinsen, ich bin nicht schwul!“ sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit aller Kraft versuchte ich nicht zu lachen, aber ganz gelang es mir nicht. „Meinetwegen, vielleicht auch Bi, aber du hast dich in einen Mitschüler verliebt, nicht? Das muss dir doch nicht peinlich sein.“ Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, aber das störte mich nicht. Mein Sohn war verliebt, und ich freute mich für ihn. Man sah ihm allerdings an, dass ihm das Gespräch mit mir sichtlich peinlich war. Ich schüttelte mitleidig den Kopf und seufzte. „Schon gut, du musst nicht mit mir darüber reden, aber tu mir den Gefallen und sag es ihm, ja? Das ist besser, als die Ungewissheit und die Frage ‚Was wäre, wenn?‘“ „Hm“ sagte er. Er schien wirklich zu überlegen. „Also, wie heißt er?“ bohrte ich weiter. Ich hatte eine wahre Freude daran, ihn so zu sehen. Er ist mir so ähnlich. Als ich Miako damals kennenlernte, war ich genauso. Langsam schien er jedoch die Geduld zu verlieren. „Ach, vergiss es! Ich komme am Dienstag nach der Arbeit nochmal vorbei, und wehe, du fragst mich weiter aus!“ Damit stand er auf und ging zur Tür. „Warte, Yusei“ sagte ich ernst. Es war mir wichtig, dass er meine folgenden Worte hörte. Er drehte sich, mit der Hand an der Türklinke, noch einmal um. „Lass deine Chance nicht verstreichen, wenn du eine siehst. Versprichst du mir das?“ Er atmete geräuschvoll aus und schloss die Augen. „Na schön“ antwortete er nur. Doch damit war ich schon zufrieden. Ein letztes Mal noch sah er mich mit den meeresblauen Augen an, die mich so sehr an meine geliebte Frau erinnern, ehe er durch die Tür verschwand. Ich ließ mich wieder in mein Kissen sinken und sah aus dem Fenster. Siehst du das Miako? Er wird erwachsen. Langsam braucht er mich nicht mehr. Wie gerne wäre ich jetzt bei dir… Kapitel 7: Vergangenheit ------------------------ In den nächsten Tagen dachte ich viel über die Worte meines Vaters nach. Vielleicht hatte er Recht. Die Zeichen waren da. In Jadens Nähe fühlte ich mich wohl, und wenn ich allein war, vermisste ich ihn. Bin ich wirklich verliebt? Eine andere Erklärung gab es nicht für mein Verhalten, wenn er in meiner Nähe war. Mein Vater sagte, ich soll es ihm sagen. Aber was, wenn er nicht so fühlt wie ich? Ich will unsere Freundschaft nicht riskieren, dafür ist sie mir viel zu kostbar. Wenn er mich ablehnen würde, wüsste ich nicht, was ich tun soll. Ich würde zurück in die Dunkelheit sinken, und käme nicht aus eigener Kraft wieder raus. Mutter. Was soll ich nur tun? Dann kam der Tag, der so besonders für unsere Familie hätte sein sollen. Ich wollte nicht allein sein, und ich wollte auch, dass mein Vater nicht allein war. Es war ein Samstag, und ich hatte vor ihn zu besuchen, doch an der Rezeption sagte man mir, dass er niemanden sehen wollte. Dieser Egoist. Sieht er nicht, dass es für mich genauso schwer ist? Er ist doch der Einzige, mit dem ich an diesem Tag hätte reden können. Aber so war ich gezwungen zu Hause allein damit fertig zu werden… * Die Sicht von Jaden * Endlich Samstag! Heute kommt mein verdammter Verband ab. Ich musste die ganze Zeit mit Krücken zur Schule gehen und konnte kein Fußball spielen. Gut, in den nächsten Tagen konnte ich das noch immer vergessen, aber wenigstens konnte ich meinen Fuß wieder belasten. Meine Mutter sagte trotzdem, ich soll die Schiene weiter tragen. Nur zur Sicherheit. Diese Frau war einfach überfürsorglich. Na schön, was stell ich heute an? Ich hatte mir für diesen Tag noch nichts vorgenommen, doch die Entscheidung nahm mir Crow ab, der mich plötzlich anrief. „Hey Jaden! Lust auf ein kleines Spiel im Park? Ich hab den Rest der Mannschaft auch zusammengetrommelt. Sogar Leo kommt mit seinen Krücken, und sieht uns zu“ erklang es von der anderen Leitung. „Sehr witzig, ich kann doch noch nicht spielen! Ich glaube meine Mutter springt im Dreieck, wenn sie mich erwischt. Außerdem hindert mich die Schiene noch dran.“ Er lachte. „Dann treffen wir uns eben einfach so. Heute soll der letzte schöne Tag vor dem Dauerregen sein, der im Wetterbericht angesagt wurde. Das sollten wir ausnutzen!“ „Na schön, ich komme. Wann treffen wir uns denn?“ „So in einer Stunde? Und vielleicht kannst du es mal bei Yusei versuchen, er ist der Einzige, den ich nicht erreicht hab.“ „Okay, bis später!“ Damit drückte ich auf den roten Hörer. Ich freute mich, dass Yusei endlich wirklich Anschluss zu den Anderen gefunden hatte. Anfangs hatte er sich ja noch ziemlich distanziert, und die anderen aus unserer Mannschaft wollten nicht viel mit ihm zu tun haben, aber das hatte sich geändert. Ich konnte schon wieder nichts gegen das Grinsen in meinem Gesicht machen. Schnell wählte ich seine Nummer, aber er ging nicht ran. Vielleicht arbeitet er ja heute wieder. Ach nein, er hat seine Schicht doch auf Freitag gelegt und kam deshalb nicht zum Training. Er wollte heute seinen Vater besuchen. Samstags war die Besuchszeit nur am Vormittag. Ich beschloss, ihm einfach zu schreiben, meistens antwortete er ziemlich schnell. Hey Yusei, die Jungs wollen sich mit uns im Park treffen. Hast du Lust mitzukommen? Die nächsten Tage soll es ja nicht so besonders werden. Ich ging in die Küche und packte noch ein paar belegte Brote ein. Wenn es schon der vorerst letzte schöne Tag werden würde, wollte ich so lange wie möglich im Park bleiben. „Hey, mein Spatz, wo willst du denn hin?“ fragte meine Mutter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie reinkam, deswegen hatte ich mich auch kurz erschrocken. „Ich treff mich mit dem Team im Park“ sagte ich fröhlich. Sie hob eine Augenbraue. Ich wusste schon, was sie damit sagen wollte. „Keine Angst, ich spiele nicht. Geht mit dem Ding auch nur schwer“ antwortete ich auf ihre stumme Frage und deutete auf die Schiene an meinem Knöchel. „Na schön, dann viel Spaß, Spätzchen! Wird Yusei auch dabei sein?“ Ich wusste nicht, warum sie mich dabei so seltsam ansah. „Weiß ich nicht, ich hab ihn nicht erreicht. Aber ich denke schon“ sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Wann wirst du eigentlich endlich aufhören, mich Spatz zu nennen?“ fügte ich noch grummelnd hinzu. „Nie. Du bleibst immer mein Spatz“ sagte sie glücklich und wuschelte mir durch die Haare. „Mama!“ beschwerte ich mich und sah sie genervt an. Aber sie kicherte nur, und verließ den Raum. Ich hab sie ja lieb, aber manchmal… Ich ging wieder hoch in mein Zimmer und schaute aufs Handy. Er hat noch nicht zurückgeschrieben. Ob er noch bei seinem Vater ist? Er war gestern auch schon wieder so still. Ich hoffe wirklich, es geht ihm gut. Ich setzte mich vor den Fernseher um mich etwas abzulenken. Ein entsetzter Blick auf die Uhr, und ich bemerkte, dass ich schon wieder zu spät dran war. So ein Mist! Und Yusei hatte noch immer nicht geschrieben. Die Besuchszeit ist doch schon vorbei. Vielleicht sollte ich noch mal bei ihm vorbeischauen. Ich packte mein Zeug schnell zusammen und lief in die Garage. Fahrrad fahren war ja wieder drin. Bei ihm angekommen, bemerkte ich, dass die Rollos in der unteren Etage unten waren. Oh je, ich hoffe er hat nicht wieder Migräne. Ich stellte mein Rad ab und klingelte. Als nach einiger Zeit immer noch nichts passierte, versuchte ich es wieder. Dieses Mal schien er es gehört zu haben, denn die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich sah nur einen Teil meines Freundes, denn weiter machte er die Tür nicht auf. Was war denn los? „Hallo, Jaden. Was machst du hier?“ fragte er müde. Hat er eben noch geschlafen? Ich konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen. „Ist alles in Ordnung? Du hast nicht auf meine Nachricht reagiert und ich wollte fragen, ob du mit in den Park kommst“ sagte ich. „Nein. Heute nicht. Mir… geht’s heute nicht allzu gut.“ Jetzt sah ich seine leicht verquollenen und roten Augen. Er hatte geweint. Als er die Tür wieder schließen wollte, redete ich schnell weiter. „Warte!“ Die Tür stoppte in ihrer Bewegung und ging wieder einen Spalt auf. Er wartete, dass ich weiterredete. „Brauchst du vielleicht ein bisschen Gesellschaft?“ fragte ich deshalb mit einem Lächeln. Ich wollte ihn so nicht allein lassen. Eine kleine Weile lang senkte er den Blick und schien zu überlegen. „Bist du dir sicher?“ sagte er und sah mich traurig an. „Ich bin heute keine sehr gute Gesellschaft.“ Ich grinste. „Na klar!“ Er war mir immer eine gute Gesellschaft. Ich fühlte mich wohl bei ihm. Und hätte er niemanden bei sich haben wollen, hätte er mich gleich wieder weggeschickt. Er brauchte jetzt jemanden, der für ihn da war. Und ich wollte dieser jemand sein. Langsam ging die Tür auf, und er trat etwas beiseite, sodass ich eintreten konnte. Er sah wirklich furchtbar aus. Seine Augen waren von den Tränen gezeichnet und er war blass. Wortlos ging er ins Wohnzimmer und ich folgte ihm. Im Fernseher lief wieder das Klavierkonzert vom letzten Mal. Auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa stand ein Bilderrahmen, daneben ein kleines Plüschtier. Es war ein rosafarbenes Küken. Darunter war ein brauner Umschlag mit ein paar Flecken darauf. Die einzigen Lichtquellen im Raum waren der Fernseher und eine dicke, rote Kerze, die neben dem Bilderrahmen stand. Ehe ich das Foto im Rahmen sehen konnte, klappte Yusei es um, sodass es mit dem Bild nach unten auf dem Tisch lag. Dann setzte er sich und legte wieder die Decke über seine Schultern. Als ich mich neben ihm niederließ, zog er die Beine an und schlang seine Arme darum. Ich saß ihm zugewandt, um zu zeigen, dass ich ihm zuhören würde, wenn er bereit war zu reden. Wir waren still. Eine ganze Weile lang hörten wir nur der Musik des Konzerts zu. Die Frau am Klavier war wirklich begabt. Etwas an ihrer Musik berührte mich. Yuseis Blick ruhte die ganze Zeit auf dem kleinen Tisch vor ihm. Ich wollte zwar wissen was los war, doch ich blieb still. Wenn er dazu bereit ist, dann wird er schon reden. Bis dahin wollte ich einfach nur für ihn da sein. Schon meine bloße Anwesenheit schien ihn zu beruhigen, denn er war nicht mehr so verkrampft. „Ich kann dir vertrauen“ murmelte er kaum hörbar. Das war keine Frage. Es schien eher, als würde er es zu sich selbst sagen. „Natürlich“ antwortete ich ihm trotzdem leise. Darauf folgte wieder eine kurze Stille. Er schien mit sich zu ringen. Ob er mir endlich sagt, was ihn bedrückt? Er atmete tief durch und wir hörten eine Weile lang wieder nur der Musik zu. „Meine kleine Schwester hat heute Geburtstag“ sagte er plötzlich. Überrascht sah ich ihn an. Ich dachte, er wäre ein Einzelkind. Ich wollte nicht, dass er aufhörte zu reden. Ich wollte seine Stimme hören. Wollte, dass er sich alles von der Seele redete, was ihn so fertig machte. „Wie ist ihr Name?“ fragte ich deshalb. Wieder legte sich dieses melancholische Lächeln auf seine Lippen. „Sachi.“ „Ein wirklich schöner Name“ sagte ich und lächelte ebenfalls. Endlich sah er mich mit seinen schönen, blauen Augen an. Ein leichter Rotschimmer lag auf seinen Wangen. „Ja, das stimmt. Ich habe ihn damals ausgesucht. Es bedeutet ‚Wunder‘. Ich fand es sehr passend. Weißt du, nach meiner Geburt haben die Ärzte meiner Mutter gesagt, sie könnte keine Kinder mehr bekommen. Meine Eltern hatten die Hoffnung auf ein zweites Kind längst aufgegeben, aber dann wurde meine Mutter schwanger. Ich freute mich wirklich sehr auf ein Geschwisterchen. Irgendwann gab mein Vater dem Kind im Bauch meiner Mutter den Spitznamen ‚Küken‘, weil wir noch nicht wussten was es werden wird. Als sie mir sagte ich bekomme eine kleine Schwester, schlug ich ihr den Namen vor. Sie war sofort begeistert.“ Dann wanderte sein Blick zu der Frau von dem Konzert. „Ich liebte Sachi schon, als sie noch im Bauch meiner Mutter war.“ Auch ich sah wieder der Frau am Klavier zu. Ich glaube so viel hatte er seit seinem Umzug noch nie von seiner Familie preisgegeben. Ich wollte, dass er weiterredete. Wollte endlich verstehen, warum er sich so verschließt. Da fielen mir die Augen der Pianistin auf. Endlich verstand ich, warum er sich dieses Konzert immer wieder ansah. „Ist das deine Mutter?“ fragte ich deshalb vorsichtig und sah ihn wieder an. Er nickte. Sein Blick ruhte aber weiterhin auf der Pianistin, während er sprach. „Ich habe ihre Musik schon als Kind geliebt. Immer, wenn ich traurig war, spielte sie mir ein bestimmtes Lied vor. Sie sagte irgendwann einmal ‚Dieses Lied gehört nur uns. Wenn ich es spiele, denke ich nur an dich, und wenn du es hörst, soll es dir die Kraft geben weiterzumachen‘. Ich habe es mit etwa fünf Jahren angefangen zu lernen, denn ich wollte es auch meiner Mutter vorspielen, wenn es ihr nicht gut ging. Einmal bin ich sogar während eines Konzerts zu ihr auf die Bühne gerannt, während sie spielte.“ Für einen kurzen Moment lachte er leise bei dieser Erinnerung. „Eigentlich sollte ich hinter der Bühne warten, aber mir war langweilig und ich wollte zu ihr. Sie war nicht sauer auf mich. Sie schlug mir sogar vor unser Lied zu spielen. Das war das erste Mal, dass ich auf einer Bühne stand.“ Ich lächelte ihm entgegen. „Das würde ich gern mal hören.“ Er sah mich an, doch sein Blick wurde wieder traurig. „Ich spiele nicht mehr“ sagte er schlicht und sah wieder auf den Tisch. Hab ich jetzt was Falsches gesagt? Wieder hörten wir nur die Musik seiner Mutter und waren dabei ruhig. Eine stumme Träne bahnte sich den Weg über seine Wange, aber er schien es nicht mitzubekommen, oder es war ihm egal. Was ist nur passiert? Eben war er doch fast schon glücklich. Er zog die Arme fester um seine Beine und fing an leicht zu zittern. Immer mehr Tränen fanden den Weg seine Wange hinab, um dann seine Beine zu benetzen. Er vergrub sein Gesicht auf seinen Knien und begann zu schluchzen. Das Zittern wurde stärker. Ich ertrug diesen Anblick nicht. Ich wollte ihn nur noch trösten, deswegen legte ich ihm beruhigend meine flache Hand zwischen die Schulterblätter und strich ihm mehrmals über seinen Rücken. Irgendwie muss ich ihn doch beruhigen können. Aber diese Berührung schien irgendwas in ihm auszulösen. Er hörte auf zu zittern. Das Schluchzen verebbte. Nach einer kleinen Weile hob er leicht seinen Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Schon gut“ sagte er. Widerwillig zog ich meine Hand zurück. Er sah mich an und versuchte zu lächeln. Will er sich jetzt wieder verschließen? Ich hatte Angst, er würde nicht mehr weiterreden, deswegen nahm ich all meinen Mut zusammen und stellte die Frage, die mir so auf der Seele brannte: „Was ist passiert?“ Er schien überrascht. Wieder überlegte er, wie weit er gehen konnte. Doch er seufzte und redete weiter. „Als meine Mutter etwa im dritten Monat war, bestand mein Vater darauf, dass sie sich schonen sollte. Sie stellte die Konzerte vorerst ein, gab aber weiterhin Unterricht. So hatte sie auch mehr Zeit, und die verbrachten wir fast immer zusammen. Mein bester Freund Kalin zog mich deswegen sogar oft auf, aber das störte mich nicht. Ich war so glücklich. Vor etwas mehr als einem Monat war meine Mutter wieder bei einer Privatunterrichtsstunde. Die ging aber ziemlich lang, und ich rief sie an um zu fragen, wann sie wieder da wäre.“ Wieder war es still. Diese Erinnerung tat ihm weh, das konnte man ihm ansehen. Mit belegter Stimme sprach er weiter. „Wir haben uns am Abend zuvor wegen irgendwas Banalem gestritten. Ich weiß nicht mehr um was es ging. Als ich sie anrief, saß sie gerade im Auto und war auf dem Heimweg. Sie sagte ganz aufgeregt, sie war noch einmal in der Konzerthalle und hätte eine Überraschung für mich. Aber dann…“ Er brach ab und versuchte seine Stimme wiederzufinden. Ein wenig beugte er sich nach vorn und nahm das Bild an sich. Jetzt konnte auch ich es sehen. Es war ein Familienfoto. Seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schwanger, hielt ihre Hand behutsam auf ihrem Bauch und sein Vater stand neben ihr und umarmte sie. Yusei stand neben den beiden und lächelte glücklich. Plötzlich sprach er weiter. „Dann hörte ich einen Knall. Es klang, als wäre Metall auf Metall geschlagen und sie schrie erschrocken auf. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht was passiert war. Sie antwortete mir nicht mehr.“ Eine Träne landete auf dem Foto. „Später wurden wir dann informiert, dass ein betrunkener Fahrer sie auf einer Kreuzung erwischt hatte. Er knallte mit seinem Fahrzeug direkt in die Fahrerseite unseres Autos und meine Mutter verstarb noch am Unfallort. Zu dem Zeitpunkt war sie im achten Monat schwanger.“ Ich spürte einen dicken Kloß in meinem Hals. Jetzt verstand ich endlich was ihn so aufwühlte. Ich konnte mich nicht rühren. Er saß einfach nur da, und versuchte die Erinnerung zu verdrängen. Aus einem Impuls heraus, schloss ich ihn in meine Arme. Ich dachte nicht darüber nach. Ich wollte ihn einfach nur trösten. Ich wollte, dass er seine Gefühle nicht mehr versteckte. In meinen Armen fing er an stockend weiterzusprechen. Zwischen den Sätzen schluchzte er leise. „Er riss meine Mutter einfach aus unserem Leben … Sie und Sachi … Heute wäre sie geboren worden … Meine kleine Schwester hatte nicht mal die Chance zu leben … Ich konnte sie nicht kennenlernen, dabei freute ich mich so auf sie … Ich hatte keine Chance ihr auf die Nerven zu gehen. Sie zu trösten, wenn sie traurig wäre. Sie zu beschützen … Es ist einfach so ungerecht … Dieser Mistkerl überlebte mit ein paar Schrammen und meine Mutter und meine Schwester sind tot … Ich werde sie nie wiedersehen … Dieser entsetzliche Knall, dieser Schrei. Diese bedrückende Stille … Das verfolgt mich heute noch in meinen Alpträumen! … Es … Es ist, als würde ich sie jede Nacht wieder verlieren!“ Dann brachen auch bei ihm die Dämme und er weinte bitterlich. Ich drückte ihn fester an mich, um ihm Trost zu spenden, ihn zu beruhigen. Einfach um für ihn da zu sein. Auch er ließ die Umarmung endlich zu und lehnte sich verzweifelt an mich. Dabei drückte er das Bild fest an seine Brust. Die einzigen Klänge, die durch den Raum hallten, waren die Musik seiner Mutter und sein Schluchzen. Es zerriss mich innerlich, ihn so zu sehen. Was er durchmachen musste war schrecklich. Seine Wunden waren noch so frisch. Er hatte sich wahrscheinlich vor diesem Tag noch nie mit seinen Gefühlen auseinandergesetzt, und jetzt kam all der Schmerz der letzten Wochen wieder hoch. Wie gern würde ich dir diesen Schmerz nehmen. Nach einiger Zeit beruhigte er sich langsam wieder, und er schmiegte sich fester an mich. Zu meiner Überraschung sprach er leise und kraftlos weiter. „Die Polizisten gaben mir einen Umschlag, der aus dem Wrack geborgen werden konnte. Er lag auf dem Beifahrersitz. Mein Name steht drauf. Das war wohl die Überraschung, von der meine Mutter geredet hat. Ich habe bis heute nicht die Kraft gehabt, ihn zu öffnen… Die Beerdigung war nur eine Woche nach dem Unfall. Mein Vater hat die gesamte Zeit über nicht geweint und sich nur zurückgezogen. Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Zwei Tage nach der Beerdigung sagte er plötzlich, wir ziehen um. Ohne Vorwarnung. Mein altes Leben war mit einem Schlag vorbei. Als mir deine Mutter sagte, er hätte versucht sich umzubringen, dachte ich jetzt wäre ich komplett allein. Ich hatte solche Angst.“ „Du bist nicht allein“ sagte ich schnell. Er löste sich aus meiner Umarmung und sah mich verwirrt an. Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Dein Vater ist noch am Leben und bald wird er wieder zu Hause sein. Und meine Mutter ist auch für dich da, und unsere Freunde. Und ich. Wir haben dich alle gern.“ Dann legte ich ihm meine Hand auf seine Wange und strich die Tränen aus seinem Gesicht. „Du wirst uns so schnell nicht los!“ fügte ich mit einem Grinsen dazu. Zu meiner Überraschung schenkte auch er mir ein müdes Lächeln und ergriff meine Hand, die auf seiner Wange lag. „Danke.“ Dann lehnte er sich an meine Brust und betrachtete das Foto in seiner Hand. Ich schlang meine Arme wieder um ihn und legte meinen Kopf auf seinen ab. Ich genoss seine Nähe, und sein Vertrauen. Endlich konnte ich ihn wirklich verstehen. Gedankenverloren sprach er weiter. „In ein paar Wochen ist die Gerichtsverhandlung. Mein Vater sollte eine Aussage machen, aber bis dahin ist er noch nicht aus dem Krankenhaus raus. Ich soll stattdessen allein dort hingehen.“ „Dann begleite ich dich eben!“ sagte ich entschlossen. Er schwieg einen Moment. „Das kann ich nicht von dir verlangen. Es ist ein weiter Weg bis Osaka und die Verhandlung ist an einem Montag. Du musst in die Schule“ antwortete er geknickt. „Ach Quatsch“ sagte ich. „Ich bin sicher meine Eltern werden das verstehen! Außerdem hab ich dir gesagt, du bist nicht allein! Du kannst meine Hilfe gern annehmen, sonst würde ich dir den Vorschlag ja nicht machen!“ Er lachte müde. „Denkst du jemals über etwas nach, bevor du Entscheidungen triffst?“ fragte er mich. Ich lachte ebenfalls. „Nein, meistens nicht. Aber bei der Entscheidung muss ich auch nicht groß nachdenken. Es sei denn, du willst mich nicht dabeihaben.“ Er schüttelte den Kopf ganz leicht. „Nein, das wäre wirklich schön…“ „Dann ist es abgemacht!“ Eine Weile lang saßen wir noch zusammen auf dem Sofa und lauschten der Musik. Mit der Zeit entspannte er sich in meinen Armen und schlief ein. Die Musik verstummte. Ich lauschte seinem gleichmäßigen Atem und spürte sein Herz ruhig schlagen. Ich weiß nicht wie lange wir dort saßen, ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es war mir auch egal. Ich freute mich einfach, dass er sich endlich ausgesprochen hatte. Inständig hoffte ich, dass ihm dieses Thema nun nicht mehr so zusetzt. Dass er es verarbeiten könnte. Er wird Zeit brauchen, aber irgendwann kann er seine Vergangenheit sicher hinter sich lassen, und nach vorn sehen. Ich genoss seine Nähe, auch wenn der Anlass ein trauriger war. Das Schellen der Türklingel ließ mich hochschrecken. Erleichtert stellte ich fest, dass Yusei noch schlief. Wer kann das denn sein? Ehe die Person nochmal klingelt, sollte ich lieber nachsehen. Vorsichtig löste ich die Umarmung und lehnte ihn an die Rückenlehne des Sofas. Er schlief noch immer friedlich. Lächelnd betrachtete ich ihn noch einmal und seufzte. Ich schloss die Tür zur Küche hinter mir und machte die Haustür auf. Vor mir stand meine Mutter. „Jaden!“ sagte sie wütend, und doch erleichtert. Oh nein, weck ihn bitte nicht auf! „PSSSSST!“ machte ich und legte den Finger auf meine Lippen. „Er ist erst eingeschlafen und komplett fertig!“ Verärgert sah sie mich an, redete aber leiser weiter. „Bist du verrückt? Du hast mir erzählt, du wolltest in den Park gehen, aber Crow hat bei uns angerufen. Du bist nie dort aufgetaucht! An dein Handy gehst du auch nicht! Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich habe sogar bei Yusei angerufen, aber der ging auch nicht ans Festnetz! Was machst du denn hier?“ Wie soll ich ihr das jetzt am besten erklären? „Ich war auf dem Weg in den Park, aber … Ich weiß nicht, ich hab mir Sorgen um Yusei gemacht. Er war gestern so seltsam, und heute hat er nicht auf meine Nachricht reagiert. Ich wollte ihn mit in den Park nehmen, aber er war völlig fertig! Er…“ Ich weiß nicht, wie viel meine Mutter wusste. Ich kann ihr schlecht alles erzählen. Yusei würde mir nie wieder vertrauen. Ich senkte den Blick. „Er hat mir erzählt, warum er so traurig ist. Ich hab einfach die Zeit vergessen. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst… Entschuldigung.“ „Alles?“ war ihre Antwort. Ich sah wieder auf. Sie musterte mich neugierig. Ihre Wut war weg. Verwirrt sah ich sie an und antwortete. „Ja. Er hat mir alles erzählt, warum?“ Jeglicher Unmut wich aus ihrem Gesicht. Warum lächelt sie jetzt so zufrieden? „Verstehe. Wie geht es ihm jetzt? Du sagtest er schläft?“ Ich nickte. Warum ist sie nicht mehr sauer auf mich? Ich hab mich schon auf ein Donnerwetter gefasst gemacht. „Na schön, mein Spatz. Bleib lieber bei ihm bis er aufwacht, sonst fühlt er sich sicher gekränkt. Aber tu mir doch bitte den Gefallen und reagiere auf meine Anrufe, sonst bin ich noch ganz krank vor Sorge. Meldest du dich bitte, wenn er wach ist?“ Ich war immer noch verwirrt. Mit der Reaktion hab ich wirklich nicht gerechnet. „Sicher“ sagte ich nur und kramte nach meinem Handy. Es war in der Jackentasche und lautlos. Sechs Anrufe in Abwesenheit und 29 Nachrichten… Upps. * Die Sicht von Yusei * Ich wachte auf und öffnete meine Augen. Es war stockdunkel. Leise schlugen die Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Ich fühlte mich so ausgeruht wie seit Wochen nicht mehr. Es war so schön warm. Ich schloss meine Augen wieder und schmiegte mich näher an meine Wärmequelle. Dieser Duft. Ich fühlte mich so wohl. Er hüllte mich ein. Jetzt bemerkte ich auch den Druck auf meinem Körper. Hörte ein Herz schlagen. Spürte einen gleichmäßigen Atem auf meinem Kopf. Einen Brustkorb, der sich hob und senkte. Irgendjemand hielt mich fest. Wer? Plötzlich strömten die Erinnerungen des Nachmittags auf mich ein. Jaden. Ich habe ihm alles erzählt! Er hat mich beruhigt, war für mich da. Ich lächelte. Er hat mich wirklich die gesamte Zeit, während ich schlief, im Arm gehalten. Ich konnte ein zufriedenes Seufzen nicht unterdrücken. Ich spürte, wie er seinen Arm bewegte und seine Hand auf meinem Kopf ablegte. Langsam strich er mir durchs Haar. Es war ein schönes Gefühl. Ich genoss es. Genoss diese Wärme und Geborgenheit, die meinen Körper einlullte. Wenn dieser Moment doch nur ewig anhalten könnte. Doch dann erhellte ein schwacher Lichtschein den Raum. Wieder öffnete ich meine Augen ein Stück, doch die Quelle des schwachen Lichts war hinter mir. Jaden nahm seine Hand von meinem Kopf und bewegte leicht seinen Oberkörper. Der Lichtschein bewegte sich. Ist das sein Handy? Er ist also wach. Wie spät ist es? Wie lange liege ich jetzt schon in seinen Armen? „Jaden?“ murmelte ich leise. Er hob seinen Kopf ein Stück, doch ich konnte noch immer seinen Atem in meinem Haar spüren. „Du bist ja wach“ sagte er sanft. Ich konnte hören, dass er lächelte. Ich wollte mich nicht bewegen. Wollte lieber noch einen Augenblick in seinen Armen liegen. „Wie spät ist es?“ fragte ich. Er kicherte und der Lichtschein bewegte sich wieder. „21:49 Uhr.“ Erschrocken löste ich mich etwas aus seiner Umarmung und sah ihn im schwachen Licht seines Handys an „Was?! Du wirst sicher Ärger bekommen!“ Er lachte leise auf. „Nein, keine Angst. Meine Eltern wissen Bescheid, wo ich bin. Wie geht’s dir?“ Überrascht sah ich ihn an. Er war fast neun Stunden bei mir, was hatte er seiner Mutter erzählt? Geduldig wartete er auf meine Antwort. Ich seufzte. Wie fühle ich mich eigentlich? Gute Frage. Während ich darüber nachdachte, musterte Jaden mich und zog mich wieder sanft an seine Brust. Im ersten Moment war ich etwas perplex, aber es fühlte sich so gut an, ihn in meiner Nähe zu haben. Ich entspannte mich wieder und legte meine Hand neben meinem Kopf ab. Ich hörte wieder seinen Herzschlag. „Besser“ antwortete ich wahrheitsgemäß und schloss erneut meine Augen. „Du bist wirklich stark“ sagte er plötzlich. Ich lachte bitter auf. „Ich und stark? Ich bin vor deinen Augen seelisch und körperlich zusammengebrochen.“ Seine Arme legten sich fester um mich. Seine Stimme war ernst als er mir antwortete. „Ja, du bist stark. Stärke hat nichts damit zu tun, ob man weint oder nicht. Du lebst weiter. Ich wüsste nicht, was ich an deiner Stelle tun würde. Ich glaube, das würde ich nicht durchstehen. Du hast dich deinen Gefühlen gestellt, und das war mutig. Rede dir bloß nichts anderes ein!“ Was hat er gerade gesagt? Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Denkt er wirklich so über mich? Etwas sanfter sprach er weiter. „Ich mein es ernst, Yusei. Du hast so viel durchgemacht. Da würde jeder irgendwann zusammenbrechen. Ich bewundere dich dafür, dass du so stark bist. Ich meine, du hattest niemanden, an den du dich wenden konntest.“ Ich lächelte. „Nein, außer dich.“ Oh je, habe ich das eben laut gesagt? Peinlich. Doch es entsprach der Wahrheit. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ich spürte wieder eine Hand auf meinem Kopf und sein Gesicht, dass sich in meinem Haar vergrub. „Ich hab dir doch schon gesagt, ich lass dich nicht allein“ murmelte er leise. Nun war es an meinem Herzen, schneller zu schlagen. Ich konnte meine Dankbarkeit nicht in Worte fassen. Er seufzte, löste seine Hand von meinem Kopf und nahm sein Handy wieder an sich. „Na schön, ich hab meiner Mutter versprochen ihr zu schreiben, wenn du aufgewacht bist“ sagte er und hob seinen Kopf. Er würde also gleich wieder gehen. Zum Glück konnte er meine Enttäuschung nicht sehen. Ein letztes Mal noch genoss ich die Wärme seines Körpers, dann löste ich mich endgültig aus seinen Armen und sah in sein verwundertes Gesicht. „Danke“ sagte ich schlicht und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Es war nicht annähernd genug für das, was ich fühlte, doch das brachte es im Moment in etwa auf den Punkt. Ich stand auf, um den Lichtschalter zu betätigen und kniff kurz die Augen zusammen. Es war verdammt hell. Als ich mich an die Helligkeit gewöhnte, hörte ich wieder seine Stimme hinter mir. „Keine Ursache“ sagte er leise. Ich drehte mich um und er schenkte mir ein aufmunterndes Grinsen. „Mein Vater kommt gleich und holt mich ab. Draußen schüttet es ziemlich. Kann ich mein Fahrrad erstmal bei dir lagern?“ „Sicher.“ Ich ging Richtung Haustür und wollte es eben in die Garage stellen, da hielt er mich an meinem Handgelenk fest. Verwundert drehte ich mich zu ihm. „Versprichst du mir was?“ fragte er mich. Verwirrt nickte ich und wartete neugierig, dass er weitersprach. „Bitte öffne den Umschlag. Ich glaube, das wird dir helfen!“ Ich verstand nicht ganz, warum er das so sah. Ich hatte bis heute nicht die Kraft ihn zu öffnen. Ich hatte Angst. Und ich weiß nicht mal, wovor ich eigentlich Angst hatte. Wieso sollte mir dieser Umschlag helfen, mich besser zu fühlen? In war noch in meinen Gedanken versunken als er weitersprach. „Bitte!“ Seine Augen waren wild entschlossen und flehend. Ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen und nickte. Sein Gesicht erhellte sich. „Sehr gut! Öffne schon mal die Garage, ich schieb das Fahrrad rein.“ Als wir fertig waren, fuhr schon ein Auto auf unsere Einfahrt. Die Lichtkegel der Scheinwerfer blendeten mich durch die offene Garagentür und ich hob den Arm vors Gesicht. Als das Licht ausging, stieg Herr Yuki aus dem Auto und begrüßte mich. Jaden drehte sich noch einmal zu mir. „Na schön, ich muss los. Denk an dein Versprechen, ja?“ sagte er mit einem Zwinkern und lief zur Beifahrertür. Die beiden winkten mir noch einmal zum Abschied und fuhren los. Ich schloss die Garage. Im Wohnzimmer angekommen, setzte ich mich wieder und legte mir Mutters Decke um. Mein Blick schweifte zu dem braunen Umschlag. Auf ihm waren noch immer Blutflecken zu sehen. Mir wurde übel. Wie konnte mir der Inhalt des Umschlags schon helfen? Ich versteh es einfach nicht. Zögerlich nahm ich ihn an mich. Mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals. Ich schluckte schwer. Langsam öffnete ich die obere Lasche und zog den Inhalt heraus. Meine Augen weiteten sich, als ich es genauer betrachtete. „Das ist doch…“ murmelte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Jaden hatte recht. Kapitel 8: Missverständnis -------------------------- Es war schon wieder Montag. Ich saß mit meinen Eltern und Alexis am Frühstückstisch und meine Familie unterhielt sich angeregt über den nächsten Sonntag, an dem wir meine Großeltern besuchen wollten. Ich warf ab und an etwas ein, aber meine Gedanken kreisten noch immer um die letzten beiden Tage. Das war ein ziemlich aufregendes Wochenende. Erst erzählte mir Yusei alles über seine Vergangenheit, und dann hielt ich ihn stundenlang im Arm. Es schien mir wie eine kleine Ewigkeit, und doch nur wie ein kurzer Moment. Ich konnte es einfach nicht erklären. Es war ein schönes Gefühl ihn einfach an meiner Seite zu haben und ich freute mich, dass er seine Gefühle zugelassen hatte. Am Sonntag hatte ich ihn beiläufig gefragt, ob er sein Versprechen schon eingehalten hätte. Seine Antwort hatte mich wirklich überrascht. Ich sah noch einmal auf mein Handy und öffnete seine Nachricht. Du hattest recht was den Inhalt betrifft. Aber ich will dir die Überraschung nicht verderben. Hab Geduld. Ich und Geduld? Sehr witzig! Ich platzte fast vor Neugier, und er wollte mir partout nichts sagen. Er schien sich darüber wirklich zu amüsieren. Draußen schüttete es immer noch wie aus Eimern. Da fiel mir etwas ein. Wie kommt er heute überhaupt in die Schule? Mit dem Motorrad kann er ja schlecht fahren. Beim letzten Mal wurde er dadurch krank. Die Stimme meiner Mutter zog mich wieder in die Realität. „So, wir sollten losfahren. Es ist zwar noch ein wenig früh für euch, aber sonst komme ich noch zu spät zur Arbeit.“ „Warum kannst du uns nicht fahren, Papa?“ fragte Alexis. Er seufzte. „Seit gestern hat das Auto ein paar Macken. Ich arbeite heute von zu Hause aus.“ Diese Antwort musste sie wohl oder übel akzeptieren und so stiegen wir ins Auto. Ich schrieb Yusei noch schnell, wie er denn heute zur Schule kommen wollte. Seine Antwort kam nur einen Augenblick später. Mit dem Bus. Ich stehe schon an der Haltestelle. Ich erinnerte mich an meine Zeit in der Unterstufe. Da waren Alexis und ich auch auf den Bus angewiesen, und der kam sehr unzuverlässig. Deswegen legten unsere Eltern ihre Schichten an solchen Tagen immer so, dass sie uns fahren konnten. Wenn wir nicht gerade Hausarrest hatten, oder solches Wetter war, fuhren wir sonst immer mit dem Fahrrad zur Schule. Unser Schulweg führte geradewegs an der Bushaltestelle vorbei, also sollten wir ihn sehen. Und da stand er. In seiner Schuluniform, während er gedankenverloren auf seinem Handy tippte. In seiner Hand hatte er einen dunkelblauen Schirm und er trug In-Ear-Kopfhörer. „Hey, da ist Yusei“ sagte ich gespielt überrascht. „Hm? Tatsächlich“ sagte meine Mutter und hielt am Straßenrand neben ihm, während sie die Scheibe der Beifahrertür runterfuhr. Er zog sich eine Seite der Kopfhörer heraus und blickte unser Auto überrascht an. „Können wir dich mitnehmen?“ fragte meine Mutter mit einem Lächeln. Etwas verwirrt stieg er ein. Alexis und ich begrüßten ihn vom Rücksitz und er drehte sich kurz um und schenkte uns sein schönes Lächeln. Dann drehte er sich zu meiner Mutter. „Danke, der Bus hatte schon ein paar Minuten Verspätung, ich dachte ich hätte ihn vielleicht verpasst.“ Sie lachte. „Nein, diese Linie ist immer so unzuverlässig. Mit dem Bus zu fahren ist ein bisschen wie Roulette spielen. Manchmal kommt er, manchmal nicht. Wenn du willst, können wir dich bei solchem Wetter immer mitnehmen, es liegt sowieso auf dem Weg.“ „Das wäre wirklich sehr nett, danke“ sagte er kleinlaut. Meine Mutter nickte. „Hey, was hörst du da eigentlich?“ fragte Alexis neben mir. Er drehte sich zu ihr um. „Ich weiß nicht, ob du das kennst. ‚Revolutionary Etude‘ von Chopin.“ Sie schüttelte den Kopf und er überreichte ihr seine Kopfhörer, die noch immer mit seinem Handy verbunden waren. Ein Lächeln zierte ihre Lippen. „Hörst du eigentlich nur solche Musik?“ Jetzt war ich auch neugierig und nahm ihr eine Seite des Kopfhörers ab, während Yusei ihr eine Antwort gab. „Nein, natürlich nicht. Aber manchmal habe ich eben Lust auf Klassiker.“ Es war ein recht schnelles Klavierstück. Natürlich. Auch ich fing an zu grinsen. Ich konnte mir mittlerweile gar keine andere Musik vorstellen, die er hörte. Es passte zu ihm. Als wir ankamen und ins Schulgebäude gingen, funkelte ich Yusei neugierig an. „Und?“ Er schüttelte nur den Kopf und lächelte. „Geduld.“ Der Kerl macht mich fertig. „Sag mal, Yusei? Warum wolltest du eigentlich so früh in die Schule?“ fragte meine Schwester. „Ich muss noch mit Direktor Crowler reden, und danach wollte ich Sensei Fontaine noch etwas fragen. Also, bis später!“ Mit diesen Worten lief er rasch die Treppe nach oben und verschwand. „Eigenartig“ sagte sie und sah mich an. „Weißt du, was los ist?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mir hat er auch nichts gesagt.“ Ganz so stimmte das nicht. Ich hatte keine Ahnung, was er bei Sensei Fontaine wollte. Anscheinend noch so ein Geheimnis, bei dem ich mich gedulden musste! Aber mit Crowler wollte er vermutlich wegen der Sache mit der Gerichtsverhandlung reden. Da fällt mir ein, dass ich noch gar nicht mit meinen Eltern darüber gesprochen habe. Ob Yusei dabei sein sollte, wenn ich sie frage? Meine Mutter hat ohnehin einen Narren an ihm gefressen. Aber ich will nicht, dass er das Ganze noch mal erklären muss. Er war ja schon beim letzten Mal komplett fertig. Wie viel wusste meine Mutter eigentlich? Ob Yuseis Vater ihr schon alles erzählt hat? Oder zumindest einen Teil? Ganz unwissend war sie ja scheinbar nicht. Ach, keine Ahnung. Vielleicht sollte ich erstmal das in Erfahrung bringen. Den Rest der Zeit, bis zum Stundenklingeln, schlugen Alexis und ich in der Bibliothek tot. In der dritten Stunde hatten wir Mathe. Mathe an einem Montag! Und außerdem bekamen wir die Klausuren der letzten Woche wieder. Ich hatte eher gemischte Gefühle. Als Sensei Flannigan bei mir ankam, lächelte sie. Warum? „Glückwunsch, Yuki-kun! Anscheinend hast du wirklich gelernt. Du hast fast die volle Punktzahl erreicht.“ Dann ging sie weiter. Meine Mitschüler starrten mich mit offenen Mündern an, und ich war ehrlich gesagt genauso geschockt wie sie aussahen. Das gibt’s nicht! Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Mathe je eine Eins gehabt hätte! Jim saß auf dem Platz neben mir und lehnte sich zu mir rüber. „Hast du die Lösungen geklaut, oder bist du Jadens intelligenterer Zwilling?“ fragte er amüsiert. „Sehr witzig!“ murmelte ich und warf ihm einen beleidigten Blick zu. „Ich hab mit Yusei gelernt, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich den Quatsch echt im Kopf behalte!“ „Was auch immer er gemacht hat, Glückwunsch. Vielleicht wirst du ja doch noch zum Streber!“ Er hielt sich die Hand vor den Mund, und versuchte angestrengt ein Lachen zu unterdrücken. Man konnte schon eine Träne in seinem Augenwinkel erkennen. Idiot. In der Mittagspause rannte ich schnell in das Klassenzimmer der 3C und legte Yusei mit etwas zu viel Schwung meinen Test auf seinen Tisch, sodass es einen Knall gab. Er sah erst kurz auf den Zettel, dann wanderten seine blauen Augen wieder zu mir. Er sah ziemlich verwirrt aus. „Was ist das?“ fragte er. Ich grinste über beide Ohren. „Das ist dein Werk!“ Er verstand noch immer nicht, worauf ich hinauswollte. Alexis stellte sich hinter ihn und betrachtete über seine Schulter den Test. Dann sah sie mich ungläubig an. „DU hast eine Eins im Mathe-Test?“ „WAS?“ Crow krallte sich den Zettel und starrte auf die Note. Als er sich sicher war, dass das real war, schlug er mir anerkennend gegen die Schulter. „Nich schlecht, Alter! Es geschehen doch noch Wunder! Seit wann verstehst du den Blödsinn eigentlich? Ich hab das bis heute nicht gerafft. Hoffe nur, das kommt nicht in der Abschlussprüfung dran!“ „Yusei hat mir geholfen“ sagte ich nur und strahlte diesen an. „Ich wollte mich bei dir bedanken!“ Er wurde ein wenig rot. „Keine Ursache.“ „Kannst du mir das zufällig auch erklären?“ Yusei blinzelte Crow verwirrt an. Gut, das war jetzt auch eher untypisch für meinen orangehaarigen Freund. Normalerweise hatte er an Mathe genauso wenig Interesse wie ich. Er hoffte einfach, es würde in der Prüfung nicht drankommen, wenn er was nicht verstand. „Naja…“ versuchte er sich zu erklären. „Wenn selbst Jaden das kapiert hat, kannst du das ja ganz gut.“ Wieder ein beleidigter Blick meinerseits. Ich verschränkte die Arme. Für wie dämlich halten die mich eigentlich alle? „Sicher“ sagte Yusei. „Wir können nach dem Unterricht in die Bibliothek gehen. Das Training muss ja ohnehin ausfallen.“ „WAS?“ platzte es aus mir heraus. Ich sah ihn ungläubig an. Er nickte. „Ja, bei dem Regen können wir nicht auf den Platz, und in der Halle sind montags um diese Zeit anscheinend der Handball- und der Hockey-Klub. Ich habe schon mit Sensei Ushio geredet.“ Na ganz toll. Meine gute Laune sank. Ich hätte zwar sowieso nicht mitspielen können, aber ich hätte gern zugesehen. Ich konnte es immer noch nicht glauben, welche Fortschritte meine Mannschaft gemacht hatte. Und das alles wegen unseres schwarzhaarigen Neuankömmlings. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke… Es hat sich durch ihn wirklich viel verändert. Nicht nur, dass wir durch ihn endlich eine reelle Chance auf die Regionalmeisterschaft hatten. Auch mein Leben hatte sich verändert. Mal ganz abgesehen von diesem Wunder, dass ich mal gut in einem Test in Mathe abgeschnitten hatte. Er ist in gewisser Hinsicht mein bester Freund geworden. Ich fühlte mich so wohl in seiner Nähe. Meine Gedanken kreisten ständig um ihn. Er vertraute mir sogar mehr als den anderen. Sein Schicksal hatte mich ziemlich getroffen, aber es schien ihm wirklich besser zu gehen. Seine ganze Körpersprache hatte sich verändert. Er wirkte offener als vorher. Seltsam. Normalerweise fiel mir sowas eigentlich nicht auf. „Jaden?“ sagte eine schöne Stimme. „Hm?“ Ich landete wieder in der Realität. Wer hat mich denn eben angesprochen? Oh nein. Ich hatte es gar nicht mitbekommen, aber ich starrte Yusei anscheinend die ganze Zeit an. „Ich habe gesagt, ihr könnt das Training auf morgen verschieben, da ist eine halbe Halle frei. Ich muss aber leider arbeiten.“ Ach so. Er hat mich angesprochen. Mir ist nie aufgefallen, dass seine Stimme so schön klingt. Ich muss mich endlich zusammenreißen! „Sicher! Dann verschieben wir es auf morgen. Ich kann zwar nicht trainieren, aber dann übernehme ich wieder deinen Part“ sagte ich grinsend. „Na da ist das ja geklärt“ meldete sich Jack zu Wort. „Habt ihr eigentlich das Spiel gestern verfolgt?“ Damit war Alexis raus und wendete sich desinteressiert ab, um zu ihren Freundinnen zu gehen. Auch Yusei stand plötzlich auf. „Hey, wo willst du denn hin?“ fragte ich verwundert. „Ich muss noch schnell was erledigen, ich bin gleich wieder da“ antwortete er und ging zur Tür hinaus. Was er wohl wieder vor hat? * Die Sicht von Yusei * Ich hätte mich zwar gerne an dem Gespräch beteiligt, aber ich musste vorher noch etwas mit Carly klären. Ich hätte sie nicht so harsch behandeln dürfen. Jedes Mal, wenn sie mich seitdem sah, mied sie meinen Blick. Sie schämte sich vermutlich immer noch. Vielleicht hat sie jetzt Angst vor mir? Bitte nicht. Ich wollte das einfach nur aus der Welt schaffen. Ich musste auf dem Weg zum Klassenzimmer der 2A kurz nach dem Weg fragen, aber schließlich kam ich an dem Zimmer an. Als ich in der Tür stand, wuselten die Schüler vollkommen durcheinander in dem Raum herum. Ein paar Jungs versuchten gerade krampfhaft, ihre Papierflieger im Mülleimer zu versenken, an zwei Tischen wurde ein Kartenspiel gespielt. In einer Ecke standen ein paar Mädchen und kicherten aufgeregt durcheinander. Und immer wieder flog Papier durch die Luft. In Form von Fliegern oder zusammengeknüllt. Aber Carly sah ich nicht. „Hey, Yusei!“ Ich drehte mich um, und sah in bernsteinfarbene Augen, die mich erfreut anstrahlten. „Hallo Aki“ antwortete ich mit einem Lächeln. „Was verschlägt dich denn hier her?“ Warum nur sah sie so erwartungsvoll aus? „Ich wollte kurz mit Carly reden, weißt du wo sie ist?“ Die freudige Erwartung wich der Enttäuschung. „Die ist in der Bibliothek und sucht irgendein Buch für ein Referat.“ „Verstehe, danke.“ Ich wandte mich gerade ab zum Gehen, als- „Warte!“ „Hm?“ „Ich hab noch was für dich!“ Sie huschte schnell ins Zimmer und kam einen Moment später wieder zu mir zurück. Fröhlich, doch auch etwas verlegen, hielt sie mir einen Brief hin. Auf diesem stand in einer wirklich schönen Handschrift mein Name, und eine kleine Schleife war darumgebunden. Sie hatte sich offensichtlich sehr viel Mühe damit gegeben. Ist das etwa? „Nimm schon!“ drängte sie mich mit ihrem schönsten Lächeln und ich konnte ihr nicht widersprechen. Ich nahm ihn an mich, bedankte mich für ihre Hilfe und den Brief, und ging in die Bibliothek. Den Brief steckte ich mir in die Innentasche meiner Jacke. Ich würde ihn später lesen. An meinem Ziel angekommen, musste ich ein paar Regalreihen absuchen, ehe ich sie fand. Sie versuchte gerade an ein Buch in der oberen Reihe ranzukommen, doch es fehlten einige Zentimeter. „Warte, ich helfe dir“ sagte ich. Sie zuckte zusammen, als sie meine Stimme hörte, und wich einen Schritt zurück. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich ihre Reaktion sah, und holte das Buch aus dem oberen Fach. „Hier, bitte schön“ sagte ich und reichte es ihr. Sie nahm es zögerlich an sich. „D-Danke.“ Ich seufzte. Fühlte sie sich wegen mir wirklich so schlecht? „Hör zu, wegen neulich…“ „Es tut mir leid!“ Erstaunt sah ich sie an. Sie hatte das Buch an ihre Brust gepresst und sah mich aus schuldbewussten Augen an. Warum? Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte mich entschuldigen. Ich hätte dich nicht so kalt behandeln dürfen. Normalerweise bin ich gar nicht so drauf. Es war nur…“ Ich suchte nach den richtigen Worten, doch sie kam mir zuvor. „Ein sensibles Thema.“ Ich nickte und sie fuhr fort. „Es tut mir so leid, wirklich. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen. Du hattest jedes Recht dazu, sauer auf mich zu sein. Ich schwöre, ich habe es niemandem erzählt! Wirklich nicht!“ Eine Träne kullerte ihre Wange hinab. Oh nein, bitte nicht weinen! Ich bin so schlecht in solchen Dingen! „Schon gut!“ sagte ich schnell und etwas verzweifelt. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. „Ich bin nicht mehr sauer. Das war nur eine Kurzschlussreaktion. Bitte nicht weinen!“ Doch es war schon zu spät. Sie schniefte und es fanden immer mehr Tränen den Weg zu ihrem Kinn. Verdammt, was mache ich denn jetzt?! Plötzlich kam sie auf mich zu und umarmte mich. Immer wieder wimmerte sie: „Es tut mir so leid.“ Ich tätschelte ihren Kopf, um sie zu beruhigen, aber ich war mit der Situation wirklich überfordert. Keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte. Damit jedenfalls nicht! „Hey, zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Es ist okay, wirklich. Hör bitte auf zu weinen.“ „Ich… Ich hab den Artikel gelesen. Auch das Datum. Ich. Ich. Ich weiß, was passiert ist! Es tut mir so leid!“ Moment. Weinte sie etwa wegen des Unfalls? Nicht, weil ich so harsch zu ihr war? Unbewusst fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich strich ihr weiter durch ihr Haar, versuchte sie zu beruhigen, aber es gelang mir nicht allzu gut. „Schon gut“ murmelte ich immer wieder. Langsam wurde sie wieder ruhiger. „Was zum Teufel?“ Carly löste sich schnell von mir und auch ich fuhr zu der erschrockenen Stimme herum. Jack. Natürlich. Was für ein Timing. Wie soll ich das denn am besten erklären? Ungewöhnlich ruhig sprach er weiter, doch in jedem seiner Worte lag blanker Zorn. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Langsam kam er auf uns zu. „Ich wollte nur zu Carly um sie etwas zu fragen, und wurde von Aki in die Bibliothek geschickt. Und was sehe ich?!“ Er packte mich am Kragen und zog mich näher an sich, doch ich wusste, meine Worte würden ihn nur noch mehr in Rage versetzen. Ich hielt seinem Blick stand. Irgendwie muss ich diese verfahrene Situation doch deeskalieren können. „Jack!“ flehte Carly, doch er nahm sie gar nicht wahr. „Rede“ knurrte er wieder in dieser ruhigen, doch bedrohlichen Tonlage. Es bringt nichts, er wird sich jetzt nicht beruhigen lassen. Ich musste Zeit schinden, damit er etwas runterkommen konnte. „Willst du das wirklich hier klären?“ fragte ich deshalb. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er schien zu überlegen. Dann schubste er mich von sich weg, und ich musste zwei Schritte nach hinten gehen, um mein Gleichgewicht zu halten. Immer noch war mein Blick auf diese kalten, violetten Augen gerichtet. „Na schön“ sagte er. „Nach dem Unterricht. Hinter der Sporthalle. Und wehe, du kneifst.“ „Werde ich nicht“ sagte ich bestimmt. Jack bedachte seine Freundin noch mit einem Blick und sie nickte verstehend. Dann verschwand er um die Ecke. Carly drehte sich zu mir. „Entschuldige, er kann manchmal wirklich ein Idiot sein. Aber lass dich nicht auf eine Prügelei mit ihm ein! Er ist wirklich stark!“ Ich schmunzelte. „Nein, keine Angst. Ich will es ihm erklären, aber dafür brauche ich dich. Ich habe das Gefühl, du bist die Einzige, auf die er hören wird. Gib ihm erstmal Zeit sich abzureagieren.“ Sie nickte eifrig und verschwand schnell, um Jack zu folgen. Auch ich machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Auf dem Gang kam mir Jaden entgegen. Als er mich sah, kam er schnellen Schrittes auf mich zu. „Hey, sag mal, weißt du was plötzlich in Jack gefahren ist? So sauer hab ich ihn das letzte Mal erlebt, als ein neuer Schüler letztes Jahr mal mit Carly geflirtet hat.“ Was für eine Ironie. Ich seufzte und sah in diese kastanienbraunen Seen, die mich immer wieder beruhigten. „Hat dir Alexis von der Sache in der Bibliothek in meiner ersten Woche erzählt?“ „Ja, aber was hat das damit zu tun?“ antwortete er verwundert. Ich überlegte mir eine Kurzfassung. „Naja, an dem Tag hat Carly den Artikel über…“ Ich musste den Kloß in meinem Hals runterschlucken. „…den Unfall gelesen.“ Erschrocken musterte er mich, als würde er irgendwie jede meiner Gefühlsregungen beobachten wollen. „Jedenfalls habe ich ihr zugeflüstert sie soll kein Wort darüber verlieren, nett ausgedrückt, und eben wollte ich mich entschuldigen. Sie fing an zu weinen und umarmte mich plötzlich, also wollte ich sie irgendwie beruhigen…“ Jaden stöhnte verzweifelt auf. „Lass mich raten: in dem Moment kam Jack um die Ecke.“ Ich nickte. „Man sowas passiert doch eigentlich nur in schlechten Filmen! Kein Wunder, warum er sich so verhält, so ist er eben. Aber der beruhigt sich schon schnell wieder. Geh ihm einfach aus dem Weg.“ „Nein.“ Jaden sah mich verwundert an. „Wie, nein? Was hast du denn vor?“ „Ich will es ihm irgendwie erklären. Carly will mir helfen. Jack sagte, wir treffen uns nach dem Unterricht hinter der Sporthalle. Dort will ich ihm die Sache ruhig erklären.“ „Dir ist bewusst, über wen wir hier reden, ja? Wenn es um seine Freundin geht, lässt er nicht wirklich mit sich reden. Ich komme mit!“ Ich sah ihn verwundert an und schüttelte dann den Kopf. „Schon gut. Wenn du auch noch mitkommst, fühlt er sich erst recht in die Ecke gedrängt. Das würde ihn nur noch wütender machen.“ „Ich komme mit!“ beharrte er weiter. „Warum?“ „Wenn du ihm die Sache erklären willst, wirst du nicht umhinkommen, ihm wegen dem Artikel aufzuklären. Außerdem sage ich es jetzt zum dritten Mal: Ich lasse dich nicht mehr allein!“ Seine Worte entwaffneten mich. Mir waren die Argumente ausgegangen. Sein Blick war zu entschlossen, als dass ich ihm etwas hätte entgegensetzen können. Er hatte mich. Schon wieder. Ich seufzte. „Na schön, aber halte dich wenigstens im Hintergrund.“ Er grinste mich zufrieden an und nickte. Warum nochmal hatte ich mich dazu breitschlagen lassen? In den letzten beiden Stunden war Jack wie vom Erdboden verschluckt. Auch Crow sprach mich schon darauf an. Ich sagte ihm, ich müsse noch was mit dem Blondschopf klären, und er soll schon in der Bibliothek auf mich warten. Zum Glück stellte er das nicht in Frage. Er kannte ihn vermutlich gut genug. Es regnete immer noch ziemlich stark. Jaden und ich waren schon am vereinbarten Treffpunkt und standen unter dem Vordach des Hintereingangs, der zum Rasen führte. Von Jack fehlte jede Spur. Carly kam mit ihrem himmelblauen Schirm auf uns zugelaufen. Sie wirkte nervös. „Bist du wirklich sicher, dass du das machen willst? Als er das letzte Mal so sauer war, ließ er sich nur schwer wieder beruhigen.“ Ich nickte. Warum sollte ich jetzt einen Rückzieher machen? Ich hatte nichts falsch gemacht. Auch Carly traf keine Schuld. Es war einfach nur ein unglaublich blödes Missverständnis, und das wollte ich aus der Welt schaffen. Schließlich war er mein Freund. Irgendwie. „Du hast dir Verstärkung mitgebracht?“ Wir drehten uns um. Da stand er. Schon sein Gesicht war zu Faust geballt. Ich machte einige Schritte auf ihn zu, damit Jaden und Carly hinter mir standen. Er sollte nicht denken, ich würde mich verstecken. Wir standen nur ein paar Meter voneinander entfernt. „Hör zu, ich bin nicht hier, um mich mit dir zu prügeln, verstanden? Ich will nur reden.“ „Warum sollte ich zuhören?“ knurrte er. „Willst du wirklich vor deiner Freundin eine Schlägerei anzetteln?“ „Lass Carly da gefälligst raus, verstanden?!“ entgegnete er aufgebracht. Ich hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut.“ Er schnaubte, sah kurz zu Carly, die ihn besorgt betrachtete. „Na schön. Warum seid ihr plötzlich so vertraut miteinander?“ Er klang noch immer wütend und seine Hände zitterten vor Anspannung, aber zumindest ging er nicht auf mich los. Ich atmete noch einmal tief durch und achtete darauf, ruhig zu sprechen. „Du hast mich mal gefragt, warum sie sich wegen mir so schlecht fühlt, weißt du das noch?“ „Was hat das bitte damit zu tun, du Mistkerl?!“ „Ganz ruhig, beantworte einfach meine Frage.“ Wieder knurrte er. „Ja, sie war tagelang scheiße drauf deswegen!“ Ich nickte. „Richtig. Sie hat damals einen bestimmten Artikel gelesen, den ich verheimlichen wollte, also habe ich ihr gesagt, sie soll ruhig sein. Ich wollte nicht, dass das irgendjemand zu Gesicht bekommt.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Komm zum Punkt!“ Wieder atmete ich tief durch und konnte nicht gleich weitersprechen. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und rief den Artikel auf. Meine Hand zitterte. Mein Herz raste. Mir wurde übel. Mein gesamter Körper spannte sich an. Plötzlich spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. Ich brauchte mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer das war. Seine Hand auf meiner Schulter schenkte mir Kraft. Langsam schien Jack die Geduld zu verlieren. Ich warf ihm das Handy zu und er fing es ohne Probleme auf. „Ließ einfach selbst“ sagte ich leise und hatte die Befürchtung, meine Worte würden vom prasselnden Regen um uns herum verschluckt werden. Doch er schien es verstanden zu haben und richtete seinen Blick auf mein Handy. Die Momente verstrichen. Langsam ging Carly auf ihn zu und blieb nur Zentimeter vor ihm stehen. Sie sah ihn aus traurigen Augen an. Er schaute auf. „Was hat das zu bedeuten?“ murmelte er an seine Freundin gerichtet. Sie zog ihn etwas an seiner Jacke, damit er auf einer Höhe mit ihr war, und flüsterte ihm etwas zu. Ich war ihr dankbar, dass sie es nicht laut aussprach. Jack stellte sich wieder aufrecht hin und fixierte mich. Sein Blick war unergründlich. Keine Ahnung, ob die Sache jetzt geklärt, oder er noch sauer war, doch mit seiner nächsten Aktion war alles klar. Er sah Carly liebevoll an und strich ihr kurz übers Haar, ehe er auf mich zu kam. Ich konnte mich nach wie vor nicht bewegen. Er reichte mir mein Handy. Jadens Blick wanderte im Wechsel zwischen mir und Jack. Der Druck auf meiner Schulter verstärkte sich. Langsam hatte ich wieder die Kontrolle über meinen angespannten Körper und griff nach dem Handy, um es wieder einzustecken. Carly lächelte mir entschuldigend entgegen. Jack drehte sich wieder um und machte ein paar Schritte, ehe er innehielt. „Tut mir leid“ murmelte er und ging weiter. „Jack?“ Er stoppte und warf mir einen Blick über die Schulter zu. „Tu mir den Gefallen, und behalt es für dich.“ Ein kurzes Nicken und er ging weiter. Carly folgte ihm, und bot ihm einen Platz unter ihrem Schirm an. Man konnte noch den Anfang ihres Gesprächs hören, bevor sie um die Ecke verschwanden. „Ehrlich Jack! Du darfst nicht ständig so überreagieren. Ein wenig Eifersucht ist ja ganz schmeichelhaft, aber das ging zu weit! Wenn du so weiter machst, dann…“ Mehr verstand ich nicht mehr. Jaden stellte sich plötzlich vor mich und grinste. „Gut gemacht!“ „Was?“ „Naja, du hast dich ziemlich gut gehalten! Und mal unter uns: Das war das erste Mal, dass ich die Worte ‚Tut mir leid‘ von ihm gehört hab!“ Das sprach weniger für mich, als gegen ihn, aber gut. Ich nahm das Kompliment dankend entgegen und ging mit ihm zusammen in die Bibliothek. Da seine Mutter dachte, er hätte noch Fußballtraining, hatte er ohnehin zu viel Zeit. Seine Schwester war noch im Schauspiel-Klub. „Schon wieder da?“ fragte Crow, als wir bei ihm ankamen. Jaden nickte grinsend. „Er hat sich schnell wieder eingekriegt.“ „Wir reden hier schon noch von Jack, oder?“ Jadens Grinsen wurde breiter. Ich räusperte mich, um dieses Thema endlich zu beenden, und schlug Crow vor anzufangen. Er nickte und wir arbeiteten eine ganze Weile an dem Thema. Er hatte größere Probleme damit als Jaden, und mit letzterem hatte ich schon Stunden gesessen. Das wird wohl mehrere Bibliotheksbesuche in Anspruch nehmen. „Ohje“ sagte ich mit Blick auf die Uhr. Jaden sah mich überrascht an. „Hast du noch was vor?“ „Ja, ich sollte in zwei Minuten bei Sensei Fontaine sein“ sagte ich und sah Crow an. „Wir müssen hier abbrechen, aber wir machen ein andermal weiter, einverstanden?“ „Schon okay, um ehrlich zu sein, bin ich echt fertig! Ne Pause würde mir ganz guttun.“ Als ich meine Sachen schnell packte, beobachtete mich Jaden. „Sag mal, was willst du um die Uhrzeit eigentlich noch bei ihr?“ Als Antwort schenkte ich ihm jedoch nur ein Lächeln. Er sah mich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung an. „Lass mich raten: Ich soll Geduld haben!“ Ich nickte immer noch lächelnd und verabschiedete mich, um nicht noch später zu kommen. Kapitel 9: Geheimnis -------------------- Ich stand im Türrahmen meines Hauses. Der Regen prasselte noch immer unaufhörlich vom Himmel und hatte schon große Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen. Meine Hand hatte ich zum Abschied gehoben und ich dankte ihr für die Hilfe. Sensei Fontaine stieg ins Auto und winkte ebenfalls zum Abschied, schenkte mir ein Lächeln, ehe sie einstieg. Ich ging wieder ins Haus und schloss die Tür. Allmählich nahm ich die Treppe rauf in mein Zimmer, sah aus dem Fenster und seufzte. Was für ein langer Tag. Draußen nahm der Himmel bereits ein dunkleres Grau an. Ich zog die Jacke meiner Schuluniform aus und warf sie über meinen Stuhl. Dabei fiel etwas aus der Tasche. Akis Brief. Neugierig nahm ich ihn an mich und betrachtete ihn. Mein Name stand in schwungvollen Buchstaben darauf und eine kunstvoll gebundene Schleife war drumherum angebracht. Sie hatte sich wirklich viel Mühe damit gegeben. Ich entfernte die Schleife und öffnete den Umschlag. Zum Vorschein kam ein nicht weniger schön gestalteter Zettel. In der oberen linken, und der unteren rechten Ecke waren Rosen gezeichnet, die in ein paar Ranken ausliefen. Meine Augen wanderten über ihre Worte. Lieber Yusei, ich schreibe dir diese Zeilen, um dir zu sagen, dass ich dich gernhabe. Mehr als das. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht sehr lang, aber als ich dich das erste Mal sah, zogen mich deine klaren, blauen Augen in ihren Bann. Es ist, als würden sie mich alles andere vergessen lassen. Deine ruhige, zurückhaltende Art und dein seltenes, aber herzliches Lachen lassen mein Herz höherschlagen. Ich bin auf dem besten Weg, mich Hals über Kopf in dich zu verlieben. Vielleicht fühlst du ja auch so wie ich. Ich würde mich freuen, wenn wir uns bei einem Picknick im Park etwas besser kennenlernen können. Vielleicht am Samstag? Sag mir doch bitte, ob du Lust auf ein Date mit mir hast. In Liebe, Aki. Ich legte den Brief auf meinem Tisch ab. Natürlich schmeichelten mir ihre Worte, aber ich erwiderte ihre Gefühle nicht. Sie war die erste, die ich an dieser Schule kennenlernte. Ich fand sie nicht unattraktiv, im Gegenteil, aber sie zog mich nicht an. Wir unterhielten uns oft in den Mittagspausen oder im Musikunterricht, aber sie war für mich mehr eine Freundin als ein Schwarm. Sie war niedlich, freundlich, intelligent, fröhlich, hatte einen starken Willen. Eigentlich ganz mein Typ. Aber wenn ich in ihrer Nähe war, spürte ich kein Kribbeln im Bauch, keine Hitze, die meinen Körper durchflutete. Mein Herz schlug mir nicht bis zum Hals, wenn sie lachte. Ich spürte in ihrer Nähe kein Gefühl von Geborgenheit. Sicherheit. Nein, diese Gefühle löste eine andere Person in mir aus. Ich spürte diese Gefühle bereits. Ich war wirklich verliebt, oder? Seufzend ließ ich mich in mein Bett fallen und starrte an die Decke. Morgen werde ich ihr eine Antwort geben müssen. Wie sollte ich es ihr am besten sagen? Ich wollte sie nicht verletzen, ihr aber auch keine Hoffnungen machen. Es war zum Haare raufen. Da fiel mir etwas auf. Ich schmunzelte, fing an, leise zu lachen. Ich hatte normale Teenagerprobleme. Ich stand auf und verließ mein Zimmer. Schließlich hatte ich noch etwas vorzubereiten… Einige Zeit später ging ich zu Bett. Draußen war es schon dunkel und der Regen prasselte noch immer unnachgiebig gegen die Fenster. Hätte ich gewusst, was in der Nacht auf mich zukommen würde, ich wäre einfach wach geblieben. Ich lief durch die Straßen von Osaka, ohne ein bestimmtes Ziel. Kalin war an meiner Seite, wir unterhielten uns. Ich war fröhlich. Er verabschiedete sich. Ich war zu Hause. Sie war noch nicht da. Ein kleines Mädchen, das ihr ähnelte, stand neben mir. Ihre brünetten Haare waren schulterlang und klebten an ihrem Kopf. Sie war blutüberströmt. „Warum hast du mich nicht beschützt?“ fragte sie traurig, dann verschwand sie. Angst breitete sich aus. Ich telefonierte mit meiner Mutter. Sie war fröhlich. Ein Knall. Ein markerschütternder Schrei. Blut. Sie ist tot. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich rief nach ihr, bekam keine Antwort. Stille. Ein Polizist stand vor mir, sah mich traurig an. Sie waren tot. Ich schrie. Dunkelheit breitete sich aus, verschluckte mich, zog mich tiefer mit sich. Mein Vater sah mich traurig an und drehte mir den Rücken zu. Ich rief nach ihm. Er verschwand. Es war kalt. Sie waren tot. Es war dunkel. Ich fühlte mich schwer, lag allein inmitten der Dunkelheit, konnte mich nicht rühren. Sie waren tot. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich saß aufrecht im Bett, meine Augen geweitet, mein Körper zitterte, ich war schweißgebadet. Ich keuchte, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Mein Herz raste. Langsam müsste ich mich doch an diesen Alptraum gewöhnen. Es war doch seit Wochen immer wieder der Gleiche. Aber ich spürte noch immer dieselbe Angst wie beim ersten Mal. Ich war verzweifelt, müde, und doch wach. Ich ließ mich wieder in mein Kissen sinken, versuchte meine Atmung zu beruhigen. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Ich hörte noch immer den prasselnden Regen an meinem Fenster, er beruhigte mich. Der Sturm in mir war größer. Es war mitten in der Nacht. Ich versuchte noch etwas Ruhe zu finden und drehte mich auf die Seite. Nur ein paar Stunden Ruhe. Ich döste ein paar Mal weg, aber konnte mich nicht mehr entspannen. Ich war zu aufgewühlt, also stand ich auf und machte das Licht an. Mein Blick fiel auf die Kartons hinter meinem Spiegel. Ich seufzte. Wieso nicht? Nach einigen Stunden war ich im Wohnzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Langsam wurde es heller. Der Himmel war wolkenverhangen, riss aber an einigen Stellen auf und warf goldene Lichtstrahlen auf die Stadt. Der Regen hatte aufgehört. Es war ein wirklich schöner Anblick. Ich stand ein paar Minuten still da und betrachtete den Sonnenaufgang, der die Wolken in alle Farben tauchte. Auch der Herbst hatte den Bäumen mittlerweile ihre schönsten Farben geschenkt. Ich lächelte. Du hattest Recht. Die faszinierendsten Augenblicke sind eben doch vergänglich. Ich riss mich von diesem Anblick los und ging ins Bad, um mich für die Schule fertigzumachen. In der Mittagspause liefen alle Schüler nach draußen, um die Sonne zu genießen, die sich mittlerweile komplett gezeigt hatte. Der Himmel war nahezu wolkenlos. Ich stand bei den anderen an den Tribünen und sie unterhielten sich. In Gedanken war ich bei dem Gespräch mit Aki, aber sie war nicht bei uns. Carly sagte sie ist im Zimmer geblieben um zu telefonieren. Ob sie wohl immer noch dort ist? „Yusei?“ Ich sah auf und blickte in warme, kastanienbraune Augen, die mich sorgenvoll musterten. „Alles in Ordnung mit dir? Du bist so still.“ Ich winkte ab. „Nein, alles gut. Ich hab nur schlecht geschlafen.“ Das war nicht mal gelogen. Er musterte mich und ich erkannte an seinem Blick, dass er wusste, was los war. Ich wich seinem Blick aus und sah an ihm vorbei, zum Schulgebäude. Am Eingang entdeckte ich Aki. Sie kam auf uns zu. Das war wohl meine Gelegenheit sie anzusprechen. Jaden folgte meinem Blick. „Ah, das ist sie ja. Mit wem die wohl so lange geredet hat?“ „Hm. Entschuldigst du mich kurz?“ murmelte ich und ging auf den Rotschopf zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Als ich ihr ein Stück entgegenkam, bemerkte ich ihre Nervosität. Sie wurde rot. „Hey, Yusei“ sagte sie leise und blickte mir mit gesenktem Kopf entgegen. Ich schmunzelte. „Gehen wir ein Stück?“ fragte ich und deutete mit dem Arm in Richtung einiger Bäume. Weg von den Tribünen, wo nicht so viele Schüler waren. Sie nickte und wir machten uns auf den Weg. „Und… Ich meine… Naja… Hast du ihn gelesen?“ druckste sie herum. Ich blieb stehen. Wir waren an unserem Ziel angekommen. Hier war kaum jemand, der uns hätte beobachten können. Ich sah sie an und nickte. Meine Mundwinkel wanderten unabsichtlich ein wenig nach oben als ich sie beobachtete. Sie zupfte an ihrem Rock und hatte Schwierigkeiten damit, meinen Blick zu erwidern. „Er war sehr schön“ setzte ich an. Nun sah sie mir gebannt in die Augen. „Ich habe mich wirklich darüber gefreut. Aber leider kann ich deine Gefühle nicht erwidern. Tut mir leid.“ Sie senkte den Blick. „Schade… Du bist der Erste, in den ich mich verliebt habe“ murmelte sie. Mein Blick wurde weicher. „Und ich werde auch nicht der Letzte sein, glaub mir.“ Sie blickte verwirrt auf und musterte mich. Ich lächelte. „Ich hoffe es ist okay für dich, wenn wir weiterhin befreundet bleiben? Ich mag dich sehr gern.“ Wieder legte sich ein Rotschimmer auf ihre Wangen. „Ich weiß wie es sich anfühlt, unglücklich verliebt zu sein… Aber weißt du was? Jim ist total in dich verknallt. Er redet nach dem Training oft von dir.“ „Bist du’s?“ „Hm?“ Ich sah sie überrascht an. „Unglücklich verliebt.“ Ich schwieg. Was soll ich darauf nur antworten? Ich weiß es ja selbst nicht genau. Sie lächelte traurig. Mein Schweigen war wohl Antwort genug für sie. „Lass uns zu den anderen zurückgehen, ja?“ Ich nickte. „Hey, da seid ihr ja wieder. Ich dachte ihr wärt getürmt“ begrüßte uns Crow und grinste. Aki kicherte „Nein, wir haben nur geredet.“ „Apropos. Mit wem hast du eigentlich so lange telefoniert?“ wollte Carly wissen. Aki stöhnte genervt auf. „Mit meiner Mutter. Sie ruft mich ständig an, wenn sie diese Geschäftsreisen antritt. Wenn ich nicht rangehe, versucht sie mir beim nächsten Mal einfach ein schlechtes Gewissen zu machen. Will jemand tauschen? Ich geb sie gern ab“ sagte sie und verschränkte ihre Arme. Ich spürte drei Blicke auf mir ruhen und ignorierte jeden einzelnen. Ich schwieg, verzog keine Miene und blickte über den Rasenplatz. Ob er bis morgen wieder bespielbar ist? Die anderen redeten weiter, aber ich blendete sie aus. Ich beobachtete einige Schüler aus dem zweiten Jahrgang. Daichi machte irgendwelche Grimassen und schien einigen anderen eine Geschichte zu erzählen. Jim warf Aki wieder verstohlene Blicke zu. Ein paar aus dem ersten Jahrgang spielten ein Kartenspiel. Sensei Ushio brüllte einige Spieler auf dem Volleyballplatz an. Das übliche Chaos. Automatisch wanderte mein Blick wieder zu Jaden. Er musterte mich noch immer besorgt. Ich seufzte. „Mir geht’s gut“ murmelte ich, sodass nur er es hören konnte, und schenkte ihm ein Lächeln. In seinem Gesicht sah man deutlich seine Skepsis, aber er bohrte nicht weiter nach. Dafür war ich ihm dankbar. * Die Sicht von Jaden * Er hatte wieder diesen Alptraum, ich sah es ihm an. Er war blass und hatte dunkle Ringe unter seinen Augen. Aber er schwieg. Ich glaube er weiß genau, dass es mir aufgefallen ist, aber ich hatte gelernt ihn nicht zu drängen. Wenn er bereit war, würde er es mir erzählen. Nach dem Fußballtraining fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause. Ich dachte eigentlich, mein Vater würde noch im Arbeitszimmer sitzen. Stattdessen zog er sich gerade seine Jacke an als ich ins Haus kam. „Wo willst du denn hin? Ich dachte du bist heute den ganzen Tag am PC“ fragte ich verwundert. Er seufzte. „Ich will mit dem Auto in die Werkstatt fahren. Mein Chef sagte, sie brauchen mich morgen wieder im Außendienst. Da fällt mir ein, wenn ich liegen bleibe, brauch ich eine zweite Person“ sagte er und grinste mich an. Oh nein, warum ich? Wir saßen im Auto und fuhren in die nächste Werkstatt. Es war laut, knatterte komisch und ich fühlte mich wirklich unwohl in meiner Haut. Aber wenn ich ihm jetzt schon mal den Gefallen tat und mitfuhr, hatte ich bessere Chancen auf ein Ja, was Yuseis Sache in Osaka betraf. „Sag mal, Papa?“ setzte ich an. „Wie viel weißt du eigentlich von der Sache mit Yuseis Vater?“ Er sah mich kurz überrascht an, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. „Wäre es nicht besser, du fragst ihn deswegen selbst?“ „Er hat mir alles erzählt, ich will nur wissen, wie viel du davon weißt“ hakte ich nach. Er überlegte. „Ich weiß, dass seine Frau vor einigen Wochen bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Deine Mutter hat ihm deswegen die Stelle hier in Neo Domino verschafft, weil er raus aus Osaka wollte. Und ich weiß, dass er wegen dem Tod seiner Frau versucht hat, sich das Leben zu nehmen.“ Ich nickte. Er wusste also alles Nötige für meine Frage. „Yusei hat erzählt, dass übernächsten Montag die Gerichtsverhandlung ist. Aber weil sein Vater bis dahin noch im Krankenhaus ist, muss er da hin und eine Aussage machen.“ „Und du willst mich fragen, ob du ihn begleiten kannst“ schlussfolgerte er. Ich sah ihn überrascht an. Wie macht er das immer wieder? Vermutlich war das seine jahrelange Erfahrung als Sozialarbeiter beim Jugendamt. Schließlich musste er Menschen jeden Tag lesen. „J-Ja“ antwortete ich nur. Er nickte. War das eine Zusage? Aber er sprach weiter. „Hat er schon einen vorläufigen Vormund vom Jugendamt? Vor Gericht zählt er bis zu seinem vollendeten 20. Lebensjahr noch als Kind.“ „Ääähhhh.“ Keine Ahnung. Er lachte. „Ich frag ihn wohl besser selbst. Ich müsste natürlich alles mit deiner Mutter und meinem Chef absprechen, aber wenn das geklärt ist, übernehme ich die vorläufige Vormundschaft für ihn vor Gericht und begleite euch.“ Ich saß mit offenem Mund neben meinem Vater und brauchte einen Moment, ehe ich es begriff. Das war ein Ja! Wenn er nicht gerade fahren würde, würde ich ihm um den Hals fallen. „Danke!“ sagte ich stattdessen glücklich und grinste ihn an. Er lächelte. „Kein Problem.“ Kaum zu glauben, aber das Auto hatte es tatsächlich bis auf den Hof der Werkstatt geschafft. Hier standen schon ein paar Fahrzeuge und aus dem Inneren der Werkstatt kamen ziemlich laute Geräusche. Mein Vater ging rein und da ich nichts mit mir anzufangen wusste, folgte ich ihm. Hier standen ziemlich viele Geräte und Werkzeuge, mit denen ich absolut nichts anfangen konnte. „Na, was is bei euch kaputt?“ fragte ein verdammt großer, muskelbepackter Typ mit einem Kopftuch und kam auf uns zu. Er hatte schwarze Flecken auf seinem Muskelshirt und eine Zigarette im Mund. In seiner Hand hielt er einen ollen Lappen und wischte sich die Hände sauber. Naja, sauberer. Der Kerl war mir unheimlich. „Wenn ich das wüsste“ scherzte mein Vater. „Es ist sehr laut und ich bekomme den Gang nicht mehr richtig rein. Jedes Mal, wenn ich schalten will, gibt es im Leerlauf einen eigenartigen Ton von sich.“ „Hm, klingt nachm Getriebe“ antwortete er und sah sich um. „Sind grad unterbesetzt. Werden wohl morgen wiederkomm müssen. Das Auto könn se hier stehn lassen.“ Mein Vater stutzte. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass Sie sich das Auto heute noch vornehmen könnten? Ich brauche es morgen wirklich dringend.“ „Wenn se nich selbst Hand anlegen, wird das nix, sorry“ antwortete er. „Hey, Sam!“ rief ein weiterer Typ hinter ihm. „Frag doch den Burschen, dann hat er mal was zu tun. Der Kleine is schon fertig mit seinem Zeug!“ Der Kerl vor uns schien zu überlegen. „Ham se ein Problem damit, wenn wir mal nen Anfänger drüberschaun lassen? Der Kleine kennt sich schon ganz gut aus.“ „Ja, sicher. Wenn sie sagen, er schafft das.“ Der Kerl nickte und ging in ein Hinterzimmer. Ich schielte zu meinem Vater. „Der ist ja unheimlich.“ „Ach was, er war doch sehr freundlich. Lass dich nie vom ersten Eindruck täuschen, mein Junge“ sagte mein Vater und lächelte. Er und seine Weisheiten. „Jaden?“ hörte ich plötzlich eine Stimme. Ich sah in die Richtung und konnte meinen Augen nicht trauen. „Ah, Hallo Yusei, das ist ja ein Zufall. Was machst du denn hier?“ begrüßte ihn mein Vater. Er kam vor uns zum Stehen und lächelte uns entgegen. „Ich arbeite hier, und Sie? Läuft Ihr Wagen nicht mehr richtig?“ „Ja, dieser Sam sagte, es wäre wohl das Getriebe. Kennst du dich wirklich damit aus?“ Er nickte. Yusei sah sich schon zwanzig Minuten lang irgendwas im Motorraum an und schien in seiner eigenen Welt zu sein. Davor hat er sich den Wagen schon von hinten angesehen. Dann drehte er sich wieder zu uns. „Sam hat recht“ sagte er. „Wann brauchen Sie das Auto denn wieder?“ „Morgen, so gegen 13 Uhr. Was denkst du, wäre das möglich?“ Er dachte nach. „Ich will Ihnen nichts versprechen, aber ich kann es versuchen. Der Ausbau dauert ein paar Stunden, und dann muss ich es auseinanderbauen und nach dem Fehler suchen. Mit etwas Pech haben wir die Ersatzteile nicht da und müssen sie nachbestellen. Mit Glück werde ich heute fertig und Sam baut es morgen Mittag ein. Das laute Geräusch ist wahrscheinlich der Auspuff, aber das dauert nicht lange, der ist nur locker.“ Mein Vater seufzte. „Danke, für deine Ehrlichkeit. Dann hoffe ich einfach auf etwas Glück“ sagte er und wandte sich zu mir. „Na komm, Jaden. Bis zum Krankenhaus sind es nur zehn Minuten zu Fuß und die Schicht deiner Mutter endet bald.“ Ich nickte ihm zu und sah noch einmal zu Yusei. „Überarbeite dich nicht!“ sagte ich und grinste. Er lächelte zurück. „Keine Angst, werde ich nicht. Bis morgen.“ Er hob seine Hand zum Abschied und ging in die Werkstatt zurück. Zu Hause angekommen, machte ich meine Hausaufgaben und schaute danach etwas Fernsehen. Als mir langsam die Augen zufielen, hörte ich den SMS-Ton meines Handys und schreckte hoch. Ich sah auf mein Telefon. 0:28 Uhr. Die Nachricht war von Yusei. Hey Jaden, ich hoffe ich habe dich nicht geweckt. Ich bin eben fertig geworden. Sag deinem Vater bitte, dass nur die Synchronringe verschlissen waren. Die Teile hatten wir zum Glück noch da. Ich habe es gereinigt und wieder zusammengebaut. Sam baut das Getriebe morgen ein. Der Auspuff ist geschweißt und wird erstmal keine Probleme mehr machen. Gute Nacht. Es ratterte kurz in meinem schläfrigen Zustand, bis es klick machte. Er ist JETZT fertig geworden?! Alexis meinte doch, sie schreiben morgen eine Physik Klausur. Da ist er bis eben noch in der Werkstatt geblieben?! Ich flog die Treppen zum Wohnzimmer fast schon runter und zeigte meinem Vater die SMS. Er reagierte in etwa so wie ich. * Die Sicht von Yusei * Das Gute, wenn man übermüdet ist: man hat keine Träume. Ich schlief nur wenige Stunden, fühlte mich aber besser als am Vortag. In der Freistunde in der Zweiten ging ich in die Bibliothek, um wenigstens ein wenig zu lernen. Der Plan ging leider nach hinten los und ich schlief, mit dem Kopf auf den Armen abgestützt, ein. Eine sanfte Berührung auf meiner Schulter weckte mich wieder. Ich sah auf und erkannte Alexis. „Jaden sagte schon, du warst gestern ziemlich lange auf der Arbeit. Bist du sicher, dass du die Klausur schaffst? Vielleicht solltest du lieber-“ „Nein, schon okay“ fiel ich ihr ins Wort, doch mein Gähnen verriet mich. „Ich brauch vielleicht einen Kaffee, dann geht’s wieder.“ Sie stellte mir einen Pappbecher auf den Tisch und lächelte. „Er wusste, dass du das sagen würdest, deshalb habe ich vorgesorgt.“ Verdutzt schaute ich sie an. Er wusste… Was? Vielleicht schlafe ich immer noch. „Na komm, wir haben noch 15 Minuten, ehe die Stunde vorbei ist. In der Zeit trinkst du den Kaffee und ich frage dich ab, okay?“ Ich nickte und nahm das Getränk an mich. Sie ging einige Aufgaben mit mir durch, die meisten Antworten kannte ich zum Glück. Es ging um das Thema Photoneneffekte. „Na gut, letzte Frage. Nenn mir die Versuchsergebnisse beim äußeren lichtelektrischen Effekt, die mit der Wellenvorstellung des Lichtes unvereinbar sind.“ Ich erinnerte mich dunkel an das Tafelbild. „Das hängt von der Frequenz des Lichtes ab. Der-“ Es klingelte. „Wir sollten los“ sagte Alexis und klappte ihr Buch zu. Sie stand auf und ich folgte ihr. Die Klausur lief recht gut. Ein paar Berechnungen musste ich trotzdem mehrmals überprüfen, weil ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. In Geschichte lief es auch nicht sehr viel besser. Beim Mittagessen saßen wir wieder auf der Tribüne. „Sag mal, warum siehst du eigentlich so fertig aus?“ fragte Crow. „Kurze Nacht“ antwortete ich nur und aß weiter. Jack musterte mich. „Vielleicht solltest du das Training lieber auslassen. Nicht, dass du mitten auf dem Feld einpennst.“ „Ich habe das Training gestern schon verpasst. Nächste Woche ist das erste Qualifikationsspiel und wir sollten gut vorbereitet sein.“ Crow überlegte. „Ach stimmt. Hey, Jaden. Gegen wen spielen wir überhaupt als erstes?“ „Hm?“ „Ich hab dich gefragt, gegen wen wir spielen.“ „Ach so, ja, lass mich kurz überlegen… Irgendeine kleine Schule am Stadtrand, aber ich hab den Namen vergessen.“ Kurz vor dem Training kam Jaden auf mich zu, als ich auf dem Weg zu den Umkleiden war. „Hey, kann ich kurz mit dir reden?“ „Sicher, was ist denn los?“ „Es geht um deinen Termin in Osaka. Ich hab mit meinem Vater geredet und er bittet dich nach dem Training zu uns zu kommen, um was mit dir zu besprechen“ sagte er und grinste. Ich schmunzelte. Er hat es nicht vergessen und will mich tatsächlich begleiten. Nach dem Training fuhr ich schnell nach Hause und ging duschen. Jaden war mit dem Fahrrad bedeutend langsamer als ich, also hatte ich genug Zeit. Ich kam sogar ein paar Minuten vor ihm an seinem Haus an und wartete auf ihn. Als wir eintraten, kamen Jadens Eltern mir entgegen und begrüßten mich herzlich. Sein Vater bedankte sich vielmals bei mir wegen seines Autos, maßregelte mich aber trotzdem, dass es unverantwortlich von mir war, so viele Überstunden zu machen. „Kein Problem, das habe ich gern gemacht, außerdem habe ich nächsten Dienstag dafür frei bekommen. Ihre Familie hat mir so oft geholfen, und ich hatte die Chance, mich ein wenig zu revangieren“ sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. „Warum wollten Sie eigentlich, dass ich herkomme?“ Seine Mutter legte ein fröhliches Lächeln auf und führte mich ins Wohnzimmer. Ich saß neben Jaden auf dem Sofa, sein Vater im Sessel gegenüber von uns und seine Mutter lehnte sich daran an. Wären nicht diese fröhlichen Gesichter um mich herum gewesen, ich hätte schwören können, jeden Moment käme die nächste Hiobsbotschaft. Kapitel 10: Wir sind nicht allein --------------------------------- Ich starrte den kleinen Papierstapel in meiner Hand an, den mir Jadens Mutter überreicht hatte, dann sah ich wieder zu seinem Vater. Was hat er eben gesagt? Ich konnte mich nicht rühren. „Und?“ fragte Jaden grinsend. Sein Vater hat mir tatsächlich vorgeschlagen, mich beim Gericht als vorläufiger Vormund zu begleiten. Weder ich noch mein Vater, hatten daran gedacht, dass das nötig wäre. Schließlich war ich schon 18. Er und Jaden würden mich begleiten. Ich wäre nicht allein. Ich würde im Gerichtssaal nicht die ganze Zeit allein neben einem Fremden sitzen müssen. Herr Yuki ergriff wieder das Wort. „Du musst dich natürlich nicht sofort entscheiden. Lass dir Zeit und denk noch einmal darüber nach, schließlich-“ „Ja“ unterbrach ich ihn. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Das war das Beste, was mir in dieser Situation passieren konnte. Er lächelte. „Na dann muss ich mich nur noch mit dem Staatsanwalt unterhalten, und wir müssen uns nach einer Unterkunft umsehen.“ „Was das angeht… Ich habe vor einigen Tagen einen Brief bekommen, von einem alten Freund meiner Eltern. Er hat von der Gerichtsverhandlung gehört, es stand wohl in der Zeitung. Er hat mir angeboten in der Zeit bei ihm unterzukommen. Ich glaube er hat nichts dagegen, wenn ihr auch mitkommt.“ „Sehr cool! Dann ist doch alles geklärt, oder?“ sagte Jaden fröhlich. Ich lächelte „Ja.“ „Sehr schön!“ freute sich seine Mutter. „Dann rede ich morgen mit eurem Direktor. Willst du nicht gleich zum Essen bleiben, Yusei?“ Ich stimmte zu, nachdem Jaden mich mit seinem Blick weichgeklopft hatte. So verbrachte ich den Abend also im Hause Yuki. Am nächsten Tag fuhr ich nach der Schule zu meinem Vater ins Krankenhaus. Am Telefon sagten sie mir in den letzten Tagen immer wieder, er wolle keinen Besuch. Auch Jadens Mutter machte sich langsam Sorgen, aber da sie keine Angehörige war, konnten ihr die Ärzte nichts erzählen. Warum nur will er niemanden mehr an sich heranlassen? An der Rezeption musste ich eine Weile warten, ehe der behandelnde Arzt meines Vaters Zeit für mich hatte. Ich nutzte die Wartezeit, um mir einige Videos der Spiele unserer Gegner im ersten Qualifikationsspiel anzusehen. „Sind Sie Yusei Fudo?“ fragte mich eine tiefe Stimme. Ich blickte auf und sah einen älteren Mann mit Kittel, und einem Klemmbrett in der Hand. Ich nickte und er bedeutete mir, ihm zu folgen. In seinem Büro angekommen, setzte ich mich auf einen freien Stuhl vor seinem Schreibtisch. Als er auf seinem Stuhl Platz nahm, seufzte er schwer. „Na schön, ich kann mir schon vorstellen, warum Sie gekommen sind. Es geht um die Verweigerung Ihres Vaters, Besuche anzunehmen, nicht?“ Wieder nickte ich. „Wir wissen leider auch nicht, warum er sich so verändert hat. Er spricht nicht mal mehr mit den Ärzten. Wenn das so weiter geht, wird er nicht, wie geplant, in drei Wochen entlassen. Wir müssten die Dosis seiner Medikamente erhöhen, und ihn für mindestens einen weiteren Monat stationär behandeln.“ „WAS?“ fragte ich entsetzt. Meine Finger krallten sich in die Armlehnen des Stuhls. Noch länger? Ich wollte doch nur, dass er wieder nach Hause kommt. Der Arzt sah mich mitfühlend an. „Ist seit dem letzten Samstag irgendetwas passiert?“ fragte er. Natürlich. Sachis Geburtstag. Aber warum zieht er sich noch immer zurück? „Naja…“ setzte ich an. Es war noch immer schwer für mich, diese Worte auszusprechen, aber ich wollte, dass es meinem Vater wieder gut geht. Ich wollte, dass er wieder der Alte wird, also atmete ich tief durch und sprach leise weiter. „Letzten Samstag wäre der Geburtstermin meiner Schwester gewesen…“ Der Arzt sah mich fragend an. Hat mein Vater nie davon gesprochen, als er mit dem Therapeuten geredet hat? „Meine Mutter war schwanger, als sie starb“ wisperte ich, als er noch immer schwieg. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und legte die Finger aneinander. Eine Weile lang überlegte er. „Das ändert natürlich die Situation.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte ich verwirrt. „Bisher haben wir angenommen, die einzige Person, die er verloren hat, wäre seine Frau gewesen. Er oder Frau Yuki haben nie eine ungeborene Tochter erwähnt. Das ändert den Therapieansatz. Wenn man bedenkt, dass er nur knapp zwei Wochen nach deren Tod wieder auf einer Kinderstation angefangen hat… Das hat vermutlich etwas in ihm ausgelöst. Dazu kommt noch sein Rückzug. Ich kann Sie leider nicht zu Ihrem Vater lassen, ohne dessen Zustimmung. Ich hoffe, Sie verstehen das. Aber ich werde Sie auf dem Laufenden halten, sollte sich sein Zustand bessern. Wir werden ab morgen etwas anderes ausprobieren.“ Zu Hause angekommen, rief ich Jadens Mutter an und erzählte ihr davon, schließlich machte auch sie sich Sorgen. Von Sachi wusste sie scheinbar nichts. Sie war ziemlich geschockt, als ich sie davon in Kenntnis setzte. Zwei Tage darauf, am Samstag, kam der erlösende Anruf vom Krankenhaus. Ich durfte ihn am nächsten Tag besuchen. * Die Sicht von Hakase * Die Stationsschwestern haben mich letztendlich doch überredet, mit meinem Sohn zu sprechen. Ich konnte ihn nicht ewig ausschließen. Würde er mir vergeben können? Ich fühlte mich wie betäubt. Sie hatten meine Medikamente verändert, und ich war wie in einer Schicht aus Watte gefangen. Ich nahm die Worte wahr, die die Ärzte und Schwestern sagten, aber sie drangen nicht zu mir hindurch. Ich sah alles wie durch einen Nebel und bemerkte nicht einmal, wie jemand das Zimmer betrat. Eine vertraute Stimme, eine Berührung auf meinem Arm. Mein verschleierter Blick folgte den Reizen und ich sah meinen Sohn neben mir sitzen. Langsam klarte sich meine Sicht auf und ich hörte seine Worte. „So kann es nicht weitergehen“ sagte er und sah mir entschlossen in die Augen. Er hat sich verändert. Oder bilde ich mir das nur ein? Wann hat sich dieser Ausdruck in seinem Gesicht so verändert? „Du musst endlich darüber reden“ sprach er weiter und fixierte mich noch immer mit diesem Feuer in seinen Augen. Er hatte Recht. Das wusste ich. Aber ich konnte es einfach nicht. Ich hatte eine Mauer um mich herum errichtet, wollte es nicht wahrhaben. Aber ihre Abwesenheit belehrte mich jeden Tag aufs Neue eines Besseren. Er nahm seine Hand von meinem Arm und kramte in seiner Tasche. Dann legte er ein Buch auf meinen Schoß. Meine Augen weiteten sich. Ich rührte mich nicht. Starrte nur das Buch vor mir an. „Willst du wirklich enden, wie er?“ fragte er mich. In seiner Stimme schwang Sorge und Trauer. Noch einmal las ich die Widmung, die ich meiner Liebsten geschrieben habe. Zum ersten Jahrestag an meine geliebte Miako. In ewiger Liebe, dein Hakase. Ich habe es ihr in meinem dritten Jahr an der Universität geschenkt. Wir besuchten nicht dieselben Kurse. Ich habe sie bei einer Feier kennen gelernt. Sie studierte Musik, ich hatte einen Aufbaukurs in Medizin. Wir kamen aus unterschiedlichen Welten, und hatten uns doch gefunden. Ich nahm das Buch in meine Hand und strich über den Einband. Sie war mein Schicksal, da war ich mir sicher. Ich lebte nur für sie. Für unsere kleine Familie. Wann nur, habe ich vergessen, dass auch Yusei dazugehört? Mein nunmehr einziges Kind. Ich sollte doch für ihn da sein, nicht andersherum. Wieder sah ich ihn an. Schuldbewusst. Die Mauer, die ich errichtet hatte, begann zu bröckeln. „Er hatte nach dem Tod von Ophelia niemanden mehr, und wurde wahnsinnig. Aber du hast mich. Naomi macht sich auch Sorgen um dich. Selbst Herr Kazuki hat mich gefragt, wie er dir helfen kann. Du musst nur endlich anfangen, mit jemandem darüber zu sprechen… Selbst, wenn es schwerfällt. Glaub mir, ich weiß wie sehr es weh tut, aber… Ich will dich nicht auch noch verlieren!“ Sein schmerzerfülltes Gesicht brach mir das Herz. „Ich vermisse sie doch auch“ wisperte er. Endlich fand auch ich meine Stimme wieder. „Das weiß ich doch“ flüsterte ich. Ich hatte ihm die Situation unnötig schwerer gemacht, hatte mich in Selbstmitleid gebadet. Ich war kein Vater mehr. Ich hatte ihn ausgeschlossen. Meinen einzigen Sohn. „Es tut mir leid…“ sagte ich leise und verstummte. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich schämte mich. Nach einiger Zeit holte er noch etwas aus seiner Tasche und drückte es in meine Hand, hielt es aber noch verborgen. Es war weich. „Ich habe genauso viel verloren, wie du. Aber wenn du jetzt aufgibst, dann enttäuschst du damit nicht nur mich! Sie sind immer noch bei uns…“ Er nahm seine Hand von meiner. Zum Vorschein kam das kleine, rosa Küken, dass ich für Sachi zur Geburt gekauft hatte. Mein kleines Mädchen, unser Wunder. Ich werde sie nie aufwachsen sehen. Meine Hände klammerten sich daran fest. „Sie sind tot“ sagte er plötzlich und ich zuckte zusammen. „Aber sie sind immer bei uns, das habe ich gelernt. Weißt du, mir hat jemand gesagt, wir wären nicht allein. Und er hat recht. Du hast mich. Und du hast die Erinnerungen an sie. Aber das Leben geht trotz alldem weiter. Wir können sie nicht mehr zurückholen, aber für sie weiterleben, meinst du nicht?“ Wann nur, wurde er so erwachsen? Ich betrachtete das kleine Plüschtier in meiner Hand. Kann ich wirklich damit weiterleben? Will ich ein Leben, ohne sie an meiner Seite? Ich konnte es mir einfach nicht mehr vorstellen. Da öffnete sich wieder die Tür und eine der Krankenschwestern betrat den Raum. „Es tut mir wirklich leid, aber die Besuchszeit für Herr Fudo ist vorbei. Ich muss Sie bitten, sich zu verabschieden.“ Mein Sohn nickte und stand auf. Bevor er jedoch ging, drehte er sich noch einmal zu mir und blickte mir in die Augen. „Bitte, tu es für mich“ sagte er und drehte sich um. Dann verschwand er. * Die Sicht von Yusei * Ich wusste nicht, ob ich meinem Vater mit unserem Gespräch geholfen hatte, oder ob ich alles nur verschlimmerte. Ich lehnte mich ziemlich weit aus dem Fenster, als ich ihm meine Meinung sagte. Aber ich musste es ihm sagen. Ich erzählte Jaden davon, und er bekräftigte mich darin, dass es das Richtige war. Das gab mir Kraft. Das Qualifikationsspiel am Dienstag hatten wir leider verloren. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, und verpatzte einige Torchancen. Ich entschuldigte mich bei meinem Team, aber sie nahmen es mir nicht übel. Sie sagten, wir hätten ziemlich starke Gegner gehabt, und es wäre nicht die letzte Chance gewesen, um in die Regionals zu kommen. Zwei Spiele hatten wir noch, und ich schwor mir selbst, bei denen mein Bestes zu geben. Den Rest der Woche verbrachte ich nach der Schule häufig mit Jadens Vater und den Vorbereitungen für den Gerichtsprozess. Herr Yuki hatte mit dem Staatsanwalt geredet. Ich würde während des Prozesses neben ihm sitzen müssen, da ich ein Angehöriger des… Opfers war. Aber er versicherte mir, dass er bei mir sein würde. Jaden konnte auf den Bänken Platz nehmen, wo sich schon einige Journalisten angemeldet hatten. Ich sollte mich darauf vorbereiten, dass einige Bilder des Unfalls gezeigt werden würden. Er sagte auch, sollte das passieren, müsste ich nicht hinsehen. Ehrlich gesagt, wüsste ich auch nicht, ob ich das ertragen würde. Ich wusste auch nicht, wie ich auf den Mörder meiner Mutter reagieren würde. In meinen Augen war er ein Monster. Wenn ich nicht bei Jaden zu Hause war, verbrachte ich den Rest der Zeit bei mir, und bereitete die Überraschung vor. Ich freute mich schon darauf, Jadens Gesicht zu sehen. Er platzte fast vor Neugier, was den Inhalt des Umschlags betraf, aber ich ließ ihn zappeln. Wenn ich ehrlich war, machte es ein wenig Spaß, ihn so zu sehen. Aber ich war selbst schon ganz gespannt, wie er reagieren würde. Der Tag der Gerichtsverhandlung rückte näher. Am Samstagabend, nach der Arbeit, schrieb ich Jaden eine Nachricht. Hast du Zeit? Ich würde dir gern etwas zeigen. Kaum zehn Minuten später klingelte es an meiner Tür. Überrascht öffnete ich diese, und sah Jaden vor mir, der ziemlich außer Atem war. „Ich hab… eine Stunde“ sagte er, und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. „Du hättest dich nicht so beeilen müssen. Was hast du denn noch vor?“ fragte ich amüsiert und bat ihn herein. „Naja, ich muss noch packen, und weil wir so früh losfahren, da-“ Als er sich umsah, verstummte er, dann blickte er mir überrascht in die Augen. „Was ist denn hier passiert?“ Ich lächelte. „Ich habe ausgepackt.“ Er war seit der Sache vor zwei Wochen, bei der ich ihm alles erzählte, nicht mehr in meinem Haus. Ich erkannte, dass es sinnlos war, alles was mich an die Zeit vor dem Unfall erinnerte, wegzuschließen. „Crow hat mir geholfen die Möbel aus der Garage zu verrücken, weil er mir wegen der Nachhilfe dankbar war. Er hat auch Jack mit ins Boot geholt. Willst du dich erst noch umsehen?“ Er nickte aufgeregt, und seine kastanienbraunen Augen funkelten. Ich freute mich über seine Reaktion. Im Flur stand jetzt eine Kommode, auf der zwei Familienfotos aufgestellt waren. Das eine zeigte uns drei, als meine Mutter schwanger war, das andere war ein Foto von uns an meinem ersten Schultag. Auch an den Wänden hatte ich Bilder aufgehängt, so, wie sie auch in unserem alten Haus hingen. Jaden grinste, als er sie betrachtete, und auch ich lächelte, als ich ihn dabei beobachtete. Die Garage war jetzt leer, bis auf mein Motorrad und einigen, mit Werkzeug und Kartons gefüllten, Regalen, sowie einer Werkbank, die vorher zugestellt war. Auch die Küche war jetzt wohnlicher gestaltet. In der Vitrine im Wohnzimmer standen einige Andenken von vergangenen Reisen, und ein paar Auszeichnungen meiner Mutter. Auch die Regale waren mit Büchern und Fotoalben gefüllt. „Was ist das denn?“ fragte er und deutete auf ein Gerät, dass auf einer weiteren Kommode stand. Ich lachte. „Kennst du keine Plattenspieler?“ Er verzog das Gesicht. „Doch, aus dem Geschichtsunterricht. Ich wusste nicht, dass es sowas noch gibt.“ „Ja, mein Vater ist ziemlich altmodisch. Er sagt immer, dass nichts an den Klang von Vinyl kommt.“ Jaden stand plötzlich neben mir, und sah sich einige Alben früherer Künstler an. „Beatles, The Rolling Stones, Bob Dylan. Die sagen mir zwar was, aber wer von den Beiden hat sowas eigentlich gehört?“ „Mein Vater. Ich muss aber zugeben, dass sich einiges davon ganz gut anhört. Hier“ sagte ich und zog ein Album mit dem Titel ‚Appetite for Destruction‘ raus, um es ihm zu reichen. Er besah es sich von allen Seiten und sah wieder zu dem Plattenspieler, dann zu mir. „Und… wie macht man das jetzt?“ „Du musst nur die Platte rausholen, auflegen und dann ganz vorsichtig die Nadel darauflegen. Und dann drückst du nur noch auf den Knopf und das Gerät startet.“ Den Teil mit der Nadel bekam er nicht ganz hin, also half ich ihm. Man konnte ihm ansehen, dass er kein sehr großer Fan davon war, aber er sagte, schlecht fände er es nicht. „Aber was davon soll jetzt besser klingen, als eine Musikdatei auf ordentlichen Boxen abzuspielen?“ fragte er mich, als ich alles wieder wegpackte. „Vinyl hat eine ganz andere Klangdynamik. Dadurch, dass das Tonsignal nicht erst in Datenpakete zerhackt wird, sind die Lautstärkeunterschiede größer, damit wird die Musik lebhafter.“ Sein verwirrter Blick brachte mich zum Lachen. Wie erkläre ich es am besten? „Mein Vater hat mal gesagt, ein Plattenspieler ist wie ein Kamin. Den nutzt zwar niemand mehr zum Heizen, aber er verbreitet Behaglichkeit und Atmosphäre.“ „Okay. Naja, ist ganz schick. Aber ich werde wohl kein Fan. Außerdem würden mir diese Platten zu viel Platz wegnehmen.“ Ich grinste in mich hinein und winkte ihn ins Odergeschoss. Als wir die Treppe nach oben gingen, wollte er auch mein Zimmer sehen. Er trat ein, sah sich um und blieb mit seinem Blick an der Pinnwand über meinem Schreibtisch hängen. Dort hingen einige Fotos meiner alten Freunde. „Cool, ihr habt die Regionals gewonnen?“ fragte er erstaunt. Ich nickte. „Ja, vor zwei Jahren. Danach bin ich Teamkapitän geworden. Das ist ein Foto auf der Siegesfeier“ sagte ich und zeigte auf das Bild mit meiner alten Mannschaft. Ich und Kalin hoben den Pokal nach oben. „Und wer ist das?“ fragte er dann und deutete auf ein Foto mit mir und einem Jungen in meinem Alter. Er war etwas größer und hatte silbergraue Haare, die er offen trug und ihm bis zum Schüsselbein reichten. „Das ist Kalin“ sagte ich. „Er war mein bester Freund in Osaka. Im Moment haben wir nicht sehr viel Kontakt, aber er will sich morgen mit mir treffen. Wenn du Lust hast-“ Ich verstummte, als ich sein Grinsen sah. Das war wohl ein Ja. „Du musst mir eine kleine Stadtführung geben!“ sagte er begeistert. Damit hatte ich wohl keine große Wahl und lächelte ihn an. „Klar, aber ich werde wohl kurz mit ihm allein sprechen müssen. Ich hoffe, das ist okay für dich.“ Er nickte und betrachtete eine Zeit lang wieder die Pinnwand. Ich sah ihn dabei an, betrachtete seine Gesichtszüge. Doch dann riss er mich wieder aus meiner Träumerei. „Wer ist das Mädchen dort?“ Ich folgte seinem Blick und sah ein Foto, das mich und ein etwa gleichaltriges Mädchen zeigte. Zu diesem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt. Sie hatte lange, blonde Haare und einen Pony. Dazu smaragdgrüne Augen und sie trug, so wie ich, die Schuluniform meiner alten Schule. „Sherry“ sagte ich. „Auf dem Foto waren wir gerade ein paar Wochen zusammen.“ „Was?“ fragte er überrascht und sah mich an. „Ähm. Ja, ich war etwas länger als zwei Jahre mit ihr in einer Beziehung, warum?“ fragte ich verwirrt. Ich konnte es mir nicht erklären, aber er wirkte irgendwie enttäuscht. „Nicht so wichtig“ sagte er, doch sein Blick war unergründlich. „War es das, was du mir zeigen wolltest? Also die Einrichtung mein ich.“ „Nein, das nicht. Komm, ich zeig’s dir.“ Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer, dabei bedeutete ich Jaden mir zu folgen. Wir gingen nur einen Raum weiter. Ich war etwas nervös und öffnete die Tür, dann trat ich beiseite. Als Jaden den Raum betrat, wurden seine Augen größer. Ich lächelte. Sein Anblick nahm mir die Nervosität. „Wow“ sagte er leise. „Was hast du denn aus dem Zimmer hier gemacht?“ Noch immer mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sah ich mich um. Unser Klavier stand jetzt an der gegenüberliegenden Wand. Vorher war es mit einem Laken abgedeckt. Mein Vater hatte es einfach in diesem Raum verstaut und wir haben das Zimmer nie wieder betreten. Vor dem dunkelbraunen Klavier stand eine kleine Bank. Links und rechts waren Regale mit etlichen Büchern. Sie gehörten alle meiner Mutter. An der rechten Wand standen ein kleines Schreibpult und ein Stuhl. Die Wände waren voll mit Auszeichnungen. An der Linken waren Fenster, die das warme Licht der Abendsonne in den Raum warfen. Ich ging zum Schreibpult und antwortete währenddessen. „So ähnlich sah es bei uns zu Hause in Osaka aus. Das war das Arbeitszimmer meiner Mutter. Dorthin zog sie sich zurück, wenn sie übte, oder wenn sie neue Stücke komponierte.“ Ich nahm mir ein handgebundenes Heft vom Tisch und hielt es fest. Dann drehte ich mich wieder zu Jaden und mein Lächeln intensivierte sich. „Heute nutze ich es.“ Überrascht musterte er mich. „Heißt das...“ Ich nickte und überreichte ihm das Heft. „Das… war das letzte Geschenk meiner Mutter.“ Wieder wurden seine Augen größer. Er nahm es an sich und blätterte darin herum. Zum Vorschein kamen handgeschriebene Notenblätter, fein säuberlich zusammengeheftet, in einer filigranen Schrift. Während er vor sich hinblätterte, erklärte ich weiter. „Deswegen war ich vor einiger Zeit auch bei Sensei Fontaine. Sie bot mir in meiner ersten Woche ihre Hilfe an, sollte ich wieder Klavier spielen wollen. Sie kannte meine Mutter und mich schon von früher, ich habe mich nur nicht an sie erinnert. Dieses Instrument ist wahnsinnig schwer zu stimmen, also war sie hier, und hat mir den Gefallen getan.“ Er lachte. „Verstehe. Aber hier…“ er hob das Heft etwas an „Kapiere ich rein gar nichts. Spielst du es mir vor?“ Ich nickte, nahm ihm das Heft ab, und setzte mich auf die kleine Bank. Jaden nahm neben mir Platz. Ich öffnete es und legte es auf der dafür vorgesehenen Ablage ab. „Weißt du, es sind einige neue Stücke für das nächste Konzert darin, aber eines kannte ich schon sehr lang…“ Meine Wangen wurden ganz warm. „Sie wollte unser Lied in das nächste Konzert aufnehmen. Darum habe ich sie schon oft gebeten, aber sie wollte es nie in meiner Abwesenheit spielen. Dabei hat sie mir selbst einmal gesagt ‚Wenn du es spielst, bin ich bei dir‘. Und genau das habe ich eine Weile vergessen. Durch die Musik ist sie bei mir. Selbst jetzt.“ Ich spürte Jadens Blick auf mir ruhen, aber ich wollte ihm jetzt nicht in die Augen sehen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren würde. Also klappte ich den Deckel nach oben, um die Klaviertasten freizulegen und schloss meine Augen. Ich spielte die ersten Noten, und es war, als hätte ich nie aufgehört. Wie von selbst wanderten meine Finger über die Tasten und spielten diese warme Melodie. In diesem Lied steckte immer noch so viel Liebe. Für dieses Lied, unser Lied, brauchte ich keine Notenblätter. Ich spielte es seit 13 Jahren und liebte es damals, wie heute. Als der letzte Ton durch den Raum hallte, war ich erfüllt von einem Gefühl der Geborgenheit und öffnete meine Augen. „Das…“ flüsterte Jaden. Ich sah ihn an, und entdeckte überraschenderweise Tränen in seinen Augen. Er lächelte plötzlich, und der Ausdruck in seinem Gesicht war warm und herzlich. „Das war wirklich schön.“ Die Hitze schoss mir abermals ins Gesicht und ich wandte den Blick ab, lächelte aber ebenfalls. „Danke“ sagte ich und sah wieder zu dem Heft. Mein Herz schlug in einem wilden Tempo gegen meine Rippen. „Willst du... eines ihrer neuen Lieder hören? Ich habe angefangen, sie zu üben“ fragte ich und musterte ihn wieder. Er grinste. „Na klar!“ Ein Lächeln stahl sich erneut auf meine Lippen und ich begann zu spielen. Die Melodie war sanft wie ein Sommerregen, im nächsten Moment aber kraftvoll wie ein Sturm. Sie beflügelte die Seele und erdete den Geist. Ich legte all meine Gefühle in dieses Lied, und die Melodie riss mich mit sich. Ich spürte Jadens Kopf an meiner Schulter und mein Herz machte wieder einen Satz. Ich war verliebt, das konnte ich nicht länger abstreiten. Diese Erkenntnis erfüllte mich schlagartig mit Glück und Melancholie zugleich. Ich war verliebt, und er würde meine Gefühle vermutlich nie erwidern. Die letzten, sanften Klänge erfüllten den Raum und meine Hände verharrten in ihrer Position, lagen hauchzart auf den Tasten des Instruments. Eine kleine Ewigkeit saßen wir nur da, und die einzigen Geräusche, die ich hörte, waren mein Atem und mein schnell pochendes Herz. Jaden nahm seinen Kopf wieder von meiner Schulter und lächelte glücklich. Auch ich erwiderte es und betrachtete diese warmen, endlos tiefen Augen meines Gegenübers. Sie zogen mich in ihren Bann. Ich bemerkte nicht, dass ich mich näher zu ihm beugte. Langsam kam auch er mir näher und schloss seine Augen. Unsere Gesichter waren sich ganz nah. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren, ehe ich es begreifen konnte. Mein Herz schlug schneller als je zuvor. Seine Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Ein Kribbeln durchzog meinen gesamten Körper, die Luft schien wie elektrisiert. Auch ich schloss langsam meine Augen… * Die Sicht von Jaden * Wir standen in seinem Zimmer und ich betrachtete die vielen Fotos aus seiner früheren Heimatstadt. Es war, als würde ich die für ihn wichtigsten Augenblicke in seinem Leben vor mir sehen. Mein Blick verharrte sehr lange auf einer wirklich schönen, blonden, jungen Frau, die neben ihm stand. Sie hielt seine Hand und sah glücklich aus. Yusei war auf dem Bild noch jünger als heute. Auch er wirkte zufrieden. „Wer ist das Mädchen dort?“ fragte ich ihn. Als er mir sagte, das wäre seine Ex-Freundin, war ich ziemlich überrascht. Warum eigentlich? Sie war wahnsinnig hübsch, hatte einen tollen Körper und schien auf dem Foto ein wirklich fröhliches Gemüt zu haben. Yusei sah selbst verdammt gut aus, hatte einen trainierten Körper, war klug, freundlich, hilfsbereit. Er könnte vermutlich jede Frau haben. Warum wurmt mich das so sehr? Er war ein Mann, so wie ich. Es würde an ein Wunder grenzen, würde er ebenso für mich fühlen. Ich gab mich mit der Gewissheit zufrieden, dass er mein Freund war, mein bester Freund. Als wir in den nächsten Raum gingen, weiteten sich meine Augen. Als ich das letzte Mal hier drin war, war er fast leer. „Wow“ murmelte ich. „Was hast du denn aus dem Zimmer hier gemacht?“ Jetzt war alles liebevoll eingerichtet worden. Die Atmosphäre hier drin war unheimlich schön. Der Blickfang des Raumes war das dunkelbraune Klavier. Es gehörte seiner Mutter. Als er mir aber sagte, dass er es jetzt nutzen würde, schaute ich ihn vollkommen überrascht an. Er wirkte wahnsinnig glücklich. „Heißt das...“ Er spielt wieder? Als hätte er meinen Gedanken gehört, nickte er, und überreichte mir ein gebundenes Heft. „Das… war das letzte Geschenk meiner Mutter.“ Meine Augen wurden wieder größer. Das war also in diesem Umschlag. Das hatte seine Mutter ihm vor ihrem Tod unbedingt geben wollen. Zögerlich nahm ich es an mich und schlug es auf. Ich hatte Angst, etwas zu beschädigen. Am Rand der Seiten standen hier und da einige Notizen. Die Noten selbst kapierte ich nicht. Ich konnte zwar Noten lesen, zumindest teilweise, aber hier waren zum Teil mehrere Noten übereinandergeschrieben und scheinbar wahllos irgendwelche Striche und Zeichen eingebaut. Doch meine Augen blieben an einem Wort hängen, während Yusei etwas davon erzählte, dass Sensei Fontaine ihm geholfen hatte. Hier war eine Überschrift über einem der Notenblätter. Es war Yuseis Name. Ob das das Lied seiner Mutter ist? Das, was sie ihm als Kind geschrieben hat? Ich lachte. „Verstehe. Aber hier…“ Ich hob das Heft etwas an und deutete auf die Noten. „Kapiere ich rein gar nichts. Spielst du es mir vor?“ Er nickte, und nahm das Heft wieder an sich. Dann ging er zu der kleinen Bank vor dem Klavier und setzte sich. Ich folgte ihm, und beobachtete, wie er das Heft auf eine Art Ablage stellte. „Weißt du, es sind einige neue Stücke für das nächste Konzert darin, aber eines kannte ich schon sehr lang…“ Auf seine Wangen legte sich wieder dieser rote Schimmer. „Sie wollte unser Lied in das nächste Konzert aufnehmen. Darum habe ich sie schon oft gebeten, aber sie wollte es nie in meiner Abwesenheit spielen. Dabei hat sie mir selbst einmal gesagt ‚Wenn du es spielst, bin ich bei dir‘. Und genau das habe ich eine Weile vergessen. Durch die Musik ist sie bei mir. Selbst jetzt.“ Seine Augen waren weiter auf das Heft vor ihm gerichtet, aber er schien es nicht zu sehen. Er war in seinen Erinnerungen. Ich lächelte. Hat er gelernt, damit abzuschließen? Zumindest war es ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt kann ich das Lied ja doch noch hören. Er öffnete eine Klappe, und zum Vorschein kamen die Tasten des Klaviers. Er schloss seine Augen, und spielte. Es war so ganz anders, als die Musik nur auf seinem Fernseher zu hören. Ich saß neben ihm und spürte die Vibration jedes einzelnen Tons in meinem gesamten Körper. Auf meiner Haut breitete sich eine Gänsehaut aus. Die Melodie begann sehr traurig, wurde dann aber heiterer. Es war wirklich, als wären alle Sorgen nur für diesen einen Moment weggewischt. Yusei wirkte wie in Trance, als ich ihn beobachtete. Seine Finger flogen über die Tasten des Instruments, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Es war unglaublich. In diesem Moment war er wie ein anderer Mensch. Gelassen, friedlich… Über alle Maße glücklich. Dass das so etwas in ihm auslösen konnte, rührte mich. Ich bemerkte kaum, dass die Musik endete, und auch meine tränenverschleierten Augen ignorierte ich. Dieser selige Ausdruck in seinem Gesicht. Wie gern sah ich ihn so glücklich. Wie gern würde ich ihn so glücklich machen, wenn er es nicht war. „Das…“ flüsterte ich. „Das war wirklich schön.“ Er sah mich an, mit diesen tiefblauen Augen, und musterte mich. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Er wurde rot, und wich meinem Blick aus, aber auch er schenkte mir sein schönes Lächeln. „Danke“ sagte er. „Willst du... eines ihrer neuen Lieder hören? Ich habe angefangen, sie zu üben.“ Ich brauchte nicht lange nach einer Antwort zu suchen und grinste. „Na klar!“ Wieder stahl sich dieser schöne Ausdruck in sein Gesicht und er fing erneut an zu spielen. Dieses Lied war anders. Es war beruhigend und trotzdem kraftvoll. Es war wunderschön. Ich lehnte mich an seine Schulter und genoss den Augenblick. Ich wollte, dass er nie vorüberging. Da waren nur er und ich. Und die Musik, die ihn so glücklich machte. Nichts liebte ich in der letzten Zeit mehr, als ihn glücklich zu sehen. Es bescherte mir ein wohliges Gefühl. Mein Herz schlug schneller, wenn ich daran dachte. An ihn dachte. Ob er auch so empfand? Ob ich ihn auch so glücklich machen konnte? Aber wie sollte ich das schon schaffen… Als das Lied endete, saßen wir noch eine Weile in der Stille des Moments. Ich hörte sein Herz schlagen, und es schlug im selben, aufgeregten Tempo, wie mein eigenes. Ich lächelte. Ich wünschte nur, ich könnte in ihm dieses Herzklopfen verursachen, wie die Musik, die er so liebte. Ich nahm meinen Kopf von seiner Schulter und betrachtete ihn. Diese endlos tiefen, blauen Augen. Sie funkelten mir entgegen. Wie kann eine so kalte Farbe nur so eine Wärme ausstrahlen? Er fesselte mich mit seinem Blick, und kam mir immer näher. Mein Herz schlug schneller. So schnell, dass ich dachte es würde zerplatzen. Ich schaltete meinen Verstand aus, und gab mich ganz dem Moment hin. Langsam senkten sich meine Lider und auch ich kam ihm näher. In mir breitete sich eine wohlige Wärme aus. Er war meinem Gesicht so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Es bescherte mir eine Gänsehaut. Ich konnte schon die Wärme seiner Haut spüren, obwohl ich sie noch nicht berührte, und dann… … durchschnitt ein lautes Geräusch die Stille. Ich erschreckte mich fast zu Tode und sprang auf. Auch Yusei stand schnell auf und war nun einige Schritte von mir entfernt. Mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es feuerrot. Ich sah mich um. Was zur Hölle war das für ein Geräusch? Es hörte auch nicht auf. Dann endlich begriff ich es. Es war mein Handy. Schnell zog ich es aus meiner Hosentasche und nahm ab. „Äh… Hallo?“ sagte ich und ging ein paar Schritte zur Tür. „Jaden? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich sagte in einer Stunde… Wo bist du denn?“ sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Was? Ich sah auf das Display meines Telefons. Meine Mutter. Und ich war tatsächlich schon fast 30 Minuten drüber. Ach verdammt. „Entschuldige, ich mach mich gleich auf den Weg“ sagte ich und legte auf. Ich seufzte, dann fiel mir wieder ein, was ich beinahe getan hätte und mein Gesicht fing erneut Feuer. „Ich. Äh. Also, das war meine Mutter“ stammelte ich. War meine Stimme schon immer so hoch? „I-Ich sollte. Naja. Wir sehen uns morgen, ja?“ Yusei nickte, stand aber mit dem Rücken zu mir. Ich war ehrlich gesagt froh darüber, denn so konnte er mein Gesicht nicht sehen. Diese Situation war mehr als seltsam… Kapitel 11: Alte Freunde ------------------------ Wir saßen im Auto. Yusei saß vorn auf dem Beifahrersitz und sprach mit meinem Vater. Naja, eigentlich redete mein Vater die meiste Zeit allein und Yusei gab nur kurze Antworten. Ich saß schräg hinter ihm und betrachtete ihn. Wir hatten kein Wort über den Moment von gestern verloren. Ich hätte ihn tatsächlich beinahe geküsst! Aber… auch er kam mir in diesem Augenblick näher. Wollte … Wollte er das Gleiche? Vielleicht sollte ich deswegen wirklich mal mit ihm reden. Die Adresse, die Yusei uns gegeben hat, war von einem Herr Kazuki. Er war wohl ein Freund seiner Eltern. Wir waren schon in Osaka angekommen, und fuhren durch die Stadt. An meinem Fenster zogen erst unglaublich hohe Häuser, dann allmählich viele alte Bauwerke vorbei. Wir mussten mittlerweile am Stadtrand sein. Wir waren in einer Gegend angelangt, in der ziemlich prachtvolle Villen standen. Was kannte Yusei denn für Leute? Das Auto kam zum Stehen. Wir waren angekommen. Ich stieg aus, und sah mich neugierig um. Die Straße war breit, aber am Rand sah ich keine parkenden Autos. An den Gehwegen standen in regelmäßigen Abständen viele kleine Bäume, die eingezäunt waren. Wir standen vor einem echt hohen Tor. Links und rechts davon war alles grün und bewachsen, aber sehr gepflegt. „Das ist das Anwesen von Herr Kazuki“ sagte Yusei, der plötzlich neben mir stand und mich musterte. Mein Herz schlug wieder schneller und ich sah weiterhin stur auf den Anblick hinter dem Tor. Ein langer Weg führte zu einem großen, weißen Haus. Nein, das war eine Villa. Der Vorgarten war schon größer als unser eigenes Grundstück. Mein Vater gab mir meine Tasche. Ich nahm sie an und lief hinter Yusei, der das Tor schon geöffnet hatte, indem er einen Code auf einem Bedienfeld eingab. Als wir den Weg entlangliefen, erklärte Yusei: „Herr Kazuki ist der Leiter der Konzerthalle in Osaka. Er ist etwas… exzentrisch, aber wirklich sehr nett. Meine Eltern sind schon ziemlich lange mit ihm befreundet.“ Langsam wurde ich etwas nervös. Wir kamen vor einer großen Doppeltür zum Stehen. An beiden Seiten war ein goldener Türklopfer in Form eines Löwenkopfes angebracht. Ob man jetzt mit den Dingern klopfen sollte? Wie in solchen alten Filmen? Aber Yusei betätigte einfach die Klingel auf der rechten Seite. Einen kurzen Moment später öffneten sich die Türen und mir klappte die Kinnlade herunter. Wir standen vor einer großen Eingangshalle, an deren Ende zwei Treppen geschwungen nach oben führten. Zwischen den Treppen hing ein riesiges Bild in einem Goldrahmen. In der Mitte des Raumes war eine Skulptur. Sie zeigte eine Frau ohne Arme. Auch an den übrigen Wänden waren viele Bilder und kleinere Tische, auf denen Skulpturen und ziemlich teuer aussehende Vasen standen. Die Wände waren weiß, mit goldenen Ornamenten. Wer zur Hölle wohnt hier? Das sieht aus wie in einem Museum! Aber diese Frage beantwortete sich schnell. „Yusei!“ sagte ein Mann, der auf uns zukam. Er war rundlich und etwas kleiner als mein Vater. Sein Aussehen war… Yusei hatte recht, wenn er von exzentrisch sprach. Er trug einen weißen Anzug mit Goldmustern verziert, und hatte weiß-graue, gewellte Haare, die wohl auch schonmal voller gewesen waren. Auf seinem Kopf war eine handtellergroße, kahle Stelle. Dafür hatte er einen sehr gut frisierten Schnauzer, und er trug eine seltsam kleine Brille mit komplett runden Gläsern, aber ohne Bügel. Er hatte schon einige Falten im Gesicht und schämte sich auch nicht, diese zu zeigen. Als er uns erreichte, zog er Yusei an sich, wie seinen eigenen Sohn. „Hallo, mein Junge, wie geht es dir? Ach vergiss es, welch geistlose Frage. Komm rein, komm rein!“ Dann wandte er sich an uns „Und ihr müsst seine Begleiter sein. Familie Yuki, wenn ich mich recht entsinne?“ Ich nickte zaghaft. Ich konnte den Typen nicht richtig einordnen. Mein Vater ging einen Schritt auf ihn zu und reichte ihm seine Hand „Ja, das ist richtig. Mein Name ist Makoto Yuki und das ist mein Sohn Jaden.“ „Es freut mich außerordentlich, eure Bekanntschaft zu machen! Jetzt kommt doch aber erst einmal in mein bescheidenes Heim. Fräulein Ishida?“ rief er irgendwo in den Raum hinein. Aus einem seitlichen Bogen kam eine zierliche Frau in einer Dienstuniform. „Das ist Fräulein Ishida, sie wird euch erst einmal eure Räumlichkeiten für die Nacht zeigen. Ich habe leider noch einen Termin und werde erst beim Abendessen zugegen sein. Fühlt euch doch wie zu Hause!“ Die Frau kam auf uns zu und verbeugte sich knapp. „Hallo Saki“ sagte Yusei höflich und lächelte der jungen Frau entgegen. Sie erwiderte sein Lächeln „Hallo Yusei, lange nicht gesehen.“ Sie kannten sich schon so lange, dass sie sich beim Vornamen nannten? Die Türen hinter uns gingen zu, und ich bemerkte jetzt erst die beiden Männer in ihren schwarzen Fracks, die sie vermutlich geöffnet hatten. Ich fühlte mich wie ein Statist an einem Filmset. Das wirkte alles nicht real. Die Frau führte uns ins erste Obergeschoss. Wir kamen auf einem langen Gang an, von dem etliche Türen abgingen. „Hier wurden drei Gästezimmer für euch vorbereitet. Das Erste ist hier“ sagte sie und öffnete eine Tür. Ich lief neugierig hinein und sah mich um. Ein Himmelbett, viele alte Möbel und Deko, die vermutlich teurer war als unser Auto. An einer Seite war eine geöffnete Tür, die ins Bad führte. Meine Kunstlehrerin würde vermutlich sagen: barocke Einrichtung. „Die Gästezimmer sehen alle fast gleich aus“ sagte Yusei, der plötzlich wieder neben mir stand. Mein Herz klopfte wieder schneller, auch, weil ich mich so erschrocken hatte. „Wenn du willst, kannst du das hier nehmen.“ Ich nickte nur, weil der Kloß in meinem Hals so groß war. Es ist schon wieder so verdammt warm! Er lächelte und verließ wieder den Raum, um den anderen beiden zu folgen. Ich atmete geräuschvoll aus, und hatte nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Wieder sah ich mich um. Es ist, als würde man in einem Museum übernachten… Als ich meine Sachen ausgepackt und alles begutachtet hatte, ging ich aus dem Zimmer und wollte nach Yusei und meinem Vater sehen. Leider hatte ich keine Ahnung wo die beiden waren, da alle Türen gleich aussahen und ich auch nicht mitbekommen hatte, wo sie untergebracht wurden. So stand ich nur planlos im Gang und wusste nichts mit mir anzufangen. „Kann ich dir helfen?“ fragte mich plötzlich jemand. Ich drehte mich zu der Stimme und sah die Frau, die uns die Zimmer gezeigt hat. „Ja, können Sie mir sagen wo mein Vater und Yusei sind?“ Sie nickte und deutete auf eine Tür, die neben meinem Gästezimmer lag. „In dem Raum hier ist Yusei, und Ihr Vater wurde zwei Zimmer weiter einquartiert.“ Ich schluckte. Yusei hat das Zimmer neben Meinem? „Danke“ sagte ich schnell und hörte, wie sich eine Tür weiter vorn öffnete. Mein Vater trat auf den Gang und kam auf uns zu. Die Frau verbeugte sich knapp und ging wieder die Treppe nach unten. „Meine Güte, ist das ein großes Anwesen, meinst du nicht?“ sagte mein Vater amüsiert. Ich nickte. Es war immer noch nicht real. „Yusei sagte, wir sollen nach unten kommen, wenn wir fertig sind. Ich habe noch einen Termin mit dem Anwalt, aber ihr beide wolltet doch noch eine kleine Runde durch die Stadt drehen, nicht?“ Als wir unten ankamen, unterhielt sich Yusei gerade mit einem der Frackträger. Wir liefen auf ihn zu und als er uns bemerkte, schenkte er uns ein Lächeln, was mein Herz gleich wieder höherschlagen ließ. „Okay Takashi, wir sehen uns später“ sagte er zu dem Mann, der sich lächelnd verabschiedete und danach durch einen der Torbögen verschwand. Dann wandte sich Yusei an uns. „Habt ihr euch schon eingerichtet?“ Mein Vater lachte. „Wenn du mit eingerichtet ausgepackt meinst, ja. Du hast ja erwähnt, dein Bekannter hätte ein ziemlich großes Haus, aber du hast etwas untertrieben.“ Yusei kratzte sich etwas verlegen am Kopf. Wir fuhren wieder stadteinwärts, raus aus der schicken Gegend. Hier fühlte ich mich wieder wie ein normaler Mensch. Mein Vater lud uns zum Italiener ein, denn wir hatten noch nichts zum Mittag gegessen. Danach fuhr er zu dem Termin und wir versicherten ihm, uns um 17 Uhr wieder an diesem Platz zu treffen. Osaka war wirklich wahnsinnig cool! Wir waren in einer traditionell japanischen Burg und dann auf dem höchsten Gebäude der Stadt, Abeno Harukas. Die Einkaufszentren waren zehn Mal größer als in Neo Domino und ich zerrte Yusei vor Aufregung gefühlt in jeden zweiten Laden, um mir alles anzusehen. Auf dem Dach eines Hochhauses habe ich sogar ein Riesenrad gesehen. Die Stadt war der Wahnsinn! „Da vorne ist der Kema Sakuranomiya Park“ sagte Yusei und deutete in die Richtung. „Dort wollte sich Kalin mit uns treffen.“ Als wir näherkamen, sah ich eine ewig lange, schmale Grünfläche mit riesigen Bäumen, dahinter war ein Fluss. Ich konnte aber weder einen Anfang, noch ein Ende sehen. Wie ein Park sah das für mich nicht aus. „Was davon ist denn jetzt genau der Park?“ fragte ich verwundert und sah Yusei an. Er lachte. „Der Park ist direkt vor uns. Er ist etwa vier Kilometer lang und folgt dem Lauf des Ogawa-Flusses an beiden Ufern. Hinter diesen riesigen Bäumen dort ist der Fluss, und an den Ufern stehen Unmengen an Kirschbäumen, dicht bewachsen. Im Frühling, wenn die Kirschblüten blühen, sieht es hier fantastisch aus.“ Meine Augen wurden größer und mein Blick wanderte über die Flussufer, an denen wir angekommen waren. „Wow! Das würde ich gern mal sehen“ sagte ich begeistert. „Warum nicht?“ „Hm?“ Überrascht sah ich ihn wieder an. „Naja, wir könnten im Frühling zum Kirschblütenfest wieder herfahren“ sagte er und lächelte. „Klasse! Dann haben wir ein Date!“ platzte es aus mir heraus, ehe ich über meine Wortwahl nachdachte. Hatte ich eben wirklich ‚Date‘ gesagt? Yusei wurde rot und schien über meine Worte ebenso überrascht wie ich. „Hey, Yusei!“ rief plötzlich jemand neben uns. Wir drehten uns um, und ehe Yusei etwas erwidern konnte, wurde er in eine brüderliche Umarmung geschlossen. Der Typ hatte silbergraue Haare und olivgrüne Augen. Ich kannte ihn von den Fotos an der Pinnwand. „Hey Kalin, wie geht’s dir?“ fragte Yusei etwas überrumpelt. Kalin löste sich von ihm und grinste. „Ach, du kennst mich ja. Unkraut vergeht nicht! Wie läufts in der neuen Stadt?“ „Ich habe mich eingelebt“ antwortete Yusei und deutete dann auf mich. „Das hier ist übrigens Jaden. Er ist ein Freund von mir aus der neuen Schule und war so nett, mich hierher zu begleiten.“ Ich grinste und hob die Hand. Dann wandte sich Yusei wieder zu Kalin. „Aber sag mal, was wolltest du mir eigentlich so unbedingt persönlich sagen?“ fragte er geradeheraus und musterte sein Gegenüber. Dieser druckste nur herum. „Naja. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Weißt du…“ „Ach, jetzt stell dich nicht so an, und sag es einfach!“ sagte plötzlich eine weibliche Stimme. Erschrocken sah ich zu ihr. Sie stand nur wenige Schritte von uns entfernt. Stand sie schon die ganze Zeit dort? „Sherry?“ fragte Yusei verwirrt. „Was willst du denn hier?“ Sie lachte „Begrüßt man so etwa eine alte Freundin?“ fragte sie und kam näher. „Nein, entschuldige. Schön dich wiederzusehen“ antwortete er mit einem sanften Lächeln. Kalin seufzte. „Kann ich kurz unter vier Augen mit dir reden?“ fragte er an Yusei gewandt. Dieser musterte sein Gegenüber skeptisch, willigte aber ein, und so gingen sie ein ganzes Stück von uns weg, um ungestört reden zu können. Ich beobachtete sie. Als die beiden außer Hörweite waren, sprach Sherry mich an. „Du bist also Kalins Ersatz, was?“ Ich sah ihr fragend ins Gesicht. Wie Ersatz? Warum sollte ich jemanden ersetzen? „Schon gut, ist nicht so wichtig. Sag mal… Ganz ehrlich. Wie geht es ihm?“ Sie redet eindeutig nicht gerne um den heißen Brei herum. „Warum fragst du ihn das nicht selbst?“ entgegnete ich ihr verwirrt. Ich fühlte mich nicht sehr wohl dabei, mit einer mir fremden Person über so ein Thema zu reden. Ich wusste ja nicht mal, wie Yusei zu ihr steht! Schließlich war sie seine Ex-Freundin. Sie sah mich traurig an, aber warum? „Hm. Du hast vielleicht recht“ sagte sie mit einem müden Lächeln und ging auf das nahestehende Geländer zu, um sich daran abzustützen. Ich folgte ihrem Blick zum anderen Flussufer. Die Bäume in satten Gelb- und Rottönen standen dicht beieinander. Dahinter ragten die Hochhäuser der Stadt in den Himmel. Ein kurzer Windstoß hob einige Blätter in die Luft, die dann sanft zu Boden fielen. „Weißt du…“ durchbrach sie die Stille. „Ich dachte eine Zeit lang wirklich, ich würde ihn kennen. Aber er hat sich irgendwie verändert.“ Verwundert musterte ich sie und ging einige Schritte auf sie zu, bis ich neben ihr stand. „Wie meinst du das?“ „Ich weiß nicht. Als wir noch zusammen waren, und auch danach, da hatte er so ein Funkeln in den Augen. Er war einfach glücklich. Aber jetzt…“ Ich grinste. „Ich weiß was du meinst!“ Überrascht sah sie mich an. „Naja, als er gestern am Klavier saß, da hatte er auch so einen Ausdruck in den Augen.“ Sie musterte mich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. Habe ich was Falsches gesagt? Schnell versuchte ich das Thema zu wechseln. „Ach egal, wie war er denn früher so?“ Zu meiner Erleichterung stieg sie in den Themenwechsel ein. „Naja, er war eigentlich immer ziemlich gut drauf. Manchmal ging er mir mit seiner guten Laune auf den Keks, aber er munterte mich immer wieder auf, wenn es mir mies ging. In der Schule hatte er immer gute Noten, er war beliebt und stand immer hinter seinen Freunden. Dafür bewunderte ich ihn. Und er konnte so toll Klavier spielen… Er hatte sogar schon ein Stipendium an der Musikschule Tokio. Aber am meisten beneidete ich ihn um seine Familie. Sie liebten ihn über alles und hatten mich wie einen Teil von ihnen behandelt. Ich fühlte mich wirklich wohl bei ihnen.“ Ein belustigter Laut kam aus ihrer Kehle. „Unser Leben lief eigentlich ziemlich perfekt.“ Nachdenklich wandte sie den Blick zum Fluss. „Ich denke, ich habe ihn wirklich geliebt.“ „Warum habt ihr dann Schluss gemacht?“ Sie winkte ab und lächelte. Ihre Stimme klang jetzt ziemlich beiläufig. „Auch, wenn es noch so perfekt läuft, manchmal passt es eben einfach nicht. Wir sind im Guten auseinander gegangen, auch wenn ich den Sex wirklich vermisse.“ Sie grinste mich an und die Hitze stieg mir schlagartig in den Kopf. Daraufhin fing sie an zu lachen. „Hab ich dich etwa in Verlegenheit gebracht? Das ist ja süß!“ sagte sie immer noch lachend. Ich drehte mich um, verschränkte die Arme und grummelte. „Stimmt gar nicht! Was kommst du auch plötzlich mit Details!“ Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Yusei, der sich anscheinend gerade mit Kalin stritt. Kalin gestikulierte wild herum und Yusei sah aus, als wolle er ihm an die Gurgel gehen. So aufgebracht hatte ich ihn nur ein einziges Mal im Krankenhaus bei seinem Vater erlebt, kurz nachdem er eingeliefert wurde. Ich ließ die Arme sinken und beobachtete sie neugierig. „Was ist denn bei denen los?“ Sherry hatte sich auch wieder eingekriegt und folgte meinem Blick. „Ah, anscheinend hat Kalin endlich mit der Sprache rausgerückt. Hätte nicht gedacht, dass Yusei so wütend wird.“ Ich sah sie neugierig an. „Was wollte er ihm überhaupt so dringend sagen?“ „Kalin und ich sind seit einiger Zeit zusammen“ sagte sie und zuckte mit den Schultern. „WAS?!“ platzte es aus mir heraus. Es ging mich ja nichts an, aber waren die Ex-Partner unter besten Freunden nicht Tabu? Yusei wandte sich mit geballten Fäusten von Kalin ab, und kam auf uns zu. Er war sichtlich sauer. Auf seinem Weg zu uns konnte ich erkennen, dass er ein paar Mal tief Luft holte, ehe er vor uns zum Stehen kam. „Bist du deswegen wirklich so wütend?“ fragte Sherry ungläubig. Er warf ihr einen scharfen Blick zu, aber entgegen seiner Antwort war seine Stimme kalt. „Nein.“ Sherry hielt seinem Blick stand und musterte ihn. Dann drehte er sich zu mir, und seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. „Wir sollten los, sonst kommen wir noch zu spät“ sagte er bestimmt, verabschiedete sich von Sherry und ging schon vor. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu, aber sie hatte anscheinend auch keine Ahnung, was das sollte. Also verabschiedete ich mich ebenfalls und folgte ihm. Ob er wirklich so sauer war, weil Kalin mit Sherry zusammen war? Aber in dem Fall bedeutet es doch… dass er noch Gefühle für sie hat. Oder nicht? * Die Sicht von Yusei * „Na schön, was ist los?“ fragte ich Kalin, als wir endlich ein gutes Stück von den anderen entfernt stehen blieben. Er suchte anscheinend immer noch nach den richtigen Worten. „Du nimmst doch sonst auch nie ein Blatt vor den Mund. Also, was hast du?“ Er atmete ein Mal tief durch und fing endlich an zu reden. „Naja. Ich wollte es dir eigentlich schon eine ganze Weile sagen, aber am Telefon konnte ich es nicht. Weißt du, es geht um Sherry. Wie soll ich‘s sagen?“ Er seufzte verzweifelt. „Wir. Naja, wir sind in einer Beziehung.“ Ich lächelte. Als ob ich das nicht schon länger wüsste. Kalin war ein schlechterer Lügner als ich. Und Sherry konnte ich, nach mehr als zwei Jahren Beziehung, auch fast lesen wie ein Buch. Meinen ersten Verdacht hatte ich schon etwa zwei Wochen vor dem Unfall. Und deswegen machte er so einen Aufstand? Ich freute mich für die beiden, schließlich war er seit der Unterstufe mein bester Freund, und mit ihr bin ich nicht im Streit auseinander gegangen. Ich konnte guten Gewissens von mir behaupten, keine tieferen Gefühle mehr für sie zu haben. Meine Reaktion schien ihn allerdings völlig aus dem Konzept zu bringen. „Bist du… nicht mal ein klein wenig sauer?“ fragte er verwirrt. Ich gab einen belustigten Laut von mir. „Sauer? Wieso? Nein, ich freue mich für euch. Wie lange läuft das denn schon?“ Er starrt mich immer noch überrumpelt an. „Äh… seit etwa zwei Monaten.“ Fast ins Schwarze getroffen, mit meiner Vermutung. Jetzt versuchte er, sich zu rechtfertigen. „Aber ich wollte es dir sagen, bevor wir es offiziell machen wollten, ehrlich! Du solltest eigentlich der Erste sein, der davon weiß. Naja, aber dann kam was dazwischen. Und dann wusste ich nicht mehr, wie. Du hattest schon genug Probleme, und ich wusste einfach nicht…“ „Kalin“ unterbrach ich ihn. „Es ist okay für mich, glaub mir.“ „Warum bist du nicht sauer auf mich? Ich meine, ich habe dir verschwiegen, dass ich mit deiner Ex zusammen bin und ich habe dich im Stich gelassen, als du mich am meisten brauchtest. Wir haben seit Wochen nur oberflächlich Kontakt. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit der ganzen Sache umgehen sollte. Das weiß ich heute noch nicht. Ich meine… Ich weiß nicht… bist du nicht einsam?“ Ich stutzte. Ja, ich war einsam, aber dann zog mich Jaden aus meiner Isolation und war für mich da. „Nein, bin ich nicht mehr. Die Schule ist ganz okay. Ich bin sogar der neue Stürmer in der Fußballmannschaft geworden. Jaden hat mich dazu gedrängt.“ Ich lachte kurz bei dieser Erinnerung. „Er ist der Kapitän und die Spieler sind gar nicht so schlecht. Ich leite aktuell das Training, weil kein Lehrer verfügbar ist. Wir wollen an der Regionalmeisterschaft dieses Jahr teilnehmen.“ „Moment, was?“ erwiderte er und sah mich überrascht an. „Du hast uns schon ausgewechselt?“ Wie kommt er denn auf ausgewechselt? „Ich könnte dich und die anderen nie auswechseln. Sei doch froh, so treten wir vielleicht gegeneinander an. Dann kannst du mir endlich zeigen ob du besser spielst als ich“ sagte ich scherzhaft. Aber er sah mich nur wütend an. „Du hast uns verraten. Du sagtest doch vor deinem Umzug noch ganz großkotzig, du könntest dir keine andere Mannschaft vorstellen. Und jetzt wechselst du uns einfach aus?“ Ich starrte ihn nur ungläubig an. Wie kann er sowas von mir denken? Ich wollte anfangs nicht mal in die neue Mannschaft, Jaden hatte mich irgendwie reingeschubst. Wieso freute er sich nicht einfach für mich, dass ich wieder ein wenig Normalität im Leben hatte? „Ich… versteh nicht ganz, worauf du hinauswillst“ sagte ich perplex. „Ach nein? Ich rede davon, dass unser ehemaliger Kapitän einfach eine neue Mannschaft trainiert! Du brauchst uns also gar nicht mehr, was? Wann wolltest du uns das denn erzählen?! Du bist ein genauso beschissener Freund, wie ich es war!“ Oh nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Ich sah ihn mit einem stechenden Blick an. „Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe mich wenigstens ab und an gemeldet. Wenn es nach dir ginge, dann hätten wir immer noch Funkstille! Wenigstens haben die Schüler an der neuen Schule mit mir geredet! Ich wollte nur nicht mehr allein sein!“ sagte ich und meine Stimme wurde dabei immer aufgebrachter. Wie kann er mir nur unterstellen, ein schlechter Freund gewesen zu sein? Schließlich hatte er sich von mir abgewendet! „Weißt du, was ich wirklich gebraucht hätte?! Jemanden zum Reden! Ich hätte meinen besten Freund gebraucht! Ich habe mich komplett ausgeschlossen gefühlt! Selbst mein Vater hat sich zurückgezogen. Nach dem Umzug hat er kaum noch mit mir gesprochen, genau wie du!“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten, fing an zu zittern. „Nur weil DU nicht wusstest, wie du mit mir umgehen solltest?! Wovor hattet ihr eigentlich Angst? Wie dachtet ihr, würde ich reagieren, wenn ihr einfach nur für mich da gewesen wärt?! Glaubt ihr, ich wäre deshalb zusammengebrochen? Nein! Das bin ich nur deshalb, weil ich allein in einer neuen Stadt zurechtkommen musste und ihr mich quasi ignoriert habt. Mein Vater war mir dabei noch die schlechteste Hilfe. Ich habe euch vermisst. Ich habe dich vermisst, verdammt!“ Kalin starrte mich entgeistert an, ehe er sich wieder gefangen hatte. „Aber ich dachte, das wäre eine Familienangelegenheit! Das klärt immer noch nicht, warum du dir einfach ein neues Team, neue Freunde suchst!“ Mein Blick verfinsterte sich weiter, meine Stimme wurde gefährlich ruhig. „Mit welcher Familie hätte ich das klären können? Mein Vater liegt im Krankenhaus und lässt nicht mehr mit sich reden, du Idiot. Das wüsstest du, hättest du bei meinen Anrufen länger als nur fünf Minuten für mich erübrigt. Ich lebe seit vier Wochen allein. Und wären Jaden und seine Familie nicht gewesen, wäre ich vermutlich irgendwann einfach durchgedreht.“ Ich konnte seine Gegenwart im Moment einfach nicht ertragen. Ehe ich ihm noch etwas an den Kopf werfen kann, was ich später bereue, gehe ich wohl besser. Ich ließ ihn einfach stehen und ging zu Jaden und Sherry zurück. Auf dem Weg dahin, versuchte ich meine Wut wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Bist du deswegen wirklich so wütend?“ fragte Sherry ungläubig. Ich warf ihr einen scharfen Blick zu und verneinte. Aber ich war selbst verwundert, wie kalt meine Stimme sich anhörte. Natürlich hielt Sherry meinem Blick stand. Sie wusste vermutlich, dass ich nicht auf sie sauer war. Sie kannte mich gut genug. Ich will hier einfach nur noch weg. Die Sache mit Kalin würde ich heute nicht mehr klären können. Ich sah zu Jaden, und wurde augenblicklich ruhiger. Seine warmen, kastanienbraunen Augen hatten wirklich jedes Mal eine beruhigende Wirkung auf mich. „Wir sollten los, sonst kommen wir noch zu spät“ sagte ich bestimmt und ging schon vor. Wie ich ihn kenne, will er sich sicher noch verabschieden, aber ich will hier einfach nur noch weg. Auf dem Rückweg zum Anwesen von Herrn Kazuki und während des Abendessens schwieg ich die meiste Zeit. Die anderen schoben es auf die Nervosität vor der Gerichtsverhandlung, aber Jaden wusste es besser und ließ das Thema einfach erstmal auf sich beruhen. Ich dankte ihm still dafür. Am Abend ging ich zu meinem Lieblingsplatz auf diesem Anwesen. Es war ein kleiner Springbrunnen, der hinter einigen Hecken versteckt war. Wenn es dunkel wurde, wurde das Wasser von unten angestrahlt und das Licht ließ die Oberfläche und die Wasserstrahlen funkeln, wie Sterne. Ich ließ mich auf der kleinen Mauer um den Brunnen herum nieder und beobachtete das klare Wasser. Irgendwann würde sich die Sache mit Kalin schon wieder einrenken. Aber warum warf er mir vor, ihn ausgetauscht zu haben? Hat er denn nicht gesehen, wie es mir ging? Dieser Trottel! Ich würde in ein paar Tagen wieder mit ihm reden müssen, aber nicht, wenn ich noch so aufgebracht bin, wie im Moment. Als ob er mein einziges Problem wäre. Langsam kamen auch die Sorgen um den morgigen Tag wieder. Ob ich mich danach besser fühlen werde, oder schlechter? Ich hatte wirklich keine Ahnung. „Kann ich mich zu dir setzen?“ fragte eine bekannte Stimme leise. Ich hatte ihn nicht kommen hören und zuckte kurz zusammen. Als ich über meine Schulter blickte und Jaden sah, nickte ich und betrachtete wieder das Wasser. Er setzte sich im Schneidersitz neben mich und redete munter. „Dieser Takashi sagte, du wärst früher immer hierhergekommen, wenn du wütend oder traurig warst. Wie lange kennst du ihn eigentlich schon?“ Ich schmunzelte. War ich wirklich so durchschaubar? „Ich bin früher als Kind immer mit meiner Mutter hergekommen, wenn mein Vater arbeiten war. Herr Kazuki war ihr Vorgesetzter und ein guter Freund von ihr. Er wollte in regelmäßigen Abständen den aktuellen Stand der Fortschritte sehen, und dazu kamen die Hauptmusiker der Konzerthalle zu ihm. Da das immer Stunden ging, wurde mir irgendwann langweilig und ich fing an, mit den Hausangestellten zu spielen. Takashi war zu der Zeit noch ein Lehrling auf dem Anwesen, genauso wie Saki. Mit der Zeit sind wir Freunde geworden.“ „Cool, du kennst hier also jeden Winkel?“ Ich sah ihn an und lächelte. „Ja, wieso?“ Er grinste verlegen. „Naja, ich verlaufe mich hier ständig. Ich habe vorhin ganze 30 Minuten gebraucht, ehe ich mein Zimmer wiedergefunden habe. Ich war einfach auf dem falschen Stockwerk und bin irgendwann in der Küche rausgekommen.“ Ich lachte. „Es gibt einen kleinen Dienstbotengang, der vom ersten Obergeschoss runter zur Küche führt. Er liegt gleich zwischen dem Zimmer deines Vaters und Meinem. Wenn du willst, kann ich ihn dir später zeigen, aber wir müssen noch warten. Um diese Zeit wird er häufig genutzt, und ich will niemandem im Weg stehen.“ Wieder funkelten seine neugierigen Augen. „Klar gerne!“ Wieder lachte ich leise und sah auf das Wasser. Weswegen war ich eigentlich hier? „Diese Sherry scheint ziemlich nett zu sein“ sagte er und sah mich vorsichtig an. Ich schmunzelte. Ach stimmt, deswegen. „Ja, aber sie trägt ihr Herz auf der Zunge. Hat sie irgendetwas Merkwürdiges gesagt?“ Im Schein des Wassers vor uns konnte ich sehen, wie er förmlich anfing zu glühen. Oh je, was hat sie jetzt wieder erzählt? Sein Anblick amüsierte mich, als er hektisch versuchte sich zu erklären. „Was? Nichts! Warum sollte sie denn? Wir kennen uns ja nicht.“ Kurz noch lachte er nervös, wandte dann seinen Blick ab, und sah auf das Wasser. „Sie hat dir erzählt, dass sie jetzt mit Kalin zusammen ist, nicht?“ Überrascht sah er mich an. „Ja, woher weißt du das?“ „Ich kenne sie eben“ sagte ich und lächelte. „Und… warst du deshalb so sauer?“ Mein Lächeln erstarb. „Nein, ich freue mich für Sherry, wirklich. Nur Kalin ging mir auf die Nerven, das ist alles.“ „Den ersten Teil glaube ich dir. Nur nicht, dass das alles ist. War er fies?“ Ich musterte ihn überrascht. „Nein“ sagte ich gedankenverloren. Er sah mich wild entschlossen an und ich wusste einfach nicht, warum er so ein Gesicht aufgesetzt hatte. „Wie kommst du darauf?“ „Du hast gesagt, du freust dich für Sherry. Warum nicht auch für ihn?“ „Hm?“ Hatte ich das wirklich so gesagt? Ich seufzte. „Naja, wahrscheinlich, weil ich immer noch sauer auf ihn bin. Und ehrlich gesagt auch auf mich selbst.“ Der frische Wind ließ die Herbstblätter durch die Luft tanzen. Ich beobachtete, wie einige ins Wasser fielen. Wie soll ich es ihm am besten sagen, ohne dass es lächerlich klingt. „Er… Ach es klingt dämlich, ich weiß. Erst regt er sich auf, weil ich in einer neuen Mannschaft bin, und dann hält er mir vor, dass ich deswegen ein schlechter Freund wäre. Ich habe ihm gesagt, dass ich nur nicht allein sein wollte, dazugehören wollte. Dass er mich im Stich gelassen hätte. Nur, weil er nicht wusste wie er mit mir umgehen sollte. Auch, dass es nach dem Umzug schlimmer wurde, und ich ihn vermisste. Dass ich nicht verstehen konnte, warum er mich ignoriert hat. Als er dann sagte, dass es eine Familienangelegenheit gewesen wäre, wurde ich noch wütender. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich warf ihm die Sache mit meinem Vater an den Kopf, mit meiner Wohnsituation, und dass ich ohne dich wahrscheinlich durchgedreht wäre.“ Wieder seufzte ich schwer und betrachtete den sternenklaren Himmel. Was Jaden wohl jetzt von mir denken wird? „Ich habe wirklich keine Ahnung, warum er plötzlich so wütend war, aber ich habe mich auch falsch verhalten.“ Ich sah ihn an, und wollte eigentlich weiterreden, aber ich war zu überrascht. Ich konnte seinen Blick einfach nicht deuten. „Du…“ setzte er an. Ich war verwirrt. War er sauer? Irritiert? Überrascht? „Du hast ihm gesagt, du wärst ohne mich durchgedreht?“ Ich blinzelte ihn verwirrt an. Das war das Einzige, was ihn so stutzen ließ? Ich suchte nach einer Antwort. „Naja... Ja. Das ist doch die Wahrheit. Wenn ich am Boden war, hast du mich wiederaufgebaut. Wenn ich falle, fängst du mich wieder auf. Ich fühle mich bei dir einfach wieder wie ich selbst, verstehst du? Ich bin glücklich, wenn du bei mir bist. Du hast mir den Mut gegeben weiterzumachen. Ohne dich hätte ich wahrscheinlich nie wieder angefangen zu spielen. Du bist mehr als nur mein bester Freund geworden, ich habe mich-“ …in dich verliebt. Wie gerne würde ich es ihm sagen. Ich fühlte mich einfach so wohl in seiner Nähe, dass ich alles loswerden wollte. Ich wollte ihm erzählen, wie ich wirklich für ihn fühlte, aber das konnte ich nicht. Er würde mich für verrückt halten. Er drehte seinen Körper so, dass ich ihm gegenübersaß, musterte mich immer noch mit diesem undefinierbaren Blick, dann schenkte er mir plötzlich ein warmes Lächeln. Ein roter Schimmer lag auf seinen Wangen. Mein Herz raste wie wild gegen meine Rippen und ein unglaublich wohliges Gefühl durchzog meinen Körper. Mein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. Ich hätte ihn schon einmal fast geküsst, und ich spürte dieses Verlangen in mir aufsteigen, es dieses Mal durchzuziehen. Hör auf an so etwas zu denken! Ich schloss meine Augen und atmete hörbar aus. Nein, ich kann es ihm nicht sagen. Als ich mein Gesicht von ihm abwenden wollte, spürte ich auf einmal etwas Warmes an meinen Lippen. Ich riss meine Augen auf und sah Jadens Gesicht direkt vor meinem. Mein Herzschlag nahm weiter zu und ich rührte mich nicht mehr. Ich konnte nicht begreifen, was vor sich ging. Meine Starre kam mir unendlich lang vor, doch es waren nur einige Sekunden, ehe sich mein Verstand abschaltete. Ich schloss meine Augen, legte ihm eine Hand in den Nacken und erwiderte seinen zärtlichen Kuss. Ich spürte seine warmen, weichen Lippen auf meinen, nahm seinen Duft wahr. Spürte seinen Atem auf meiner Haut. Ein Kribbeln durchzog meinen gesamten Körper. Ich blendete die kalte Herbstluft aus, die Geräusche der Wasserstrahlen, die auf die spiegelglatte Oberfläche trafen. Selbst die Zeit war mir egal. Es war ein perfekter Augenblick. Da waren nur er und ich. Und diese unendlich sanfte Berührung. Als wir unseren Kuss lösten, starrte ich ihn eine Weile an. Langsam kehrte mein Verstand zurück und ich wurde wieder rot. Ich hatte es längst aufgegeben, mein Herz beruhigen zu wollen. Jaden hatte ein breites Lächeln aufgesetzt. „Was du gesagt hast, war wirklich schön. Und lass dir nie einreden, du wärst ein schlechter Freund. Du bist der beste Freund, den man sich wünschen könnte! Weißt du, mein Problem in den letzten Tagen war, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt habe.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus bei diesen Worten. War das wirklich möglich? „Aber ich glaube, es geht ihm ähnlich“ sagte er noch mit einem warmen Lächeln. Was hat er gerade gesagt? Ich traute meinen Ohren nicht. Hat er mir eben wirklich seine Gefühle gestanden? „Ist das… dein Ernst?“ fragte ich leise, als ich endlich meine Stimme wiedergefunden hatte. Er grinste breit und klopfte mir einmal leicht gegen die Stirn. „Du bist lustig. Warum hätte ich das eben sonst machen sollen?“ Mein Gesicht hätte in diesem Moment gut mit einem Feuerlöscher konkurrieren können. Statt etwas zu erwidern, versiegelte ich seine Lippen erneut mit meinen. Dieses Mal war er es, der kurz verwirrt war, den Kuss dann aber erwiderte. Ich war mir noch immer nicht sicher, ob das ganze real war, doch es kümmerte mich nicht. Wenn ich jetzt wirklich langsam verrückt wurde, dann war das hier der bittersüßeste Traum, den ich je hatte. Kapitel 12: Gerichtsverhandlung ------------------------------- Wieder im Haus angekommen, zeigte ich Jaden, wie versprochen, einige geheime Durchgänge, die die Angestellten des Hauses nutzten. Die Köchin war nach all den Jahren noch immer dieselbe. Sie begrüßte mich herzlich und ermahnte mich, dieses Mal die Finger vom Nachtisch zu lassen. Ich lächelte verlegen. Damals war ich doch erst acht Jahre alt, und sie hielt es mir heute noch vor. Jaden lachte sich darüber nur schlapp. Wir unterhielten uns noch recht lange mit Herr Kazuki in seinem Wohnzimmer. Oder besser gesagt Saal. Er und Jadens Vater verstanden sich wirklich bestens. Ich hatte für einen Augenblick ganz vergessen, warum wir hier sind. Ich war so abgelenkt von meinen alten Freunden und Jaden, dass ich allen Kummer, alle Sorgen ausblendete. Doch als ich mich in mein Gästezimmer zurückzog, wurde mir schmerzlich bewusst, warum wir in Osaka waren. Bis zur Gerichtsverhandlung waren es keine zwölf Stunden mehr. Ich war so nervös. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Tag mit mir anstellen würde. Ich wusste nur eines: Ich war nicht allein. Jaden und sein Vater würden die gesamte Zeit über bei mir sein. Das nahm mir ein wenig von meiner Nervosität, aber ich konnte dennoch kaum einschlafen. Erst spät in der Nacht fand ich endlich Ruhe… Ich lief durch die Straßen von Osaka, ohne ein bestimmtes Ziel. Ich war zufrieden. Ein kleines Mädchen, das meiner Mutter ähnelte, stand neben mir. Ihre brünetten Haare waren schulterlang und klebten an ihrem Kopf. Sie war blutüberströmt. „Warum hast du mich nicht beschützt?“ fragte sie traurig, dann verschwand sie. Da war wieder diese Angst. Ich telefonierte mit meiner Mutter. Sie war fröhlich. Ein Knall. Ein markerschütternder Schrei. Blut. Sie ist tot. Panik überkam mich. Ich rief nach ihr, bekam keine Antwort. Ein Mann mit stechend roten Augen sah mich an und grinste unheilvoll. Stille. Ein Polizist stand vor mir, sah mich traurig an. Sie waren tot. Ich schrie. Mein Vater sah mich traurig an und drehte mir den Rücken zu. Ich rief nach ihm. Er verschwand. Es war kalt. Dunkelheit breitete sich aus, verschluckte mich, zog mich tiefer mit sich. Ich fühlte mich schwer, lag allein inmitten der Finsternis, konnte mich nicht rühren. Ein Lichtstrahl durchflutete die schwarze Umgebung, blendete mich. Mir wurde warm. Jemand reichte mir seine Hand. „Ich hab es dir doch schon gesagt. Ich lass dich nicht mehr allein“ sagte eine leise Stimme. Ich ergriff sie, sie zog mich nach oben zu dem warmen Licht. Das Lied meiner Mutter drang an mein Ohr. Ihre beruhigende Stimme hallte in meinem Kopf. „Dieses Lied gehört nur uns. Wenn ich es spiele, denke ich nur an dich, und wenn du es hörst, soll es dir die Kraft geben weiterzumachen.“ Um mich herum war alles hell und still. Jaden stand vor mir und grinste. Er hielt meine Hand. Hinter ihm tauchte mein Vater auf. Er lächelte schief. Neben ihm erschienen immer mehr meiner Freunde. Jack, Crow, Aki, Alexis, Carly, Kalin, meine neue Mannschaft, Jadens Eltern, all meine Freunde aus Osaka. Sie lächelten mir alle entgegen. Jaden sah mich entschlossen an. „Ich lass dich nicht mehr allein! Uns wirst du so schnell nicht wieder los!“ Über Allem strahlte dieses helle Licht. Was war das? Ich konnte diesen Traum nicht ganz einordnen. Er war anders, als die Träume zuvor. Warum? Ich öffnete meine Augen. Die wenigen, warmen Strahlen der aufgehenden Sonne warfen ein angenehmes Licht in den Raum. Mein Blick wanderte zu meiner Hand. Überrascht stellte ich fest, dass sie von einer anderen umschlossen wurde. Jaden. Er hielt sie fest und schlief friedlich neben mir. Aber ich war doch allein, als ich eingeschlafen bin. Verdutz betrachtete ich ihn eine kleine Weile. Sein Mund stand ein wenig offen und seine braunen Strähnen standen überall ab. Ich schmunzelte. Er sah so friedlich aus. Vorsichtig stand ich auf, um ihn nicht zu wecken und legte eine Decke über ihn. Dann verschwand ich im Bad und ging anschließend die Treppe nach unten. Es war wirklich noch ziemlich früh am Morgen. „Immer noch ein Frühaufsteher, was?“ hörte ich eine bekannte Stimme neben mir. Saki kam gerade aus dem Torbogen zu meiner Linken und begrüßte mich fröhlich. „Guten Morgen, Saki. Ja, ich konnte nicht mehr schlafen. Ist schon irgendjemand wach?“ „Ja, Herr Kazuki ist im Büro und arbeitet schon. Willst du etwas zum Frühstück?“ Ich schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, Danke. Ich warte auf die anderen. Kann ich dir helfen?“ „Ich glaube kaum, dass Herr Kazuki das gerne sehen würde“ lachte sie. „Ich schaff das schon allein, Danke. Aber weißt du was? Der Flügel ist wieder im Musikzimmer. Würdest du mir den Gefallen tun?“ Ihre großen, grauen Augen sahen mich erwartungsvoll an. Ich seufzte. „Na schön.“ Wir waren im Musikzimmer angekommen. Hier standen viele große Vasen mit beeindruckenden Blumenarrangements. Der Raum war in Weiß und Blautönen gehalten und sehr elegant. Das einzige Möbelstück in diesem Raum war ein schwarz glänzender Flügel. Ich weiß nicht wie oft ich schon darauf gespielt habe. Ich sah sie an. „Das Gleiche wie immer?“ Als Antwort bekam ich nur ein fröhliches Nicken und sie setzte sich neben mich. Saki wollte damals immer das gleiche Lied hören. ‚Nuvole Bianche‘ von Ludovico Einaudi. Manches wird sich wohl nie ändern. Der Raum war schallisoliert, daher brauchte ich mir keine Gedanken zu machen, jemanden wecken zu können. Als ich fertig war, lächelte Saki zufrieden neben mir, bedankte sich und ging wieder an ihre Arbeit. Ich saß noch eine Weile in dem großen Raum. Ich hatte noch genug Zeit bis zum Frühstück, also spielte ich zwei weitere Lieder, darunter die ‚Mondlichtsonate‘ von Beethoven. Da erst bemerkte ich die Notenblätter vor mir. Ich sah sie mir durch, doch ich kannte keines der Stücke. Eines davon sah aber sehr schön aus. Ich ließ meinen Blick über die Zeichen und die Tonlage schweifen. Es schien in kurzer Zeit machbar zu sein. Ich beschloss es zu probieren, schließlich hatte ich noch immer jede Menge Zeit, und ich wollte mich etwas von dem, was in ein paar Stunden auf mich zukommen würde, ablenken. Es war kniffliger als gedacht. Ich brauchte einige Anläufe, um es fehlerfrei zu spielen. Die Noten, die ich mit der rechten Hand spielen musste, waren vergleichsweise ziemlich schwierig. Die Melodie, die ich mit der linken Hand spielte, war sehr einfach. Als ich die Melodien zusammenführte, brauchte ich auch zwei Anläufe, ehe es klappte. Kurz vor Ende des Liedes hörte ich ein Geräusch und drehte mich erschrocken um. Dabei warf ich einige Notenblätter aus Versehen auf den Boden. Hinter mir, an der Tür, standen Herr Kazuki und Jaden. Ich hatte sie gar nicht kommen hören. * Die Sicht von Jaden * Ich wachte auf. Es war noch komplett finster draußen. Na toll, ich bin mitten in der Nacht aufgewacht. Jetzt schlafe ich doch wieder ewig nicht ein, und mein Hals bringt mich noch um. Ich muss dringend was trinken! Genervt schlug ich die Decke zur Seite und ging auf den Gang. Na schön. Was hat Yusei gesagt? Ich muss von meinem Zimmer aus nur zwei Türen nach links gehen, und dann komme ich in die Küche. Ganz einfach. Eigentlich. Als er noch bei mir war, und er die Türen am Treppenende unterscheiden konnte. Oh nein, ich habe mich schon wieder verlaufen… Irgendwann fand ich endlich die Küche und holte mir ein Glas Wasser. Auf dem Rückweg kam ich in der Eingangshalle raus. Wie auch immer ich das schon wieder geschafft habe. Aber zumindest kannte ich dieses Mal den Raum. Jetzt musste ich es nur wieder zurückschaffen. Ich ging die Treppe der Eingangshalle nach oben und kam wieder auf dem langen Gang an. Ich musste um irgendeine Ecke. Nur welche? Wieso hat dieses Haus so viele Zimmer?! Nachdem ich drei Mal falsch abgebogen war, öffnete ich eine Tür, die wie mein Gästezimmer aussah. Endlich! Aber ich war nicht allein. Irgendjemand wälzte sich im Bett. Ich wollte schon leise das Zimmer verlassen, da hörte ich eine Stimme. „Nein…“ wisperte sie. Yusei? Ich drehte mich um und versuchte ihn in der Dunkelheit auszumachen. „Geht nicht… Nein…“ hörte ich wieder seine leise, verzweifelte Stimme. Langsam ging ich auf sein Bett zu und musterte ihn aus sorgenvollen Augen. Er hatte wieder diesen Alptraum. Sein Atem ging flach und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Wie kann ich ihm nur helfen? Ob ich ihn wecken sollte? Nein, er würde sich zu Tode erschrecken. Vielleicht würde ihn eine Berührung beruhigen. Zumindest hat das meine Mutter oft gemacht, wenn wir Alpträume hatten. „Lasst mich nicht allein…“ wimmerte er wieder. Es brach mir das Herz. Ich setzte mich neben ihn und nahm seine Hand in meine, strich langsam mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Ich hab es dir doch schon gesagt. Ich lass dich nicht mehr allein“ flüsterte ich. Sobald ich diese Worte ausgesprochen hatte, bemerkte ich, wie er meine Hand festhielt und beruhigt ausatmete. Sein Atem normalisierte sich langsam wieder und ging gleichmäßig. Auch seine Gesichtszüge entspannten sich. Ist der Alptraum vorbei? Langsam überkam auch mich wieder die Müdigkeit und ich ließ mich neben ihm ins Kissen sinken. Ich hielt seine Hand noch immer. Ich wachte auf, weil irgendetwas fehlte. Ich wusste aber nicht so recht was. Ich schlug die Decke zur Seite und, immer noch schlaftrunken, ging ich ins Bad, aber meine Sachen sahen anders aus. Einen Augenblick stand ich noch verwirrt vor dem Waschbecken und starrte eine Zahnbürste an, die definitiv nicht meine war. Dann hatte es endlich Klick gemacht. Mit einem Schlag war ich wach. Ich bin in Yuseis Zimmer wach geworden, nicht in Meinem. Er ist wohl schon unterwegs. Hier ist er zumindest nicht. Ich schlich mich aus dem Zimmer und ging in mein Eigenes. Als ich fertig war und auf den Gang lief, hörte ich eine Melodie. Irgendwoher kannte ich sie. Es war ein ziemlich bekanntes Lied, aber ich kam nicht auf den Titel. Ich ging die Treppe runter und in die Richtung, aus der die Töne kamen, aber dann verstummte die Musik. Ich konnte auch nicht wirklich ausmachen, aus welchem Raum sie kam. Ich ging leise einen Gang entlang und entdeckte eine angelehnte Doppeltür. Ob die Musik von hier kam? Dann hörte ich wieder Etwas und spähte in den Raum hinein. Ich konnte Yusei an einem Flügel sehen. Er spielte, aber die Melodie war sehr abgehackt. Langsam öffnete ich die Tür und betrat den großen Saal. Irgendwie seltsam, dass hier nur das Instrument und ein paar vereinzelte, kleine Bänke an den Wänden standen. Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr und zuckte kurz zusammen. Herr Kazuki stand nur ein paar Schritte von mir entfernt und hatte sich den Finger auf die Lippen gelegt, um mir zu bedeuten leise zu sein. Wieder verstummte die Musik und Yusei gab ein leises Knurren von sich, ehe er wieder von vorne begann. Ob er da eben etwas Neues lernte? Als er weiterspielte, kam Herr Kazuki auf mich zu und sprach ganz leise mit mir, sodass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Einer meiner Komponisten hat seine Noten beim letzten Mal vergessen. Ich will nur sehen, wie Yusei damit zurechtkommt. Er denkt, er wäre noch immer unbeobachtet.“ Verstehe, er hat sich genauso hier reingeschlichen als er die Musik hörte. Es war eigentlich ziemlich faszinierend, ihn dabei zu beobachten. Immer wieder spielte er nur mit einer Hand und dann mit der Anderen. Die Melodien hörten sich aber unterschiedlich an. Zwischendrin schien er Probleme zu haben und spielte denselben Teil mehrere Male. Es hörte sich zwar ganz hübsch an, aber nicht so, wie es sonst klang, wenn er spielte. Und plötzlich spielte er beide Melodien zusammen und mich überkam eine leichte Gänsehaut. Es klang wunderschön. Er brach kurz ab, um wieder von vorn anzufangen und ich wollte mich ein wenig anlehnen. Dummerweise an einem Beistelltisch. Ich warf fast eine Vase um, konnte sie aber noch abfangen. Nicht ganz geräuschlos. Die Musik verstumme plötzlich und Yusei drehte sich erschrocken um. Einige Blätter schwebten zu Boden. Herr Kazuki lächelte nur amüsiert. Ich versank vor Scham fast im Boden. „Tschuldigung“ sagte ich verlegen. Yusei atmete hörbar aus. „Nicht schlimm. Wie lange steht ihr denn schon hier?“ Herr Kazuki lächelte noch immer. „Ich selbst bin im letzten Akt der Mondscheinsonate dazugekommen. Dein kleiner Freund hier…“ damit deutete er auf mich „Ist während des neuen Stückes eingetroffen. Apropos, wie gefiel es dir denn?“ Yusei suchte kurz nach einer Antwort. „Es ist sehr schön. Erinnert mich an ‚Comptine d'un autre été‘, aber es ist etwas komplizierter. Allerdings finde ich das Ende etwas… holprig.“ Herr Kazuki nickte zufrieden. „Ich nehme an, das Frühstück ist einstweilen angerichtet. Wenn ihr möchtet, könnt ihr euch gern in den Speisesaal begeben. Ich werde mich nun ebenfalls auf den Weg machen“ sagte er erfreut und ging aus dem Raum. Der Mann war nett, aber wirklich seltsam. Währenddessen sammelte Yusei die Blätter auf dem Boden wieder zusammen, die überall verteilt lagen. „Warte, ich helf dir“ sagte ich und ging auf ihn zu, um einige Blätter aufzusammeln. „Danke“ murmelte er gedankenverloren und sortierte die Noten in der richtigen Reihenfolge. Das war nicht das, worüber er nachdachte. „Keine Angst“ sagte ich und lächelte. Er sah mich verwirrt an. „Du machst dir Gedanken wegen der Verhandlung, oder?“ Seine Augen weiteten sich überrascht, doch dann sah er wieder auf die Blätter in seiner Hand. „Ja, du hast recht. Ich bin nur nervös. Vor allem wegen der Aussage. Und… weil ich in einem Raum mit diesem Kerl sitzen werde.“ Ich nahm seine Hand und zwang ihn so, mir in die Augen zu sehen. Mein Blick war fest entschlossen. „Und das wird für eine lange Zeit das letzte Mal sein, dass der Typ das Tageslicht sieht. Es wird alles gut gehen, das verspreche ich dir!“ Ganz leicht zuckten seine Mundwinkel nach oben und er nickte. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zum Gerichtsgebäude. Yusei hatte nicht wirklich was gegessen, aber das konnte ich irgendwie verstehen. Er wirkte wahnsinnig nervös. Auf der Fahrt waren wir fast die gesamte Zeit über still. Als mein Vater einen Parkplatz gefunden hatte, stiegen wir aus und gingen auf das große Bauwerk zu, in dem die Verhandlung stattfinden würde. Mein Vater lief vor uns. Yusei verkrampfte sich mit jedem Schritt. Um ihm etwas von seiner Nervosität zu nehmen, nahm ich seine Hand und drückte sie leicht. Er sah mir kurz in die Augen und deutete ein Lächeln an. Dann spürte ich, wie auch er einen leichten Druck auf meine Hand ausübte. Er verstand wohl, was ich ihm sagen wollte. Auch ohne Worte. Kurz vor den Treppen zum Eingang kamen plötzlich ziemlich viele Leute mit Kameras und Mikros auf uns zu und umkreisten uns regelrecht. Yusei ließ meine Hand los, um sich vor dem aufkommenden Blitzlichtgewitter zu schützen. Die Menge redete wild durcheinander. „Sind Sie der Sohn der Pianistin?“ „Wie, glauben Sie, wird die Verhandlung ausgehen?“ „Stimmt es, dass Miako Fudo zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger war?“ Ich sah die Panik in Yuseis Augen. Was wollten die eigentlich alle hier? War seine Mutter wirklich so berühmt in dieser Stadt, dass uns jetzt so viele Reporter belagern mussten? Mein Vater stand plötzlich hinter uns und bugsierte uns zu den Treppen. Dabei wimmelte er alle Fragen höflich ab. „Es tut uns sehr leid, aber wir müssen los, sonst kommen wir noch zu spät. Entschuldigen Sie uns bitte.“ * Die Sicht von Yusei * Als wir im Gerichtsgebäude ankamen, schlug mein Herz wie wild in meiner Brust. Die Panik überkam mich erneut. Musste ich mich auf solche Fragen etwa auch während der Verhandlung einstellen? Ich lief durch den Gang, wie ferngesteuert. Herr Yuki versuchte mich anscheinend zu beruhigen, aber ich nahm seine Worte kaum wahr. Erst als Jaden sich vor mich stellte und etwas an meinen Schultern schüttelte, kam ich wieder in der Realität an. Ich versuchte mich auf seine beruhigenden Augen zu konzentrieren, um wieder runterzukommen. Es half. „Geht’s wieder?“ fragte er mich. Meine Antwort darauf war nur eine gemurmelte Zustimmung. Die Verhandlung hatte noch nicht begonnen, und ich war schon das reinste Nervenbündel. Ich ging mit Jaden und seinem Vater den Gang entlang. Links und rechts von uns waren massive Holzbänke. In dem Saal war Platz genug für etwa 50 Zuschauer und bei dem Ansturm da draußen, wäre der sicher ausgefüllt. Es war eine Sache Jaden oder dem Arzt meines Vaters von dem Unfall zu erzählen, aber vor so vielen Menschen? Jede Faser meines Körpers schrie nach Flucht. Mir war wahnsinnig übel. Der Richter, einige Gerichtsschreiber und die Anwälte beider Parteien waren schon im Saal, sowie einige Personen in der ersten Reihe, die sich als die Familie des Angeklagten herausstellten. Ich lief mechanisch hinter Herr Yuki und versuchte die Blicke der Personen auszublenden. Als wir auf den Tisch zugingen, an dem der Staatsanwalt saß, hielt mich Jaden am Ärmel meiner Jacke fest. Überrascht drehte ich mich zu ihm und sah in sein halb zuversichtliches, halb besorgtes Gesicht. „Du schaffst das schon. Ich bin die ganze Zeit hier, und mein Vater sitzt neben dir. Du musst das nicht allein durchstehen, verstanden?“ Mir war nicht danach zumute, aber trotzdem lächelte ich für einen kleinen Moment. Der Saal füllte sich langsam. Ich saß auf dem Platz zwischen Herr Yuki und dem Staatsanwalt, und allmählich waren auch die Plätze auf den Bänken gefüllt. Viele Stimmen redeten durcheinander. Jaden saß in der ersten Reihe, ganz in meiner Nähe. Der Tisch an dem ich saß, und der des Angeklagten, standen schräg zur Raummitte hin, sodass ich Jaden sehen konnte, wenn ich den Kopf neigte. Das beruhigte mich ein wenig. Die Türen zum Gerichtssaal gingen erneut auf und es wurde still. Die letzten Personen, die den Raum betraten waren zwei Polizisten. In ihrer Mitte lief ein junger Mann mit kurzen, blonden Haaren. Er sah aus als wäre er nur ein wenig älter als ich. Sein Blick war stur auf den Weg vor ihm gerichtet. Das war er also. Der Mann, der meine Familie auf dem Gewissen hatte. Schnell wandte ich den Blick ab. Ich hatte das Gefühl, ich würde es nicht ertragen ihn länger anzusehen. Der Raum war erfüllt von leisem Gemurmel und dem Ton auslösender Kameras. Einige Journalisten machten Fotos. Er nahm neben dem ihm gestellten Pflichtverteidiger Platz und der Richter ergriff das Wort. „Zum Aufruf kommt die Sache Kyo Tanaba. Wie ich sehe sind der Angeklagte, sowie der Verteidiger anwesend. Ebenso der Staatsanwalt. Stellvertretend für den Nebenkläger ist heute sein Sohn, sowie ein Mitarbeiter des Jugendamtes anwesend.“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als er plötzlich meinen Namen aufrief und ich die Blicke der Anwesenden im Saal spürte, die mich musterten. Ich starrte nur stur auf den Tisch. Dann rief er noch einige Zeugen auf, die im Saal waren und ihre Anwesenheit bestätigten. Meine Nervosität nahm langsam immer weiter zu, auch wenn ich dachte, das wäre unmöglich. Ich schielte kurz zu Jaden. Er musterte mich und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Mir ging es etwas besser. Der Richter wies die Zeugen an, den Raum zu verlassen und widmete sich dann dem blonden Mann. Sein Name war also Kyo Tanaba und er war tatsächlich nur knapp vier Jahre älter als ich. Er ging noch auf die Universität. Dann richtete der Richter das Wort an den Staatsanwalt neben mir. Er sollte die Anklageschrift vorlesen. Er gab den Anwesenden im Raum einen groben Überblick über den Unfall und meine Hände krallten sich an meinen Oberschenkeln fest. Ich zitterte. Dann spürte ich eine sanfte Berührung und sah neben mich. Herr Yuki hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt und sah mich mitfühlend an. Der Anwalt war fertig und die Anklage lautete fahrlässige Tötung und fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs. Zur Überraschung aller im Saal wollte der Mann nicht aussagen. Ich hatte es bis eben vermieden ihn genauer zu betrachten, aber meine Neugier siegte. Er saß nur da wie ein Häufchen Elend, und starrte auf den Tisch vor ihm. Seine Augen waren von dunklen Ringen gezeichnet und er sah vollkommen verzweifelt aus. Fast schon den Tränen nahe. Hatte ich etwa Mitleid? Mitleid für den Mann, der dafür verantwortlich war, dass meine Mutter und meine Schwester nicht mehr am Leben waren? Dass mein Vater im Krankenhaus langsam verrückt wurde? Das kann nicht sein! Dann folgte der Teil, vor dem ich am meisten Angst hatte. Die Beweisaufnahme. Es wurden nacheinander drei Zeugen hereingebeten, die den Unfall beobachtet hatten. Sie nahmen alle an einem kleinen Tisch neben dem Richter Platz, machten ihre Aussage und setzten sich anschließend auf die Bänke im Saal. Die letzte Zeugin hatte sogar einen Videobeweis, der auf einer Leinwand hinter ihr abgespielt wurde. Ich kniff krampfhaft meine Augen zusammen und versuchte das Zittern zu unterdrücken. Das Video war nur kurz, aber dieser Knall. Diesen Knall konnte ich nicht ausblenden. Er verfolgte mich wieder. Wieder spürte ich einen sanften Händedruck auf meiner Schulter. Ich traute mich nicht aufzublicken. Ich war sicher, ich könnte die Tränen nicht aufhalten. Plötzlich wurde ich aufgerufen. Geschockt sah ich den Richter an, dann Herr Yuki, der mir bestätigend zunickte. Ich schluckte und stand zögerlich auf. Ging mit wackeligen Beinen in Richtung des kleinen Tisches neben dem Richter. Ich wollte in diesem Moment überall sein, nur nicht hier. Hinter mir hörte ich wieder die Töne der auslösenden Kameras. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Mir war übel. Als ich mich setzte, belehrte mich der Richter, dass ich nur die Wahrheit sagen durfte. Ich nickte und sah zu Jaden. Er war bei mir, ich konnte das schaffen. Dieser kleine Moment der Zuversicht verschwand als ich gebeten wurde, den Unfallhergang aus meiner Sicht zu erklären. Mein Herz drohte zu zerspringen und ich war mir sicher, ich würde an dem Kloß in meinem Hals ersticken. Aber ich musste mich zusammenreißen. Wieder wanderte mein Blick zu Jaden. Ich versuchte alle anderen Anwesenden auszublenden und stellte mir vor, ich würde es nur ihm erzählen. Das hatte ich schon einmal geschafft. Ich könnte es auch wieder. Ein letztes Mal noch atmete ich tief durch und fand meine Stimme wieder. Sie war leise, aber hörbar. „An dem Tag habe ich meine Mutter angerufen.“ „Mit Mutter meinen Sie Frau Miako Fudo, richtig?“ unterbrach mich eine Stimme. Ich war kurz irritiert und wusste nicht woher sie kam. „J-Ja“ sagte ich zögerlich und sah wieder zu Jaden, der sich ebenfalls überrascht umsah. Anscheinend hat er auch nicht mitbekommen, wer mich unterbrochen hatte. „Jedenfalls habe ich mit ihr geredet und dann habe ich… einen Knall gehört.“ „Wie hat er sich angehört?“ fragte wieder diese Stimme und brachte mich aus dem Konzept. Mein Blick schweifte zu Herr Yuki, der etwas genervt aussah, dann stand der Staatsanwalt auf. „Herr Ajabe, würden Sie bitte aufhören meinen Mandanten aus dem Konzept zu bringen? Stellen Sie ihre Fragen gefälligst nach der Aussage!“ Ich sah zu dem Verteidiger. Er hatte mir anscheinend die Fragen gestellt. Zumindest sah der Staatsanwalt ihn wütend an. „Er hat recht, Herr Ajabe“ sagte der Richter, ehe er wieder zu mir sah und mitfühlend lächelte. „Fahre fort.“ Ich sah ihn irritiert an und versuchte mich wieder zu sammeln, aber ich konnte es nicht. Wo war ich stehen geblieben? Ich sah aus irgendeinem Grund zu dem blonden Mann, der mich traurig musterte. Dann bemerkte ich wieder die Menschenmenge vor mir. Ich kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf. Ich kann das nicht! „Du schaffst das“ hörte ich Jadens Stimme sagen. Ich öffnete meine Augen und sah ihn überrascht an. Auch sein Vater drehte sich zu ihm und musterte ihn irritiert. Der Richter räusperte sich leicht und Jaden sah ihn verlegen an. Einen sehr kurzen Augenblick musste ich schmunzeln. Ein wenig von der Anspannung fiel von mir ab. Wieder atmete ich tief durch und sah ihn an. „Ich habe einen Knall gehört. Und dann hörte ich ihren Schrei. Ich habe sie gerufen.“ Ich musste schlucken und meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Wieder und wieder, aber sie hat nicht geantwortet… Etwa zwei Stunden später kam ein Polizist zu uns und hat uns von dem Unfall erzählt… Sie sind gestorben.“ Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber der Richter zwang mich nicht es noch einmal zu wiederholen. Ich konnte die aufkommenden Tränen unterdrücken. „Vielen Dank. Der Verteidiger hat das Wort“ sagte der Richter in die aufgekommene Stille. Dieser Herr Ajabe erhob sich und sah mich mit einem stechenden Blick an. „Also, Herr Fudo, kommen wir zurück zu meiner letzten Frage. Wie hat sich das Geräusch für Sie angehört?“ Ich verstand wirklich nicht, was er mit dieser Frage bezwecken wollte. „Naja, es war ein metallener Knall“ sagte ich verwirrt. „Und der Schrei?“ fragte er weiter. Mein Herz schlug wieder schneller. Der Schrei hallte in meinem Kopf. Warum will er das wissen? Auch der Anwalt schien die Geduld zu verlieren. „Herr Ajabe, kommen Sie heute noch auf den Punkt, oder ist Ihr einziges Ziel, diesen Jungen den Augenblick immer wieder durchleben zu lassen?“ „Ich muss ihm recht geben. Diese Frage ist unzulässig, wenn Sie damit nichts bezwecken wollen“ sagte der Richter. „Ich formuliere die Frage anders“ sagte Herr Ajabe. „Sie sind sich also ganz sicher, dass Sie Frau Miako Fudo zum Zeitpunkt des Unfalls angerufen haben?“ Ich nickte, aber ich wusste noch immer nicht, worauf er hinauswollte. „Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie Ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls mit diesem Anruf von ihrer Tätigkeit, also dem Fahren eines Kraftfahrzeugs, abgelenkt haben?“ Ich riss meine Augen auf und starrte ihn geschockt an. Mein Körper und mein Verstand waren wie gelähmt. Ich zitterte. Meine Sicht verschwamm allmählich. Wollte er ernsthaft mir die Schuld an dem Unfall geben? Hatte ich wirklich etwas damit zu tun? War ich ebenfalls schuld, dass sie tot sind? Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass der blonde Mann ihn ebenfalls mit offenem Mund anstarrte. Ehe der Staatsanwalt reagieren konnte, erhob sich Herr Yuki und sah den Verteidiger mit einem vernichtenden Blick an. „Wollen sie ernsthaft andeuten, er hätte Mitschuld an dem Unfall?“ sagte er wütend. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Mein Blick wanderte ganz langsam zu Jaden. Er sah mich an und schüttelte entschieden den Kopf. „Hattet ihr eine Freisprechanlage im Auto?“ fragte mich Herr Yuki. Ich nickte. Der Verteidiger sah mich böse an. „Sehen Sie?“ sagte Jadens Vater gereizt. „Sie hat sich also ganz darauf konzentrieren können, über diese Kreuzung zu fahren!“ „Na schön, keine weiteren Fragen“ grummelte der Verteidiger und setzte sich wieder. War das seine einzige Strategie? Mir einen Teil der Schuld zuzuschieben? Ich wurde aufgefordert, mich wieder an meinen Platz zu setzen. Aber mein Körper verweigerte mir den Dienst. Ich konnte mich Partout nicht bewegen. Mein Blick schweifte über die Menschen auf den Zuschauerbänken, den vielen Reportern, und blieb an meinem brünetten Freund hängen. „Brauchst du eine kurze Pause?“ fragte mich der Richter leise. Das riss mich aus meiner Starre. Ich werde den Reportern nicht noch mehr Material für einen ihrer dämlichen, reißerischen Artikel geben. Zögerlich stand ich auf und konzentrierte mich, geradewegs auf den Platz zuzugehen. Als ich mich setzte, legte mir Herr Yuki wieder seine Hand auf die Schulter. „Lass dir das nicht einreden, hast du verstanden?“ sagte er leise, aber bestimmt. Ich wich seinem Blick aus und nickte stumm. Vielleicht hatte er recht, aber ich wollte nur noch die Verhandlung hinter mich bringen und hier raus. Dummerweise war die Beweislage noch nicht beendet. Als nächstes folgten Bilder vom Autowrack und ein Experte zählte die Blechschäden auf. Ich versuchte ihn auszublenden. Das gelang mir zumindest besser als bei dem darauffolgenden Teil. Die Arztberichte. Ich stützte meine Arme auf dem Tisch ab, senkte den Kopf und hielt mir die Ohren zu. Leider konnte ich trotzdem das Meiste verstehen. Ich versuchte an etwas anderes zu denken. Meine Arbeit an meinem Motorrad, bei dem mir Kalin geholfen hatte. „…schwere Gehirnerschütterung…“ Das Siegtor, das ich geschossen hatte, als wir die Regionalmeisterschaft gewonnen hatten. „…Glassplitterverletzungen der rechten Gesichtshälfte, Wirbelverletzungen im Bereich der…“ Meine Hände zitterten. Die Siegesfeier nach dem Spiel. Ich hatte Ärger bekommen, weil ich erst so spät zu Hause war. „…einseitige Brustkorbprellung mit Rippenbrüchen, sowie eine einseitige Schlüsselbeinfraktur…“ Eine Berührung zwischen meinen Schulterblättern. Herr Yuki versuchte mich zu beruhigen. Denk an etwas anderes! „…Wundtaschen an der Außenseite des rechten Beines mit Prellmarken und Schürfungen…“ Der Tag an dem ich mit Saki und Takashi verstecken spielte und in meinem Versteck eingeschlafen bin. „…Ober- und Unterschenkelfrakturen…“ Die beiden suchten fast zwei Stunden lang nach mir, aber meine Mutter fand mich schnell. Ich war in der Wäscherei. Das war mein Lieblingsversteck. „…einseitige Beckenringsprengung mit Schambein- Sitzbein- und Darmbeinfraktur…“ Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Tränen rannen stumm über meine Wangen und tropften auf die Tischplatte. Der Moment… Der Moment in dem ich zum ersten Mal auf einer Bühne stand. „…schwere innere Blutungen durch eine Ruptur der Beckenarterie…“ Ich hatte das Lied meiner Mutter gespielt. Mit ihr zusammen. Ich versuchte die Melodie in meinem Kopf ablaufen zu lassen. „…der Fötus starb nur kurz nach dem Opfer…“ Ich kann nicht mehr! Lasst den Typen doch endlich fertig werden mit seiner Aussage! Ich versuchte krampfhaft keinen Ton von mir zu geben. Das ist schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte! Ich will nur noch hier raus… Bitte… Bitte lass es bald vorbei sein… Bitte! Ich kann nicht mehr… * Die Sicht von Jaden * Yusei saß schon eine ganze Weile lang einfach nur reglos da. Er schien gar nicht auf meinen Vater zu reagieren. Er hatte seinen Kopf auf dem Tisch abgestützt und hielt sich die Ohren zu. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich konnte genau erkennen, dass er zitterte wie Espenlaub. Ihm ging es einfach nur dreckig. Nachvollziehbar. Der Arzt war endlich fertig mit dem Gequatsche über die Verletzungen von Yuseis Mutter. Auch ich musste ziemlich schlucken. Das war hart. Wie gerne hätte ich ihn während seiner Aussage, und auch jetzt, einfach nur umarmt. Und wie gerne hätte ich dem Verteidiger mit Anlauf ins Gesicht geschlagen! Wegen dieses Arschs denkt Yusei jetzt vielleicht wirklich, er hätte genauso Schuld an dem Unfall, wie der Fahrer. Aber das ist unsinnig! Die Beweisaufnahme war endlich vorbei. Der Verteidiger dieses Typen schlug eine Bewährungsstrafe von einem Jahr vor. Lächerlich. Immerhin hat er eine schwangere Frau getötet und dabei um die 2 Promille im Blut gehabt. Er ist selbst schuld, wenn er damit noch fährt! Der Staatsanwalt schlug die Höchststrafe vor. Fünf Jahre ohne Bewährung. Von einer Frau in der Nähe dieses blonden Typen kam ein Wimmern. Der Richter sagte, dass sie sich jetzt zur Beratung zurückziehen würden und der Angeklagte könnte noch ein Wort an Yusei richten. Er stand einfach nur auf, sah traurig und völlig verzweifelt zu meinem Freund rüber und sagte nur: „Es tut mir so leid.“ Der Richter nickte. In zwei Stunden würden sie das Urteil verkünden. Die Leute verließen allmählich den Gerichtssaal und der Staatsanwalt sprach noch kurz mit dem Richter. Mein Vater redete weiter auf Yusei ein. Ich lief auf die beiden zu. „Hey“ sagte ich vorsichtig. „Du hast es geschafft. Es ist vorbei.“ Er bewegte sich immer noch nicht. Ich setzte mich neben ihn auf den Stuhl, wo vorher der Anwalt gesessen hatte und strich ihm vorsichtig über den Rücken. „Yusei es ist vorbei. Wir können gehen.“ Einen kurzen Blick konnte ich auf sein Gesicht erhaschen, als er seine Hände runternahm und mich ansah. Auf seinen Wangen waren Spuren von getrockneten Tränen und seine Augen hatten jeden Glanz verloren. Mein Vater sah mich mitfühlend an. „Ich glaube er hat einen psychischen Schock. Das war wohl doch zu viel für ihn. Was er jetzt braucht, ist Ruhe.“ Erschrocken sah ich erst meinen Vater, dann Yusei an. Der Anwalt kam wieder an unserem Tisch an. „Ich habe mit dem Richter gesprochen. Bei der Urteilsverkündung muss er nicht dabei sein. Ich würde vorschlagen, ihr bringt ihn nach Hause. Das war ein langer Tag für ihn.“ Mein Vater seufzte. „Danke, Sie haben recht. Ich bring ihn zurück und werde zur Urteilsverkündung wieder da sein.“ An mich gerichtet, redete er weiter. „Na komm, Jaden. Du bleibst besser bei ihm.“ Ich nickte und wandte mich wieder Yusei zu. „Na komm, wir gehen. Du hast es geschafft. Ich bin echt stolz auf dich“ sagte ich mit einem kleinen Lächeln. Langsam und wie mechanisch stand er auf und ging mit mir aus dem Raum raus. Sein Blick war nach unten gerichtet. Ich machte mir wirklich Sorgen. Ich hoffe, ihm geht es nach einer Mütze Schlaf wieder besser. Auf dem Gang und vor dem Gerichtsgebäude wurden wir wieder von diesen Paparazzis und Journalisten belagert. Ich hatte echt keine Ahnung, warum das für die so ein Riesen Ding ist. Mein Vater und einer der Sicherheitsbeamten wimmelten sie ab, sodass wir relativ gut bis zum Parkplatz durchkamen. Im Anwesen von Herrn Kazuki angekommen, brachten wir Yusei in sein Zimmer. Er hatte noch immer kein Wort gesagt und starrte nur vor sich hin. Mein Vater sagte, das wäre nicht unüblich oder potenziell gefährlich, und dauert in den meisten Fällen nur wenige Stunden an. Ich hoffe er hat recht. „Ich fahre wieder los“ sagte mein Vater schließlich als wir auf dem Gang standen. „Bleib besser bei ihm. Ein häufiges Symptom ist Desorientierung. Nicht, dass er später noch im Haus umherirrt und sich verletzt.“ Ich nickte und ging wieder in das Zimmer. Yusei saß einfach nur auf dem Bett und starrte mit gesenktem Kopf ins Leere. Genauso, wie wir ihn vor einigen Minuten verlassen hatten. Ich hockte mich vor ihm hin und sah in sein Gesicht. Es war, als würde er durch mich hindurchsehen. „Ich glaube, es ist besser du legst dich etwas hin. Du hast den ganzen Tag schon nichts gegessen. Nicht, dass du noch umkippst.“ Keine Reaktion. Ein leises Seufzen kam über mich. Was soll ich denn jetzt machen? Er zog sich schon wieder zurück, nur dieses Mal schlimmer als vorher. Ich stand auf, drückte ihn sanft in sein Kissen und deckte ihn zu. Dann legte ich mich neben ihn. Stille durchzog den Raum. Das Einzige, was zu hören war, war unser Atem. Ich hatte auch nicht vor etwas zu sagen. Er brauchte jetzt Ruhe, hat mein Vater gesagt. Und Gesellschaft. Ich zog ihn an mich und strich ihm durchs Haar. Das hatte auch auf mich eine beruhigende Wirkung. Nähe hat doch beim letzten Mal auch gut funktioniert, oder? Kapitel 13: Verschwunden ------------------------ Ich wusste nicht, wie lange ich ihn in meinen Armen hielt. Ich strich noch immer sanft durch sein Haar. Es war hypnotisch. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Raum in ein leichtes Orange. Es klopfte. Langsam und vorsichtig erhob ich mich, um Yusei nicht zu wecken. Zu meiner Überraschung hatte er seine Augen noch immer halb geöffnet. Sie sahen so leer aus und starrten ins Nichts. Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion. Seufzend ging ich zur Tür und öffnete sie. Mein Vater stand vor mir und musterte mich. „Wie geht es ihm?“ fragte er leise. Ich sah kurz zu Yusei, dann blickte ich meinen Vater traurig an und schüttelte langsam den Kopf. Auch er seufzte und bat mich aus dem Zimmer. Als wir auf dem Gang standen, schloss mein Vater die Tür hinter sich. „Und, wie ist es ausgegangen?“ fragte ich ihn. „Es ist so, wie der Staatsanwalt erwartet hatte. Der Mann ist natürlich schuldig gesprochen worden und hat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten erhalten. Nach einem Jahr kann er einen Antrag auf Bewährung stellen.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wut stieg in mir hoch. Das ist doch lächerlich! „Das ist unfair! Er hat komplett volltrunken ein Fahrzeug gerammt und eine schwangere Frau dabei getötet. Wieso bekommt er dafür keine längere Strafe?!“ fragte ich aufgebracht. Mein Vater sah zu der Tür, die zu Yuseis Zimmer führte, dann wieder zu mir. Meine Wut wich aus meinem Körper. Verdammt, ich war zu laut. „Lass uns nach unten gehen“ schlug er vor. Zögerlich stimmte ich zu. Eigentlich wollte ich Yusei nicht allein lassen. Wir saßen in dem Hauptzimmer von Herr Kazuki und redeten noch eine Zeit lang über die Verhandlung und das Urteil. Der Richter wies wohl auf die ‚herausragend schweren Folgen der Tat für die Familie‘ hin, aber der Mann hat trotzdem mildernde Umstände bekommen, weil er vorher noch nie straf- oder verkehrsrechtlich aufgefallen ist. Und wohl auch, weil er Reue gezeigt hat. Ich verstand es einfach nicht. Der Mann hat durch seine eigene Schuld zwei Menschenleben beendet und wäre in einem Jahr auf Bewährung wieder draußen. Das ist so ungerecht! „Sieh es mal so, mein Junge“ sagte Herr Kazuki plötzlich. „Er hat eine weitaus grausamere Strafe bekommen, als nur die Freiheitsstrafe.“ Verwirrt sah ich ihn an. „Wie meinen Sie das?“ Er bedachte mich mit einem traurigen Lächeln. „Der junge Mann ist erst 22 Jahre alt, und wird sein gesamtes restliches Leben mit der Schuld leben müssen, diese wundervolle Frau und ihr ungeborenes Kind getötet zu haben. Und nur, weil er den Fehler machte, unter Einfluss von Alkohol zu fahren. Die wenigsten Menschen können so ein Erlebnis ganz aufarbeiten.“ „Hm…“ Wenn man es von der Seite betrachtete. „Aber was ist jetzt mit Yusei?“ fragte ich wieder und sah die beiden Männer vor mir an. Mein Vater erwiderte meinen Blick traurig. „Er wird Zeit brauchen. Und vor allem muss er lernen, darüber zu sprechen. Es ist ganz normal, wenn er sich jetzt eine Zeit verschließt. Das ist reiner Selbstschutz. Wir müssen jetzt nur darauf achten, dass es sich nicht verschlimmert. Wir müssen einfach nur für ihn da sein.“ Ich nickte. Das wollte ich sowieso. Das werde ich sowieso. Plötzlich stand Herr Kazuki auf. „Nun denn, ich würde vorschlagen, ihr nehmt noch eine Kleinigkeit zu euch. Ihr werdet eure Kräfte noch brauchen. Yusei brauch erst einmal Ruhe, daher würde ich ihn schlafen lassen. Ich werde ihn morgen zum Frühstück rufen lassen, bis dahin geht es ihm sicher besser. Ihr wolltet gleich nach dem Essen abreisen?“ Mein Vater nickte. „Ja, ich habe meiner Frau versprochen, zum Mittag wieder zu Hause zu sein.“ Nach dem Abendessen ging ich in mein Gästezimmer. Alle sagten mir, Yusei bräuchte jetzt eine kleine Weile Zeit für sich. Ich hatte da eher ein schlechtes Gefühl. Diese leeren Augen… So habe ich ihn noch nie gesehen. Nicht mal an dem Abend, an dem er mir von seiner Mutter erzählt hatte. Er wirkte danach so befreit. Aber jetzt… Jetzt wirkt er eher, als hätte er seine Seele verloren. Ich hoffe es geht ihm bald besser. Am nächsten Morgen weckte mich mein Vater zum Frühstück. Wir wollten eher essen, damit wir früher fahren konnten. Ich gähnte herzhaft. „Hast du Yusei schon Bescheid gesagt?“ fragte ich ihn. Er lächelte mir entgegen. „Nein, er ist wohl schon aufgestanden. Ich war eben in seinem Zimmer, aber es war leer.“ Ich konnte mir nicht helfen, aber ich hatte da ein ganz mieses Gefühl. Ich machte mich fertig und folgte meinem Vater runter ins Esszimmer. Mein Blick wanderte durch den Raum. Er ist nicht hier. Saki stand am Tisch und stellte in diesem Moment gerade ein Körbchen mit frisch gebackenem Brot ab. „Hey, hast du Yusei gesehen?“ fragte ich sie gespannt. Sie schaute mich verdutzt an. „Nein, schläft er nicht noch?“ Ich schüttelte den Kopf. Dieses ungute Gefühl wurde stärker. Sie sah wohl mein angespanntes Gesicht und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Hey, mach dir keine Sorgen. Ich gehe los und suche ihn. Wie ich ihn kenne, ist er wieder super früh wach geworden und entweder im Musikzimmer oder im Garten. Du kannst schonmal anfangen zu essen. Ich komme gleich mit ihm nach“ sagte sie mit einem Zwinkern und verschwand. „Fräulein Ishida hat recht, mein Junge“ sagte Herr Kazuki plötzlich, der mit einer Zeitung am Tisch saß, eine Tasse Tee vor sich stehend. „Er hat sicher die Zeit vergessen. Das passiert nun einmal.“ Dann lächelte er mir zu und las wieder in seiner Zeitung. „Setz dich, Jaden“ fügte mein Vater hinzu. Irgendwie war ich der Einzige, der sich Sorgen machte. Vermutlich haben sie Recht. Ich mache mir einfach zu viele Gedanken. Er kennt dieses Haus in- und auswendig. Genau wie Saki. Sie wird ihn schon finden. Nach 20 Minuten war sie noch immer nicht zurück. Der Garten ist zwar groß, aber so lange brauch man doch auch wieder nicht, um ihn abzusuchen. Ich wurde von Minute zu Minute nervöser. Mit einem Ruck stand ich auf. Mein Stuhl kippte fast dabei um. „Ich ruf ihn mal an“ sagte ich bestimmt und ging die Treppen nach oben, ohne eine Antwort abzuwarten. So ist er einfach nicht. Das passt nicht zu ihm. Irgendetwas stimmt hier nicht. Oben angekommen, schnappte ich mir mein Handy und wählte seine Nummer. Freizeichenton. Komm schon, komm schon! Während ich wartete, ging ich auf den Gang, um meine Nervosität etwas loszuwerden. Da hörte ich ein Geräusch. Wo kommt das denn her? Ich sah mich um. Es kam aus Yuseis Zimmer. Ich öffnete die Tür und sah sein Handy auf dem Boden liegen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich war wirklich unzuverlässig, was mein Handy anging, aber Yusei hatte es immer bei sich. Ich drückte den roten Hörer und hob sein Telefon auf. Irgendwie ist das alles merkwürdig. Ich beschloss, wieder in den Speiseraum zu gehen, und meinem Vater davon zu erzählen. Unten angekommen, stellte ich überrascht fest, dass Saki wieder da war und betreten zu Boden blickte. Mein Vater ging nervös in einer Ecke des Raumes und auf und ab. Mit irgendjemandem telefonierte er. Herr Kazuki war verschwunden. „Was ist denn hier los?“ fragte ich verwundert. Saki sah mich aus traurigen Augen an. Mein Puls erhöhte sich schlagartig, ich vergaß fast zu Atmen, als sie mir ihre Antwort gab. „Er ist weg. Sowohl ich, als auch die anderen Angestellten haben das ganze Anwesen abgesucht.“ Herr Kazuki kam mit einem Tablet wieder, mein Vater legte auf. „Ich habe auf meinen Überwachungskameras nachgesehen. Er hat mitten in der Nacht das Anwesen verlassen. Ich habe keine Idee, wo er stecken könnte.“ Meine Beine wurden weich. Ich wusste doch, irgendwas stimmt hier nicht! „Jaden, hast du ihn erreicht?“ fragte mein Vater. Ich schluckte schwer. „Nein, sein Handy lag auf dem Boden“ antwortete ich leise. Die drei redeten durcheinander, wo er denn stecken könnte. Warum ist er verschwunden? Und wohin? Ob es ihm gut geht? Sein Vater hat ja auch versucht… Ich schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das würde er nicht machen. Da kam mir eine Idee. Während die Erwachsenen weiter diskutierten, nahm ich Yuseis Handy aus meiner Tasche. Es war zum Glück nicht gesperrt. Ich suchte eine Nummer und drückte auf den grünen Hörer. Ein Freizeichenton. Nach dem dritten Klingeln ging er ran. „Yusei?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung verwirrt. „Nein, hier ist Jaden. Yusei ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er sein könnte“ antwortete ich aufgeregt. Eine kurze Stille folgte. Ich hatte schon Sorge, Kalin hätte einfach aufgelegt. „Wo steckst du?“ fragte er dann. „Kennst du Herrn Kazukis Anwesen?“ „Gib mir zehn Minuten“ sagte er und legte auf. Erstaunt betrachtete ich das Handy. Ich hatte mit überflüssigen Fragen gerechnet, aber er reagierte sofort. Obwohl sie sich vor zwei Tagen so gestritten hatten. „Mit wem hast du denn telefoniert?“ fragte mein Vater und riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich zu ihm. „Mit Kalin, einem Freund von Yusei. Ich geh ihn suchen“ sagte ich entschlossen. Wie es aussah, hatte er keine Gegenargumente. Er seufzte. „Na schön, aber bleib erreichbar. Herr Kazuki will bei der Konzerthalle suchen. Ich bleibe hier, falls er zurückkommt. Wenn du ihn findest, sagst du mir sofort bescheid und ich hole euch ab, verstanden?“ „Klar!“ Ich grinste und umarmte ihn kurz, ehe ich in Richtung der Eingangshalle lief. Einmal mehr dankte ich ihm still dafür, dass er mir so vertraut. Vor dem großen Tor wartete ich auf Kalin und wippte nervös mit meinem Fuß auf und ab. Ein kalter Luftzug ließ mich frösteln und ich schloss meine Jacke. Heute ist es echt verdammt kalt! Dann hörte ich das Geräusch eines sich nähernden Motorrads. Kalin kam neben mir zum stehen und warf mir einen Ersatzhelm zu. „Ich hab Sherry Bescheid gesagt. Wir klappern getrennt ein paar Orte ab, an denen er stecken könnte.“ Ich nickte, setzte den Helm auf und stieg hinter ihm auf sein Motorrad. Der erste Ort, an dem wir Halt machten, war sein altes Haus. Wir stiegen ab und liefen auf die Eingangstür zu. „Was wollen wir denn hier? Das ist doch schon verkauft“ fragte ich verwirrt. „Nein, es steht zum Verkauf. Wie ich seine Familie kenne, haben sie…“ Er hob einen kleinen Stein neben der Tür an und darunter kam ein Schlüssel zum Vorschein. „Ha! Ich wusste es. Sie haben ihn so selten benutzt, dass sie es vergessen haben.“ Erstaunt betrachtete ich den kleinen Schlüssel in seiner Hand. Ohne ihn wäre ich nie auf so eine Idee gekommen. „Du suchst oben, ich unten, einverstanden?“ Ich nickte zustimmend und wir betraten das Haus. Da alle Zimmer leer waren, war es nicht schwer, ihn zu suchen. Leider war er hier nicht. Ich folgte Kalin, der ihn ebenfalls nicht gefunden hatte, in den Garten, wo ein kleiner Schuppen stand. „Was ist eigentlich passiert?“ fragte er mich auf dem Weg. Ich sah geknickt zu Boden. „Naja… seit der Gerichtsverhandlung hat er mit Niemandem mehr gesprochen. Und er hat die ganze Zeit nur ins Leere gestarrt. Das war echt unheimlich. Irgendwann in der Nacht hat er dann das Anwesen verlassen, ohne einem von uns Bescheid zu geben.“ Kalin öffnete den Schuppen, aber auch hier war er nicht, also gingen wir wieder zurück in Richtung Motorrad. „Und er ist einfach abgehauen?“ fragte er. „Normalerweise ist das nicht seine Art. Nach dem Tod seiner Mutter hat er sich zwar zurückgezogen, aber er hat sich nie davongemacht. War die Gerichtsverhandlung so hart?“ Ich sah ihn traurig an und nickte. Wenn er wüsste. Als nächstes fuhren wir zu seinem alten Trainingsplatz. Fehlanzeige. Mein Vater rief mich zwischenzeitlich an, und ich hatte schon die Hoffnung, Yusei wäre wieder am Anwesen, aber er wollte sich nur erkundigen, ob wir schon Erfolg hatten. Herr Kazuki hat ihn in der Konzerthalle auch nicht gefunden. Mein Vater beschloss die Polizei einzuschalten. Danach suchten wir im Kema Sakuranomiya Park. Dort gab es ein paar Stellen, an denen sie sich oft ihre Zeit vertrieben hatten. Als wir ihn dort auch nicht gefunden hatten, liefen wir wieder in die Richtung, in der Kalins Motorrad stand. Ohne ihn hätte ich wirklich keine Ahnung gehabt, wo ich überhaupt suchen sollte. „Danke übrigens, dass du mir hilfst“ sagte ich deshalb. „Hm? Warum sollte ich nicht?“ „Na, ihr hattet doch vorgestern diesen Streit“ „Ach so, das. Ich hab ihm damit ja nicht gleich die Freundschaft gekündigt. Der Grund für den Streit war eigentlich ziemlich dämlich. Zumindest von meiner Seite aus. Er hatte guten Grund dazu, wütend zu sein.“ „Ich weiß.“ Er sah mich verwirrt an. „Was?“ „Er hat gesagt er wüsste nicht, warum du sauer warst. Und, dass er sich auch falsch verhalten hat.“ Kalin sah betreten zu Boden. „Ich war weniger sauer auf ihn, als auf mich.“ Ich musterte ihn verwundert. „Wie meinst du das?“ „Alles, was er mir an den Kopf geworfen hat, stimmte. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, also hab ich mich von ihm distanziert, ohne es zu merken. Das ist mir erst viel zu spät aufgefallen. Ich war nicht für ihn da. Ich schämte mich und wimmelte ihn bei seinen Anrufen oft ab. Außerdem hab ich ihm das mit Sherry eigentlich schon lange sagen wollen, aber dann hatte seine Mutter den Unfall. Da konnte ich ihm schlecht auch noch das sagen. Ich freu mich doch für ihn, dass er Anschluss an der Schule, und neue Freunde gefunden hat. Keine Ahnung, warum ich so ausgetickt bin.“ Er zuckte mit den Schultern. Ich überlegte kurz, ehe ich Antwortete. Kalin sah wirklich am Boden zerstört aus. „Ich glaube, er verzeiht dir das schnell wieder.“ Er lachte bitter. „Ehrlich? Ich verzeih mir ja selbst nicht.“ „Yusei wirkt auf mich nicht wie ein nachtragender Mensch. Entschuldige dich einfach bei ihm, das wird schon“ sagte ich zuversichtlich grinsend. Er lächelte mich an. Wir waren wieder an seinem Motorrad angekommen. Als nächstes klapperten wir ein paar Orte in der Innenstadt ab, an denen die Beiden früher oft Zeit verbracht hatten. Wir konnten ihn einfach nicht finden. Meine Sorge wuchs mit jedem Fehlschlag. Ich hoffe es geht ihm gut. Kalin erkundigte sich über sein Handy bei Sherry, aber auch sie hatte keinen Erfolg. Wo könnte er nur stecken? Wir suchen mittlerweile seit fast drei Stunden nach ihm. Als wir ihn in der Werkstatt, in der er gearbeitet hatte, auch nicht gefunden hatten, war Kalin mit seinem Latein am Ende. „Das war der letzte Ort, der mir einfallen würde. Wenn er bis zum Mino Park gekommen ist, haben wir echt ein Problem. Das ist ein riesiger Wald, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Es kann doch nicht sein, dass er einfach abgehauen ist. Normalerweise würde er den Teufel tun, Irgendjemandem einfach Sorgen zu bereiten!“ Ich seufzte. „Du hast ihn nicht gesehen. Er war ein ganz anderer Mensch. Mein Vater hat gesagt, er hätte wahrscheinlich einen psychischen Schock erlitten als sie während der Verhandlung über-“ Ich riss die Augen auf und blieb stehen. Natürlich! Warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen? „Hattest du ne Eingebung?“ „Wo ist seine Mutter begraben?“ fragte ich schnell. Kalin blinzelte mich verdutzt an. „Keine dumme Idee, aber seit der Beerdigung hat er sich nicht mehr dahin getraut. Ich bezweifle, dass er dort ist. Aber ja, wieso nicht? Versuchen wir‘s.“ Der Weg zum Friedhof war ziemlich lang, da er am Stadtrand war. Es dauerte einige Zeit, ehe wir dort waren. Als wir ankamen, mussten wir den Grabstein seiner Mutter erst suchen. Kalin war auch nur ein Mal zur Beerdigung hier gewesen, und erinnerte sich nicht mehr genau an den Standort. „Ist er das nicht?“ fragte Kalin unsicher. Was?! Ich folgte seinem Blick und sah in einiger Entfernung jemanden vor einem Grabstein sitzen. Keine Ahnung ob er das war, dafür war er zu weit weg, aber meine Beine bewegten mich automatisch auf ihn zu. Ich wurde immer schneller. Ich konnte ihn erkennen, rannte schon fast zu ihm. Er war es. Es ging ihm gut! Er saß auf dem Boden und hatte seine Beine angewinkelt. Die Arme lagen auf seinen Knien und sein Blick war auf den Grabstein gerichtet. Über seine Schultern lag eine Decke. „Yusei!“ rief ich, doch er reagierte nicht. Ich stolperte über einen Stein, konnte mich aber abfangen und rannte weiter. „Yusei!“ wieder keine Reaktion. Ich war endlich bei ihm angekommen, ging vor ihm auf die Knie und umarmte ihn schwungvoll. „Gott sei Dank, dir geht’s gut!“ sagte ich erleichtert. Ich kniff die Augen zusammen. Er war in Sicherheit. All meine Sorge fiel mit einem Schlag von meinen Schultern. Ich spürte nur reine Erleichterung. Er ist wieder da. Er ist wieder bei mir! Ein paar Tränen liefen mir die Wange hinab und wurden von der Decke über seinen Schultern abgefangen. Ihm ist nichts passiert. „Hey, Alter… Wir haben uns echt Sorgen gemacht… Warum bist du plötzlich abgehauen?“ sagte Kalin, der jetzt ziemlich außer Atem neben uns stand. Yusei reagierte nicht. Ich löste mich wieder von ihm und sah ihm in die Augen. Es war derselbe Gesichtsausdruck, wie gestern Abend. Leer. Absolut emotionslos. Ich ergriff seine Hand. Sie war eiskalt. „Hey, Yusei. Was ist denn mit dir los?“ sagte ich. Meine Stimme zitterte. Er sah einfach durch mich hindurch. Es schien, als würde er uns gar nicht bemerken. „Gehört er zu euch?“ fragte eine tiefe Stimme. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Frage kam. Ein älterer Mann mit einer Harke in der Hand kam auf uns zu und musterte uns neugierig. „Ja“ antwortete Kalin. „Wir haben schon eine Weile nach ihm gesucht.“ Der Mann kam vor uns zum Stehen. „Na zum Glück. Ich habe mich schon gefragt, wen ich jetzt am besten informieren könnte. Der Junge sitzt hier sicher schon seit Stunden regungslos da, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Ich kenne Trauernde, schließlich arbeite ich auf einem Friedhof, aber er hat wirklich auf nichts reagiert. Ich dachte ihm wäre vielleicht kalt, deswegen habe ich ihm eine Decke umgelegt, aber er sollte schnell ins Warme.“ Ich nickte. „Danke.“ Er schenkte uns ein warmes Lächeln und ging etwas abseits, um sich dann wieder seiner Arbeit zu widmen. Ich wählte die Nummer meines Vaters und reichte Kalin das Handy. Er sah mich verdutzt an. „Kannst du mit meinem Vater telefonieren? Er holt uns gleich ab, aber ich habe keine Ahnung wo wir sind. Ich versuche in der Zwischenzeit mit Yusei zu reden.“ „Sicher“ sagte er, nahm sich das Handy und drückte den grünen Hörer, während er etwas abseits ging. Ich drückte Yuseis Hand, die noch immer in meiner lag. Wischte mir die Tränen mit der Anderen aus dem Gesicht und sah ihn an. „Yusei, wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Ich wäre doch mit dir mitgegangen, hättest du gesagt, wo du hinwillst.“ Wieder keine Reaktion. Wieso redet er nicht mit mir? Wieso sieht er mich nicht an? Langsam machte mir sein Zustand Angst. Ich schüttelte ihn leicht an den Schultern. „Yusei, bitte sag doch irgendwas!“ Seine Augenlider zuckten kurz. In mir keimte Hoffnung. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn mich anzusehen. „Bitte“ sagte ich flehend. Er blinzelte mehrmals und sah mich dann direkt an. Langsam kehrte wieder Leben in seine Augen zurück. Ich atmete erleichtert aus. Ist der Spuk jetzt vorbei? „Jaden?“ murmelte er leise. Mein Herz klopfte schneller vor Glück. Das war das erste Mal, seit der Gerichtsverhandlung, dass er wieder gesprochen hatte. Ich schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Ja, ich bin hier. Willst du nicht mit mir zurück gehen? Mein Vater macht sich große Sorgen.“ Langsam entfernte ich meine Hände von seinen Wangen und nahm seine Hand. Er nickte zaghaft. „Okay, dein Vater wird bald hier sein“ sagte Kalin, der wieder zu uns kam. „Ich hab auch Sherry Bescheid gesagt, sie war ganz schön erleichtert. Sobald dein alter Herr hier auftaucht, muss ich aber los, sonst rasten meine Lehrer vollends aus.“ Ach du Schreck! Das hatte ich ganz vergessen! Heute ist doch Dienstag, er muss in die Schule! Er lachte über meinen erschrockenen Gesichtsausdruck. „Hey, keine Panik. Ich war nie ein Musterschüler, und die Sache hier war wichtiger. Hauptsache Yusei ist wieder aufgetaucht und es geht ihm gut.“ Wir sahen beide zu Yusei, aber sein Blick war immer noch auf mich gerichtet. „Hm. Okay, Hauptsache er ist wieder da“ verbesserte sich Kalin etwas niedergeschlagen. Irgendwann hatten wir ihn endlich dazu gebracht, aufzustehen. Als wir am Eingang zum Friedhof angekommen waren, sah ich schon den Wagen meines Vaters vorfahren. Er hielt direkt vor uns und stieg aus. „Dem Himmel sei Dank, habt ihr ihn gefunden“ sagte er erleichtert. „Yusei geht es dir gut? Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht, warum bist du denn verschwunden?“ Yusei sah ihn nicht an, sondern stand einfach nur da. Er hatte sich wieder in sich zurückgezogen. Sein Blick war leer. Mein Vater seufzte. „Na schön, kommt. Steigt erstmal ein, dann fahren wir nach Hause. Eure Sachen sind schon im Auto.“ Ich nickte, aber ehe ich mich in Bewegung setzen konnte, sah ich überrascht zur Seite. Yusei lief auf das Auto zu und stieg hinten ein. Ich dachte eigentlich, wir müssten ihm dafür wieder gut zureden, aber er stieg einfach ein. Ich konnte sein Verhalten wirklich nicht ganz zuordnen. Mein Vater bedankte sich noch vielmals bei Kalin für seine Hilfe und nahm dann ebenfalls im Auto Platz. Ich folgte ihm. Kalin hielt mich auf, ehe ich eingestiegen war und fixierte mich mit einem ernsten Blick. „Versprichst du mir was?“ fragte er. Ich sah ihn überrascht an. „Ja, klar. Was ist denn?“ „Sagst du mir Bescheid, wenn es ihm besser geht? Meine Nummer hast du ja jetzt.“ Ich lächelte ihm entgegen. Er kann sich noch so oft das Gegenteil einreden, aber er war ein guter Freund. „Mach ich, versprochen“ sagte ich und drehte mich wieder zur Autotür. „Er vertraut dir“ sagte er plötzlich. Ich war etwas überrumpelt und drehte mich wieder ein wenig zu ihm, aber er schien noch nicht fertig zu sein. „Und ich vertraue darauf, dass du dich gut um ihn kümmerst. Nicht so wie ich.“ Ich nickte ernst und stieg ein. „Keine Sorge, Kalin“ sagte ich noch mit einem aufmunternden Lächeln, ehe ich die Autotür schloss und mein Vater losfuhr. Was für ein aufregender Vormittag. Ich sah zu Yusei, der seinen Blick aus dem Fenster gerichtet hatte. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Mich würde wirklich interessieren, warum er sich so komisch verhält. Klar, das hat ihn gestern alles ziemlich mitgenommen, aber er verhält sich trotzdem merkwürdig. Behutsam legte ich ihm meine Hand auf seine, und wir fuhren schweigend zurück nach Neo Domino. Zurück nach Hause. Kapitel 14: Alltag ------------------ Wir fuhren von der Autobahn runter und langsam zogen die mir so bekannten Gebäude an meinem Fenster vorbei. Es waren wirklich lange drei Tage und ich war froh wieder nach Hause zu kommen. Kurz bevor wir in unserer Wohngegend angekommen waren, durchbrach mein Vater die Stille, die über uns lag. „Yusei, ich würde vorschlagen, du bleibst erstmal bei uns. Du kannst bei dir natürlich erst ein paar Sachen holen, aber dann fahren wir zu uns nach Hause.“ Ich fand den Vorschlag nicht überraschend, schließlich ist er letzte Nacht einfach verschwunden und mein Vater machte sich vermutlich einfach nur Sorgen um ihn. Genauso wie ich. „Ich muss noch auf Arbeit“ sagte Yusei plötzlich. Ich sah ihn überrascht an. Mit einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Schon gar nicht mit der. Meinem Vater schien es genauso zu gehen. „Bist du sicher?“ fragte er verwirrt. „Ich meine, du bist sicher müde und dein Chef würde das verstehen.“ Yuseis Blick war weiterhin aus dem Fenster gerichtet. „Ich fange dienstags um vier an. Sam wartet bestimmt schon auf mich.“ Ich musterte ihn noch immer verwirrt. Es war mir völlig unverständlich, warum er jetzt daran dachte. Er ist nach der Gerichtsverhandlung komplett traumatisiert gewesen, ist in der Nacht darauf verschwunden, und saß dann stundenlang allein in der Kälte am Grab seiner Mutter. Außerdem hat er seit fast zwei Tagen nichts gegessen, und jetzt fällt ihm ein, dass er noch arbeiten muss? „Na gut, wenn du das willst“ sagte mein Vater. Was? Er stieg darauf ein?! Warum um alles in der Welt stimmte er da zu? Was, wenn Yusei wieder verschwindet? „Ich mache dir folgenden Vorschlag“ sprach er weiter. „Wir fahren zu dir, du packst ein paar Sachen für die Schule morgen ein, und dann fahre ich dich zur Arbeit und hole dich später wieder ab, einverstanden?“ Yusei sah weiterhin aus dem Fenster. „Okay.“ Was war hier los?! Seinem Plan folgend, setzte mein Vater Yusei zu Hause ab, ließ ihn ein paar Sachen packen, und dann fuhren wir zur Werkstatt. Er bat mich im Auto zu warten und ging mit Yusei zusammen in das Gebäude. Ich frage mich wirklich, was er vorhat. Er kann doch nicht so tun, als wäre die ganze Sache von heute Morgen nicht passiert. Ein paar Minuten später kam er wieder raus und stieg ins Auto. „Kannst du mir mal deinen Plan verraten?“ fragte ich, als wir losfuhren. „Welcher Plan denn?“ fragte er verwirrt. Ich seufzte genervt. „Warum du ihn hier wirklich abgesetzt hast. Was, wenn er wieder verschwindet? Er verhält sich doch total seltsam!“ Er lächelte plötzlich. Warum auch immer. „Keine Angst, ich habe mit seinem Chef gesprochen und ihm die Situation grob erklärt. Er versteht das und hat ein Auge auf ihn. Außerdem ist es ein gutes Zeichen, wenn er an seinem Alltag anknüpft. Zumindest ist es doch besser als ein Rückzug, meinst du nicht?“ Gut, dagegen konnte ich nichts sagen. Zu Hause angekommen, begrüßte uns erst Alexis, dann meine Mutter, die gerade aus dem Wohnzimmer kam. Mein Vater gab ihr einen flüchtigen Kuss und verstaute seine Tasche. „Na schön“ begann sie. „Du hast mir zwar gesagt, dass Yusei in der Nacht verschwunden ist, aber wo ist er denn jetzt? Habt ihr ihn etwa allein zu Hause abgesetzt?“ Sie hob eine Augenbraue und hatte die Arme verschränkt. Das war ihre Art zu sagen ‚Wenn du mir jetzt die falsche Antwort gibst, dann gibt es Ärger‘. Mein Vater lächelte ihr sanft entgegen. „Nein, natürlich nicht. Er wollte unbedingt seine Schicht in der Werkstatt antreten. Ich hole ihn um acht ab, dann hat er Schluss. Sein Chef weiß Bescheid und hat ein Auge auf ihn.“ Ich schnaubte. Wie kam er denn auf den Gedanken, jetzt noch zur Arbeit zu müssen? Das geht mir immer noch nicht in den Kopf! „Verstehe“ antwortete sie. Natürlich! SIE versteht das. Bin ich wirklich der Einzige, der das seltsam findet?! Aber auch meine Schwester schien verwirrt. „Also übernachtet er heute hier?“ „Ja“ antwortete mein Vater. „Zumindest so lange, bis es ihm wieder besser geht. Ich bin mir wegen seines Schlafplatzes aber noch recht unsicher.“ „Warum?“ fragte Alexis. „Ich meine damit nur, unsere Couch ist ziemlich bequem. Ich bin da doch auch schon oft drauf eingeschlafen.“ „Nein!“ Meine Eltern und Alexis sahen mich überrascht an. Das kann doch nicht wahr sein! Warum will denn keiner verstehen, dass er nicht allein sein sollte?! „Was, wenn er wieder verschwindet?“ fragte ich aufgebracht. „Er verhält sich doch im Moment total unberechenbar! Papa, du hast ihm doch den Vorschlag hier zu schlafen gemacht, damit jemand ein Auge auf ihn hat, oder?“ Ich sah meinen Vater entschlossen an. Er hat doch auch gemerkt, dass es eine schlechte Idee war, ihn unbeobachtet zu lassen. „Jaden hat Recht.“ Überrascht sah ich zu meiner Mutter. „Wir haben doch noch das Klappbett auf dem Dachboden, Liebling. Dein Bruder hat sich damals auch nicht beschwert, dass es unbequem wäre, als er zu Besuch war.“ Mein Vater überlegte. „Ja, du hast schon Recht. Aber dann bleibt noch die Frage, wo er schläft.“ Er sah zu mir, doch er brauchte gar nicht erst fragen. Ich nickte. In meinem Zimmer war genug Platz. Nachdem wir alles zurecht gemacht hatten, aßen wir Abendbrot. Ich wollte zwar warten, bis Yusei da wäre, aber meine Mutter sagte, es wäre vielleicht etwas zu viel für ihn. Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber ich stritt mich deswegen nicht mit ihr. Was so etwas angeht, hatte sie eigentlich meistens Recht. Kurz vor acht fuhr mein Vater los, um Yusei abzuholen. Meine Mutter bat mich oben in meinem Zimmer zu warten. Sie wollte noch einen Moment allein mit ihm sprechen. Sie ließen sich wirklich Zeit. Nach einer halben Ewigkeit klopfte es an meiner Tür. „Ja?“ fragte ich zur Bestätigung, dass sie reinkommen können. Meine Mutter öffnete lächelnd die Tür und Yusei folgte ihr. Ich musterte ihn. Sein Blick war noch immer derselbe. Leer. Ausdruckslos. Er wirkte wahnsinnig erschöpft. „Das ist Jadens Zimmer“ begann meine Mutter. „Hier ist ein Bett für dich und zwei Türen weiter ist das Bad. Du kannst deine Tasche hier abstellen.“ Ich hatte keine Ahnung, ob Yusei ihr zugehört hatte, aber er nickte zaghaft und stellte seine Tasche auf das Klappbett. Dann verließ meine Mutter mein Zimmer mit den Worten: „Gute Nacht, ihr Beiden. Und du benimmst dich, mein Spatz.“ Was hat sie denn gedacht, was ich mache? Ihn ärgern? Ich sah Yusei wieder an. Er kramte in seiner Tasche herum. „Ähm… du bist sicher müde, nicht?“ Er sah mich kurz an, antwortete aber nicht. Sein Blick war mir schon Antwort genug, denn er konnte die Augen kaum offen halten. Er holte eine kleine Tasche und Wechselsachen hervor und ging aus dem Zimmer. Kurze Zeit später kam er wieder rein, verstaute alles wieder in seiner Tasche und legte sich hin. „Gute Nacht“ sagte ich noch, ehe ich das Licht aus machte und selbst ins Bett ging. Auch ich war unglaublich müde. Aber statt gleich einzuschlafen, hörte ich seinem gleichmäßigen Atem zu. Ich wollte mich einfach vergewissern, dass er wirklich schlief. Wirklich einschlafen konnte ich selbst erst sehr spät. Immer wieder döste ich weg, schreckte aber schnell wieder hoch, um zu prüfen, ob er wirklich noch da war. Und jedes Mal stellte ich erleichtert fest, dass er friedlich neben mir schlief. Anscheinend hatte er zumindest keine Alpträume. Das war doch schon was. Aber irgendwann glitt auch ich in einen unruhigen Schlaf… Ein bekanntes und nervtötendes Geräusch drang an mein Ohr. Mein Wecker. Nicht jetzt schon! Mein Gesicht hatte ich in mein Kissen vergraben und ich versuchte das verflixte Gerät blind auszustellen. Nur noch fünf Minuten! Endlich erwischte ich es und versuchte es auszustellen. Dabei zog ich es allerdings von meinem Nachttisch und im nächsten Moment spürte ich einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. „Argh! Verdammt!“ fluchte ich. Jetzt war ich wach. Und Yusei vermutlich auch. Den Kopf reibend, setzte ich mich auf und sah neben mich. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich riss die Augen erschrocken auf. Wann ist er denn aus meinem Zimmer verschwunden? Und vor allem wohin?! Schnell schlug ich die Decke zur seine und rannte schon fast zu meiner Tür, um sie aufzureißen. Als ich jedoch auf den Gang lief, rannte ich gegen etwas. Oder besser gesagt jemanden. Ich wäre glatt vornübergekippt, hätte mein Gegenüber den Aufprall nicht abgefangen. Irgendjemand hielt mich an meinen Schultern fest. Als ich aufsah, blickte ich überrascht in diese tiefblauen Augen. Ihr Glanz war noch immer nicht wieder da, aber sie waren auch nicht mehr ganz so leer. Oder bildete ich mir das nur ein? „Yusei?“ Meine Wangen fingen wieder an zu glühen. Ich bin wirklich in ihn reingerannt. „Wo… Wo warst du denn?“ Er legte den Kopf ganz leicht schief, ehe er mir Antwortete. „Im Bad.“ Ich riss mich von dem Blau seiner Augen los und musterte ihn. Stimmt, er trug schon seine Schuluniform. Mit einem erleichterten Seufzen lehnte ich meinen Kopf gegen seine Brust. „Ich hab schon einen Schreck bekommen, als du weg warst.“ „Entschuldige.“ Wieder sah ich ihn an. Ging es ihm besser? Er ließ mich los und ging anschließend die Treppen nach unten. Ich sah ihm hinterher. Natürlich war er noch nicht wieder der Alte, aber das war doch schon ein Anfang, oder? Ich machte mich ebenfalls fertig und ging nach unten, wo mein Vater zusammen mit Yusei den Tisch deckte. Anscheinend sind sie eben fertig geworden. „Guten Morgen, Jaden“ begrüßte mich mein Vater zufrieden. „Setz dich, dann können wir anfangen. Deine Mutter ist schon zur Arbeit gefahren, aber Alexis kommt auch gleich.“ Ich nahm Platz und schielte zu Yusei, der sich neben mich setzte. Was auch immer ich vorhin in seinen Augen gesehen habe, jetzt war es wieder weg. Er saß nur stumm da und wartete. Auf was, das wusste ich nicht. Sein Blick war gesenkt und lag in der Ferne. Alexis setzte sich zu uns und wir fingen an zu essen. Bis auf Yusei. „Willst du nicht auch was essen?“ fragte ihn mein Vater. Er schien ihn schon wieder nicht zu hören, also stupste ich ihn kurz an. „Hm?“ Anscheinend riss ihn das aus seinen Gedanken. „Er hat gefragt, ob du nicht auch was essen willst, Yusei.“ Er nickte kurz und fing auch an, endlich etwas zu sich zu nehmen. Nach dem Frühstück setzte mein Vater uns auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule ab. Ich bat Alexis, ein Auge auf Yusei zu haben, schließlich wusste niemand, ob er nicht plötzlich wieder verschwinden würde. Es ging ihm noch immer nicht gut. Alexis sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und lächelte. Normalerweise teilte ich ihren Optimismus, aber ich hatte das Gefühl noch nicht vergessen, als er plötzlich unauffindbar war. Diese Angst, ob ihm etwas passiert wäre. * Die Sicht von Alexis * In der ersten Stunde hatten wir Musik. Wie jeden Mittwoch. Yusei setzte sich, wie immer, auf seinen Platz etwas abseits von den anderen Schülern. Direkt neben Aki, die augenscheinlich versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber natürlich klappte das nicht, denn er war wieder in seiner eigenen Welt. Sensei Fontaine betrat den Raum und alle Schüler verstummten allmählig. Die Weihnachtsaufführung rückte näher und wir sollten zu diesem Anlass fünf Musikstücke einstudieren und aufführen. Wir hatten uns in mehrere Gruppen aufgeteilt. Chorsänger, Streicher, Bläser und die Technik. Die Solisten übten mit Sensei Fontaine an ihrem Klavier. Und wie jeden Mittwoch hatte ich angenommen, dass Yusei nach der kurzen Anwesenheitsprüfung und der darauffolgenden Ansprache von Sensei Fontaine zu Mizuki und Daichi gehen würde, die für die Technik verantwortlich waren. Aber stattdessen beendete unsere Lehrerin ihre Ansprache mit dem Satz: „Ach, und noch etwas. Da ich während der Aufführung dirigieren muss, wird Fudo-kun mich am Klavier ablösen. Jetzt stellt euch für das erste Musikstück auf.“ Nicht nur ich sah unseren schwarzhaarigen Mitschüler überrascht an. Er spielt also wirklich noch? Wann hat er das denn mit Sensei Fontaine abgesprochen? Er ignorierte die neugierigen Blicke und starrte nur ins Leere. Ob er unsere Lehrerin überhaupt gehört hat? Was ist nur mit ihm los? Wir stellten uns alle für das erste Lied auf und im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Sensei Fontaine zu Yusei ging, um mit ihm zu reden. Kurz darauf ging er auf das Klavier zu. Als wir alle an unseren Plätzen waren, beobachteten einige Schüler ihn neugierig. Wir waren gespannt darauf, ob er wirklich spielen kann. Ein Junge aus dem zweiten Jahrgang spielte das Lied ‚Little Drummer Boy‘ auf dem Schlagzeug an, dann stimmten die beiden Cellisten ein. Als nächstes folgten die Chorsänger und dann begann Yusei damit, sie auf dem Klavier zu begleiten. Tatsächlich. Er konnte noch immer spielen. Aki stand neben mir und beobachtete ihn verträumt. Ich stupste sie mit dem Ellbogen an, denn eigentlich sollte sie auch mitsingen. Schnell riss sie sich aus ihrem Tagtraum und stimmte mit ein. Ich versuchte mir ein Kichern zu verkneifen, dabei verpasste ich fast meinen Einsatz. Ich und Kurochi, ein Junge aus der 3B, waren die beiden Solisten in diesem Stück. Nach dem Lied hatten wir eine kurze Pause und Aki huschte an mir vorbei, zu Yusei, der immer noch am Klavier saß. Regungslos. Ich seufzte und ging ebenfalls auf die beiden zu. „Das war toll, Yusei!“ sagte Aki ganz aufgeregt. „Ich wusste gar nicht, dass du immer noch Klavier spielst.“ Keine Reaktion. „Hallo, Erde an Yusei“ sagte sie während sie mit ihrer Hand vor seinem Gesicht rumwedelte. „Hm?“ Endlich reagierte er und sah Aki ausdruckslos an. „Kannst du noch etwas spielen?“ fragte sie dann mit einem Lächeln. Ich sah sie genervt an. „Jetzt bedräng ihn doch nicht so, schließlich-“ Aber weiter kam ich gar nicht. Yusei spielte tatsächlich ein Lied an. Irgendwoher kannte ich es, aber ich kam nicht drauf. Die Melodie war wunderschön und ich bekam eine leichte Gänsehaut. Die Geräusche um uns herum erstarben. Plötzlich stoppte die Musik und Yusei hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf und stöhnte leise auf. „Was ist denn los?“ fragte ich besorgt. Er schüttelte nur den Kopf. Keine Ahnung ob er mir damit antworten wollte, oder ob er den Schmerz dadurch abzuschütteln versuchte. Langsam entspannte sich sein Gesicht wieder und er nahm die Hand herunter. „Das klang wirklich gut, wir könnten das Lied mit einbauen“ sagte Sensei Fontaine, die plötzlich hinter uns auftauchte und zufrieden lächelte. „Hast du die Noten dafür zu Hause?“ Yusei starrte wieder nur auf die Tasten. Es dauerte etwas, ehe er mit einem leisen „Ja“ antwortete. Sie nickte zufrieden und bat ihn, die Noten morgen mitzubringen. Nach dem Pausenklingeln unterhielt ich mich noch mit Aki und Mizuki, die wissen wollten, was denn mit Yusei los sei. Aber ich wusste es doch auch nicht wirklich. Meine Mutter hatte mir zwar von dem Unfall und der Verhandlung erzählt, weswegen er zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder nach Osaka gefahren ist, aber mehr wusste ich auch nicht. Und das konnte und wollte ich ihnen auch nicht sagen. „Mal was anderes“ sagte Aki. „Das Lied, was er vorhin gespielt hat. War das nicht das aus dem Video?“ Ich sah sie verwirrt an. Ganz folgen konnte ich ihr nicht. „Hm? Welches Video?“ Sie rollte mit den Augen. „Wie viele Videos kennen wir beide denn, in denen er Klavier spielt?“ Ach darauf wollte sie hinaus. Stimmt, jetzt wo ich darüber nachdenke. Es war wirklich dasselbe Lied. „Wo steckt er eigentlich?“ fragte Mizuki plötzlich. „Was?“ ich sah mich um. Eben war er doch noch hier. Oh nein! Jaden sagte doch, ich soll ein Auge auf ihn haben, weil er in Osaka auch plötzlich verschwunden ist! Wo zum Teufel steckt er denn?! Ganz ruhig, Alexis. Denk nach. Wir haben jetzt eine Freistunde. Wo ist er denn sonst immer so? Am Spielfeld. Die frische Herbstluft wehte unangenehm kalt die Blätter von den Bäumen, aber der Himmel war ganz klar. Nach einer halben Stunde hatte ich sowohl die Tribünen, als auch den Rest des Außengeländes abgesucht. Von Yusei war keine Spur. Wo könnte er denn sonst noch stecken? Er hatte doch Kopfschmerzen. Vielleicht ist er auf die Krankenstation gegangen. Ich setzte mich in Bewegung. Als ich angekommen war, fragte ich Martha ob sie Yusei gesehen hätte. „Nein, tut mir leid. Hier ist er nicht. Ich habe nur ein Mädchen mit einem Schwindelanfall da hinten im Bett liegen, sonst habe ich heute noch niemanden gesehen.“ Ich seufzte verzweifelt und bedankte mich. Ziellos schlenderte ich durch die Gänge. Wo könnte er denn sonst noch stecken? Nicht, dass er vielleicht doch wieder irgendwo hin verschwunden ist. Meine Beine trugen mich durch das Schulhaus, während ich überlegte, wo er stecken könnte und schließlich stand ich vor der Bibliothek. Stimmt. Hier hielt er sich auch manchmal auf. Ich ging an den Regalreihen mit den zahllosen Büchern vorbei und hielt nach ihm Ausschau. Schließlich entdeckte ich ihn bei den Tischen im hinteren Teil. Er brütete über einem Blatt Papier und schien etwas zu schreiben. Erleichtert atmete ich auf. Ich glaube, Jaden hätte mir den Kopf abgerissen, wenn er wieder verschwunden wäre. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke… Er macht sich wirklich verdammt viele Sorgen um ihn. Normalerweise ist er eher gelassen und zuversichtlich. Das ist oft ziemlich nervig. Aber bei Yusei verhält er sich anders. Naja, hat vermutlich einfach mit dem Chaos von gestern zu tun. „Hey, ich habe dich schon gesucht. Warst du die ganze Zeit hier?“ fragte ich, als ich bei ihm angekommen war. Keine Reaktion. Warum ignoriert er mich eigentlich schon den ganzen Tag? Genervt stützte ich mir die Hände in die Hüfte. „Yusei? Ich rede mit dir!“ Wieder keine Antwort. Also ehrlich! Ich will ihm doch auch nur helfen. Schließlich mache ich mir genauso Sorgen. Dann sah ich auf den Zettel auf dem Tisch, der anscheinend seine gesamte Aufmerksamkeit einnahm. Verwundert stützte ich mich am Tisch ab und sah das Blatt Papier genauer an. Er schrieb fein säuberlich einige Noten auf. Neben ihm lag bereits ein kleiner Stapel beschriebener Blätter. Plötzlich zog er die Augenbrauen zusammen, spannte seinen Kiefer an und rieb sich mit den Fingern seiner linken Hand seine Nasenwurzel. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Es sah aus, als hätte er wieder schmerzen. „Alles in Ordnung? Vielleicht solltest du mal auf die Krankenstation.“ Wieder schüttelte er langsam den Kopf. Es war wie im Musikunterricht. Nach kurzer Zeit entspannte sich sein Gesicht wieder, und er sah komplett ausdruckslos aus. Dann widmete er sich wieder den Blättern vor ihm. Hat er überhaupt mitbekommen, dass ich neben ihm stehe? Die Schulklingel läutete zum Ende unserer Freistunde und Yusei packte seine Sachen zusammen. Als er aufstand, sah er mich an. Verdutzt erwiderte ich seinen Blick. Ich glaube, das war das erste Mal, seit er wieder zurück ist, dass er mich direkt ansah. Doch dann ging er einfach an mir vorbei, Richtung Klassenzimmer, und ließ mich hier stehen. Als ich selbst das Zimmer betrat, sah ich ihn auf seinem Platz am Fenster. Er starrte nur hinaus und ignorierte auch den Rest unserer Mitschüler. Crow fragte mich schon, was mit ihm los sei, aber ich schüttelte lediglich den Kopf. Ich hatte doch auch keine Ahnung. Mein Platz war in der ersten Reihe, recht nah an der Wand. Im Unterricht drehte ich ab und zu meinen Kopf leicht zu ihm. Es sah nicht wirklich so aus, als würde er dem Unterricht folgen. Die meiste Zeit war sein Blick aus dem Fenster gerichtet. Aber als Sensei Flannigan ihn im Physikunterricht aufrief, weil er wieder aus dem Fenster sah, konnte er ihre Frage beantworten. Etwas ähnliches passierte auch in Geschichte bei Sensei Banner. Ich hätte schwören können, er würde gar nicht zuhören, aber er konnte jede Frage beantworten, die ihm gestellt wurde. Als es endlich zur Mittagspause klingelte, gingen wir, wie üblich, zu unserem Platz auf den Tribünen. Yusei folgte uns wortlos. * Die Sicht von Jaden * In meiner Klasse wurde ich von Jim und Daichi gefragt, ob es mir wieder besser gehen würde. Im ersten Moment war ich etwas verwirrt, aber Alexis muss ihnen gesagt haben, ich wäre in den letzten zwei Tagen krank gewesen. Ich bestätigte ihnen einfach, dass ich wieder topfit wäre. Der Unterricht war wirklich unsagbar langweilig, so wie immer. Ich sehnte nur das Klingeln zur Mittagspause herbei und lief dann zu unserem üblichen Treffpunkt. Ich war der letzte, der dazu kam. Jack, Crow, Alexis und Yusei waren schon da, und Carly und Aki kamen kurz vor mir an. Als ich dazu stieß, begrüßten mich alle und fragten ebenfalls, ob ich wieder fit wäre. Alexis lächelte nur leicht. Ob sie sich wohl auch eine Ausrede für Yusei einfallen lassen hat? „Hey Yusei, wie war es eigentlich in Osaka? Was hast du da überhaupt gemacht?“ fragte Crow plötzlich. Mein Herz sackte mir in die Hose. Ich sah Alexis scharf an, aber sie wich meinem Blick aus. Hat sie ihnen ernsthaft die Wahrheit gesagt?! „Ich habe ein paar alte Freunde besucht“ antwortete Yusei nur und holte sein Mittagessen aus der Tasche. „Krass. Und dafür haben dich deine Eltern zwei Tage von der Schule befreit?“ Oh je, ich sollte das Thema schnell wechseln! „Hey Jungs, am Sonntag ist übrigens das nächste Spiel. Wir sollten uns ranhalten. Wir haben bis dahin nur noch zwei Trainingseinheiten!“ Crow sah mich mürrisch an. „Ja, ja, schon gut. Wir sind in verdammt guter Form, Jaden. Das wird schon klappen.“ „Mit der Einstellung können wir gleich aufgeben“ sagte Jack und sah seinen Freund herausfordernd an. „Ts. Ach komm schon! Natürlich strenge ich mich bei Training an, aber ich hab doch recht!“ „Das ist eure letzte Chance, um in die Regionalmeisterschaft aufgenommen zu werden, oder?“ fragte Carly. Jack nickte. „Ihr schafft das schon. Ihr habt euch so angestrengt!“ sagte Aki fröhlich. Crow fühlte sich eindeutig bestätigt und verschränkte grinsend die Arme vor der Brust. „Mein Reden!“ Die restliche Pause unterhielten wir uns über das kommende Spiel und den Unterricht. Yusei saß nur teilnahmslos dabei. Als es Zeit wurde in das Schulgebäude zurück zu gehen, nahm ich Alexis kurz beiseite, sodass wir mit etwas Abstand hinter den anderen liefen. „Ist das dein Ernst?“ fragte ich leise, aber aufgebracht. „Du hast ihnen erzählt, dass er in Osaka war?“ Sie funkelte mich wütend an. „Ja, aber ich habe nur gesagt, dass er dort einen Termin in seiner alten Schule hätte. Fändest du es nicht etwas auffällig, wenn ihr zur selben Zeit krank geworden und genesen wärt?!“ Damit nahm sie mir etwas den Wind aus den Segeln. Ich wusste, sie hatte recht, aber hätte sie sich nicht irgendetwas anderes ausdenken können? Der restliche Unterricht zog sich wie Kaugummi und ich freute mich schon wahnsinnig auf das Training. Ich war nicht sicher, wie Yusei spielen würde. Oder wie er es schaffen sollte die anderen zu trainieren, wenn er so drauf war. Man hatte noch immer den Eindruck, als würde er vollkommen apathisch durch den Tag wandern. Jack und Crow hatten schon aufgegeben mit Yusei darüber sprechen zu wollen. Stattdessen fragten sie mich aus. Ich erzählte ihnen aber, dass es nicht meine Entscheidung wäre es ihnen anzuvertrauen. Und, dass es ihm bestimmt bald besser gehen würde. In Gedanken fügte ich allerdings ein ‚Hoffentlich‘ hinzu. Erstaunlicherweise lief das Training relativ normal ab. Klar, Yusei zeigte noch immer keine Gefühlsregung, aber er trainierte unsere Mannschaft, ließ uns einige Übungen durchlaufen, und spielte auch beim Übungsspiel mit. Und das wirklich gut. Zuhause angekommen, machte ich mich frisch und setzte mich anschließend an meine Hausaufgaben. Dieses Mal im Esszimmer, denn Alexis wollte mir in Mathematik helfen. Wir hatten ein neues Thema angefangen, aber ganz dahinter gestiegen bin ich noch nicht. „Wo ist eigentlich Yusei? Der hat doch auch mehr als genug Hausaufgaben auf“ fragte sie. „Der duscht noch. Er hat gesagt, er kommt nach. Aber sag mal… Hat er sich heute ungewöhnlich verhalten?“ Sie zog eine Augenbraue nach oben. „Du meinst ungewöhnlicher, als sonst auch in letzter Zeit? Nein. Obwohl…“ sie dachte nach und ich wartete gespannt. „Wusstest du, dass er Klavier spielt?“ Ich blinzelte sie überrascht an. „Ja, warum?“ „Naja, Sensei Fontaine meinte, er würde sie für die Weihnachtsaufführung am Klavier ablösen.“ „Das ist doch toll!“ sagte ich fröhlich. Irgendwie hatte ich Angst, er würde es wieder aufgeben wollen. Ich hatte das Gefühl, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie beließ es dabei und wir widmeten uns wieder den Matheaufgaben. Meine Mutter betrat den Raum, begrüßte uns herzlich und wuselte dann in der angrenzenden Küche herum. Yusei kam zu uns, mit zwei Heften, einem Geschichtsbuch und einigen Stiften beladen, setzte sich neben mich und schlug still seine Geschichtshausaufgaben auf. Ich widmete mich wieder meinen Matheaufgaben. Ich hatte ja in etwa verstanden, was mir Alexis eben erklärt hatte, aber die Lösung wollte trotzdem nicht hinhauen! Ich gab ein leises Knurren von mir und suchte nach irgendeinem Fehler, den ich gemacht haben könnte, aber ich fand einfach keinen. Ich hatte doch alles so gemacht, wie Alexis gesagt hatte! „Du hast einen Umrechnungsfehler gemacht“ sagte Yusei neben mir plötzlich leise. Überrascht sah ich ihn an. Er hatte das Buch geschlossen und sah meine Aufgaben durch. Ist er schon fertig mit Geschichte? Alexis hing doch auch immer noch dran, und sie hat eher angefangen als er. Sein Finger zeigte zu der Stelle, an dem ich den Fehler anscheinend gemacht habe. „Du musst hier in Millimetern rechnen, nicht Zentimetern, sonst verfälschst du das Ergebnis.“ Hm. Ergibt Sinn. Das hatte ich gar nicht bemerkt. „Danke“ sagte ich grinsend. Er deutete ein Nicken an und schlug das nächste Heft vor ihm auf. Aus diesem holte er einige Zettel und begann irgendwas zu schreiben. Ich lächelte vor mich hin. So ganz abgeschottet hatte er sich nicht, wie ich anfangs noch dachte. Das beruhigte mich. Eine Weile arbeiteten wir still vor uns hin. Alexis war auch irgendwann fertig mit ihren Aufgaben und half mir wieder, doch jetzt verstand ich alles. Ein leiser Schmerzenslaut ließ mich aufblicken. Yusei hielt sich die Hände an die Schläfen und massierte sie. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“ fragte Alexis besorgt. Was, wieder? Hatte er das heute schonmal? „Alles in Ordnung?“ fragte meine Mutter, die gerade aus der Küche kam. Alexis drehte sich zu ihr. „Das ist heute schon das dritte Mal, dass er plötzlich solche Kopfschmerzen bekommt.“ „Und wann war das immer?“ fragte meine Mutter nach. Auch sie schien besorgt zu sein. „Hm. Das erste Mal im Musikunterricht, als er Klavier gespielt hat, dann in der Bibliothek, als er irgendwelche Noten geschrieben hat.“ Alexis sah zu Yusei, der noch immer regungslos dasaß, und dann zu den Blättern vor ihm. „Genau die“ fügte sie hinzu und deutete auf die Zettel vor Yusei. Auch mein Blick wanderte zu ihnen. Es waren Notenblätter. Das hatte er wohl gerade die ganze Zeit geschrieben. „Verstehe“ sagte meine Mutter und musterte Yusei besorgt. Doch er schien sich wieder gefangen zu haben, denn er ließ die Hände wieder sinken. Sein Blick war wieder so leer. Was hat das zu bedeuten? „Was schreibst du da eigentlich auf?“ fragte ich und versuchte ihn so aus seiner Trance zu holen. Es schien geklappt zu haben. Zumindest sah er mich wieder an, aber ganz gehört hatte er meine Frage wohl nicht. „Was sind das für Noten?“ fragte ich ihn deshalb noch einmal. Er sah zu dem kleinen Papierstapel vor ihm. „Das ist das Lied von meiner Mutter“ sagte er leise. „Sensei Fontaine wollte die Noten dafür haben, aber ich will ihr die Originale nicht mitgeben.“ „Und da hast du sie nochmal von Hand geschrieben?“ fragte Alexis erstaunt. „Hast du das aus dem Kopf gemacht?“ Yusei nickte und schob die Blätter ordentlich zusammen, um sie in seinem Heft zu verstauen. „Ich lege mich kurz hin“ sagte er und stand auf. Als er nach oben ging, rief Alexis ihm noch „Gute Besserung“ hinterher und verschwand dann ebenfalls in ihrem Zimmer. Ich sah besorgt auf mein Heft. Ob diese Kopfschmerzen etwas mit dem Lied zu tun hatten? Oder war das nur ein Zufall und er hatte einfach Migräne*? Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken und wuschelte mir durch die Haare. „Mach dir keine Sorgen, mein Spatz. Nur wegen Kopfschmerzen, würde ich mir keine Gedanken machen. Vielleicht ist es nur das Wetter.“ Ich sah sie an, doch ich wusste, auch sie machte sich Sorgen. In den nächsten Tagen besserte Yuseis Zustand sich nicht wirklich. Zumindest sein Seelischer. Er schlief in den Nächten normal und hatte, soweit ich das mitbekommen hatte, auch keine Alpträume mehr. Zu den Mahlzeiten aß er normal, manchmal auch erst nach Aufforderung, und so wie mir Alexis erzählt hatte, verfolgte er auch den Unterricht. Alles in allem wäre das nicht besorgniserregend, aber er verhielt sich irgendwie wie eine Maschine. Er sprach nur, wenn man ihm eine Frage stellte, sonst war er still und sein Blick lag die meiste Zeit des Tages in der Ferne. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben sollte. Er funktionierte einfach nur noch. Kapitel 15: Ein Wochenende voller Überraschungen ------------------------------------------------ * Die Sicht von Carly * Ich saß im Medienraum und versuchte ein genervtes Stöhnen zu unterdrücken. Sensei Banner war unser Ansprechpartner für die Schülerzeitung, bei der ich Mitglied war und quasselte fast die gesamte Zeit über bevorzugte Schriftarten und ihre Verwendung als Ausdrucksmittel. Es war so sterbenslangweilig. Stattdessen hätte ich den Artikel über Essstörungen zu Ende schreiben können, zu dem er mich gezwungen hat, aber nein. Hier saßen wir nun, Freitagnachmittag und hörten uns seinen blöden Vortrag an. Nach dem Klubtreffen ging ich zum Fußballfeld und sah den Jungs vom Feldrand aus beim restlichen Training zu. Jack und ich wollten den angebrochenen Tag gemeinsam verbringen, also wartete ich geduldig auf ihn. Es störte mich auch nicht, denn ich liebte es, ihm beim Training zuzusehen. Vielleicht lag das an dem gesellschaftlichen Phänomen, dass Sportler generell eine gewisse Anziehungskraft haben, vielleicht auch nur an der Tatsache, dass er in seinen Fußballklamotten eine so gute Figur machte. Vielleicht wäre das mal eine Idee für einen Artikel. Ich lächelte nur vor mich hin, bis mein Blick von Jack zu Yusei schweifte. Besorgt musterte ich ihn. Er wirkte irgendwie immer noch ganz verloren und in sich gekehrt. Seit Tagen redet er nicht mehr wirklich mit uns, aber keiner traute sich bisher etwas zu sagen. Langsam machte nicht nur ich mir Sorgen. Auch Jack, Crow und Aki. Außerdem haben sich die Aussagen von Alexis und Yusei nicht wirklich gedeckt, was sein Fehlen am Anfang der Woche betrifft. Alexis sagte, er hätte einen Termin in seiner alten Schule in Osaka. Was genau, wusste sie auch nicht. Aber was könnte man schon für Termine nach einem Schulwechsel haben? Und selbst wenn, warum dann gleich zwei Tage? Außerdem hätte sich da sein Vater drum kümmern können. Moment. Was, wenn es um seine Mutter ging? Das würde doch sein Verhalten zumindest erklären. Wenigstens ein bisschen. In dem Artikel stand doch, sie wäre bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er deswegen irgendwie nach Osaka musste. Das würde zumindest mehr Sinn ergeben. Ob ich da mal nachforschen sollte? Ach, zum Teufel mit meiner Neugier! Beim letzten Mal war er deswegen auch sauer. Andererseits will ich ihm doch nur helfen. Ich will nur verstehen, warum er sich so merkwürdig verhält. Wenn wir wüssten was los ist, wenn wir Yusei verstehen könnten, dann könnten wir ihm doch auch besser helfen! So muss er doch alles mit sich selbst ausmachen. Naja, vielleicht hilft ihm dabei auch Jaden. Die beiden sind ja sowas wie beste Freunde geworden in letzter Zeit. Jaden will mir ja auch nicht sagen, was los ist. Ich bin mir ganz sicher, er weiß mehr über die ganze Sache als er zugeben will. Es ist schon ein ziemlich merkwürdiger Zufall, dass er so lange krank war, wie Yusei in Osaka war… Plötzlich spürte ich zwei starke Arme, die mich von hinten umarmten. Ich erschreckte mich fürchterlich. Jack lachte amüsiert. „Entschuldige, du warst so in Gedanken, da konnte ich nicht widerstehen.“ Ich drehte mich in seinen Armen um und sah in diese wundervollen violetten Augen. Er war ein ganzes Stück größer als ich, also musste ich den Kopf heben. „Idiot“ sagte ich lächelnd. Er gab mir einen sanften Kuss und lächelte mich ebenfalls an. Dieses sanfte Lächeln bekam nur ich zu sehen, und mein Herz machte selbst nach den fast drei Jahren Beziehung noch immer einen Satz, wenn ich es sah. Nach außen gab er sich immer grimmig, manchmal ziemlich arrogant. Außerdem war er ein kleiner Choleriker, wenn es um mich ging. Das ist teilweise ziemlich anstrengend. Aber wenn wir allein waren, dann schenkte er mir immer wieder dieses sanfte Lächeln. Ich liebe ihn wirklich. „Ich geh mich schnell umziehen, dann können wir los“ sagte er und löste die Umarmung. Ich nickte und sah ihm verträumt hinterher. „Oh man, meine Beine“ beschwerte sich Jack als wir auf dem Weg zu seinem Motorrad waren. „Jetzt mal ehrlich, Yusei benimmt sich zwar total seltsam, aber beim Training nimmt er uns immer noch ganz schön hart ran. Ich hoffe bloß, dass wir am Sonntag gewinnen, sonst war das alles umsonst.“ „Jetzt sei doch nicht so pessimistisch“ motzte Crow. „Wir werden schon gewinnen, das hab ich doch gesagt! Aber was Yusei betrifft, hast du Recht. Das ist langsam nicht mehr normal. Ich frag mich ernsthaft, was mit dem Typen los ist. Letzte Woche war er total gut drauf und seit Mittwoch ist er zum Roboter mutiert.“ Er verdrehte die Augen. Ich sah ihn verärgert an. „Das ist nicht lustig! Ich bin sicher, bei ihm liegt zurzeit was im Argen, aber er redet nicht drüber.“ Crow musterte mich neugierig. „Wieso? Was weißt du denn?“ Oh je, verplappert. Ich muss mich da irgendwie rausreden. Nur wie? „Das sieht doch ein Blinder, du Krähe“ sprang Jack für mich ein. Dafür erntete er von Crow nur einen ziemlich angepissten Blick, ehe er tief durchatmete und sich wieder an mich richtete. „Jetzt mal im Ernst, ich weiß, dass bei ihm irgendwas nicht stimmt, und langsam mache ich mir auch Sorgen, aber wen sollten wir schon fragen? Ich war schon zwei Mal bei ihm zum Vorrichten, aber seine Eltern habe ich noch nicht gesehen, obwohl es beim letzten Mal echt spät wurde. Ich hab irgendwie das Gefühl, die arbeiten außerhalb. Die können wir also nicht fragen. Und Jaden rückt auch nicht mit der Sprache raus, obwohl er ganz sicher was weiß.“ „Und… was, wenn wir doch was rausfinden?“ murmelte ich. Die beiden sahen mich nur fragend an. „Naja, wenn wir die Möglichkeit hätten, etwas rauszufinden, aber quasi hinter Yuseis Rücken…“ Jack musterte mich stumm. Er ahnt vermutlich, was ich damit sagen will. „Wenn wir ihm so helfen könnten, warum nicht?“ sagte Crow schnell. „Klar, wäre Yusei im ersten Moment vermutlich angepisst, aber dann zeigt er wenigstens mal ne Gefühlsregung! Außerdem könnten wir ihm dann bei was auch immer helfen. Also, was hast du vor?“ Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Warum nur, habe ich diesen Vorschlag eben gemacht? Das ist doch verwerflich… Oder doch nicht? * Die Sicht von Jaden * Ich gähnte herzhaft und rieb mir die Augen, um den Schlaf loszuwerden. Ich hatte keine Lust, mein warmes Bett zu verlassen, aber ich hatte meiner Mutter versprochen, heute mit ins Krankenhaus zu fahren. Und ehrlich gesagt wollte ich heute auch unbedingt mitkommen. Auf dem Weg dahin wollten wir Yusei in der Werkstatt absetzen. Samstags fing er um zehn an. Ich zögerte noch einen Moment, ehe ich endlich aufstand und bereute es gleich wieder. Unter meiner Decke war es weitaus gemütlicher, und auch wärmer. Yusei war natürlich schon wach und vermutlich irgendwo im Haus. Die Angst, dass er wieder verschwinden könnte, flaute von Tag zu Tag mehr ab. Natürlich machte ich mir nach wie vor Sorgen, aber seit dieser Nacht nach der Gerichtsverhandlung hat sich das nie wiederholt, und auch ich wurde dadurch wieder ruhiger. Träge ging ich ins Bad und anschließend runter in die Küche, wo meine Mutter anscheinend gerade mit Yusei sprach. Als ich den Raum betrat, hielt sie aber inne. „Guten Morgen, Jaden“ begrüßte sie mich dann überschwänglich. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du schon so früh wach bist.“ So ganz wach war ich immer noch nicht, aber ich dachte, ich wäre schon ziemlich spät aufgestanden. „Was meinst du?“ fragte ich und musste gähnen. „Ich fahre doch heute mit ins Krankenhaus.“ „Wir fahren doch erst viertel vor zehn hier los, mein Spatz.“ Ich sah meine Mutter an, dann wanderte mein Blick zur Wanduhr… Es war erst halb neun. Ich hätte noch in meinem Bett bleiben können! „Na, jetzt wo du schon mal wach bist, können wir auch gleich frühstücken!“ schlug meine Mutter fröhlich vor. Nach dem Frühstück ging ich wieder hoch in mein Zimmer, um die restliche Zeit irgendwie totzuschlagen. Mittlerweile war ich wach und startete meinen Laptop. Jetzt, wo ich noch etwas Zeit habe, kann ich mich ja auf das Spiel morgen vorbereiten. Ich hatte leider noch immer keinen Plan, welche Strategie wir morgen verfolgen sollten. Yusei sah sich doch auch immer ein paar Videos unserer Gegner vor einem Spiel an. Vielleicht fällt mir ja etwas Geeignetes ein. Nach ein paar Klicks fand ich einen Clip von einer Aufnahme ihres letzten Qualifikationsspiels. Sie waren ziemlich gut, spielten wirklich in einer Einheit zusammen. Ihre Strategie schien ziemlich ausgewogen zu sein, aber mir fiel keine geeignete Gegenstrategie ein. Vermutlich ist unsere Standardaufstellung die beste Wahl. „Ist das die Mannschaft, gegen die wir morgen antreten?“ Erschrocken fuhr ich herum und sah Yusei, der über meine Schulter den Bildschirm betrachtete. Wie lange stand er denn schon da? Ich war wohl so versunken, dass ich ihn nicht habe kommen hören. „J-Ja“ antwortete ich etwas überrumpelt. Immer noch auf dem Bildschirm blickend, sprach er weiter. „Ihre Verteidigung ist ziemlich stark, aber der Angriff ist eher mittelmäßig. Du solltest Crow aus der Verteidigung nehmen und im Sturm einsetzen, am besten auf der linken Seite. Jack und Daichi sollten das offensive Mittelfeld übernehmen und Gendo kann im defensiven Mittelfeld bleiben. Die Verteidigung würde ich an deiner Stelle vorsichtshalber bei vier Spielern belassen.“ „Guter Plan“ murmelte ich nur und blinzelte ihn noch immer verdutzt an. So viele Sätze am Stück hat er nicht mal während des Trainings von sich gegeben. Er sah mich kurz an und irgendwas sah ich wieder in seinen Augen, aber ich konnte es nicht definieren. „Wir müssen langsam los“ murmelte er noch, wandte sich ab und verließ mein Zimmer. Ich starrte noch einen Augenblick die Tür an, dann musste ich irgendwie grinsen. Nachdem wir Yusei absetzten, fuhren wir anschließend ins Krankenhaus. „Danke, dass du mitgekommen bist, mein Spatz. Das wird ihm wirklich viel bedeuten“ sagte meine Mutter zufrieden. Ich grinste sie an. „Klar doch! Ich freu mich für Naoya! Das will ich doch nicht verpassen, schließlich ist das ein großer Tag für ihn!“ Auf der Pädiatrie angekommen, lief ich gezielt in den abgetrennten Teil der Station zu seinem Zimmer, während meine Mutter im Schwesternzimmer noch etwas vorbereitete. Kurz vorher hielt ich noch inne. Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr besucht, weil ich einfach keine Zeit hatte. Hoffentlich ist er nicht sauer. Er liegt hier schon seit über einem Jahr und ich habe ihn in dem Praktikum kennengelernt, als ich noch im ersten Jahrgang der Oberstufe war. Er ist ein verschrobener Knirps von neun Jahren. Anfangs war er die meiste Zeit ziemlich traurig. Ich habe ihn damals aufgemuntert, und war während seiner vielen Behandlungen oft an seiner Seite, wenn seine Eltern keine Zeit hatten. Irgendwann ist er für mich wie ein kleiner Bruder geworden. Einmal noch atmete ich tief durch und öffnete mit einem Lächeln die Tür. Es dauerte etwas, ehe der blasse Junge in dem Bett realisierte, dass ich in seinem Zimmer stand. Doch dann schlug er die Decke zur Seite und stürmte auf mich zu, um mich in eine herzliche Umarmung zu ziehen. „Jaden!“ rief er glücklich. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Hey, nicht so stürmisch. Du hast mehr Kraft als ich dachte, Kleiner!“ Er löste sich von mir und funkelte mir freudig entgegen. „Du warst schon echt lange nicht mehr hier! Ich bin richtig stark geworden! Frau Yuki hat gesagt, dass ich heute nach Hause darf, wenn der Doktor mich untersucht hat. Ist das nicht toll?“ Mein Grinsen wurde breiter und ich nickte. Dann stürmte er zum Schreibtisch und kramte sich durch einen Stapel Papier, ehe er anscheinend etwas gefunden hat. „Schau mal“ sagte er und reichte mir ein Bild. „Das hab ich selbst gemalt. Das ist für dich! Ich hab schon Angst gehabt, dass ich dir das nicht mehr geben kann, wenn ich heute hier raus darf.“ Ich betrachtete das kleine Kunstwerk. Ich weiß ja nicht wie ich früher gemalt habe, aber das was er gemacht hat, schaffe ich nicht mal heute. „Wow, cool. Danke Naoya!“ „Das da bin ich“ sagte er und zeigte auf einen Jungen in einem Bett. „Und das bist du.“ Mein Abbild hielt seine Hand. Ich lächelte. „Und wer sind die anderen Leute?“ „Das da ist Frau Yuki und das Doktor Yamada. Und das hier ist Clara.“ Beim letzten Satz erstarb sein Lächeln, und er sah traurig auf das Bild. Ich seufzte und strich ihm durch sein dünnes, kurzes Haar. „Hey, sei nicht traurig, Kleiner. Sie würde sich bestimmt auch freuen, dass du heute nach Hause darfst. Und vor allem würde sie nicht wollen, dass du an so einem Tag ein trauriges Gesicht ziehst.“ Er nickte und setzte sich auf sein Bett. Clara wurde etwa zum gleichen Zeitpunkt hier eingeliefert wie Naoya. Sie war immer verdammt fröhlich, zuversichtlich und hatte generell eine positivere Ausstrahlung als mein kleiner Freund. Doch beide hatten die gleiche Diagnose: Leukämie. Aber während bei Naoya die Chemo und die Strahlentherapie angeschlagen haben, sah es bei Clara nicht so gut aus. Sie wurde immer schwächer und vor ein paar Monaten, in den Sommerferien, ist sie gestorben. Der Kleine war am Boden zerstört. Sie haben sich etwa ein Jahr lang ein Zimmer geteilt und waren die besten Freunde. Meine Mutter und mich hat das auch ziemlich getroffen. Sie war ein ziemlich optimistisches kleines Mädchen und war sich ganz sicher, dass sie und Naoya nach den Behandlungen auf jeden Fall auf dieselbe Schule gehen und beste Freunde bleiben würden. Es hat ihm das Herz gebrochen, als er realisierte, dass die beiden keine gemeinsame Zukunft haben werden. Ich habe den Kleinen oft in dieser schweren Zeit besucht. „Du hast recht“ riss er mich plötzlich aus meinen Gedanken. „Sie wäre bestimmt total wütend“ sagte er mit dem Ansatz eines Lächelns. Ich lachte. „Ja, weißt du was sie dann gesagt hätte?“ Er sah mich abwartend an und ich zog eine Grimasse. „Sei nicht so eine Heulsuse. Du siehst doof aus, wenn du so traurig guckst. Ich heul hier auch nicht rum!“ alberte ich mit verstellter Stimme herum, um sie nachzuahmen. Er kicherte und mir ging ein wenig das Herz auf, ihn wieder fröhlich zu sehen. „Weißt du, sie ist vielleicht nicht mehr hier, aber sie ist immer bei dir.“ Mit schiefem Kopf und großen Augen sah er mich an. „Wie meinst du das?“ Hmm, wie erkläre ich ihm das am besten? „Naja, du denkst doch oft an sie, oder?“ Er nickte. „Dann lebt sie doch in dir weiter! Sie geht erst für immer weg, wenn du sie vergisst.“ „Das werd ich nicht!“ rief er ernst und ich musste schmunzeln. Das glaubte ich ihm sofort. „Dann sind wir ja schon zwei“ fügte ich grinsend hinzu und sah in sein erstauntes Gesicht. Plötzlich klopfte es an der Tür und ein Mann und eine Frau betraten das Zimmer. „Mama, Papa!“ rief Naoya fröhlich und stürmte auf seine Eltern zu. „Hallo, mein Schatz“ sagte seine Mutter und erwiderte seine stürmische Umarmung. Sein Vater nahm ihn auf den Arm und drückte ihn fest an sich. Ich sah der kleinen Familienzusammenführung lächelnd zu, ehe seine Mutter mich bemerkte. „Hallo Jaden, lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?“ „Naja, ziemlich viel zu tun. Aber die Entlassung wollte ich nicht verpassen!“ Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile. Naoya erzählte mir von den Dingen, die er unbedingt in nächster Zeit machen will. Von einem Kinobesuch, über einen Ausflug in den Freizeitpark bis hin zu einer richtigen Geburtstagsfeier im nächsten Monat war alles dabei. Er freute sich wahnsinnig und ich konnte nicht anders als diese Freude zu teilen. Da klopfte es erneut und Doktor Yamada betrat den Raum. Hinter ihm lief meine Mutter mit einer Akte und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Na schön, Naoya, bereit für deine letzte Untersuchung?“ fragte der Arzt. Naoya nickte aufgeregt und ich wurde gebeten, den Raum währenddessen zu verlassen. Kurz noch blickte ich zurück. Seine Eltern sahen ziemlich nervös und besorgt aus. Ich konnte sie zwar verstehen, aber ich selbst hatte keine Bedenken, dass etwas schief gehen könnte. Sonst hätte meine Mutter nicht so zufrieden ausgesehen. Es dauerte eine Weile, ehe sich die Tür endlich öffnete und wir zu einem wahnsinnig aufgeregten Naoya gehen konnten. „Und?“ fragte seine Mutter zögerlich. „Darf er wieder nach Hause kommen?“ Der Arzt blätterte noch ein letztes Mal durch die Akte und sah sie dann sanft lächelnd an. „Alle Ergebnisse sind sehr zufriedenstellend. Die Therapie hat funktioniert und bei diesen Werten darf ich behaupten, dass er den Krebs besiegt hat. Ich werde ihn heute entlassen. Er muss mir nur versprechen, seine Übungen zu Hause zu machen.“ Noch ehe er den letzten Satz beendet hatte, fiel Naoyas Mutter ihm weinend um den Hals und bedankte sich ununterbrochen. „Mama, warum weinst du denn? Freust du dich gar nicht?“ fragte der kleine Junge verständnislos. Ich verkniff mir ein Lachen, während sein Vater auf ihn zu ging und ihn in die Arme schloss. „Natürlich freuen wir uns. Wir haben dich so sehr vermisst, mein Junge. Glaub mir, wir sind wirklich überglücklich, dass du wieder bei uns bist.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl diesen Moment zu stören, also verließ ich leise das Zimmer. Auf dem Gang wartete ich einige Zeit und war in Gedanken. In meinem Praktikum war ich auch oft dabei, wenn die Kinder nach Hause durften. Es war jedes Mal ein schöner Moment, sie so fröhlich zu sehen. Plötzlich trat meine Mutter aus dem Raum und seufzte zufrieden. „Weißt du, mein Spatz, das ist das Schönste an diesem Beruf. Manchmal ist es hart, aber ich mache das für Momente wie diese.“ Ich lächelte. Es war so nachvollziehbar. „Ich freu mich für ihn. Ob er dich mal im Krankenhaus besuchen kommt?“ Meine Mutter lachte. „Ich würde mich zwar freuen, aber er wird wohl erst einmal die Nase voll von diesem Ort hier haben.“ „Kann ich verstehen. Ich hätte nach so langer Zeit auch keine Lust hierherzukommen.“ Die Tür öffnete sich erneut und heraus kam ein kleiner Junge, der sich suchend umsah, ehe sein Blick an mir haften blieb. Naoya kam freudestrahlend auf mich zu und umarmte mich. „Jaden! Ich darf wirklich nach Hause! Mama und Papa wollen mit mir ein Eis essen gehen, willst du mit? Sie haben gesagt, du darfst!“ In der Tür stand sein Vater und nickte. Ich sah den Kleinen wieder an und grinste. „Wie könnte ich denn ein Eis ausschlagen?“ ~*~ Ein paar Stunden später verabschiedete ich mich von Naoya und seinen Eltern. Letztere bedankten sich noch oft bei mir, aber ich wusste wirklich nicht so recht warum. Ich gab ihnen meine Nummer, falls Naoya sich mal bei mir melden will. Das Café war nicht weit vom Krankenhaus entfernt. Es war schon Nachmittag, doch ich wusste nicht, was ich mit dem angebrochenen Tag noch machen sollte. So schlenderte ich in Gedanken die Straße entlang und stand plötzlich vor einer Werkstatt. Es war die, in der Yusei arbeitete. Ob er schon Schluss hat? Ich lief auf das Gebäude zu und sah mich um. Überall standen Autos und die Geräusche aus der Werkstatt waren echt verdammt laut. Für mich wäre das hier nichts, aber ihm gefiel die Arbeit anscheinend. Ich stand schon fast vor dem Eingang und hielt nach meinem Freund Ausschau. „Ey, was machstn du hier, Kleiner?“ Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Vor mir stand plötzlich dieser muskelbepackte Typ, sah mich grimmig an und rauchte eine Zigarette. Wie hieß er gleich? Ach ja, Sam. „I-Ich, äh, also…“ stammelte ich. Der Kerl jagt mir immer noch eine Heidenangst ein. Mir egal, dass Yusei und mein Vater sagen, er wäre wirklich nett. „Jaden?“ Yusei kam auf uns zu und hielt eine Kiste in der Hand. „Was ist denn los?“ „Naja, ich wollte nur schauen, ob du schon Schluss hast, aber du arbeitest ja noch“ antwortete ich verlegen. „Haste das Zeug gefunden?“ Yusei wandte sich an Sam und nickte. „Wenn de das sortiert hast, kannste Schluss machen für heute. Dein kleiner Freund hier kann dir ja helfen“ sagte der Muskelprotz und ging wieder in die Werkstatt. Yusei sah mich etwas unentschlossen an und folgte ihm, genauso wie ich. Wenn ich ihm helfen kann, warum nicht? Er stellte die Kiste auf einem Tisch am Ende der Werkstatt ab und musterte mich. Ich grinste ihm entgegen. „Also, wie kann ich helfen?“ „Ich soll nur die Kabel hier drin aufwickeln und den Rest in den Bestand einsortieren. Das ist wirklich nicht spannend.“ „Na dann!“ sagte ich fröhlich und ging zu der Kiste. Darin war ein ziemlicher Kabelsalat. „Zu zweit sind wir schneller.“ Ich kann mich auch irren, aber ich hätte schwören können, in diesem Moment zuckten seine Mundwinkel ein wenig nach oben. Oder es war einfach nur eine Wunschvorstellung. Eine Weile arbeiteten wir still nebeneinander. In der Zeit, in der ich ein Kabel vom Rest getrennt und halbwegs ordentlich aufgewickelt hatte, war Yusei schon mit dreien fertig. Und bei ihm sah es tatsächlich so aus, als hätte man sie neu aus einer Verpackung geholt. Frustrierend. Als wir fertig waren, sortierten wir die Kabel und den restlichen Kram aus der Kiste im Lager ein. Alles in allem waren wir schneller fertig als ich dachte. Sam nickte mir grimmig entgegen und wünschte Yusei dann einen schönen Feierabend. Seltsamer Kerl. „Sam war ziemlich zufrieden“ sagte Yusei plötzlich, als wir aus der Werkstatt liefen. „Bitte?!“ fragte ich entsetzt. „Der hat doch so miesepetrig geschaut, wie sonst auch immer.“ Er schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein, er hat sich wirklich gefreut, dass wir so schnell fertig waren.“ „Na, wenn du meinst…“ „Wo laufen wir eigentlich hin?“ Ich sah mich um. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, welchen Weg wir eingeschlagen haben. Ich lief mit ihm Richtung Krankenhaus. Da kam mir eine Idee. „Hey, wie wäre es, wenn du deinen Vater mal wieder besuchst? Du warst schon die ganze Woche nicht mehr bei ihm.“ Er überlegte wohl. „Samstags ist doch nur Vormittag Besuchszeit.“ „Ach was, die werden schon ein Auge zudrücken!“ sagte ich optimistisch. Im Krankenhaus angekommen, fuhren wir gleich in den fünften Stock und ich bequatschte den Mann an der Rezeption, dass er uns nicht vielleicht doch zu Yuseis Vater lassen könnte. Nach einer schier unendlich langen Diskussion knickte er schließlich ein. „Na schön, aber nur zehn Minuten!“ Ich dankte ihm freudestrahlend und zog Yusei mit mir durch den Gang. Vor dem Zimmer angekommen, sah ich ihn an. „Willst du lieber allein reingehen?“ Er blickte durch die Lamellen der Rollläden am Fenster und nickte leicht. Ich ging einen Schritt zurück und nickte ihm aufmunternd zu, dann betrat er den Raum. Ich vertrieb mir die Wartezeit ein wenig am Handy, bis meine Mutter mich plötzlich anrief. „Hallo, mein Spatz, bist du schon zu Hause?“ „Nein, ich bin noch im Krankenhaus.“ „Hm? Ich dachte du wolltest mit Naoya und seinen Eltern ein Eis essen.“ „Das war ich auch, und dann hab ich Yusei von der Werkstatt abgeholt. Er besucht gerade seinen Vater.“ „WAS?!“ fragte sie entsetzt. Ich verstand die Frage nicht, das hat er doch schon öfter gemacht. „Ja, wieso?“ Eine kurze Stille trat ein. „Ich habe seinem Vater noch nichts von Yuseis Zustand erzählt.“ Oh nein. Ehe ich etwas erwidern konnte, legte sie auf. Aber vielleicht nimmt er das ja ganz gut auf. Yusei ging es immerhin schon besser als am Anfang der Woche. Wenig später kam meine Mutter schnellen Schrittes den Gang entlang. „Ist er immer noch da drin?“ Ich nickte. Warum machte sie denn so einen Wirbel? Als sie das Zimmer öffnete, sah ich an ihr vorbei zu Yuseis Vater. Er hielt ihn fest im Arm, aber Yusei erwiderte die Umarmung nicht. Ich konnte auch ihre Gesichter nicht erkennen. Meine Mutter schloss die Tür hinter sich und wenig später kam Yusei raus. „Was ist denn los?“ fragte ich ihn. Sein Blick war gesenkt und irgendwie schien er wieder in seiner eigenen Welt zu sein. Ich ließ ihm seine Zeit, irgendwann wird er schon reden. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür und meine Mutter stand vor uns. „Ihr beide könnt schon mal zum Auto gehen, ich komme gleich nach.“ „Aber was ist denn los?“ fragte ich besorgt. „Alles in Ordnung, wir reden später, mein Spatz“ sagte sie ernst und ging wieder in das Zimmer. Was soll denn diese Geheimniskrämerei jetzt? Ich seufzte und sah Yusei an. „Na komm, wir gehen schon mal vor.“ Er sah wieder auf und nickte. ~*~ Zuhause angekommen sah ich meine Mutter erwartungsvoll an. Ich wollte endlich wissen, was los ist. Mir ging es auf die Nerven, dass meine Eltern mir etwas von der ganzen Sache verschweigen. Sie warf mir einen traurigen Blick zu und wandte sich dann an Yusei. „Yusei, wärst du so lieb und würdest Makoto in der Küche helfen?“ Er sah mich kurz an, nickte meiner Mutter dann aber zu und folgte ihrer Aufforderung. Dann gingen meine Mutter und ich ins Wohnzimmer. „Und? Was war denn los?“ Sie seufzte. „Wie schon gesagt: Ich habe ihn einfach nicht darauf vorbereitet. Er hat nur einen Schreck bekommen, hoffe ich. Ich habe ihm die Situation grob erklärt.“ „Aber das versteh ich nicht! Yusei geht’s doch wieder besser! Warum machen alle so einen Wirbel um die ganze Sache?“ Sie musterte mich aufmerksam und schwieg. Es nervte mich so. Warum erzählt sie mir nicht endlich, was Sache ist? „Du hast recht, es geht ihm langsam ein wenig besser, aber er ist immer noch nicht wieder der Alte. Bei weitem nicht. Langsam machen dein Vater und ich uns Sorgen. Sein seltsames Verhalten hält einfach schon zu lange an.“ Ich sah sie wütend an. „Wie würdest du dich denn in seiner Situation verhalten?“ „Ich versteh dich, mein Spatz. Und natürlich weiß ich nicht, wie ich mich verhalten würde. Aber ich kenne diverse Krankheitsbilder. Ich habe gestern Abend mit deinem Vater gesprochen und wir werden Yusei kommende Woche zu einem Therapeuten schicken.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Aber… was… was ist, wenn er auch dortbleiben muss!?“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Angst, mein Spatz. Er ist weder eine Gefährdung für sich selbst, noch für andere. Sie werden ihn nicht dortbehalten. Er soll nur mit einem Therapeuten über die ganze Sache sprechen, mehr nicht.“ Mehr nicht. Bei diesen Worten musste ich verächtlich schnauben. Ist das ihr Ernst? Aber… vielleicht hat sie ja recht. „Du bist sicher, dass sie ihn nicht dabehalten?“ fragte ich vorsichtig. Ich wollte nicht, dass er so wie sein Vater auf der Station bleiben und vielleicht auch Medikamente nehmen müsste. Sie nickte und nahm mich in den Arm. Wenn er nicht dortbleiben muss, würde es ja nicht schaden, wenn er sich mal jemandem anvertraut. Als ich ins Bett ging, dachte ich noch über das Gespräch mit meiner Mutter nach. Mir gingen ihre Worte einfach nicht mehr aus dem Kopf. Krankheitsbilder. Das hat sie gesagt. Aber was hat sie damit gemeint? Ich glaube, er ist einfach nur mit der Situation überfordert gewesen und hat sich zurückgezogen. Das würde doch jedem so gehen, oder nicht? Ich sah rüber zu der dunklen Silhouette von Yusei. Sein Atem ging gleichmäßig und er schien friedlich zu schlafen. Zumindest das konnte er ruhig, auch wenn ich nicht weiß, wie es in ihm drin aussieht. Irgendwann fielen mir endlich die Augen zu, doch in der Nacht schlief ich ziemlich unruhig. ~*~ Am nächsten Morgen öffnete ich meine Augen, sah aber wieder nur ein leeres Bett neben mir. Er war wohl schon wach. Langsam machte ich mich fertig und ging runter in die Küche. Da entdeckte ich Yusei und grinste. „Guten Morgen, bereit für unser Spiel heute?“ fragte ich gut gelaunt. Er sah zu mir, seine Miene war wie so oft unergründlich, doch er antwortete: „Ja, sicher.“ Das Spiel gegen die Schule im Westen der Stadt fand am Mittag statt. Ich stellte die Mannschaft Yuseis Vorschlag entsprechend auf. Crow reckte freudestrahlend seine Faust in die Luft, als ich ihm von dem Plan erzählte ihn im Angriff einzusetzen. Auch die anderen stimmten voller Vorfreude zu. „Heute werden wir auf jeden Fall gewinnen!“ sagte ich optimistisch. „Also, los geht’s!“ Das Spiel begann, doch in der ersten Halbzeit fiel kein einziges Tor. Zehn Minuten vor dem Schlusspfiff der zweiten Halbzeit hatte Yusei den Ball und rannte auf das gegnerische Tor zu. Zwei Gegner kamen ihm entgegen. Sowohl ich als auch Crow wurden gedeckt, sodass er keine Passchance hatte. Aber dann machte Yusei einen Spielzug den ich noch nicht kannte. Er kickte den Ball mit der Hacke nach oben, über die Gegner drüber. Damit hatten sie nicht gerechnet, und verloren so den Ball aus den Augen. Dann rannte er an ihnen vorbei und nahm den Ball wieder an. Dadurch hatte er ein freies Schussfeld. Tor. Unser Team staunte nicht schlecht. „Das war großartig, Alter!“ rief Crow, der ihm gegen die Schulter schlug. Auch ich rannte ihm entgegen „Er hat recht! Das war fantastisch!“ Und in diesem Moment konnte ich meinen Augen nicht trauen. Er schenkte mir ein Lächeln. Ich hatte es seit Tagen nicht gesehen und mein Herz schlug vor Freude schneller. Von wegen, sein Zustand hätte sich kaum gebessert! In den letzten Minuten Spielzeit verstärkte Crow wieder unsere Abwehr, sodass unsere Gegner keinen Ausgleich schießen konnten. Damit hatten wir das zweite Qualifikationsspiel 1:0 gewonnen. „Wir haben gewonnen!“ rief ich freudig und alle stimmten mit ein. Bis auf Yusei, der neben uns stand. „Freu dich doch, Alter!“ sagte Crow, der jetzt direkt neben Yusei war. „Wo hast du eigentlich diesen Trick gelernt?“ Diese Frage erweckte auch die Aufmerksamkeit des übrigen Teams. „Naja“ sagte er verlegen. „Ich habe ihn mal bei einer anderen Mannschaft in den Regionals gesehen, aber zum ersten Mal versucht. Anders hätten wir den Ballbesitz abgeben müssen.“ „Klasse! Das musst du mir beibringen!“ sagte ich und funkelte ihn erwartungsvoll an. Und da war es wieder. Dieses sanfte Lächeln, dass mir in den letzten Tagen so gefehlt hat. ~*~ Als wir wieder zu Hause ankamen, regnete es in Strömen, dazu kam noch ein kalter, unnachgiebiger Wind. „Puh! Was für ein Mistwetter“ klagte ich, als wir in den Flur gingen, dann wandte ich mich an Yusei. „Hey, Jim hat mir heute übrigens ein neues Spiel ausgeliehen. Hast du Lust es mit mir auszuprobieren?“ fragte ich. Er zog sich gerade die nasse Jacke aus und antwortete: „Ja, warum nicht?“ Auf dem Bildschirm flimmerte kurze Zeit später im Retro-Stil ein Remake eines alten Autorennspiels. „Hm, die Grafik hätten sie besser überholen können, aber die Steuerung soll flüssiger sein“ sagte ich und klickte mich durch das Menü, bis ich zur Auswahl der Fahrzeuge kam. „Hey, das Motorrad sieht fast aus wie deins“ bemerkte ich und sah ihn an. Erst da fiel mir auf, dass er schon die ganze Zeit vor sich hin grübeln musste. „Was ist denn los?“ Er sah mich ernst an. Oh je, was hat er denn? „Ich bin schon ziemlich lange hier. Meinst du nicht, ich sollte langsam wieder gehen?“ sagte er dann. Ich war etwas verwirrt. „Was? Wo denn? Wir sind doch eben erst angekommen.“ „Nein, das meine ich nicht“ setzte er an und seufzte. „Warum… Warum bin ich überhaupt die ganze Zeit bei euch?“ Wieder musterte ich ihn etwas perplex. „Was meinst du?“ „Naja, seit einer Woche bestehen deine Eltern darauf, dass ich bei euch bleibe. Warum?“ Lag das nicht auf der Hand? „Naja, wegen der Sache von Dienstag. Du weißt schon. Seitdem machen sich meine Eltern eben Sorgen. Und bis es dir wieder gut geht, sind sie eben beruhigter, wenn du nicht allein bist.“ Und ich auch… „Seit der Gerichtsverhandlung hast du dich eben etwas… verändert.“ Er sah mich ungläubig an. Habe ich eben was Falsches gesagt? „Wovon sprichst du?“ Okay, was meinte er denn jetzt genau? „Naja du hast dich eben distanziert“ versuchte ich mich zu erklären. „Wenn du meinst, aber von welcher Sache sprichst du? Und welche Gerichtsverhandlung?“ Jetzt war es an mir, ihn völlig ungläubig anzusehen. „Na… Die Gerichtsverhandlung, wegen dem Unfall von deiner Mutter. Du weißt schon. Du bist in der Nacht darauf doch einfach verschwunden und warst an ihrem Grab.“ Eine kurze Stille folgte und ich versuchte irgendwie seine Mimik zu interpretieren. Er sah völlig verwirrt aus. Plötzlich lachte er freudlos. „Jaden, ich war seit ihrer Beerdigung nicht mehr dort. Und die Gerichtsverhandlung ist erst später“ antwortete er mit einem gezwungenen Lächeln. Meine Augen wurden bei jedem seiner Worte größer. Was meint er denn? Nimmt er mich auf den Arm? „Yusei… du warst doch schon am Grab deiner Mutter. Am Dienstag“ sagte ich mitfühlend. Sein aufgesetztes Lächeln erstarb und in seinem Blick konnte ich immer noch seine ehrliche Verwirrung ablesen. „Nein… Das kann nicht sein, daran würde ich mich doch erinnern. Ich…“ Er brach ab und mied meinen Blick. Meinte er das jetzt wirklich ernst? Hatte er es wirklich… vergessen? Alles? Aber warum? Ich dachte es würde ihm wieder besser gehen! Das kann doch nicht sein! Meine Mutter hatte recht. Er braucht Hilfe, wenn er das eben wirklich ernst gemeint hat. Aber warum sollte er mich auf den Arm nehmen? „Ich…“ setzte ich langsam an und musterte ihn. „Ich hab vergessen, dass ich meinem Vater noch in der Küche helfen sollte. Bin gleich zurück“ sagte ich, verließ mein Zimmer und ließ meinen völlig überforderten Freund zurück. Aber ich musste schnell mit meiner Mutter sprechen. Ich muss ihr sagen, was eben passiert ist! Das wächst mir alles über den Kopf! Die letzten Stufen zum Wohnzimmer runter flog ich schon fast, ehe ich meine Mutter auf dem Sofa sah. Perplex musterte sie mich. „Jaden, was ist denn los? Du bist ja ganz blass.“ „Mama, er hat es vergessen!“ platzte es aus mir heraus. Ich spürte vereinzelte Tränen, die meine Wange hinabliefen, aber das war mir egal. Yusei brauchte dringend Hilfe… Kapitel 16: Diagnose -------------------- In den Unterrichtsstunden konnte ich mich einfach nicht konzentrieren. Meine Gedanken kreisten ständig um Yusei und seine Worte von gestern Abend. So wie es aussieht, hat er wirklich keine Erinnerungen mehr an die Gerichtsverhandlung oder die Nacht danach. Aber wie viel hat er eigentlich von den Geschehnissen vergessen? Als Crow ihn vor einigen Tagen fragte was er an dem Wochenende gemacht hat, da hat er geantwortet, er hätte ein paar alte Freunde besucht. Also war wohl nicht alles weg. Ob er sich an den Abend vor der Verhandlung erinnern kann? An den Kuss? Ich könnte diesen Moment nicht vergessen, aber wie sah es bei ihm aus? Und kommen diese Erinnerungen wieder zurück? Sollte ich deswegen mit ihm sprechen oder ihn lieber damit in Ruhe lassen? Gestern hatten wir beide in stiller Übereinkunft beschlossen, das Thema erstmal auf sich beruhen zu lassen. Meine Mutter meinte, sie könnten erst heute mit ihm ins Krankenhaus fahren, nicht schon gestern Abend. Er wäre einfach kein Notfall. Ich sah das etwas anders. Ich stöhnte genervt auf. Das war doch zum Haare raufen! „Yuki-kun würdest du uns mitteilen, was du daran nicht verstanden hast?“ riss mich die Stimme von Sensei Flannigan aus meinen Gedanken. Ich bemerkte die Blicke meiner Mitschüler, die mich neugierig musterten. „Äh…“ Ich hatte nicht zugehört. Worum ging es denn? Hilfesuchend starrte ich an die Tafel aber das nutzte mir auch nicht viel. Meine Rettung war die Schulklingel, die laut zur Mittagspause läutete. Glück gehabt! „Mann, Jaden, was ist denn mit dir los?“ fragte Jim neben mir. „Nichts“ log ich, während ich meine Sachen zusammenpackte. „Ich hab einfach nicht zugehört. Worum ging es denn?“ Er musterte mich ungläubig. „Alter, wir haben die ganze Stunde nur ein Thema behandelt. Stochastik.“ „Aha.“ Keine Ahnung. Hatten wir schon wieder ein neues Thema angefangen? „Sicher, dass es dir gut geht?“ „Ja doch! Ich war mit den Gedanken einfach nur woanders.“ „Bei Yusei?“ Mir stieg blitzartig die Hitze in den Kopf. „W-Was?“ Wie hat er das denn erraten? Er lachte. „Mann, ihr verbringt doch die ganze Zeit zusammen. Deine Eltern holen euch sogar zusammen ab. Glaubst du, ich hätte das nicht mitbekommen? Außerdem verhält er sich in letzter Zeit ziemlich seltsam, das haben auch die anderen aus dem Team längst bemerkt. Wir machen uns doch alle Sorgen.“ „Ich weiß“ sagte ich betrübt. „Und irgendwann erzählt er euch vielleicht auch was los ist, aber bohrt nicht weiter nach, okay?“ Er nickte und ich nahm mir meine Tasche um schon in den Chemieraum zu gehen. Doch nur wenige Meter nachdem ich mein Klassenzimmer verlassen hatte, hielt mich Carly auf und bat mich, ihr ein Stück zu folgen. Was will sie denn? „Jaden, ich habe einen Fehler gemacht“ sagte sie betrübt, als wir aus der Sichtweite der anderen Schüler waren. „Was meinst du?“ „Ich habe mir eingeredet, dass ich Yusei nur helfen will…“ Als ich seinen Namen hörte, gingen bei mir alle Alarmglocken an. Was hat sie gemacht? „Ich habe mich gefragt, warum er so schlecht drauf ist. Ich dachte es wäre vielleicht etwas passiert und deswegen habe ich mir Sorgen gemacht. So wie unsere Freunde auch. Ich wollte ihm helfen, aber ich bin zu weit gegangen. Schon wieder.“ „Carly, sag schon was los ist!“ Langsam verlor ich die Geduld. Sie schreckte zurück. „Ich… ich habe nachgeforscht. Das mit dem Termin an seiner alten Schule hat für mich einfach keinen Sinn ergeben. Dann habe ich mich an den Artikel erinnert. Den über seine Mutter und den Unfall.“ Sie schluckte. „Also habe ich weitergegraben und dabei bin ich auf das hier gestoßen…“ Sie hielt mir zwei ausgedruckte Blätter hin, die ich gleich annahm und anfing zu lesen. Es war anscheinend ein Artikel über die Gerichtsverhandlung. Natürlich. Genug Reporter waren ja da. Bei der Überschrift kam mir schon das kalte Kotzen. Drama vor Gericht: Die Verhandlung zum Unfall der Pianistin Miako Fudo Am Montag fand die Gerichtsverhandlung zum Fall von Miako Fudo (verstorben im Alter von 40 Jahren) statt. Die Pianistin verstarb nur wenige Wochen zuvor bei einem Autounfall. Berichten zufolge war sie zu diesem Zeitpunkt im achten Monat schwanger. Ihr Mann Hakase Fudo (42) hatte nach dem Unfall Klage eingereicht, tauchte aber zum Gerichtstermin nicht auf. Stattdessen übernahm sein Sohn Yusei Fudo (18) an der Seite eines Mitarbeiters des Jugendamtes seinen Platz. Anonymen Quellen zufolge liegt Herr Hakase Fudo seit mehreren Wochen aufgrund eines Suizidversuchs in einem Krankenhaus in Neo Domino, seinem derzeitigen Wohnort. […] Meine Hände krallten sich so fest in das Blatt, dass es fast zerriss. Ich zitterte vor Wut. Woher wissen diese Aasgeier davon?! Der Sohn der Pianistin ist ebenfalls in die Fußstapfen seiner Mutter getreten. Er gewann bereits mehrere Preise und genießt hohes Ansehen bei einigen hohen Tieren der japanischen Musikwelt, darunter auch Herrn Haruto Kazuki, dem Leiter der Konzerthalle in Osaka und früherem Arbeitgeber der Verstorbenen. […] Unseren Quellen zufolge wird Yusei Fudo im zweiten Semester des neuen Jahres durch ein großzügiges Stipendium an der renommierten Musikschule Tokio klassische Musik studieren. Aufgrund dieser Verbindung zu seiner Mutter verwunderte es auch niemanden im Gerichtssaal, dass er bei der Verhandlung allem Anschein nach an einem Nervenzusammenbruch litt. Während der gesamten Zeit der Verhandlung wirkte der 18-jährige nervös, teilweise verstört. Auch seine eigene Zeugenaussage musste er mehrmals abbrechen, da er sich allem Anschein nach nicht in der Lage dazu fühlte seine Sätze zu vollenden. Während der Beweisaufnahme wurden die Verletzungen, die Miako Fudo während des Unfalls erlitt, aufgelistet. […] Während der Ausführungen des behandelnden Arztes rührte sich der junge Mann nicht und wirkte nach der Verhandlung sichtlich verstört. Fragen wehrten sowohl er, als auch der Mitarbeiter des Jugendamtes ab. Zur Urteilssprechung war er nicht mehr anwesend. Der Unfallverursacher Kyo Tanaba (22) wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, sowie einer Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 1,5 Mio. Yen* verurteilt. Die Freiheitsstrafe kann nach einem Jahr zur Bewährung ausgesetzt werden. […] Ich presste meine Zähne aufeinander und knurrte leise. Das kann doch nicht wahr sein. Was ist das denn für ein dämlicher Artikel?! „Hat das noch irgendjemand anders gelesen?“ fragte ich aufgebracht. Sie schüttelte nur mit dem Kopf. „Das war aber nicht der einzige Artikel, den ich dazu gefunden habe. Aber es war der, der mich am meisten wütend gemacht hat. Auf dem einen Foto bist du auch drauf, deswegen wollte ich dir den Artikel zeigen. Ich will gar nicht wissen, was in Yusei vorgehen mag, aber ich bin da, falls ihr mich braucht. Ich werde auch niemandem davon erzählen, das schwöre ich! Ich bin die Einzige, die davon weiß.“ Es gab noch mehr Artikel wie diesen? Wütend stopfte ich die Blätter in meine Tasche und sah zu Carly. „Hör mal, du musst endlich aufhören in der Sache rumzuschnüffeln. Es geht dich nichts an, solange er nicht darüber reden will, verstanden?“ Sie sah betreten zu Boden und nickte. „Ich weiß, und es tut mir leid. Ich bin zu weit gegangen, das sehe ich ein. Aber…“ Sie sah wieder auf und musterte mich. „Wie geht’s ihm mittlerweile? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.“ Ich mied ihren Blick. Die Erinnerungen an unser letztes Gespräch kamen wieder hoch. „Schon gut“ sagte Carly plötzlich und ich sah sie wieder an. „Du musst mir nichts sagen, aber wenn ich helfen kann, sag Bescheid, ja?“ Ich nickte und machte mich auf den Weg zum Chemieraum. ~*~ Nach der Schule wurden wir wieder von unserem Vater abgeholt. Als wir einstiegen, fragte ich gleich, ob er etwas von Yusei wüsste. Er seufzte. „Ja, ich war fast den ganzen Tag mit ihm im Krankenhaus. Wenn ich euch abgesetzt habe, fahre ich wieder zu ihm“ sagte er und musterte mich kurz. „Aber warum bist du denn bei ihm, und nicht Mama?“ fragte Alexis. „Bis sein Vater entlassen wird bin ich immer noch sein Vormund. Ich musste für einige Tests mein Einverständnis geben. Außerdem muss eure Mutter bis heute Abend arbeiten und für mich zählt das quasi als Arbeitszeit.“ „Welche Tests?“ fragte ich ungeduldig. „Und warum kann ich nicht einfach mitkommen?“ „Ich will, dass ihr zu Hause bleibt“ antwortete er bestimmt. Okay, wenn er in diesem Ton spricht, habe ich eigentlich schon verloren. Also ließ ich mich grummelnd in meinen Sitz sinken und schwieg den Rest der Fahrt. Als wir zu Hause waren, ging ich in mein Zimmer, setzte mich eine Weile lang auf das Fensterbrett und beobachtete die Straße. Der Regen prasselte nach wie vor gegen die Scheibe und es wurde langsam dunkel. Im Schein der Laternen sah ich einige Fußgänger, doch ich wartete auf das Auto meines Vaters. Ich wollte endlich Antworten. Schließlich parkte er am Straßenrand und ich rannte die Treppen nach unten. Ich wollte endlich mit Yusei und meinem Vater sprechen. Unten angekommen, wurde gerade die Haustür aufgeschlossen. Mein Vater betrat den Flur und schloss die Tür hinter sich. „Wo ist Yusei?“ fragte ich. Langsam wurde ich nervös. Ich war mir sicher, er würde zusammen mit meinem Vater nach Hause kommen. Ein leises Seufzen war zu hören und er drehte sich zu mir. Dieser mitfühlende Blick. Was kommt denn jetzt? „Er ist noch im Krankenhaus. Die Ärzte wollen ihn noch eine Nacht zur Beobachtung dabehalten, bis die Testergebnisse alle da sind. Dann sehen wir weiter.“ Mit geweiteten Augen sah ich ihn an. „Aber… Aber Mama sagte doch, er müsste nicht dortbleiben. Sie sagte, die Ärzte wollen nur mit ihm sprechen. Sie hat gesagt…“ „Ich weiß, und du musst dir auch keine Sorgen machen. Er soll nur im Krankenhaus bleiben, bis die Untersuchungsergebnisse da sind.“ „Aber welche Untersuchungsergebnisse denn?!“ fragte ich verzweifelt. „Bei einer Amnesie werden erst einmal einige Tests gemacht. Zum Beispiel ein MRT und ein CT. Es gab aber noch viele andere Untersuchungen, unter anderem ein Bluttest, der erst morgen ausgewertet werden kann“ sagte er ruhig. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Erkrankungen wie Epilepsie oder ein Tumor wurden schon ausgeschlossen. Bei dem, was er erlebt hat, wird es eine psychische Ursache haben. Ich habe heute schon mit einer Therapeutin gesprochen, bei der er sich morgen vorstellen wird. Dann werden wir weitersehen.“ Keine Sorgen. Keine Sorgen?! Natürlich mache ich mir welche! „Aber was, wenn er noch mehr vergisst?“ fragte ich leise. Was, wenn er irgendwann mich vergisst? * Die Sicht von Yusei * Ich saß mit verschränkten Armen und angezogenen Beinen auf dem Bett meines Krankenzimmers, lehnte den Kopf an die Wand und starrte frustriert an die hellblaue Decke. Auch die Wände waren in einem Hellblau gehalten und über mir wurden kitschige Wolken gemalt. Weil ich noch minderjährig war, hat man mich auf der Kinderstation eingeliefert. Großartig. Ich schloss die Augen. Warum zur Hölle bin ich hier? Durch diese zahllosen Untersuchungen haben sie ja doch nichts rausgefunden. Was sollten sie auch? Mir geht es gut, verdammt. Ich hatte das Gefühl, ich war im falschen Film. Jaden und seine Eltern sprachen von irgendeiner Gerichtsverhandlung, aber ich habe noch immer keine Ahnung was das Ganze soll. Ja, meine Mutter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und ja, es soll eine Verhandlung geben, aber mein Vater hat gesagt, er würde sich darum kümmern. Und was meinten alle mit ‚Ich hätte mich verändert‘? Ich verhielt mich doch wie sonst auch. Ich verstehe das alles nicht. Oder vielleicht wurde ich jetzt einfach verrückt? Wenn die anderen alle Recht hatten und ich habe wirklich alles vergessen? Ich habe versucht mich zu erinnern, was ich an diesen Tagen gemacht habe, aber keine dieser Erinnerungen hatte mit irgendeiner Gerichtsverhandlung zu tun. Oder mit dem Grab meiner Mutter, an dem ich stundenlang allein gewesen sein soll, was nicht mal zu mir passt. Nie würde ich irgendjemandem Sorgen bereiten wollen, indem ich mich einfach wegschleichen würde. Und schon gar nicht allein, mitten in der Nacht. Das ist einfach absurd! „Wie geht’s dir?“ fragte eine Stimme neben mir. Ich öffnete die Augen und sah Frau Yuki an meinem Bett sitzen, die mich besorgt musterte. „Gut“ antwortete ich schlicht. Ich hatte keinen Grund hier zu sein. „Yusei, verstehst du warum du hier bist?“ Einen kurzen Augenblick sah ich sie einfach nur an und schloss dann wieder meine Augen. „Ja, alle denken ich hätte einen Dachschaden“ sagte ich schließlich bitter. „Das stimmt nicht“ sagte sie ruhig. Ich wollte jetzt nicht mit ihr darüber reden. „Wir machen uns nur-“ „Sorgen“ unterbrach ich sie und sah sie wieder an. „Ich weiß, aber mir geht es gut. Keine Ahnung, warum alle glauben, sie wüssten mehr über mein Handeln als ich.“ Sie seufzte und sah mich wieder mitleidig an. Wie ich diesen Blick hasste. „Warum willst du uns nicht glauben?“ fragte sie schließlich. Wieso eigentlich? Gute Frage. Keiner von ihnen hat mich je belogen, sie waren immer ehrlich zu mir. Warum also wollte ich niemandem glauben, obwohl alle das Gleiche erzählten? Vielleicht… Vielleicht… Ich spürte Tränen aufsteigen und hatte einen Kloß im Hals. „Wenn ihr recht habt, dann bedeutet das, ich verliere meinen Verstand“ flüsterte ich. Ich konnte sie nicht länger ansehen und wandte den Blick ab. Plötzlich spürte ich, wie sie ihre Arme um mich legte und mich in eine Umarmung zog. Ich erwiderte sie nicht, aber ich fühlte mich ganz plötzlich so geborgen. Als hätte sie mir einen kleinen Teil dieser Verzweiflung genommen. „Du wirst nicht verrückt, Yusei. Glaub mir bitte. Du hast nur in letzter Zeit so viel Leid erfahren, da reagiert eben jeder anders. Deine Psyche will sich nur schützen, also verdrängt sie die Erinnerungen. Das ist nicht so selten wie du glaubst* und auch nicht so dramatisch. Irgendwann werden sie wieder zurückkommen, und bis dahin sind wir für dich da, hörst du?“ Ich schwieg. Ihre Worte trösteten mich etwas aber mir war als würde ich zusammenbrechen, wenn ich jetzt anfinge zu sprechen. Aber was ist passiert, dass ich mich jetzt nicht daran erinnern kann? Nicht erinnern will? Was ist mit mir los? Ihre Arme legten sich fester um mich. Zittere ich schon die ganze Zeit so? Und wann habe ich angefangen zu weinen? ~*~ Einige Zeit später verließ ich das Zimmer. Ich fühlte mich einfach unwohl dort drin und ich konnte mich nicht beschäftigen. Ich brauchte Ablenkung. Allerdings hatte ich auch nicht sonderlich viel Auswahl, denn es gab nur noch einen Aufenthaltsraum und die Station verlassen durfte ich nicht. Der Gemeinschaftsraum sah aus wie ein großer Raum in einem Kindergarten. Überall war Spielzeug, und die meisten Stühle waren so klein, dass sie mir samt Lehne nicht mal bis zur Hüfte gingen. Und überall verteilt spielten und malten einige Kinder. Naja, was will man auf einer Kinderstation schon anderes erwarten? Ich schlenderte zum Bücherregal und hoffte einfach, dass ich dort nicht nur Bilderbücher fand. Die untersten drei Reihen waren voll davon. Darüber war eine Reihe mit einigen Fantasy-Romanen, nicht wirklich mein Fall, eine Reihe weiter oben standen einige Mangas und eine Sci-Fi-Reihe. Im obersten Fach waren Sachbücher bis zur zehnten Klasse. Ich seufzte. Hier war wirklich nichts dabei. Plötzlich zog irgendjemand an meinem Hosenbein. Ich sah runter zu einem kleinen Mädchen mit einem Verband über dem rechten Auge. Sie war wirklich ziemlich klein, ging bestimmt noch in die Vorschule und reichte mir ein Buch. „Liest du mir das vor?“ fragte sie. Ich nahm das Buch an mich und sah mir den Einband an. Es war ein Märchenbuch. Hm, zumindest hätte ich dann etwas zu tun. Ich nickte zur Bestätigung und erntete dafür ein fröhliches Lächeln. Kurz darauf wurde ich an die Hand genommen und von dem Mädchen zu einem Sessel geführt. Ich nahm Platz und sie krabbelte ohne zu zögern auf meinen Schoß. Dann nahm sie das Buch und blätterte durch die Seiten, bis sie anscheinend gefunden hatte, wonach sie suchte. „Das da!“ sagte sie und hielt mir das offene Buch wieder hin. „Rotkäppchen?“ fragte ich und erhielt als Antwort ein begeistertes Nicken. „Das ist meine aaaaallerliebste Geschichte!“ Ich schmunzelte leicht. „Na, wenn das so ist.“ Ehe ich anfing vorzulesen, machte sie es sich in meinem Schoß bequem und lehnte sich an meine Brust. Meine Güte, fasst die schnell Vertrauen. Ich nahm das Buch etwas höher und begann zu lesen. „Es war einmal ein kleines süßes Mädchen das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber-“ „Du musst lauter reden“ unterbrach sie mich. „Konno versteht dich nicht, er hört ganz schlecht.“ „Wer?“ „Na Konno. Da sitzt er!“ Sie zeigte mit dem Finger links neben mich zu einem kleinen Sofa. Dort lag tatsächlich ein Junge auf dem Bauch, der seine Arme auf der Lehne abgestützt hatte und mich beobachtete. Wo kommt der denn her? „Na schön“ sagte ich und las die Geschichte noch einmal von vorn, dieses Mal etwas lauter. Das stellte sie anscheinend zufrieden, denn sie unterbrach mich eine Weile lang nicht mehr. Zumindest bis zu der Stelle, an der der Wolf mit der alten Frau sprach. „Du musst die Stimme verstellen“ forderte sie. Ich blinzelte sie irritiert an. Was soll ich machen? „Der Wolf verstellt die Stimme, also musst du das auch machen! Ungefähr so:“ Sie sprach mit einer übertrieben hohen Stimme weiter, um den Wolf als Rotkäppchen nachzuahmen. „Ich bring dir Kuchen und Wein, mach auf!“ „Aiko hat recht“ sagte der Junge auf dem Sofa. „Das ist viiiel spannender!“ Irgendwie kam mir das lächerlich vor, aber die beiden klopften mich einfach mit einem Hundeblick weich. Ich seufzte, sprang noch einmal zurück zu dem Gespräch und las es mit verstellter Stimme vor. Ich kam mir wirklich albern dabei vor, aber die beiden freuten sich und kicherten vergnügt. Ich gebe zu, auch ich fand es ein wenig lustig. Als ich die Geschichte beendet hatte, schienen die zwei zufrieden. Aber über Märchen darf man wirklich nicht zu viel nachdenken. Ein vermenschlichter Wolf frisst eine Erwachsene und ein Kind im Ganzen und im Schlaf wird dann sein Bauch aufgeschnitten und die beiden springen unverletzt aus seinem Magen. „Liest du noch was vor?“ fragte eine Stimme, die zu keinem der beiden Kinder gehörte. Ich ließ das Buch sinken und blickte in vier weitere Augenpaare, die mich erwartungsvoll anfunkelten. Wie lang saßen die eigentlich schon vor mir auf dem Boden und hörten zu? Mit etwas Abstand beobachtete mich auch Frau Yuki amüsiert. Dann kam sie auf uns zu und wandte sich mit einem sanften Lächeln an die Kinder. „Tut mir wirklich leid, aber die Märchenstunde ist vorbei. Es ist schon Schlafenszeit. Ab ins Bett mit euch, ihr kleinen Geister.“ Die Kinder murrten und versuchten noch etwas Zeit rauszuschlagen, aber Frau Yuki war unnachgiebig. Also trotteten sie langsam wieder auf ihre Zimmer. Das Mädchen auf meinem Schoß umarmte mich fest. „Danke!“ sagte sie fröhlich und sah mich dann wieder an. „Liest du morgen noch was vor?“ Irgendwie brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich am nächsten Tag hoffentlich nicht da bin. Das letzte, was ich wollte, war hierbleiben zu müssen. „Na komm, Aiko. Er ist sicher auch ganz müde“ rettete mich Frau Yuki. Die Kleine sprang von meinem Schoß und lief aus dem Zimmer. „Das war wirklich nett von dir“ sagte Jadens Mutter und lächelte mich an. Ich sah wieder auf das Buch in meiner Hand. „Weißt du…“ setzte sie wieder an. „Wir haben im Arbeitsalltag selten die Zeit oder die Gelegenheit für solche Augenblicke. Da freuen sich die kleinen Patienten umso mehr, wenn sich jemand mit ihnen beschäftigt. Hier kann es ziemlich schnell langweilig werden. Aber du hast ihnen damit wirklich eine Freude gemacht.“ Ich schmunzelte ein wenig. Zumindest sie hatten etwas Spaß heute. ~*~ Am nächsten Tag waren die Ergebnisse des Bluttests endlich da. Der Arzt war erfreut zu sehen, dass ich anscheinend keine Drogen nahm. Wow, welche Überraschung. Das hätte ich ihm gleich sagen können. „Wenn du mich begleiten würdest, dann würde ich dir gern Doktor Arisawa vorstellen“ sagte er noch und führte mich aus der Pädiatrie. Wir gingen einen langen Gang entlang in ein verbundenes Nebengebäude. Über dem Eingang las ich ein Schild, das mich schlucken ließ. Psychiatrie. Sie waren anscheinend wirklich der Auffassung, ich hätte meinen Verstand verloren. „Ich bin nicht verrückt“ murmelte ich leise. Ich dachte der Arzt würde mich nicht hören, aber er neigte seinen Kopf zu mir und antwortete: „Ja, ich weiß. Mit dir ist alles in Ordnung, keine Sorge. Aber deine Amnesie hat keine organische Ursache, also bleibt nur ein psychisches Problem. Aber das ist gut, denn in den meisten Fällen erlangen die Patienten ihre Erinnerungen zurück. Ich meine, es ist zumindest besser als ein Hirntumor, findest du nicht?“ Okay, aufbauen kann der Typ nicht. Wir kamen vor einem Behandlungsraum zum Stehen und er klopfte. Dann öffnete sich die Tür und vor uns stand eine Frau mit brünettem, gelocktem Haar, hellblauen Augen und einer Brille. „Das ist Yusei Fudo“ sagte der Mann, mit dem ich hierhergekommen bin. Sie sah mich an und lächelte. „Hallo, mein Name ist Mariko Arisawa. Ich habe schon auf dich gewartet, komm doch rein.“ Ich betrat den Raum und sah mich etwas um, während die beiden sich noch unterhielten. Ich hatte mir ehrlich gesagt jede Menge Bücherregale und Aktenschränke an den Wänden vorgestellt. Irgendeine Seelenklempnerbank und einen großen Sessel daneben. Alles in tristem Grau oder ausgewaschenem Braun. Aber das war das komplette Gegenteil. Es sah mehr aus wie ein normales Wohnzimmer. Der Raum war in blassen Gelb- und Orangetönen gehalten und in der Mitte stand ein niedriger Tisch zwischen einem Sofa und einem gepolsterten Stuhl. Die Fenster waren groß, daran waren bodenlange Vorhänge angebracht, und an den Wänden hingen viele Fotos. Erst jetzt sah ich wirklich einige Regale mit Büchern, dazwischen etwas Deko. Im ganzen Raum verteilt standen viele unterschiedliche Pflanzen. Um ehrlich zu sein, sah es hier ganz nett aus. „Setz dich doch“ sagte die Frau, die plötzlich neben mir stand, freundlich und deutete auf das Sofa. Ich nahm Platz und wartete ab. Ich hatte nicht sonderlich viel Lust auf dieses Gespräch. „Willst du was trinken?“ fragte sie. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf. Könnte ich dieses Gespräch nicht einfach hinter mich bringen? Sie setzte sich auf den Stuhl und musterte mich eine kleine Weile schweigend. „Auf welche Schule gehst du?“ fragte sie plötzlich. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet, also brauchte ich etwas, ehe ich antwortete: „Auf die Crimson-Oberschule.“ Sie kicherte amüsiert. „Ist Sensei Ushio immer noch der Sportlehrer? Ich hatte mich damals ständig mit ihm in der Wolle gehabt.“ Etwas verwirrt musterte ich sie. „Ja, er ist mein Sportlehrer.“ Sie nickte und stellte mir weitere Fragen zu meiner Klasse, dem Unterricht und meinen Freunden. Ab und zu schrieb sie etwas auf. Der eigentliche Grund meiner Anwesenheit rückte in meinem Kopf immer weiter in den Hintergrund. Das Gespräch ging weiter mit Fragen über Hobbys, meinen Nebenjob in der Werkstatt und dem Klavier spielen. Auch über die Pause davon, die ich eingelegt hatte. Darüber kamen wir schließlich zu meiner Mutter und ich sollte über meine Kindheit reden. Die meisten Erinnerungen daran waren wirklich schön. Doch dann kamen wir zu einem Thema, über das ich bisher nur mit Jaden geredet habe: dem Unfall. Sie schaffte es wirklich, dass ich ihr alles erzählte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich ihr. „Wie ist es dir danach ergangen?“ fragte sie. Ich hatte den Blick gesenkt und spielte in meinem Schoß nervös mit den Fingern. Wo sollte ich denn anfangen? „Ich meine vor dem Umzug“ fügte sie hinzu. Ich seufzte. „Ich ging nicht mehr zur Schule“ begann ich und biss mir auf die Unterlippe. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich nie von meiner alten Klasse verabschiedet hatte. „Mein Vater flüchtete sich in die Arbeit und schottete sich immer mehr ab. Ich konnte einfach nicht richtig mit ihm reden. Und Kalin war mit der Situation überfordert. Ich hatte das Gefühl, als würde er mich meiden. Ich habe mich einfach im Stich gelassen gefühlt.“ Ich schwieg. Sehr viel mehr hatte ich nicht zu sagen. „Und die Beerdigung?“ Ich sah langsam aus dem Fenster. „Die war wirklich schön. Herr Kazuki hat eine Rede gehalten und einer der Kollegen meiner Mutter hat ‚Tears in Heaven‘ auf einem Klavier gespielt. Ein anderer hat gesungen. Das war etwas kitschig, aber es passte.“ Ich lächelte traurig. Ich glaube, ihr hätte das gefallen. „Das klingt wirklich schön“ sagte sie. Ich drehte meinen Kopf wieder in ihre Richtung und sah ihr Lächeln. Das meinte sie ernst. „Wie ging dein Vater mit der Beerdigung um?“ Ich musste etwas überlegen, aber mir fiel nur eine Sache ein, die ich nie vergessen werde. „Er hat nicht geweint.“ Sie schrieb etwas und stellte währenddessen eine weitere Frage. „Hast du eine Vermutung, woran das gelegen haben könnte?“ Wie oft hatte ich mir diese Frage schon gestellt, aber kam doch zu keinem Ergebnis? „Nein.“ „Verstehe. Und nachdem ihr aus Osaka hierhergezogen seid, wie ging es dir damit?“ Das war nicht schwer zu beantworten. „Ich war sauer.“ „Auf wen?“ Was war das denn für eine Frage? „Auf meinen Vater. Er hat mich nicht mal gefragt, sondern einfach beschlossen, dass wir wegziehen.“ „Hat er dir einen Grund genannt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und senkte wieder den Blick. „Aber wie es aussieht, hast du dich ganz gut eingelebt. Hast du schnell Anschluss gefunden?“ Ich musste schmunzeln, als ich mich an die Anfänge in der Schule erinnerte. „Nein, die Jungs aus der Klasse konnten mich nicht leiden. Jaden hat mich mehr oder weniger in die Gruppe geschupst.“ „Wie hast du ihn denn kennengelernt?“ Diese Antwort war mir etwas peinlich. „Ein Mädchen aus der Klasse hat mich gefragt, warum wir umgezogen sind. Ich habe Panik bekommen, und bin dann auf die Toilette geflüchtet, um mich abzureagieren. Da traf ich ihn zum ersten Mal und er hat mich ohne Vorwarnung einfach zur Krankenstation geschleppt und dort abgesetzt. Am gleichen Tag hat er durch Zufall gesehen, dass ich ganz gut mit dem Fußball umgehen kann, also hat er mich in die Mannschaft aufgenommen. Ich war nicht sehr begeistert, aber schließlich hat er mich weichgeklopft. Nach und nach bin ich dann auch mit den anderen warm geworden.“ „Diese Panik. Hattest du die öfter?“ „Ja, manchmal. Aber es ist besser geworden.“ „Und in welchen Situationen hast du diese Panik gespürt?“ Ich überlegte, ob es irgendeinen Zusammenhang geben könnte. „Es ging eigentlich immer um meine Eltern“ überlegte ich laut und sah sie wieder an. „Entweder dachte ich an den Unfall, oder jemand hat mich auf meinen Vater angesprochen, der im Krankenhaus liegt.“ Sie nickte und krizelte wieder etwas in ihren Block. „Hast du noch andere unangenehme Reaktionen auf den Unfall gezeigt? Also damit meine ich zum Beispiel diese Panik, aber hattest du Alpträume oder ebenfalls Gedanken dir etwas anzutun?“ Bei dem Wort ‚Alpträume‘ zuckte ich kaum merklich zusammen. „Nein, ich hänge an meinem Leben“ sagte ich ausweichend und mied ihren prüfenden Blick. „Aber du hast Alpträume“ stellte sie fest. Verdammt. Ich nickte, aber sagte nichts. Eine kleine Weile schwiegen wir und ich sah vorsichtig zu ihr. Sie musterte mich noch immer. Ich seufzte und erzählte schließlich doch noch davon. „Aber…“ fügte ich hinzu, als mir etwas klar geworden war. „Seit einigen Tagen schlafe ich wieder normal.“ „Seit wann genau?“ Wieder überlegte ich. So ganz genau konnte ich es nicht sagen. „Ich weiß nicht, ein paar Tage.“ „Kannst du dich an das letzte Mal erinnern?“ „Hm… Ich glaube, an dem Wochenende als wir nach Osaka gefahren sind.“ „Und was hast du an dem Wochenende gemacht?“ „Am Samstag war ich arbeiten und dann…“ Ich musste kurz lächeln. „Dann habe ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder vor einer anderen Person Klavier gespielt.“ Auch sie lächelte. „Und vor wem?“ „Jaden.“ „Er bedeutet dir viel, nicht wahr?“ stellte sie fest. Wieder wich ich ihrem Blick aus, nickte aber. Ich spürte eine angenehme Wärme, die sich in meinem Körper ausbreitete. Ich schmunzelte wieder und dachte an den Abend zurück. Ich hätte ihn fast geküsst. „Und am Sonntag?“ fragte sie nach einer kurzen Stille. „Wir sind zu Herr Kazuki gefahren und dann habe ich Jaden die Stadt gezeigt. Ich glaube, er hat sich wirklich wahnsinnig darüber gefreut. Nachmittags haben wir Kalin und Sherry getroffen und ich habe mich ziemlich mit ihm gezofft. Ich könnte Ihnen den Grund nicht mal mehr sagen, es war einfach zu lächerlich. Danach sind wir wieder zum Anwesen zurückgefahren.“ „Hast du danach nochmal mit Kalin gesprochen?“ Hm… „Ich glaub nicht“ antwortete ich leise. Oder doch? Nein, ich hatte Kalin danach nicht mehr gesehen. „Ist an dem Tag noch etwas passiert?“ Wieder überlegte ich. Wie war das noch? Wir sind zum Anwesen zurückgefahren und ich bin kurze Zeit später in den Garten zum Brunnen gegangen, und dann… Ich riss die Augen auf und spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss. Schnell senkte ich den Blick, ehe sie etwas mitbekam und versuchte mich wieder zu beruhigen. Das war der Abend, an dem mir Jaden sagte, dass er in mich verliebt ist. Als ich glaubte, meine Gesichtsfarbe hätte sich wieder normalisiert, sah ich wieder auf. Sie lächelte mir sanft entgegen und ich wurde gleich wieder rot. Es bringt nichts, sie hat es vorhin wahrscheinlich schon gesehen. „I-Ich…“ setzte ich an, doch wusste nicht, wie ich weitersprechen sollte. Aber sie wartete geduldig. Wieder mied ich ihren Blick, bevor ich weitersprach. „Er… hat mir gesagt, er ist in mich verliebt“ sagte ich leise. Und dann hat er seine Lippen plötzlich auf meine gelegt. Ihr Lächeln wurde breiter. „Und was hast du gesagt?“ Meine Gesichtsfarbe wurde vermutlich wieder ein Stück dunkler. „Nichts… Ich habe ihn einfach geküsst.“ Ich fand, damit war die Sache klar. Er wusste doch, was ich damit aussagen wollte. Denke ich. „Und der nächste Tag?“ fragte sie wieder. „Was hast du am Montag gemacht?“ Diese Frage habe ich mir seit gestern ständig gestellt, aber ich kam nur auf eine Situation, die an diesem Tag passiert ist. Ich war mit Saki im Musikzimmer auf dem Anwesen. Der Rest ist nur eine vage Erinnerung im Nebel. Ehrlich gesagt sah es die Tage darauf nicht besser aus. Ich war auf Arbeit, in der Schule und bin irgendwie bei Jaden eingezogen. Es wird erst ab letzten Samstag wieder klarer. Ich kann es nicht länger leugnen… Sie hatten alle recht. Die ganze Zeit habe ich mir eingeredet, ich wüsste, was an diesen Tagen passiert ist, doch in Wahrheit habe ich keine Ahnung. „Ich weiß es nicht“ murmelte ich. Diese Worte auszusprechen war schwer für mich. Wie sollte ich das nur akzeptieren? „Schon gut“ sagte sie beruhigend. „Du wirst dich schon wieder daran erinnern. Ich helfe dir dabei.“ Ich sah sie ungläubig an. Wieso war sie sich da so sicher? „Naomi hat mir erzählt, du hättest in den letzten Tagen manchmal aus heiterem Himmel Kopfschmerzen bekommen.“ Stimmt, jetzt wo sie es sagt. Das ist ein paar Mal passiert. „Ich glaube, das sind Erinnerungen, die durch irgendeinen Auslöser hochkommen wollten. Wenn so etwas wieder passiert, versuch dich nicht dagegen zu wehren. Solltest du dich dann an etwas erinnern können, sprich mit jemandem darüber. Du kannst auch mich jederzeit erreichen.“ Sie legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Bedeutet das…“ setzte ich an. „Heißt das, dass ich nicht hierbleiben muss?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte. „Nein, keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass du heute entlassen wirst.“ Ich atmete erleichtert auf. Anscheinend dachten nicht alle, ich hätte den Verstand verloren. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich folgenden Vorschlag machen“ sprach sie weiter. „Wir werden in einigen Sitzungen versuchen, diese Erinnerungen wieder hervorzuholen. Eine bewährte Methode dafür ist zum Beispiel Hypnose.“ Ich musterte sie skeptisch. „Jetzt schau nicht so“ lachte sie. „Ich weiß, das klingt ziemlich esoterisch, aber glaub mir, es funktioniert.“ Ich sah auf den niedrigen Tisch. „Aber… es muss doch einen Grund geben, warum ich mich nicht erinnern kann… Was, wenn ich… Keine Ahnung. Wenn ich es nicht ertrage, dass diese Erinnerungen wiederkommen?“ Ich sah wieder zu ihr und sie lächelte. „Dann werde ich dir helfen, sie zu bewältigen. Ich weiß, das hört sich furchteinflößend an, aber du bist stärker als du vielleicht denkst.“ Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. „Na schön, Yusei. Ich finde, wir sind heute schon ziemlich weit gekommen. Ich begleite dich wieder auf das Krankenzimmer und mache dann ein paar Unterlagen fertig, einverstanden?“ Ich nickte. Das Gespräch verlief weitaus weniger schlimm als ich anfangs dachte. Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert. * Die Sicht von Naomi * Auf dem Weg ins Haus F wurde ich immer nervöser. Doktor Arisawa klang am Telefon nicht besorgt und sagte auch, dass Yusei heute wieder entlassen werden könne, aber ich wusste dennoch nicht, was ihm fehlte. An ihrem Büro angekommen, atmete ich noch einmal tief durch und klopfte. Einen Augenblick später bat sie mich herein. „Naomi, schön, dass du so schnell kommen konntest“ begrüßte sie mich. Ich lächelte. „Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet. Die Sitzung hat ziemlich lange gedauert, ist alles gut gegangen?“ „Ich war selbst überrascht. Nach dem was dein Mann mir erzählt hat, dachte ich, er würde kaum etwas Preis geben“ sagte sie schmunzelnd. „Aber er war wirklich gesprächig.“ „Yusei war gesprächig?“ fragte ich skeptisch. Sie lachte. „Naja, anfangs nicht, aber mit der Zeit wurde es besser. Gerade bei den sensibleren Themen war er erst ziemlich schweigsam. Aber setz dich doch erstmal.“ Ich folgte ihrer Einladung, nahm auf dem Sofa Platz und sah sie abwartend an. „Jetzt zum eigentlichen Grund, warum du hier bist. Ich habe genug erfahren, um eine Diagnose erstellen zu können. Gestern habe ich schon ein langes Gespräch mit deinem Mann über die ganze Sache geführt. Apropos, hast du die Vollmacht mit?“ Ach stimmt, diese überkorrekte Krankenhausbürokratie. Ich holte das Dokument aus meiner Tasche und reichte es ihr. „Sehr gut, Danke“ sagte sie und legte es in die Akte, die auf dem Tisch lag. „Na schön…“ Sie blätterte in der Akte herum. „Meines Erachtens nach, hat er seit dem Unfall eindeutige Symptome einer PTBS*. Die Panikattacken, die Alpträume, die er seitdem hatte, oder die aktive Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. In seinem Fall war das diese Pause vom Klavier spielen und die anfängliche Verweigerung, Fotos oder Erinnerungsstücke in der Wohnung zu platzieren. Allerdings war er schon, dank der Unterstützung einiger seiner Mitmenschen, dabei, das Trauma als einen Teil seiner Lebensgeschichte zu integrieren, was schon ein großer Schritt bei einer Therapie ist. Ich bin mir sicher, wäre diese Gerichtsverhandlung nicht gewesen, hätte er es erstaunlich schnell verarbeiten können. Aber irgendetwas muss an diesem Tag ausschlaggebend gewesen sein, dass er eine weitere psychische Störung entwickelt hat.“ Ich seufzte. „Ja, ich weiß. Mein Mann vermutet, es wären die Arztberichte gewesen. Von diesem Zeitpunkt an hat Yusei nicht mehr auf ihn reagiert. Und du willst jetzt andeuten, dass die PTBS eine weitere Erkrankung begünstigt hat?“ Sie nickte. „Kurz gesagt: Eine dissoziative Amnesie nach einem psychischen Trauma.“ „Bist du sicher?“ „Ja, aber diese Krankheit ist reversibel und ich begleite den Prozess in der Traumatherapie. Du wirst sehen, er ist bald wieder der Alte. Die Amnesie stellt eine Art Schutzfunktion dar, indem sie Yusei davor bewahrt, sich erneut mit den belastenden Erlebnissen auseinandersetzen zu müssen. Aber er wird lernen, damit umzugehen.“ „Das hoffe ich. Aber was ist mit seinem nächtlichen Ausflug?“ gab ich zu bedenken. „Ist das auch eines der Symptome?“ „Nein, nicht ganz, aber dazu habe ich auch eine Vermutung“ fuhr sie fort. „Es gibt da ein ungewöhnliches Phänomen, das manchmal bei dissoziativer Amnesie auftritt. Die dissoziative Fugue. Sie manifestiert sich oft als plötzliches, unerwartetes, zielgerichtetes Weggehen von zu Hause. Die Betroffenen erinnern sich nicht an ihr Verschwinden. Das würde zumindest auch seine veränderte Persönlichkeit in letzter Zeit erklären.“ Schlüssige Theorie, das muss ich sagen. „Und was können wir machen, um ihn zu unterstützen?“ Wieder lächelte sie. „Ihr könnt nicht mehr für ihn tun, als ihr schon die ganze Zeit über gemacht habt. Glaub mir Naomi, du tust instinktiv das Richtige. Ich glaube wirklich, er fühlt sich wohl bei euch.“ Ich erwiderte ihr Lächeln. Ich war wirklich erleichtert über ihre Worte, aber eines wollte ich dazu noch wissen. Nur, um sicherzugehen. „Ist es ratsam, ihn weiterhin bei uns wohnen zu lassen, oder sollte er in sein gewohntes Umfeld zurückkehren?“ Ich hatte ihn gern bei uns, aber wenn es besser war, ihn wieder im Haus seines Vaters wohnen zu lassen, dann wollte ich dem nicht im Weg stehen. „Überlass ihm die Entscheidung“ antwortete sie. „Natürlich ist das gewohnte Umfeld optimaler, aber er wohnt zurzeit allein. Er muss zwar nicht ständig unter Beobachtung gestellt werden, aber es wäre dennoch gut, wenn jemand ein Auge auf ihn hat.“ „Ich danke dir, Mariko. Ach, bevor ich es vergesse: Weißt du, was mit seinem Vater ist?“ „Du weißt genau, dass ich dir darüber nichts erzählen darf.“ „Ja, schon gut. Ich will nur wissen, ob er nächste Woche wieder entlassen werden kann. Das wäre auch für Yusei wichtig zu wissen.“ Sie seufzte. „Nein, vermutlich nicht. Versteh das nicht falsch, er macht große Fortschritte, aber mein Kollege will auf Nummer sicher gehen. Sein Aufenthalt wird wahrscheinlich um vier Wochen verlängert.“ Ich sah sie etwas geknickt an. „Verstehe.“ ~*~ Auf der Pädiatrie angekommen sah ich auf seinem Zimmer nach, aber überraschenderweise war er nicht da. „Hey, weißt du wo Yusei ist?“ fragte ich meine Kollegin. Sie kicherte. „Aiko hat ihn schon wieder in Beschlag genommen. Die Kleine hat wohl einen Narren an ihm gefressen. Sie sind im Aufenthaltsraum.“ Ich bedankte mich und ging in das große Spielzimmer. Dort stand ich noch einen Augenblick in der Tür und schmunzelte. Es war ein ähnliches Bild wie gestern Abend. Yusei saß mit einem Buch auf dem Sessel, Aiko auf seinem Schoß und drei weitere Kinder hatten sich ein Kissen geschnappt und sich vor ihm auf den Boden gesetzt. Die kleine Gruppe hörte ihm gebannt zu. Er sah zufrieden aus. Ich hatte das Gefühl, ganz unfreiwillig machte er das nicht. Es war ein schöner Anblick und ich seufzte zufrieden. Er klappte das Buch zu und war anscheinend fertig mit der Geschichte. „Noch eine!“ forderte eines der Kinder und mein Lächeln wurde breiter. Ich ging auf sie zu als Yusei sich an das Kind wandte. „Tut mir leid, aber ich muss gleich gehen.“ „Nein“ sagte eines der Kinder traurig und Aiko sah ihn hoffnungsvoll an. „Aber morgen kommst du wieder, ja?“ Yusei sah sie etwas zerknirscht an und ich schritt ein. „Aiko, Liebes, es ist Zeit für deinen Verbandswechsel. Kommst du kurz mit?“ „Aber er soll morgen wiederkommen!“ beharrte sie. Ich beugte mich zu ihr herunter. „Aber freust du dich nicht für ihn, dass er nach Hause darf?“ Sie sah betreten zu Boden. „Doch…“ „Schon gut“ sagte Yusei plötzlich und wir sahen ihn an. Er lächelte. Das war in den letzten Tagen ein eher seltener Anblick. „Ich komme dich in den nächsten Tagen mal besuchen, einverstanden?“ Aikos Gesicht erhellte sich und sie umarmte ihn noch kurz, ehe sie aufstand und in ihr Zimmer lief. „Bist du sicher, Yusei?“ fragte ich, als er das Buch wieder im Regal verstaute. Er drehte sich zu mir und sah mich verwundert an. „Klar, ich bin in nächster Zeit sowieso oft hier. Da kann ich danach auch hierherkommen.“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er sich seit gestern etwas verändert hatte. Er wirkte offener. Und diesen Vorschlag hätte er in den letzten Tagen wohl auch nicht gemacht. „Doktor Arisawa hat eben deine Entlassungspapiere unterzeichnet. Wenn du willst, können wir gleich losfahren.“ Er nickte und gemeinsam verließen wir die Pädiatrie. Auf dem Weg zum Auto überlegte ich, wie ich das nächste Thema ansprechen konnte. Ob ich ihn bei ihm absetzen sollte, oder ob er wieder zu uns kommen wollte. Ich hielt es definitiv für besser, wenn er noch eine Zeit bei uns verbringen würde, statt allein in diesem einsamen Haus zu sein, aber Mariko sagte, ich sollte die Entscheidung ihm überlassen. „Yusei?“ setzte ich an und er blickte neugierig zu mir. „Willst du erstmal bei uns bleiben?“ Seine Augen wurden größer und er senkte den Blick. Mein Herzschlag erhöhte sich. Ich wartete geduldig auf seine Antwort. „Ist es… wirklich in Ordnung, wenn ich noch eine Weile bei euch bleibe? Ich will niemandem zur Last fallen“ sagte er schließlich und blickte mich aus traurigen Augen an. Erleichterung breitete sich in mir aus und ich lächelte sanft. Er wollte nicht allein sein. Ich blieb stehen, strich ihm durchs Haar und antwortete: „Mach dir keine Gedanken. Du fällst uns nicht zur Last und wir haben dich gern bei uns.“ Er lächelte erleichtert. ~*~ Kurz bevor ich mit Yusei zu Hause angekommen war, blickte ich noch einmal auf die Uhr. Es war schon kurz vor sechs und die Kinder sind mittlerweile auch da. Doch noch bevor ich die Haustür öffnen konnte, wurde sie aufgerissen und Jaden stand vor mir. Ich sah ihn überrascht an. Ob er schon wieder am Fenster gewartet hat? Er blickte an mir vorbei und lief auf Yusei zu, um ihn zu umarmen. Einen kleinen Moment lang wirkte Yusei etwas überfordert, aber schließlich lächelte er sanft und erwiderte die Umarmung meines Sohnes. Ich lachte leise und ging schon ins Haus. Die beiden waren wirklich süß. Kapitel 17: Schlechter Tag -------------------------- Wir standen auf dem Weg, der zu unserem Haus führte und ich klammerte mich noch einen Augenblick fest an ihn. Seine Arme lagen sanft um meinen Körper und ich spürte seine Wärme. Um uns herum war es dunkel und kalt, doch ich ignorierte es. Ich fühlte nur seine Nähe. Yusei war wieder aus dem Krankenhaus raus und ich war einfach nur glücklich und erleichtert ihn wieder bei mir zu haben. Meine schlimmste Befürchtung war, dass er auf der Station bleiben musste und enden würde wie sein Vater. Aber das ist er nicht. Er ist wieder zu Hause. Wieder bei mir. Langsam und widerwillig löste ich mich von ihm, da meine Eltern sicher stutzig werden würden, wenn wir so lange vor dem Haus standen. Ich hob den Kopf ein wenig und sah in diese wunderschönen tiefblauen Augen, in denen wieder etwas mehr Leben steckte. Erleichtert lächelte ich ihn an. Mein Herz schlug schneller vor Glück, als er mein Lächeln erwiderte. Meine große Angst vor dem Wiedersehen war, dass er vielleicht sauer auf mich sein könnte. Schließlich hatte ich meiner Mutter erzählt, dass er sich nicht an die Verhandlung erinnern konnte. Es fühlte sich an als hätte ich ihn verraten, aber ich war mich sicher, dass ich das Richtige getan hatte. Am nächsten Tag fuhr mein Vater mit ihm ins Krankenhaus. Als Yusei noch in der Tür stand, und sich umdrehte, sah er mich irgendwie enttäuscht an. Sein Blick schnürte mir die Brust zu. Ich bekam in diesem Moment plötzlich keine Luft mehr. Aber wenn ich ihn jetzt ansah, konnte ich genau erkennen, dass ich das Richtige getan hatte. Dass er wirklich nicht sauer auf mich war, und dass ihm die letzten zwei Tage gutgetan hatten. Auch, wenn ich lieber bei ihm gewesen wäre. Plötzlich spürte ich wieder den eisigen Wind, der die Blätter um uns herumtanzen ließ, nahm seine Hand und ging mit ihm gemeinsam ins Haus. „Hallo, Yusei“ begrüßte ihn mein Vater mit einem Lächeln. „Ihr kommt genau richtig. Das Abendessen ist fertig. Hast du Hunger?“ Zögerlich nickte Yusei und wir betraten das Esszimmer, wo schon der Rest meiner Familie saß. Während wir aßen, erzählte mein Vater von einem neuen Jugendprojekt, das ins Leben gerufen wurde, aber ich hörte nur halb zu. Mich beschäftigte immer noch die Frage, ob Yusei wohl noch die Erinnerung an unseren Kuss geblieben ist. Es ließ mir einfach keine Ruhe, aber ich wusste nicht, wie ich ihn darauf ansprechen sollte. Vielleicht würde er mich wieder mit diesem ungläubigen, geschockten Blick ansehen. Dabei wollte ich ihn nur wieder glücklich wissen. Aber wie sollte ich es schon herausfinden können, ohne ihn zu fragen? Ich konnte ihn schlecht aus heiterem Himmel einen Kuss aufdrücken, wie beim letzten Mal. Schon bei der bloßen Erinnerung daran fühlte ich, wie sich eine unglaubliche Wärme in meinem Körper ausbreitete und mir bis ins Gesicht schoss. Ich schielte zu ihm rüber. Er war still und in sich gekehrt. Irgendwie in Gedanken versunken. Woran er wohl gerade dachte? Plötzlich trafen sich unsere Blicke und ich richtete meine volle Aufmerksamkeit schnell auf meinen Teller. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag ganz deutlich hören und ich hatte die Befürchtung, es würde jeder am Tisch genauso wahrnehmen können. Beruhige dich wieder, verdammt! Um mich herum führte meine Familie ihre Unterhaltung weiter, aber es war mehr ein Rauschen im Hintergrund. Ich konzentrierte mich darauf, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen und aß etwas. Inständig hoffte ich, dass sie nicht mit mir reden würden. „Was hältst du davon, Jaden?“ Natürlich, Worstcase! Ich verschluckte mich fürchterlich an meinem Reis und musste husten. „Meine Güte, Jaden!“ beschwerte sich Alexis während meines Hustenanfalls. „Papa hat doch nur gefragt, ob du Samstag auch mit zu unseren Großeltern fahren willst. Wo warst du denn eben in Gedanken?“ Das kann ich ihr wohl schlecht erzählen. Immer noch hustend, schnappte ich mir mein Glas und nahm einen großen Schluck. Ich setzte es wieder ab und seufzte erleichtert. Da fiel mir ein, dass mein Vater immer noch eine Antwort erwartete. „Ja, klar“ brachte ich mühevoll heraus und hustete noch einmal kurz. Ich sollte wirklich mehr zuhören. Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer und zappte durch die Fernsehkanäle. Alexis war im Wohnzimmer und erklärte Yusei den Stoff, den er die letzten beiden Tage versäumt hatte. Außerdem türmten sich wohl ziemlich viele Hausaufgaben auf, bei denen ich absolut nicht helfen konnte, da ich einen Jahrgang unter den beiden war. Ich hätte mich ja mit meinen Schularbeiten dazugesetzt, aber blöderweise war ich schon fertig und hatte deswegen aktuell keinen plausiblen Grund in seiner Nähe zu sein. Er kam erst ziemlich spät in mein Zimmer und ich schreckte hoch, weil ich eingedöst war. „Hey, hast du alles erledigt?“ fragte ich mit einem Lächeln. Er nickte und kramte ein paar Klamotten aus seiner Tasche. Seine Augen, seine Haltung. Alles deutete darauf, dass er ziemlich fertig war. „Du bist sicher müde“ stellte ich fest. „Ja, ich geh noch ins Bad und dann geh ich schlafen“ sagte er leise. Ich konnte verstehen, dass er ausgelaugt war. Schließlich war er den ganzen Tag im Krankenhaus und hatte dieses Gespräch mit dem Therapeuten. Außerdem ist er ziemlich spät nach Hause gekommen und hat fast drei Stunden Schularbeiten erledigt. Da wäre ich auch platt. Heute werde ich ihn wohl nicht fragen können, aber das hatte auch Zeit. Schließlich sollte es ihm erstmal wieder besser gehen. Als er wieder im Zimmer war, stellte ich das Licht aus und legte mich ebenfalls schlafen. Ich hatte ihn in den letzten beiden Tagen wirklich vermisst. Es war erstaunlich, wie schnell ich mich daran gewöhnt hatte, dass er bei mir im Zimmer schlief. Sein gleichmäßiger Atem beruhigte mich und hüllte mich schließlich ebenfalls in einen seligen Schlaf. ~*~ Als ich meine Augen öffnete, tauchte die aufgehende Sonne den Raum in ein warmes Licht. Ich erhob mich und stand vor Yusei. Er kam langsam auf mich zu. Seine tiefblauen Augen schienen mich zu durchbohren. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Seine Arme legten sich sanft um meine Taille und zogen mich näher an ihn heran. Sein sanfter Kuss jagte eine Flut an Gefühlen durch meinen Körper. Er fuhr mit einer Hand meine Wirbelsäule entlang und es fühlte sich an, als würde er dabei jeden Millimeter meiner Haut mit seinen Berührungen in Brand stecken. Ich krallte meine Hände fest in dieses seidige schwarze Haar. Ich wollte ihn näher bei mir haben. Wollte mehr haben. Seine Berührungen raubten mir die Sinne. Er zog mich fester an sich. Drückte mich gegen sein Becken und ich stöhnte in den Kuss hinein. „Jaden?“ drang seine schöne Stimme an mein Ohr. Er küsste sich sanft meinen Hals hinab und jede dieser federleichten Berührungen jagte mir einen angenehmen Schauer durch den Körper. „Jaden, wach auf.“ Was? Ich öffnete meine Augen und saß mit einem Schlag aufrecht im Bett. Meine Atmung ging flach und mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen. Was war das denn für ein Traum? „Alles in Ordnung?“ hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme und mein Kopf fuhr zur Seite. Im nächsten Augenblich gab ich einen erstickten Schrei von mir und wich zurück. Yusei sah mich überrascht an. „Du hast gestöhnt, ich dachte, du hättest einen Alptraum.“ Augenblicklich wurde ich feuerrot im Gesicht und wandte den Blick ab. Scheiße, ist das peinlich! Mit Alptraum lag er gar nicht so falsch. Diese Situation war einer! „N-Nein, alles gut. Ich hab nur… Mir geht’s gut“ stammelte ich und hoffte dabei auf irgendeine Rettung. Mein Wecker klingelte und ich zuckte zusammen. Danke! Jetzt ist es auch zu spät! Ich stellte ihn aus, legte mich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf. „Geht’s dir wirklich gut?“ Seine Stimme klang besorgt. „Alles gut, ich komm gleich runter“ antwortete ich mit zittriger Stimme. „Ich will nur noch ein paar Minuten liegen bleiben.“ Im Augenblick konnte ich schlecht mein Zimmer verlassen… Als ich schließlich doch irgendwann im Bad war und anschließend die Treppe runterging, hörte ich die Stimme von Alexis. „Wenn er nicht gleich unten ist, gehe ich mit einem Eimer kalten Wasser hoch und wecke ihn.“ Immer diese Geschwisterliebe. „Schon gut, ich bin ja schon da“ sagte ich genervt, als ich um die Ecke bog. Ich hatte erwartet, sie würde mit Yusei sprechen. Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern, aber er war nicht da. Stattdessen sah mich meine Mutter mit erhobener Augenbraue an. Ich schluckte. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los als hätte ich irgendwas verpasst. „Jaden, ich habe doch gestern Abend beim Essen gesagt, dass ihr heute mit dem Fahrrad zur Schule fahren müsst. Yusei ist zu sich nach Hause gelaufen und fährt mit dem Motorrad zur Schule. Dein Vater ist vor einer Stunde zur Arbeit gefahren und ich komme gerade von der Nachtschicht. Ihr beiden müsst in zehn Minuten los, oder ihr kommt zu spät!“ Ach, verdammt! Ich habe doch gestern nicht zugehört! Kann dieser Tag eigentlich noch schlimmer werden? ~*~ Ich hätte das Schicksal nicht heraufbeschwören sollen. Niedergeschlagen brütete ich in der dritten Stunde über einem unangekündigten Geschichtstest und hatte bisher nicht eine Frage beantwortet. Das konnte nur ein Desaster werden. Nervös kaute ich am Ende meines Bleistifts herum als ob mir die Antworten dadurch einfallen würden. Die Hälfte der Zeit war schon vorüber. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Ich zuckte vor Schreck zusammen und hielt mir die Hände an die Ohren, um es etwas zu dämpfen. Meinen Klassenkameraden erging es ähnlich. Der Krach wollte einfach nicht aufhören. „Das ist der Feueralarm“ rief Sensei Banner über den Lärm hinweg. „Wahrscheinlich nur eine Übung. Bitte bewahrt Ruhe und stellt euch in einer Reihe auf! Wir verlassen das Gebäude.“ Auf dem Sammelplatz im Außengelände warteten wir darauf, dass der Alarm ausgestellt wurde. Einige hofften auf einen Feuerwehreinsatz und einen freien Schultag. Mir war völlig egal warum der Alarm los ging oder was danach war. Ich war einfach nur unglaublich erleichtert, dass ich diesen blöden Test nicht schreiben musste. Ich ließ meinen Blick über die Schar an Schülern schweifen, die sich geordnet in Reihen aufgestellt hatten, aber eine Klasse fehlte. „Hey, wo sind denn Jack, Crow und der Rest?“ fragte Jim, der sich ebenfalls umsah. „Keine Ahnung“ antwortete ich. „Ich kann Yusei und meine Schwester auch nicht sehen. Die ganze Klasse fehlt.“ In diesem Moment war der Alarm vorbei und Direktor Crowler erhob die Stimme. „Ich wurde soeben informiert, dass das Problem gelöst wurde. Ihr könnt wieder zurück in eure Zimmer gehen!“ Sensei Banner teilte uns mit, dass der Test leider auf Freitag verschoben werden muss und ich war nicht der Einzige, der darüber erleichtert war. In der Pause gab es kaum ein anderes Thema als den Feueralarm, und was wohl passiert sei. Auch in der Stunde darauf wurde fleißig getuschelt. In der Mittagspause lief ich wieder auf das Außengelände zu unserem Treffpunkt. Von weitem sah ich Jack und Crow, die sich schon wieder stritten, Alexis, die versuchte zu Schlichten und Yusei, der die ganze Situation mit etwas Abstand beobachtete. „Hey, was ist denn bei euch schon wieder los?“ fragte ich grinsend, als ich bei meinen Freunden ankam. Der Tag fing ziemlich beschissen an, aber dank des Alarms hatte ich wieder gute Laune. „Jetzt ist aber gut, ihr zwei!“ ging Alexis die beiden Streithähne an. „Ihr streitet darüber seit dem Alarm! Crow, sieh endlich ein, dass du einen Fehler gemacht hast, und Jack, hör auf Öl ins Feuer zu kippen!“ Jack hatte ein triumphierendes Lächeln aufgesetzt. Crow mied eingeschnappt seinen Blick und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ich fragte mich, was ich jetzt wieder verpasst hatte und setzte mich neben Yusei. „Was war denn los?“ fragte ich nochmal, bis mir eine weitere Frage einfiel. „Und wo wart ihr eigentlich bei dem Feueralarm?“ „Im Physikraum“ antwortete Alexis. „Hä? Ihr müsst doch aber das Gebäude verlassen, wenn der Alarm losgeht!“ „Ja“ mischte sich Jack ein, der jetzt als Letzter Platz nahm. „Aber wir kannten ja den Auslöser, also sagte Sensei Flannigan, wir sollten im Zimmer bleiben, bis der Alarm aufgehört hat und ist dann zum Hausmeister.“ Dadurch wurde ich auch nicht schlauer und sah ihn fragend an. Alexis seufzte schwer und setzte dann zu einer Erklärung an. „Wir sollten in Physik einen kleinen Gleichstrommotor anschließen, der sich dann in eine vorgegebene Richtung drehen sollte. Aber Crow hat es geschafft, einen Kurzschluss zu erzeugen, sodass der Motor anfing furchtbar zu qualmen und der Feueralarm losging.“ „Man, jetzt gib mir doch nicht die Schuld!“ echauffierte sich Crow. „Keine Ahnung, warum das Teil plötzlich anfing zu qualmen. Ich hab alles richtig gemacht!“ Ein Lachen war neben mir zu hören und mein Herz setzte einen kleinen Augenblick aus, ehe es mir bis zum Hals schlug. Kann das... So ziemlich jeder aus unserer kleinen Gruppe sah überrascht zu Yusei, der das anscheinend gar nicht bemerkte und immer noch leise lachte. Wann habe ich ihn das letzte Mal lachen gehört? Er drehte sich zu Crow und hatte noch immer dieses belustigte Lächeln im Gesicht. „Du hast den Motor falsch geschaltet und ihn statt einer Gleichstromquelle an eine Wechselspannungsquelle angeschlossen. Darum gab es den Kurzschluss.“ Irritiert blieb unserem orangehaarigen Freund der Mund offenstehen. „Achso…“ brachte er gerade noch heraus. Jack konnte sich nicht mehr halten und lachte über Crows Gesichtsausdruck. Als ich meine Verwirrung überwunden hatte stimmte auch ich in Jacks Gelächter ein. Crow wirkte kurz beleidigt, konnte sich ein verlegenes Grinsen aber auch nicht verkneifen. „Welchen Witz haben wir denn verpasst?“ fragte Aki, die sich in diesem Moment mit Carly zu uns gesellte. „Crow hat den Feueralarm wohl aus Versehen in Physik ausgelöst“ antwortete ich belustigt. „Dann muss ich dir danken!“ säuselte Carly fröhlich. „Ich hatte wirklich keine Lust auf den Vortrag, den ich halten sollte.“ Aki kicherte. „Ach komm, du hättest sowieso wieder als Klassenbeste abgeschnitten!“ Carly sah sie verlegen an und warf dann Yusei einen kurzen Blick zu, anschließend mir. Ich lächelte und sie erwiderte es, ehe sie sich an Jack wandte. „Übrigens, wegen Morgen. Ich kann leider nicht mitkommen.“ „Was?“ fragte Crow überrascht. „Wegen dir haben wir uns doch überhaupt auf den Film geeinigt!“ „Ich weiß, tut mir leid. Familienfeier und ich kann nicht absagen, aber ihr könnt ja trotzdem gehen!“ „War das dieser Zombie-Film?“ fragte Alexis. Jack nickte. „Dann bin ich raus.“ „Warum?“ fragte ich Alexis und grinste verschmitzt. „Ist doch dein Lieblingsschauspieler dabei.“ „Ach, halt die Klappe!“ „Also ich bin dabei“ sagte Aki, die plötzlich neben Yusei saß und ihn ansah. „Kommst du auch mit?“ Er biss gerade in seinen Apfel. „Hm?“ Aki kicherte. „Hast du den Trailer noch gar nicht gesehen? Morgen 21 Uhr ist Premiere. Wir wollten davor noch Pizza essen gehen.“ „Wo ist denn das Kino?“ fragte er. „Ach stimmt“ sagte Crow. „Ganz vergessen, dass du neu in der Stadt bist. Das Kino ist ganz oben im Einkaufszentrum in der Innenstadt.“ „Hm… Das mit dem Essen werde ich nicht schaffen, aber zum Film kann ich rechtzeitig da sein.“ „Sehr schön!“ Aki legte ihre Hand auf seine, lächelte ganz glücklich und ein leichter Rotschimmer legte sich auf ihre Wangen. Freut sie sich wirklich einfach nur, dass er mitkommt, oder ist sie… „Cool, dann bleibt das ja bei den fünf Karten, die ich vorbestellt hab!“ sagte Crow grinsend. ~*~ Gegen Ende des Trainings schweifte mein Blick zum Spielfeldrand und traf auf Carly und Aki, die uns zusahen. Carly verstand ich ja noch, sie sah wegen Jack häufig zu, aber Aki? Ich glaube, sie habe ich noch nie während des Fußballtrainings gesehen. Warum der Sinneswandel? Ich konnte nicht erklären warum, aber es nervte mich ein wenig. „Vorsicht, Jaden!“ holte mich eine Stimme aus meinen Grübeleien und ich drehte mich um. „AU!“ Im nächsten Moment traf mich ein Ball direkt in der Magengegend. Ich verlor das Gleichgewicht und landete auf meinem Hintern. Das hatte ich jetzt von meiner Unkonzentriertheit. „Alles in Ordnung?“ Yusei blieb direkt vor mir stehen und reichte mir seine Hand. Ich hielt mir immer noch meinen schmerzenden Bauch und ergriff seine helfende Hand, die mich wieder auf die Beine zog. „Danke“ stöhnte ich. Das tat echt verdammt weh. „Geht’s dir wirklich gut? Normalerweise bist du beim Training immer bei der Sache.“ Ich sah für einen Augenblick wieder zu Aki und Carly und Yusei folgte meinem Blick. Aki winkte uns zu. Unwillkürlich verstärkte ich den Griff um seine Hand. „Nein, alles okay“ sagte ich und sah wieder grinsend zu Yusei. „Ich war nur kurz abgelenkt. Mach dir keine Sorgen.“ Sein Blick ruhte noch einen Augenblick auf mir, schließlich nickte er und lief wieder zu den anderen. Ich versuchte wieder, mich auf das Training zu konzentrieren. Warum verhielt ich mich jetzt plötzlich so komisch? Das nervte mich selbst! ~*~ Zu Hause angekommen hatte ich beschlossen, Yusei endlich zu fragen. Ich wollte wissen, ob er sich noch an den Kuss erinnert. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung wie. Ich sah ihm an, dass es ihn immer noch fertig machte, weil er sich an nichts erinnerte. Auch, wenn es sich gebessert hatte. „Yusei…“ setzte ich an als wir in meinem Zimmer waren. Er stellte seine Tasche ab und musterte mich neugierig. „Naja, ich wollte dich was fragen.“ Ich legte meine Tasche auf meinem Schreibtisch ab und atmete tief durch. „Was ist denn los?“ Ich sah wieder zu ihm. Sein Blick war besorgt und ich musste trocken schlucken. Wie frage ich ihn das am besten? Um meine Worte zu sammeln, stützte ich mich mit einer Hand auf dem Schreibtisch ab. Besser gesagt auf meine Tasche, die nicht ganz auf dem Tisch lag. Dabei rutschte ich ab und sie stürzte zu Boden, ich hinterher. Yusei konnte mich gerade noch an den Schultern abfangen, ehe ich mit dem Kopf auf der Tischplatte aufgeschlagen wäre. Der Inhalt meiner Tasche verteilte sich dabei quer über den Boden. Ehrlich, das war nicht mein Tag! „Danke“ sagte ich etwas atemlos und betrachtete das Chaos, dass ich eben angerichtet hatte. Ich seufzte, kniete mich auf den Boden und begann alles einzusammeln. Yusei half mir. „Also ehrlich, Jaden“ sagte er plötzlich und sah mich mit einem belustigten Gesichtsausdruck an, während er zwei ziemlich lädierte Blätter in der Hand hielt. „Du solltest besser mit deinen Arbeitsblättern umgehen.“ Ich kratzte mir verlegen am Hinterkopf und grinste schief. Er hatte recht, ich war wirklich ziemlich schlampig mit meinen Schulsachen. Er versuchte sie wieder glatt zu streichen und betrachtete sie einen Augenblick. Für einen kurzen Moment lag Überraschung in seinem Blick, die aber schnell einer Leere wich. „Was hast du da?“ fragte ich neugierig und lehnte mich rüber um einen Blick auf die Blätter werfen zu können. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Scheiße, das ist der Artikel über die Gerichtsverhandlung, den ich von Carly hab! Ich dachte, den hätte ich schon weggeworfen! Ich sah wieder zu Yusei und wusste nicht, ob er wütend oder traurig war, während ich mich irgendwie an einer Erklärung versuchte. „Sorry, ich wusste nicht, dass das noch in meiner Tasche war! Ich wollte es eigentlich wegwerfen! Carly hat es mir gegeben. Sie wollte dir helfen, weil du letzte Woche so seltsam warst. Dabei hat sie den Artikel irgendwie gefunden. Aber es tut ihr leid und mir auch. Ich wollte nicht-“ „Schon gut.“ Ich sah ihn völlig irritiert an. Er war nicht sauer? „Ich bin nur überrascht, das ist alles“ sagte er mit einem kurzen Lächeln. „Es ist nur irgendwie seltsam etwas zu lesen, an das ich mich nicht erinnern kann, obwohl ich anscheinend dabei war…“ Er ließ die Blätter sinken, aber seine Augen waren wieder auf den Artikel gerichtet. Er war deswegen wohl ziemlich niedergeschlagen. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er ließ alle Luft geräuschvoll aus seinen Lungen entweichen und musste sich mit einer Hand am Tisch abstützen. Was war denn jetzt los?! Sein Blick lag in der Ferne, während seine Augen noch immer weit aufgerissen waren und seine Atmung nur flach ging. „Yusei?“ fragte ich vorsichtig, doch ich erhielt keine Reaktion. Ich machte mir Sorgen, so hatte ich ihn noch nie gesehen. „Yusei!“ Dieses Mal richtete er seinen Blick wieder auf mich, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Irgendwie sah er verwirrt aus. Seine Atmung normalisierte sich wieder. „Hey, alles okay mit dir?“ „Ich…“ flüsterte er und rang dabei nach Fassung. „Ich war wirklich da.“ Ich wusste nicht genau was er meinte. Wo war er denn? Mit einem Schlag traf mich die Erkenntnis und ich sah ihn ungläubig an. „Hast du dich an was erinnert?“ Ganz langsam, wie in Zeitlupe, nickte er. Schlagartig wandelte sich meine Sorge in Freude um und ich grinste über beide Ohren. „Das ist großartig! An was denn?“ wollte ich aufgeregt wissen. Sein Blick richtete sich wieder auf den Artikel und er schwieg eine kleine Weile. Ich ließ ihm Zeit, vermutlich versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Oder wollte er nicht darüber reden? „Ich weiß es nicht“ sagte er und sah mich wieder an. Er wirkte niedergeschlagen. „Es war keine klare Situation, eher Bildfetzen. Keine Ahnung, was sie bedeuten. Ich stand mit dir vor dem Gerichtsgebäude in Osaka, dann wurde plötzlich alles Weiß. Im nächsten Moment war ich in einem Saal, mit ziemlich vielen Menschen. Und…“ Er senkte wieder den Blick und sprach leiser weiter. „Ich habe unser kaputtes Auto gesehen, aber das kann ich mir irgendwie nicht erklären.“ Na gut, an so viel konnte er sich wohl nicht erinnern, aber das war immerhin ein Anfang. Jetzt musste ich ihn nur irgendwie wieder aufmuntern. „Das Auto wurde kurz während der Gerichtsverhandlung gezeigt“ erklärte ich deshalb und er sah wieder auf. „Und als wir vor dem Gerichtsgebäude standen, kamen plötzlich diese Paparazzis mit ihren Kameras. Deswegen vielleicht das weiße Licht.“ „Also ist das alles wirklich passiert?“ fragte er ungläubig. Ich grinste noch breiter und nickte. Dafür erntete ich ein kleines Lächeln. „Danke.“ Ich wusste nicht, wofür er sich bedankte, aber im Moment freute ich mich einfach nur, dass er sich an etwas erinnern konnte. „Aber was wolltest du mich vorhin eigentlich fragen?“ „Hm?“ Ach so, stimmt, ich wollte ihn vor dem ganzen Chaos eigentlich nach dem Kuss fragen. Aber… Irgendwie scheint es mir jetzt wirklich der falsche Augenblick dafür zu sein. Deswegen schüttelte ich nur den Kopf. „Ach, vergiss es, das war nicht wichtig. Hey, wenn wir alles zusammengeräumt haben, können wir ja das Rennspiel weitermachen.“ Er nickte und hob den Artikel etwas an. „Kann ich das hier haben?“ „Wozu denn?“ fragte ich verwundert. „Ich habe nur die ersten Absätze überflogen und will ihn morgen mit ins Krankenhaus nehmen.“ „Klar, warum nicht? Ich wollte ihn sowieso wegwerfen.“ Warum will er das denn mitnehmen? Ich weiß, er hat morgen nach der Schule diese Therapie, aber will er den Artikel dort lesen? Obwohl, eigentlich keine üble Idee. Vielleicht kann er sich dann ja an etwas mehr erinnern. Kapitel 18: Eifersucht ---------------------- „Wie fühlst du dich?“ fragte mich eine helle, ruhige Stimme. Mit geschlossenen Augen lag ich auf dem Sofa im Behandlungsraum und spürte die weichen Polster unter mir. Mein Atem ging ruhig und gleichmäßig und mein Körper fühlte sich schwer an. Ich war ausgelaugt, fühlte mich aber gleichzeitig ganz klar. Ich konnte es nicht beschreiben. Langsam öffnete ich die Augen und versuchte sie wieder an die Helligkeit zu gewöhnen. Ich hatte nicht alles von der Sitzung mitbekommen. Wo vorher der Nebel alles in meinen Gedanken verschleierte, lichtete er sich allmählig und ich sah die Bilder der letzten Tage, seit ich wieder in Neo Domino war, ganz klar. „Jetzt verstehe ich, was alle mit ‚seltsam‘ meinten“ murmelte ich während ich mich aufsetzte und sah Doktor Arisawa schuldbewusst an. Ich hatte mich komplett zurückgezogen und es nicht mal bemerkt. Kein Wunder, dass sich so viele Sorgen um mich gemacht haben. Das wollte ich doch nicht! „Mach dir keine Gedanken“ sagte sie mit ihrer einfühlsamen Stimme. „Du kannst nichts dafür.“ Wer sollte denn sonst etwas dafürkönnen? „Es war nie deine Absicht, habe ich recht?“ Ich mied ihren Blick und nickte. Natürlich wollte ich niemandem Kummer bereiten. Ich hatte solche Schuldgefühle deswegen. Aber was mache ich, wenn diese Erinnerungen zurückkehren und ich mich wieder genauso verhalte? Konnte nicht alles wieder so sein, wie vor diesem ganzen Chaos? Konnte ich nicht einfach wieder glücklich sein? „Warum muss ich mich überhaupt erinnern?“ fragte ich deshalb zögerlich. Ich wollte zwar wissen was passiert war, aber es muss doch einen guten Grund geben, warum ich es nicht konnte. Ich wollte den Menschen in meiner Umgebung nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie betrachtete mich einen Augenblick, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Die Frage ist nicht ob du dich erinnerst, sondern wann“ sagte sie schließlich, doch diese Antwort verwirrte mich nur noch mehr. „Die Fähigkeit des Gehirns, Amnesien aufrecht zu erhalten, lässt mit zunehmendem Alter nach. So können Erinnerungen an traumatische Erlebnisse irgendwann von alleine zurückkehren. Wenn das passiert, dann können dich diese Erinnerung mit einem Schlag übermannen.“ Ich sah sie erschrocken an und wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. „Keine Sorge, Yusei. Deswegen bist du ja hier“ sagte sie mit einem aufmunternden Lächeln. „Mein Ziel ist es, dass du dich Schrittweise daran erinnerst. Und ich sagte ja schon, dass du das schaffen wirst. Da bin ich mir ganz sicher.“ Warum war sie nur so zuversichtlich? Langsam ließ ich meinen Blick sinken. Sie hielt mich vermutlich für stärker als ich war. Natürlich wollte ich es schaffen, aber ich hatte meine Zweifel. Aber… Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich musste einfach wieder der Alte werden. Ich konnte mir diese Selbstzweifel nicht leisten. Jaden und seine Familie, all meine Freunde, hatten so viel Geduld mit mir, da kann ich keinen Rückzieher machen und mir einreden, ich könnte es nicht schaffen. Ich werde es schaffen. Ich muss es schaffen. Aber können mir die Menschen um mich herum überhaupt verzeihen? „Ich sollte mich bei meinen Freunden entschuldigen“ sagte ich leise und sah wieder auf. Sie lächelte. „Wenn es dir dann besser geht, tu das. Aber was willst du sagen, wenn sie dich nach dem Grund fragen?“ Ich sah auf meine Hände in meinem Schoß und dachte nach. Ich kann ihnen die Wahrheit nicht sagen, wenn ich sie nicht einmal selbst weiß. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich bereit dafür bin mich zu öffnen. Irgendwann werde ich ihnen die Wahrheit erzählen, aber bis dahin will ich erst selbst herausfinden, warum ich mich an nichts erinnern kann. „Ich lass mir schon was einfallen“ sagte ich leise. „Übrigens, was den Artikel betrifft“ sprach sie weiter und ich sah zu ihr auf. Sie hielt die beiden Blätter in der Hand. „Du hast nur die ersten Absätze gelesen, richtig?“ Ich nickte. „Sehr gut. Es ist zwar schön, dass du dich anscheinend an einige Augenblicke erinnern konntest, aber es wäre besser, du erinnerst dich selbst daran. Der Artikel ist nicht sonderlich objektiv geschrieben und ich will nicht, dass deine Erinnerungen verfälscht werden.“ „Verfälscht?“ Ich sah sie irritiert an. Wie kann man denn Erinnerungen fälschen? Sie nickte. „Die Psyche eines Menschen lässt sich sehr leicht manipulieren. Ich könnte dir auch ein Märchen erzählen, was du an diesen Tagen gemacht hast. Wenn du es glaubst, dann wird dein Kopf dir einfach falsche Erinnerungen daraus generieren. Und so ähnlich ist es auch mit dem Artikel.“ Ist der menschliche Verstand wirklich so leicht manipulierbar? Ich konnte es mir schwer vorstellen, aber ich nickte zur Antwort. Sie sollte ja wissen, wovon sie redet. Außerdem hatte ich ohnehin keine große Lust, ihn weiterzulesen. ~*~ Bevor ich mich bei meinen Freunden entschuldige, wollte ich zuerst zu meinem Vater gehen. Ihm habe ich auch Kummer bereitet, ohne es zu wollen. Als ich den Gang entlanglief, sah ich seinen Arzt aus seinem Zimmer kommen. Ich hoffte, ich kam nicht ungelegen. Zögerlich klopfte ich und betrat anschließend sein Zimmer. Er stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und seufzte. „Was wollt ihr denn jetzt noch?“ fragte er gereizt. Was auch immer er eben mit dem Arzt besprochen hatte, er war wohl unzufrieden. Ich hoffe, er ist nicht auch sauer auf mich. Langsam ließ ich die Tür ins Schloss fallen und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Ich wollte mich entschuldigen“ sagte ich leise. Ruckartig fuhr er herum und sah mich erschrocken an. „Yusei“ sagte er fast tonlos und starrte mich noch immer an. Ich senkte den Blick und versuchte meine Worte zu sammeln. Mein Körper war komplett angespannt. „Entschuldige. Ich habe mich in den letzten Tagen nicht verhalten wie ich selbst. Ich wollte nicht, dass ihr euch alle Sorgen macht. Ich wollte-“ Doch weitersprechen konnte ich nicht. Viel zu überrascht war ich von der plötzlichen Umarmung, in die mich mein Vater zog. Er drückte mich fest an sich und legte eine Hand auf meinem Kopf. Drückte ihn fest gegen seine Brust. Zögerlich legte ich ebenfalls meine Arme um ihn und die Anspannung verschwand. Anscheinend war er nicht wütend auf mich, ihm ging es wie mir. Er war erleichtert. * Die Sicht von Jaden * Ich stand in unserem Wohnzimmer und starrte Alexis fassungslos an. Was hat sie gerade gesagt?! „Also, bist du jetzt dabei, oder nicht?“ hakte sie nach. „I-Ich glaube, das ist keine gute Idee“ sagte ich und versuchte mir noch einmal bewusst zu werden, was sie eigentlich genau sagte. Sie wollte ernsthaft, dass ich Yusei verkuppeln sollte… mit Aki!? „Warum denn nicht?“ fragte sie und musterte mich. „Aki ist schon seit Wochen in ihn verknallt und versucht ständig seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Und er mag sie auch. Sie würden wirklich wunderbar zusammenpassen. Außerdem tut ihm eine Beziehung vielleicht ganz gut, bei alldem was um ihn herum los ist. Es geht ihm ja auch schon wieder besser.“ Schlechteste. Idee. Überhaupt… Jede Faser meines Körpers zerriss fast vor Anspannung. „Wie kommst du überhaupt auf die Idee?“ fragte ich deshalb etwas lauter als gewollt. „Brüll doch nicht gleich so. Aki meinte, er wäre wohl unglücklich verliebt. Sie will ihn trösten. Wenn nichts aus der ganzen Sache wird, dann ist es eben so, aber wir können ihn ja ein wenig in sein Glück schupsen.“ „Unglücklich verliebt?“ fragte ich verwirrt. „Hat er das wirklich so gesagt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Zumindest hat Aki das vor zwei Wochen erzählt. Sie war ganz schön niedergeschlagen, weil sie von ihm einen Korb bekommen hat.“ Ein wenig von der Anspannung fiel von mir ab. Yusei hat das also vor meinem Geständnis gesagt. Er hat zwar nie direkt gesagt, dass er in mich verliebt ist, aber er hat mich immerhin geküsst. Allerdings weiß ich immer noch nicht, ob er sich daran erinnern kann. Ich muss versuchen, Alexis von dieser bekloppten Idee abzubringen. „Aber er hat Aki schon einen Korb gegeben, warum glaubt sie dann, dass er was von ihr will?“ „Keine Ahnung, sie hat eben Hoffnung. Ihr geht doch heute Abend zusammen ins Kino, tu ihr doch den Gefallen.“ „Und was ist mit ihm? Was, wenn er das gar nicht will, hast du schon mal daran gedacht?“ Meine Stimme klang aufgebracht. Wie oft will sie sich eigentlich noch in sein Leben einmischen, obwohl er das gar nicht will? Sie seufzte. „Ich will sie doch nicht auf Teufel komm raus zusammenbringen. Vielleicht lenkt es ihn ab und aus den beiden wird wirklich was, vielleicht gibt er ihr auch wieder einen Korb. So oder so liegt die Entscheidung bei ihm, also reg dich doch nicht so auf. Oder hast du was dagegen, wenn die beiden zusammenkommen?“ Mit der Frage hatte sie mir den Wind aus den Segeln genommen. Ich wollte ihr noch nicht sagen, dass ich in ihn verliebt war. Nicht, bevor ich nicht wirklich wusste, dass er diese Gefühle auch erwiderte. Das macht mich noch wahnsinnig! Heute muss ich mit ihm reden, oder ich dreh durch! ~*~ Wir trafen uns halb acht an der kleinen Pizzeria im Einkaufszentrum. Ich hatte Alexis gesagt, dass ich mich nicht einmischen wollte, aber ehrlich gesagt wollte ich, dass das zwischen den beiden nicht klappte. Ich erschrak selbst vor meinen eigenen Gedanken. Natürlich wollte ich, dass Yusei glücklich ist, aber warum denn mit ihr? Sollte es klappen, würde ich den beiden nicht im Weg stehen, aber ich hatte das Gefühl als würde es mir das Herz brechen. „Was willst du?“ riss mich Crows Stimme aus meinen Gedanken und ich sah mich kurz um. Vor uns stand eine Kellnerin, die gerade unsere Bestellung aufnehmen wollte. „Eine Cola bitte“ gab ich vermutlich als letzter meine Bestellung auf. Sie nickte, kritzelte etwas in ihren Block und verschwand dann wieder. Aki sah sich um. „Wollen wir nicht noch auf Yusei warten?“ „Der hat doch gesagt, dass er erst im Kino dazukommt“ antwortete Jack, der gerade die Karte studierte. „Hm, stimmt.“ Crow ließ seine Karte sinken und sah mich an. „Was hat er um die Zeit eigentlich noch vor?“ Auch Aki schielte zu mir. Ich konnte den dreien wohl schlecht sagen, dass er ab jetzt zwei Mal die Woche zum Therapeuten geht. „Er hat noch einen Termin“ antwortete ich deshalb vage und fixierte wieder die Karte vor mir. Damit ließen es meine Freunde gut sein. Das kann ja heiter werden heute. ~*~ Als wir auf den Weg zum Kino waren, zupfte Aki die ganze Zeit unauffällig an ihren Klamotten herum. Wenn es nicht Yusei gewesen wäre, für den sie das machte, dann hätte ich mich darüber amüsiert. Aber so war ich einfach nur nervös und verunsichert. Irgendwie musste ich vor dem Film noch mit ihm reden. In der Eingangshalle war wegen der Premiere ziemlich was los und wir mussten uns zum Teil durch die Menschenmassen drängeln, die vor den Kassen standen. „Ich hol schon mal die Tickets“ meinte Crow plötzlich und verschwand ans Ende der Schlange. Wir standen mittlerweile in einem kleinen Bereich am Rande der Halle, wo es recht ruhig war. Jack war groß genug, um etwas über die Menschenmenge zu sehen und drehte sich dann wieder zu uns. „Ich leiste der kleinen Krähe Gesellschaft, wollte sowieso kurz mit ihm reden. Ihr beide könnt in der Zwischenzeit nach Yusei Ausschau halten“ bestimmte er und wurde kurz darauf wieder von der Masse verschluckt. Aki und ich sahen uns an und mussten kurz auflachen. Dieser Befehlston war typisch Jack. „Ich sehe noch mal an den Eingängen nach“ sagte Aki. „Vielleicht ist er noch gar nicht da. Wartest du hier?“ Als Antwort gab ich ihr ein Nicken und sie verschwand. Ich holte mein Handy raus und wollte eine Nachricht an ihn schreiben, aber ehe ich damit fertig war, berührte jemand meinen Oberarm. Ich erschreckte mich, sah auf und blickte in diese schönen blauen Augen. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, das mich augenblicklich in ein wohliges Gefühl hüllte. „Da bist du ja, wo ist denn der Rest?“ fragte er. „Jack und Crow stehen für die Tickets an und Aki sucht am Eingang nach dir.“ „Dann hole ich sie lieber mal, sonst steht sie noch die ganze Zeit dort und wartet“ sagte er und wollte sich schon abwenden. „Warte!“ Das war doch die Gelegenheit, um ihn zu fragen. Er drehte sich wieder zu mir und musterte mich neugierig. Wir standen etwas abseits von der Menschenmenge und niemand würde uns hören. „Wie war‘s heute?“ fragte ich deshalb vorsichtig. „Was meinst du?“ „Naja, dein Termin“ hakte ich nach. Ich musste es wissen, ehe Aki zu uns stößt. „Ach das meinst du. Ja, ich konnte mich zumindest an die letzten Tage genauer erinnern. Deswegen wollte ich euch später auch was sagen.“ Euch? Dann hatte er sich wohl daran nicht erinnert… „Hast du den Artikel zu Ende gelesen?“ fragte ich weiter. Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Doktor Arisawa meinte, das wäre keine gute Idee.“ „Wieso? Du hast dich doch dadurch an etwas erinnert.“ „Ja, aber ich soll mich wohl eigenständig daran erinnern. Sie meinte, wenn mir irgendjemand genau erklärt, was ich an diesem Tag gemacht haben soll, kann das meine Erinnerungen verfälschen.“ Er zuckte mit den Schultern „Oder so ähnlich. Warum fragst du?“ Verdammt. Also kann ich ihn ja gar nicht darauf ansprechen. Er muss sich selbstständig daran erinnern. „Nichts, ich war nur neugierig“ sagte ich deshalb mit einem nicht ganz überzeugenden Lächeln. Er öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch in dem Moment hörten wir Akis Stimme. „Hey, da bist du ja!“ Wir drehten uns in die Richtung, aus der ihr Ruf kam. Sie huschte auf uns zu und gab Yusei eine flüchtige Umarmung. Er sah ziemlich überrascht aus. Ich hingegen war schon wieder genervt und hasste mich dafür selbst. „Schade, dass du beim Essen nicht dabei warst, es war ziemlich lustig! Aber schön, dass du es rechtzeitig zum Film geschafft hast“ sagte sie mit einem freudigen Lächeln. „Was hattest du eigentlich noch für einen Termin?“ „Ich habe jemanden im Krankenhaus besucht“ antwortete er zögerlich. „Oh je, wen denn?“ Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, ehe er antwortete „Eine Freundin.“ Okay, diese Antwort machte mich stutzig. Ich dachte, er hätte seinen Vater nach dem Termin besucht. Oder war das nur eine Ausrede? Ich sah ihn fragend an und er lächelte zur Antwort. Im nächsten Moment kamen Jack und Crow mit den Tickets zu uns. Während Aki und ich uns zu ihnen drehten, legte Yusei mir einen kurzen Augenblick lang seine Hand auf den Rücken und flüsterte mir ins Ohr: „Erkläre ich dir später.“ Wieder überkam mich eine Gänsehaut, als ich seinen Atem an meiner Wange spürte und mein Herz machte einen Satz. Dann löste er sich wieder von mir. „Was ist denn mit euch beiden los?“ fragte Aki und ich kam wieder in der Realität an. Hat sie jetzt mich und Yusei gemeint? Crow sah ziemlich genervt aus und Jack verkniff sich ein Grinsen. „Die blöde Kuh an der Kasse wollte meinen Ausweis sehen, weil sie mir nicht geglaubt hat, dass ich 18 bin“ grummelte er. Jack hatte Mühe sich zusammenzureißen. „Aber der Film ist doch ab 16“ warf Aki ein. Crow warf ihr einen bösen Blick zu und in diesem Moment konnte Jack sich nicht mehr halten und lachte schallend drauf los. Ich versuchte wirklich mit größter Mühe mich zu beherrschen, denn Crow war ziemlich empfindlich was seine Größe und sein Alter anging. „Bevor wir reingehen, wollte ich euch noch was sagen“ kam es plötzlich von Yusei und alle Augen waren auf ihn gerichtet. „Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich in den letzten Tagen so abweisend war, das war nicht meine Absicht.“ „Als ob wir das nicht wüssten!“ sagte Crow unbeeindruckt und erntete dafür Yuseis überraschten Gesichtsausdruck. „Wir wissen, dass irgendwas bei dir los war, nur nicht was.“ „Crow hat recht“ warf Aki ein. „Wir wussten, dass du dich nicht absichtlich so komisch verhalten hast.“ „Geht’s dir wenigstens wieder besser?“ fragte Jack. Aki ging einen Schritt auf Yusei zu und sah ihn fragend an. „Was war eigentlich los?“ Nachdem mein schwarzhaariger Freund sich etwas gesammelt hatte, setzte er ein kleines Lächeln auf. „Ja, ich glaube mir geht es besser, aber das ist eine längere Geschichte und wir sind ja wegen des Films hier.“ Ich konnte nicht sagen warum, aber irgendwie sah er erleichtert aus. Allmählich wurde es Zeit, sich im Saal einzufinden und bei der Menge an Menschen dauerte es etwas, ehe wir uns zu unseren Plätzen durchgekämpft hatten. Jack saß ganz links von unserer kleinen Gruppe, daneben Crow, ich, Yusei und ganz rechts saß Aki. Letztere rutschte aufgeregt auf ihrem Platz umher. „Ich bin schon total gespannt! Der Film hat im Internet tolle Kritiken bekommen!“ Crow stöhnte genervt. „Jetzt erzähl bloß nichts, sonst habe ich noch hohe Erwartungen und bin am Ende enttäuscht!“ Ich lachte. „Hey, jetzt entspann dich doch mal! Oder bist du immer noch sauer wegen der Sache mit dem Ausweis?“ Er sah mich an, grummelte und fixierte dann die Eiscremewerbung auf der Leinwand. „Es geht los!“ sagte Aki fröhlich, als das Licht im Raum gedimmt wurde. Augenblicklich legte sich eine gespannte Stille über den Saal. Die Story des Films war keine Neuheit für einen Zombie-Film. Eine kleine Gruppe kämpfte sich durch eine plötzlich aufgetretene Apokalypse und nacheinander starben einige von ihnen durch, zugegebenermaßen ziemlich spannende, Angriffe der Untoten. Die Dialoge waren ziemlich lahm, die Sterbeszenen wirklich übertrieben und ich war mir ganz sicher, dass beim Durchtrennen der Halsschlagader keine zehn Liter Blut meterweit durch die Luft spritzen sollten. Und diese Kostüme! Als ich 14 war, bin ich zu Halloween mal als besserer Zombie gegangen. Aber mich nervte eigentlich mehr die Tatsache, dass sich Aki in den spannenden Szenen immer an Yusei klammerte. Es war zu dunkel, als dass ich sein Gesicht dabei hätte sehen können, aber er wehrte sich auch nicht wirklich gegen ihre Nähe. Vielleicht hatte Alexis doch recht. Vielleicht würden die beiden wirklich gut zusammenpassen. Während die Leute in dem Film durch einen verlassenen Freizeitpark liefen, lehnte sich Yusei so weit zu mir, dass ich die Wärme seines Gesichts spüren konnte. Leise flüsterte er mir zu: „Wenn ich noch eine meterhohe Blutfontäne sehe, dreh ich durch.“ Ich versuchte ein Lachen zu unterdrücken und sah ihn an. Er lächelte. Einen kleinen Augenblick lang blendete ich den Film komplett aus, bis mich ein Schrei zusammenzucken ließ. Einer der Typen im Film wurde gerade wieder angegriffen. Letzten Endes blieben nur ein männlicher und ein weiblicher Protagonist am Leben, die sich natürlich unsterblich ineinander verliebten. Als der Abspann über die Leinwand lief, fing Crow neben mir an zu murren. „Siehst du? Hohe Erwartungen. Der Film war furchtbar!“ „Ach, so schlimm war es doch nicht“ meinte Aki. „Zumindest das Ende war gut.“ Ja, aber auch nur, weil es zu Ende war. Aber den Gedanken behielt ich lieber für mich. Aki und Crow stritten noch eine Weile über den Film, während wir aus dem Kino und zu den Parkplätzen liefen. Die Motorräder von Jack und Crow standen nahe am Eingang. „Wie kommst du eigentlich nach Hause, Aki?“ fragte Crow, der sich eben seinen Helm aufgesetzt hatte. „Meine Mutter wollte mich abholen“ sagte sie und sah sich um. „Aber anscheinend kommt sie später.“ „Dann warten wir lieber so lange, bis sie da ist“ sagte Yusei. Aki lächelte und wurde etwas rot. „Das ist lieb von dir, Danke!“ Und wieder nervte es mich, aber ich konnte ihn verstehen. Ich wollte natürlich auch nicht, dass sie hier um diese Uhrzeit allein wartet. Sie tippte auf ihrem Handy herum, hielt es an ihr Ohr und ging ein paar Schritte abseits. Anscheinend versuchte sie ihre Mutter zu erreichen. Mit irgendjemanden am anderen Ende der Leitung redete sie zumindest. Kurze Zeit später kam sie wieder zu uns und wirkte ziemlich sauer. „Und?“ fragte Jack knapp. Sie stöhnte genervt auf. „Sie hat es vergessen und ist gerade in einem Online Meeting mit irgendwelchen Kollegen außer Landes, also kann sie mich nicht abholen. Und mein Vater hat heute Nachtschicht. Ich werde wohl den Bus nehmen müssen.“ Yusei sah sie besorgt an. „Du willst um diese Uhrzeit allein mit dem Bus nach Hause fahren? Bist du sicher?“ „Na ja, mir bleibt doch nichts anderes übrig. Oder könntest du mich mitnehmen?“ Sie sah ihn hoffungsvoll an. „Tut mir wirklich leid, aber ich habe nur Platz für einen Mitfahrer.“ Sie sah mich irgendwie traurig an. Vermutlich wusste sie, dass ich damit gemeint war. „Dann steig auf!“ bot Crow an und zeigte auf sein eigenes Motorrad. „Jack hat einen Zweithelm dabei, den kannst du dir sicher ausleihen.“ Jack nickte und holte seinen zweiten Helm aus der Einbuchtung am Motorrad heraus, den er ihr reichte. Sie bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln und drehte sich noch einmal zu mir und Yusei. „Na dann, wir sehen uns morgen. Kommt gut nach Hause!“ Damit stieg sie auf Crows Motorrad und die drei fuhren los. Als wir auf dem Weg zu Yuseis Fahrzeug waren, unterhielten wir uns über den Film. Lustig machen wäre wohl die treffendere Beschreibung gewesen. Der Film war wirklich in so mancher Hinsicht eine Enttäuschung, aber es war trotzdem ein lustiger Abend. ~*~ Ich lag in meinem Bett, auf dem Rücken und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Mein Zimmer lag im schwachen Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster und ich starrte an die Decke. Das einzige Geräusch, das ich wahrnahm, war Yuseis Atem. Wieder schwirrten die Bilder von Aki und Yusei in meinem Kopf herum und es nervte mich, dass sie in ihn verliebt war, aber dagegen konnte ich nichts machen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal eifersüchtig werde. Was für ein dämliches Gefühl! Sie war doch meine Freundin. Ich mochte sie. Aber ich war nun mal auch in ihn verliebt und hatte einfach keine Ahnung, ob er nach all dem Chaos der letzten Tage noch immer so für mich fühlte, oder ob er es vergessen hatte. Und direkt darauf ansprechen konnte ich ihn nicht. Diese Therapeutin sagte doch, er soll sich selbstständig daran erinnern! Es zerriss mich förmlich, dass ich es einfach nicht rausbekam. Wie gerne würde ich ihn einfach fragen? „Hast du…“ brach es plötzlich leise aus mir heraus und ich hoffte inständig, dass er es nicht verstanden hatte. Dass er schon schlafen würde. „Habe ich was?“ versuchte er mir nach einer kurzen Stille auf die Sprünge zu helfen. Mein Herzschlag erhöhte sich vor Nervosität. Er hat es also gehört. Drumherum kommen werde ich jetzt nicht mehr. Ich brauchte einiges an Mut, um diese Frage zu stellen und atmete noch einmal tief durch um meinen verdammten Herzschlag zu beruhigen. „Hast du alles vergessen, was an dem Wochenende passiert ist?“ Eine kurze Stille trat ein und Yusei kicherte leise. Na toll, was soll ich denn jetzt davon halten? Ich sah etwas beleidigt in die Richtung seiner Silhouette und bemerkte, dass er sich bewegte. Meine Matratze gab neben mir etwas nach. Er hatte sich wohl neben mich gesetzt und ehe ich es mir versah, platzierte er seine Hand nehmen meinem Körper. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht. Mein Herz schlug etwa doppelt so schnell und meine Wangen fingen an zu glühen. „Nein, nicht alles“ hauchte er gegen meine Lippen, bevor er seine sanft darauflegte. Mein Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Ich hatte das Gefühl mein Herz würde an meinen Rippen zerschellen und mir wurde etwas schwindlig. Dieser süßlich-herbe Duft, der mich einhüllte, raubte mir den Verstand. Er hatte es nicht vergessen. Er fühlte noch immer so für mich. Ich seufzte erleichtert in den Kuss hinein, erwiderte ihn, ehe ich meine Arme um Yusei legte und ihn fester an mich zog. Vielleicht war das egoistisch, doch ich wollte ihn bei mir haben. Aber er wehrte sich auch nicht dagegen. Stattdessen spürte ich, wie seine Zunge vorsichtig über meine bebende Unterlippe fuhr. Etwas überfordert öffnete ich meinen Mund. Es war ein seltsames Gefühl, seine Zunge an meiner zu spüren, aber ich ließ mich darauf ein. Nach wenigen Sekunden genoss ich es. Ich hatte zwar keinen Vergleich, aber er konnte das verdammt gut! Dieses Kribbeln, das meinen gesamten Körper dabei durchzog, war so angenehm. Ich fuhr mit meiner Hand über seinen Rücken und an der Seite wieder nach oben. Irgendwas löste das in ihm aus, denn er seufzte zufrieden, intensivierte den Kuss noch, drückte mich tiefer in mein Kissen. Langsam kapselte sich mein Verstand ab und ich gab mich ganz diesem Moment hin. Ich strich ihm weiter über seine Taille und berührte die weiche Haut unter seinem Shirt, doch dann löste er sich von mir. Ich wollte schon protestieren, aber stattdessen schnappte ich keuchend nach Luft. „Entschuldige“ hauchte er fast atemlos gegen meine Wange, was mir erneut eine Gänsehaut bescherte. „Ich war wohl etwas zu… schnell.“ Meint er das ernst? Ich konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Wie oft habe ich mir in den letzten Tagen gewünscht ihm wieder so nahe zu sein? Im schwachen Licht der Straßenlaterne erkannte ich seine schönen Augen, die mich verwundert musterten. Ich lächelte und zog ihn wieder näher an mich heran. So nah, dass ich die Wärme seines Gesichts auf meinem spüren konnte. „Idiot“ flüsterte ich, ehe ich auch die letzte Distanz zwischen uns überwand und seine Lippen auf meinen lagen. Ich war wirklich hoffnungslos in meinen besten Freund verliebt. Kapitel 19: Einsame Krähe ------------------------- Langsam wurde ich wach und spürte eine angenehme Wärme an meiner Seite. Seinen Duft, den ich ganz intensiv wahrnahm. Ich öffnete die Augen. Es war früh am Morgen und die Sonne zeigte ihre ersten warmen Strahlen. Tauchte das Zimmer in ein sanftes Licht. Ich hatte mein Gesicht halb in diese brünetten Haare vergraben und seufzte zufrieden. Gedankenverloren zog ich ihn enger an mich und auch er schmiegte sich im Schlaf näher an meine Brust. Die Erinnerungen an den Kuss von gestern Abend ließen mich schmunzeln. Dieser unbeschreiblich schöne Kuss. Ich hatte ganz vergessen wie schön das Gefühl war, neben jemandem zu schlafen, für den man so viel empfindet. Gedankenverloren strich ich durch sein Haar und musste lächeln. Es war angenehm, ihm endlich wieder so nah sein zu können. Sein seltsames Verhalten der letzten Tage ergab gestern endlich einen Sinn für mich. Immer wenn Aki in meiner Nähe gewesen war, war er so… anders. Abgelenkt. In Gedanken versunken. Er hatte sie teilweise argwöhnisch beobachtet und ich hatte mir einfach nicht erklären können warum. Schließlich waren sie gute Freunde. Als er mich gestern zögerlich gefragt hatte, ob ich alles von diesem Wochenende vergessen hätte, machte es endlich Klick. Er war unsicher, vielleicht sogar eifersüchtig auf Aki, weil sie ständig aus irgendeinem Grund in meiner Nähe war. Und weil er mich fragte, ob ich alles vergessen hätte, musste er damit wohl den Kuss meinen. Zumindest war ich mir ziemlich sicher. In diesem Moment konnte ich ein leises Lachen nicht unterdrücken. Wie kam er nur auf die Idee, ich hätte näheres Interesse an ihr? Und warum hatte ich das nicht schon vorher gemerkt? Ich hatte ihn unbedingt davon überzeugen wollen, dass ich alles wusste, was an diesem Wochenende zwischen uns passiert war. Dass ich nichts von Aki wollte, aber besser als Worte konnte das nur ein Kuss ausdrücken, dachte ich. Ich hatte seine Erleichterung förmlich spüren können als ich meine Lippen auf seine legte. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich gewesen. Ich wusste nicht, wie lange ich schon einfach neben ihm lag und ihm durchs Haar strich. Seine Nähe und Wärme dabei genoss. Langsam begann er sich in meinen Armen zu bewegen. Ob er langsam aufwacht? Normalerweise war er nie vor seinem Wecker wach. Ich nahm meine Hand von seinem Kopf, hörte ein leises Murren und musste schmunzeln. Hatte er sich etwa daran gewöhnt? Allmählich löste er sich ein Stück von mir und sah verschlafen zu mir auf. Er hatte noch einen Kissenabdruck im Gesicht und seine Haare standen ihm strähnen weise zu Berge. „Guten Morgen“ sagte ich leise lächelnd. Er brauchte einen Augenblick, ehe er die Situation begriffen hatte und sein Blick etwas wacher wurde. Ein Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. Mein Lächeln wurde etwas breiter und bevor ich es mir versah, gab er mir einen kurzen, sanften Kuss. Dann löste er sich von mir und grinste. „Morgen!“ Ich drehte mich etwas auf den Rücken und er legte seinen Kopf zufrieden seufzend auf meiner Brust ab. „Ich könnte mich daran gewöhnen so aufzuwachen.“ In diesem Moment keimten Gewissensbisse in mir auf. Ich strich ihm hauchzart über den Rücken. Natürlich war es unglaublich angenehm, ihn an meiner Seite zu haben, aber ich konnte nicht ewig bei ihm wohnen. Ich wollte wieder zurück nach Hause, sobald es mir besser gehen würde, und dieser Zeitpunkt war da. Ich konnte mich zwar noch nicht an alles erinnern, aber ich fühlte mich allmählich wieder wie ich selbst. „Was das angeht…“ Er hob den Kopf und sah mich an. Ich wollte nicht, dass er jetzt wegen mir traurig war, also nahm ich seine Hand und sah in diese kastanienbraunen Augen, die mich erwartungsvoll musterten. „Ich kann nicht ewig hier bleiben“ sagte ich nur, aber er verstand, worauf ich hinauswollte und sah mich traurig an. „Willst du wirklich schon wieder zurück?“ Ich nickte. „Aber ich habe gehofft, du könntest noch eine Weile bleiben. Immerhin kannst du dich immer noch an kaum etwas von den zwei Tagen erinnern.“ Ich seufzte leise. Er hatte recht, aber er und seine Familie haben so viel für mich getan. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, ihnen länger zur Last zu fallen. „Du hast recht, aber das wird schon wieder. Außerdem bin ich ja nicht aus der Welt. Wir sehen uns in der Schule und wir wohnen nicht weit voneinander entfernt.“ „Trotzdem! Willst du wirklich wieder allein wohnen?“ Natürlich nicht, aber wie sollte ich ihm am besten erklären, wie ich darüber dachte? „Nein, aber… Jaden, ich bin wirklich dankbar für alles, was ihr für mich getan habt. Ich stehe tief in eurer Schuld.“ Er stöhnte verzweifelt auf und legte seine Stirn an meine Brust. Was hat er denn jetzt? Schnell hob er wieder seinen Kopf und sah mich ernst an. „Ernsthaft? Warum glaubst du, dass du in unserer Schuld stehst?“ Ich musterte ihn perplex. Mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Sein Blick wurde wieder weicher. „Nein, wirklich. Meinen Eltern liegt ziemlich viel an dir. Die beiden mögen dich und wir haben dich echt gern bei uns.“ Er grinste. „Vor allem ich.“ Unweigerlich schlich sich auch auf meine Lippen ein Lächeln und ich legte meine Hand an seine Wange. „Es ist auch nicht so, dass ich nicht gerne hier bin, aber mein Entschluss steht fest. Bitte sei nicht traurig oder sauer. Zwischen uns ändert sich nichts.“ Er lachte kurz auf. „Ich weiß.“ Für einen viel zu kurzen Moment legte er seine Lippen auf meine und grinste wieder. „Darf ich eine Bedingung stellen?“ Er hatte mich so schon um den Finger gewickelt, da brauchte er eigentlich nicht fragen. „Sicher, welche denn?“ „Was hast du nächste Woche vor?“ Ich warf ihm einen irritierten Blick zu. Wie kommt er denn jetzt darauf? Er lachte. „Hast du das lange Wochenende vergessen?“ Langes Wochenende? Ach so, stimmt. Der dritte November, das war ein Feiertag* und unsere Schule hat am Freitag einen Brückentag. Das hatte ich komplett vergessen. Ich lächelte ihn an. „Was schwebt dir denn vor?“ „Naja, überall in der Stadt gibt es am Donnerstag kleine Auftritte von Showgruppen. Alexis hat irgendwo einen Auftritt mit ihrer Theatergruppe. Meine Eltern wollten auch zusehen und ich hatte gehofft, du begleitest mich. Danach könnten wir uns ja abkapseln und uns auf dem Straßenfest umsehen!“ Hm, mich würde sowieso interessieren, wie Bunka no Hi in kleineren Städten abläuft. „Abgemacht.“ Schon allein die Freude in Jadens Gesicht war es mir wert. ~*~ Der Unterricht zog sich an diesem Tag wirklich in die Länge. Weil uns wegen des Brückentages eine Unterrichtseinheit in Informatik fehlen wird, sollten wir innerhalb von zwei Wochen, in Gruppen von zwei Leuten, ein Datenmodellierungsmodell vorstellen. Crow stöhnte neben mir genervt auf und richtete sich an Jack. „Na toll, das wird wieder ewige Stunden dauern. Dieses Mal treffen wir uns aber bei mir, deine Mutter kann mich sowieso nicht leiden.“ „Sorry, ich bin schon mit Yusei in einer Gruppe.“ Ich versuchte mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Es war gut möglich, dass ich ihm tatsächlich zugesagt hatte, als ich nicht ganz auf dem Damm war. Crow hingegen bemühte sich nicht einmal ein gefasstes Gesicht zu machen. Er war ehrlich verwirrt. „Na toll, und mit wem bin ich jetzt in einer Gruppe?“ Alexis kam auf uns zu. „Yusei, hast du schon einen Partner? Mizuki und ich sind normalerweise immer in einem Team, aber sie ist krank.“ „Anscheinend bin ich mit Jack in einer Gruppe, aber Crow hat noch niemanden.“ Sie sah zu unserem orangehaarigen Freund, der sichtlich nervös wurde. „Das wundert mich. Normalerweise bist du doch immer mit Jack zusammen.“ Jack grinste. „Nein, dieses Mal nicht. Viel Spaß mit ihm.“ „Na schön, wenn du damit kein Problem hast, Crow?“ Er lachte verlegen. „Nein, nein. Ich freu mich.“ „Gut, dann Sonntag bei mir“ sagte sie und ging wieder an ihren Platz. Crow seufzte und sah etwas verzweifelt aus. War er etwa…? „Bist du in Alexis verknallt?“ Er sah mich geschockt an und wurde knallrot. Damit war meine Frage wohl beantwortet. Jack lachte. „Versuch es dieses Mal nicht zu verhauen, ja?“ Dieses Mal? „Ach, halt die Klappe!“ knurrte Crow. ~*~ Nach dem Unterricht packte ich meine Sachen zusammen und sah Luna auf mich zukommen. „Hey, ist es in Ordnung, wenn ich dich heute mit dem Ordnungsdienst allein lasse? Ich muss wirklich dringend weg!“ „Sicher.“ „Danke! Du hast echt was gut bei mir!“ Mit diesen Worten verließ sie schnell das Zimmer und ließ mich allein zurück. Es machte mir nichts aus, denn das Training musste sowieso verschoben werden, weil zu viele Spieler ausfielen. In der Schule ging wohl eine Erkältung rum. Ich nahm mir den Besen und machte mich an die Arbeit. Ob Jaden wohl schon losgefahren ist? Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass ich heute nach zwei Wochen zum ersten Mal wieder allein im Haus schlafen würde. Ich hatte mich so an die Situation gewöhnt, dass ich mir das kaum noch vorstellen konnte. Auch wenn es schön war, heute Morgen neben ihm aufzuwachen, konnte ich nicht ewig dort bleiben. Allerdings schien mir Jaden wirklich traurig als ich es ihm erzählte. Ich seufzte. Ändern konnte ich die Situation nicht mehr, auch wenn es ein Teil von mir wirklich wollte. Aber es war besser so. Mein Entschluss war richtig. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie jemand das Zimmer betrat. Plötzlich zog mich jemand von hinten in eine Umarmung und ich schreckte hoch. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken“ sagte eine vertraute Stimme, doch ich konnte hören, dass er dabei grinste. Er löste die Umarmung und ich drehte mich zu ihm. Sah in diese rehbraunen Augen und musste unwillkürlich lächeln. „Nicht schlimm, aber was machst du denn hier?“ „Ich dachte, ich könnte dir vielleicht helfen!“ „Danke, aber ich bin fast fertig. Wenn du willst, kannst du noch kurz warten und wir gehen zusammen zum Parkplatz.“ Er legte ein Grinsen auf und setzte sich auf einen der Tische in der ersten Reihe, auf dem ich meine Tasche abgelegt hatte. Wir unterhielten uns über das Stadtfest nächste Woche. Ich muss wirklich sagen, dass ich mich schon auf das Wochenende freue. Lange dauerte es nicht bis ich fertig war, und den Besen wieder im Schrank verstaute. Als ich meine Tasche nehmen wollte, legte Jaden eine Hand auf meine und ich sah überrascht auf. Er lächelte. Wie selbstverständlich legte er seine Arme um meinen Hals und zog mich in einen Kuss, den ich nur zur gern erwiderte. Das würde ich in nächster Zeit wirklich vermissen. Sanft legte ich meine Hände auf seine Hüfte, drückte ihn enger an mich und versank fast in unserer Berührung. Er machte es mir wirklich schwer, an meinem Entschluss festzuhalten. * Die Sicht von Crow * Sonntag. Es war soweit. Heute sollte ich mich mit Alexis wegen des Schulprojekts treffen. Ich schnappte mir meinen Helm, verabschiedete mich knapp von meinen Eltern und wich den Klammergriffen meiner zwei kleinen Schwestern aus. Ich sprang auf mein schwarzes Motorrad und fuhr los. Ich war nervös. Das Gefühl des Fahrtwinds beruhigte mich langsam ein wenig. Natürlich freute ich mich, dass ich zusammen mit Alexis seit der Sache endlich wieder in einer Gruppe war. Ich hatte Angst, dass ich mit meinen mittelmäßigen Informatikkenntnissen ihren Notendurchschnitt versauen würde. Um das zu verhindern, hatte ich den Samstag in der Bibliothek verbracht, aber weitergekommen bin ich nicht wirklich. In meiner Verzweiflung bin ich am Abend sogar zu Yusei gefahren, weil ich wusste, dass er sich mit dem ganzen Kram auskannte. Wir haben Stunden gesessen, ehe ich es begriffen hatte. Yusei. So leicht wie er hätte ich es auch gerne bei Frauen. Er war mir ein verdammt guter Freund, aber ganz konnte ich meine Eifersucht nicht abstellen. Der Kerl hatte aber auch alles, worauf die Mädels in unserer Klasse abfahren. Er war freundlich, sah zugegebenermaßen ganz gut aus und war verdammt schlau. Und er war wirklich zu naiv um zu sehen, dass er damit bei unseren Mitschülerinnen landete. Nervig. Aber zumindest Alexis stand anscheinend nicht auf ihn. Ich bog an dem kleinen Café ab und wusste, dass ich gleich da sein würde. Scheiße, jetzt bin ich wieder so nervös! Als ich das letzte Mal mit Alexis allein war, war das eine totale Katastrophe. Ich hatte komplett sinnloses Zeug zusammengestammelt und hatte sie irgendwann aus Versehen beleidigt. Statt mich zu entschuldigen, hatte ich die Situation nur noch verschlimmert. Es war mir immer noch so peinlich. Das passierte mir jedes Mal, wenn ich mit ihr allein war, also malte ich mir schon das schlimmste aus. Ich schüttelte energisch den Kopf bei dieser Erinnerung und konzentrierte mich wieder auf die Straße. Nein, heute waren ihre Eltern und Jaden auch noch da. Es war einfacher, wenn ich nicht mit ihr alleine war. Ich stellte mein Motorrad vor ihrem Haus ab und wollte an der Haustür klingeln. Bevor ich dazu kam, wurde sie geöffnet und Frau Yuki stand überrascht vor mir. „Oh, hallo Crow, was machst du denn hier?“ „Schulprojekt. Hat Alexis gar nichts gesagt?“ „Kann sein, dass es in dem ganzen Chaos untergegangen ist. Tut mir leid.“ Welches Chaos denn? Sie drehte sich um und rief in den Flur. „Kommst du, Liebling? Du weißt doch, die Fahrt dauert eine Weile!“ Im nächsten Moment kam Herr Yuki aus dem Haus, begrüßte mich kurz und dann ließen mich die Beiden einfach hier stehen. Shit, zumindest Jaden war noch dabei. Ich ging in den Flur und schloss die Tür hinter mir. „Alexis? Jaden?“ Jaden kam gerade aus dem Obergeschoss die Treppe runter und sah mich verwundert an. „Crow? Was willst du denn hier?“ Hat Alexis ernsthaft niemandem erzählt, dass ich heute komme? „Schulprojekt“ entwich es mir genervter als es gemeint war. Plötzlich fiel mir seine Tasche auf, die er über den Schultern trug. Oh, bitte nicht! „Hast du noch was vor?“ fragte ich vorsichtig und hoffte inständig auf eine Verneinung. „Ja, ich muss gleich los.“ Warum hasst mich das Schicksal? „Jaden, du willst mich doch jetzt nicht wirklich mit Alexis allein lassen, oder? Du weißt doch, was beim letzten Mal passiert ist!“ Er versuchte ein Lachen zu unterdrücken. „Ja, du hast es komplett vermasselt und meine Schwester hat drei Wochen nicht mit dir geredet!“ Ich versuchte mit aller Kraft dem Drang zu widerstehen, ihm eine Kopfnuss zu geben und sah ihn gereizt an. Das kleine Äderchen auf meiner Stirn trat vermutlich gerade hervor. „Richtig, und deswegen bleibst du schön hier!“ „Nö“ sagte er mit einem fetten Grinsen im Gesicht. Ich sah ihn halb verzweifelt an. „Warum? Was hast du denn vor?“ „Ich hab ein Date!“ Mir klappte die Kinnlade runter und ich starrte ihn völlig perplex an. Jaden hatte ernsthaft mehr Glück in der Liebe als ich? Seit wann? „Wer denn? Und wie lange geht das schon?“ Er lachte. „Ein andermal, ich will nicht wieder zu spät kommen!“ Ehe er die Tür öffnen konnte, hielt ich ihn am Handgelenk fest. Er drehte sich um und sah mich verwundert an. „Alter, ich kann das nicht! Ich will nicht, dass sie schon wieder sauer auf mich ist!“ „Dann gib ihr einfach keinen Grund dazu“ sagte er und zuckte mit den Schultern. Ich ließ den Kopf sinken und seufzte. So unbedarft wie der wäre ich auch gerne. „Ernsthaft Crow, sie mag dich. Setz es einfach nicht in den Sand!“ Mit diesen Worten öffnete er die Tür und war verschwunden. Einfach, sagt er. Sehr witzig! Ich stammle in ihrer Gegenwart doch nur sinnlosen Mist, das kann nichts werden! Ein paar Minuten stand ich unschlüssig im Flur und wägte ab, ob ich absagen sollte oder nicht, doch dann hörte ich wieder Schritte auf der Treppe und ich fuhr erschrocken herum. Alexis sah mich überrascht an. „Crow?“ Anscheinend wusste wirklich niemand in diesem Haus, dass wir heute verabredet waren. „Hast du unser Schulprojekt vergessen?“ fragte ich deswegen ungläubig. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nur nicht so früh mit dir gerechnet. Setz dich schon mal ins Wohnzimmer, ich hole meine Aufzeichnungen.“ ~*~ Zumindest hatte ich mir den Blödsinn gemerkt, den Yusei mir am Vortag erklärt hatte. Ich versuchte krampfhaft, mich nicht daneben zu benehmen und wenn sie mich etwas fragte, gab ich meist nur knappe Antworten. „Sag mal, Crow, was ist denn heute los mit dir?“ Ich schreckte vom Laptop hoch und starrte sie an. „Was? N-Nichts! Was soll schon los sein?“ Mein dümmliches Lachen danach ging mir selbst auf den Keks. Ich brauch schnell einen Themenwechsel! „Hey!“ rief ich viel zu laut und sie zuckte zusammen. Super, das war wohl zu laut. „Weißt du mit wem Jaden ein Date hat?“ Das war wohl ein bisschen leise… Sie musterte mich skeptisch. „Date?“ Ich räusperte mich. „Ja, er meinte vorhin er muss los, weil er ein Date hat.“ Das war normale Lautstärke, hoffte ich. Sie lachte und mir ging sofort das Herz auf. „Ehrlich Crow, da hat er dich veralbert“ riss mich ihre melodische Stimme aus meinen Gedanken. „Was? Warum veralbert?“ „Er wollte heute mit Yusei in die Stadt, nicht auf ein Date.“ Dieser miese Knilch. Wenn ich den in die Finger bekomme! „Allerdings hast du meine Frage noch nicht beantwortet. Also, was ist heute los mit dir?“ Verdammt, der Plan ging schief. „Nichts! Wirklich, ich bin nur abgehängt!“ Sie sah mich verwirrt an. „Abgehängt?“ Wie gern würde ich jetzt gegen eine Wand rennen. „Abgelenkt!“ „Was lenkt dich denn hier schon ab?“ „Du, verdammt!“ Ich riss die Augen auf. Das hatte ich eben nicht nur gedacht. Shit! „Also wenn ich dich so ablenke, kannst du deinen Teil auch zu Hause machen!“ sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und verschränkte die Arme. „Nein, so war das doch nicht gemeint!“ „Und wie meinst du es dann? Spuck es schon aus!“ „Ich… Ich mein das auf eine positive Art!“ Sie legte den Kopf schief und sah nach wie vor ein wenig verwirrt aus. „Also findest du es gut, dass ich dich ablenke?“ „Nein.“ „Hä?! Dann sag doch was du meinst!“ Ich fuhr mir verzweifelt mit den Händen durch die Haare. „Ahh! Verflucht nochmal, ich… ich…“ Was kann ich ihr denn jetzt am besten erzählen? Die Wahrheit? Sie würde mich vermutlich auslachen! Nein, das geht nur schief. Ich kann ihr doch nicht einfach sagen: „Ich liebe dich!“ Augenblicklich schoss mir die Hitze ins Gesicht und Alexis starrte mich nicht weniger geschockt an als ich sie. Jetzt war es raus. Ich hatte es gesagt. Oder besser gesagt fast geschrien. Warum zum Teufel hab ich das gemacht?! Mein Herz war so laut, es rauschte schon in meinen Ohren und ich war wie erstarrt. Warum sagst du denn nichts?! Ich brauchte irgendeine Reaktion. Sie konnte mich anschreien, mir um den Hals fallen, mich aus dem Haus werfen, irgendwas! Aber stattdessen saß sie einfach nur da und sah mich mit großen Augen an. „Ist das dein Ernst?“ durchbrach sie nach viel zu langer Zeit die Stille. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und war unfähig mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ich war einfach zu geschockt. Ein leichtes Nicken bekam ich gerade noch auf die Reihe. „Aber seit wann? Und warum hast du mir nie was gesagt?“ Ein wenig von der Anspannung fiel von mir ab. Sie war wohl zumindest nicht sauer. „Ähm… Seit… Seit der Unterstufe. Naja, aber dann bist du ja mit Zane zusammengekommen.“ Bei seinem Namen verengten sich ihre Augen kurz zu Schlitzen und ich schluckte schwer. Das war immer noch ein rotes Tuch für sie. „Die Trennung ist doch schon Monate her, warum hast du nicht eher was gesagt?“ „Ich hab’s versucht! Was sollte ich denn machen? Ich wollte es dir nicht sagen, ehe du über diesen Idioten hinweg warst, und als wir beim letzten Mal die Bio Gruppenarbeit hatten, hab ich es dir sagen wollen!“ Sie hob eine Augenbraue. „Du meinst an dem Abend, an dem du mich mit einer Seekuh verglichen hast?“ Das war doch sehr aus dem Zusammenhang gerissen, aber im Nachhinein konnte ich verstehen, warum sie sauer war. Ich hatte es auch nicht wirklich besser gemacht. Als ich versucht hatte mich rauszureden, hatte ich es nur schlimmer gemacht. Ich seufzte. „Ja, sorry, das war nicht mein bester Moment.“ Aber wenn ich es schon endlich geschafft hatte, es ihr zu sagen, dann wollte ich auch eine Antwort. Auch, wenn ich wirklich schiss vor ihrer Reaktion hatte. Langsam sah ich auf und musterte sie ernst. „Und?“ Sie wich meinem Blick aus und spielte mit ihren Fingern am Stoff ihrer Hose. „Ich…“ Sie biss sich auf die Unterlippe und schien ihre Worte abzuwägen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, drehte sich mein Magen mehr um. „Keine Ahnung… Tut mir leid, ich muss wirklich darüber nachdenken.“ Na toll, das war eigentlich ein eindeutiger Korb. Ich löste mich allmählich aus meiner Starre, packte meine Sachen zusammen und traute mich nicht, sie noch einmal anzusehen. „Verstehe, ich geh wohl besser“ sagte ich und sie hielt mich nicht auf. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter. Versuchte meine Tränen zurückzuhalten. Wenigstens so lange, wie ich in diesem Haus war. Auf dem Heimweg verschleierten die ersten Tränen meine Sicht. Normalerweise beruhigte mich das Motorrad fahren, aber ich will mich einfach nur noch in meinem Zimmer verkriechen. Ich Idiot! Warum habe ich ihr das plötzlich gesagt?! Und dann auch noch so! Es platzte einfach heraus… * Die Sicht von Jaden * „Du hast ihm WAS gesagt?“ fragte Yusei belustigt. Wir liefen gerade nach Hause, nachdem wir den Tag in der Stadt verbracht hatten. Ich genoss die klare, kalte Luft. Es war einer dieser angenehmen, sonnigen Herbsttage und ich war verdammt glücklich. Ich grinste. „Ja, du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er hat total blöd aus der Wäsche geguckt, als ich ihm sagte, dass ich auf ein Date gehe. Vielleicht macht er heute ja auch mal Nägel mit Köpfen! Der ist schon seit Ewigkeiten in meine Schwester verknallt.“ Er schüttelte mitleidig den Kopf und überlegte. „Vielleicht hat er einfach nur Angst.“ Crow und Angst? Normalerweise ist er ein Draufgänger. Das konnte ich mir nicht vorstellen. „Wie meinst du das?“ Er schenkte mir ein sanftes Lächeln und drückte meine Hand fester während wir durch die Straßen meiner Nachbarschaft liefen. „Naja, ich hatte auch Angst vor deiner Reaktion. Ich wusste nicht, ob du danach noch mit mir befreundet sein würdest, wenn du nicht das Gleiche empfunden hättest wie ich. Vielleicht geht es Crow ähnlich.“ „Hm.“ Ich weiß nicht. Ein paar Tage zu zögern ist ja okay, aber Crow bekommt es seit Jahren nicht auf die Reihe. Eigentlich konnte er einem leidtun. Damals hatte er allen Mut zusammengenommen und wollte Alexis fragen, aber dann tauchte sie mit diesem Zane auf. Wie sie sich auf den einlassen konnte, war mir schleierhaft. Er war so ein Arsch. Ich kann froh sein, dass ich mich in Yusei verliebt habe und nicht in so einen wie ihn. Aber ich kann ehrlich nicht verstehen, wie man so lange in Ungewissheit verbringen kann wie Crow. Mich hatten ja schon die paar Tage fast verrückt gemacht, in denen ich nicht wusste, ob Yusei sich an den Kuss erinnern konnte. „Worüber denkst du so angestrengt nach?“ fragte Yusei und blieb plötzlich stehen. Ich sah mich um. Wir waren schon an seinem Haus angekommen. „Ach, nichts Besonderes. Mir tut Crow nur leid.“ Er lächelte und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Augenblicklich bekam ich eine leichte Gänsehaut. Ich seufzte. Warum konnte er nicht einfach wieder mit zu mir kommen? „Schade, dass wir uns in nächster Zeit nur in der Schule sehen.“ „Ja, aber ich kann leider nichts dran ändern. Morgen muss ich ins Krankenhaus, Dienstag bin ich in der Werkstatt und Mittwoch treffe ich mich mit Jack wegen des Projekts.“ Er schloss die Haustür auf und ich folgte ihm. Schließlich musste ich mein Fahrrad noch holen. Währenddessen redete er weiter. „Aber ich freue mich schon auf das Bunka no Hi. Ich bin gespannt, wie das in einer kleineren Stadt abläuft.“ „So klein ist Neo Domino auch wieder nicht“ scherzte ich und schloss die Tür hinter mir. Naja, aber im Vergleich zu Osaka, mit seinen drei Millionen Einwohnern, ist das hier wirklich eine Kleinstadt. „Nein, das stimmt“ lachte er. „Willst du noch was trinken?“ Ich würde ja gern noch Zeit mit ihm verbringen, aber meine Eltern denken, ich hätte heute für die Klausur in Englisch gelernt. Da sollte ich mir den Stoff wenigstens ein klein wenig ansehen, ehe sie heimkommen würden. „Schon, aber ich wollte vor meinen Eltern wieder zu Hause sein“ sagte ich stattdessen. So ganz konnte ich meine Enttäuschung nicht verbergen. „Schade“ sagte er und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Aber mal was anderes.“ Ich musterte ihn neugierig. „Was denn?“ „Vielleicht… sollten wir es bald den anderen erzählen.“ „Was meinst du?“ Er legte mir eine Hand an die Wange, gab mir einen viel zu kurzen, sanften Kuss und lächelte. „Das hier“ hauchte er gegen meine Lippen. Mein Gesicht wurde ganz warm und diese Wärme breitete sich schnell in meinem ganzen Körper aus. Ach, das meinte er. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Er wollte es unseren Freunden sagen. „Stimmt, entschuldige. Aber… gibt’s dafür irgendeinen passenden Zeitpunkt? Ich hatte noch nie eine Beziehung.“ Schlagartig stieg mir die Hitze ins Gesicht und ich sah ihn etwas erschrocken an. Wir hatten nie darüber geredet, ob wir in einer Beziehung sind. Ich sah Yusei an, aber er war nicht verwundert über meine Wortwahl. Er lächelte einfach nur glücklich. „Nein, den gibt es nicht.“ Kapitel 20: Offenbarung ----------------------- Gedankenverloren sah ich aus dem großen Schulfenster und überlegte, wann wir es unseren Freunden sagen sollten. Weil Crow seit Sonntag wegen der Sache mit Alexis so deprimiert war, wollte ich ihm mein Glück irgendwie nicht unter die Nase reiben, aber irgendwann musste es ja raus. Ich steckte in einer Zwickmühle. Yusei meinte nur, dass er es mir überlassen wollte, wann ich es den anderen erzählen würde. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Morgen ist das Stadtfest. Ich freute mich wahnsinnig, endlich wieder Zeit mit ihm zu verbringen. Dass wir uns seit Tagen nur in der Schule sahen nervte mich. In der Mittagspause lief ich schnell in sein Klassenzimmer. Wenn wir schon nur die Pause zusammen verbringen konnten, wollte ich diese seltene gemeinsame Zeit auch nutzen. Dort angekommen, hielt ich nach ihm Ausschau, aber ich musste enttäuscht feststellen, dass er nicht da war. Ob er auf die gleiche Idee gekommen ist? „Hey, Jaden!“ Ich sah in die Richtung aus der der Ruf kam. Ein überraschend gut gelaunter Crow winkte mich zu den anderen. „Hey, warum so gute Laune?“ fragte ich, als ich bei den anderen angekommen war. Crow grinste breit, nahm die Hand meiner Schwester und zog sie etwas näher an sich heran. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriffen hatte was er damit sagen wollte. „Was?!“ entfuhr es mir ungläubig. So wie die beiden in letzter Zeit drauf waren, hatte ich das wirklich nicht kommen sehen. „Seit wann denn?“ „Ich bin vor der Freistunde auf ihn zugegangen“ meinte Alexis. „Der Idiot hat dann anschließend den Werkunterricht sausen lassen.“ Obwohl sie ihn beleidigt hatte, lächelte sie ihn liebevoll an. Ich war baff. Natürlich freute ich mich für die beiden, aber das hatte ich wirklich nicht kommen sehen. Trotzdem musste ich breit grinsen. „Glückwunsch!“ Als mein Blick zu dem leeren Platz meines Freundes wanderte, fiel mir der eigentliche Grund ein, warum ich hier war. „Wo ist eigentlich Yusei?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Hab ihn heute noch nicht gesehen.“ Ich sah ihn überrascht an. Heute Morgen in der Eingangshalle hatte ich noch mit ihm über das Training am Nachmittag geredet. „In Musik war er zumindest noch da“ sagte Alexis. „Sensei Fontaine wollte noch irgendwas für die Aufführung mit ihm durchgehen. Seitdem habe ich ihn auch nicht mehr gesehen.“ Crow legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, und ans Handy geht er auch nicht.“ Merkwürdig. Fühlte er sich vielleicht nicht gut? Aber heute Morgen war noch alles in Ordnung. Warum erschien er dann nicht zum Unterricht? Das passt eigentlich nicht zu ihm. Hey, Alexis meinte, du wärst nach Musik einfach verschwunden. Ist alles Okay? Wo bist du denn? Ich hoffe, er antwortet schnell. „Ich hoffe, er kommt bis zum Training wieder. Wir haben bis zum letzten Spiel dieses Jahr kaum noch Zeit.“ Ich sah von meinem Handy auf. Es war Jack. Aber wenn es Yusei nicht gut geht, wird er sich doch mal ausruhen dürfen, oder nicht? „Wenn er nicht kommt, dann übernehme ich einfach das Training. So wie vorher auch schon!“ „Jaden hat recht“ meinte Crow plötzlich. „Aber langsam könnte Yusei uns auch erzählen was los ist. Immerhin fehlt er nicht das erste Mal. Mir kann keiner erzählen, dass das nur Migräne ist.“ Damit warf er einen kurzen Seitenblick zu mir, ehe er sich wieder an Jack wandte. „Aber wolltest du heute nicht dieses Projekt mit ihm machen?“ Jack nickte. „Bis dahin wird er sich schon melden“ sagte Alexis und lächelte. ~*~ Sein Motorrad stand noch immer auf dem Parkplatz. War er vielleicht doch irgendwo in der Schule? „Hey, pass hier rüber!“ riss mich Daichis Stimme wieder aus meinen Gedanken. Den Pass hatte ich verhauen. Verdammt! „Was ist denn mit dir los, Jaden?“ fragte Jim. Er bekam immer mit, wenn ich so drauf war. „Ach, nichts! Alles gut“ versuchte ich mich herauszureden und spielte weiter. Ob ich mich nochmal auf die Toilette stehlen kann um auf mein Handy zu sehen? Aber ein drittes Mal fällt es sicher auf. Ich hatte noch immer keine Antwort von ihm. Ach, verdammt, es geht ihm gut! Jetzt konzentrier dich doch endlich, Jaden! Ich versuchte die aufkommende Sorge zu ignorieren. Es geht ihm gut. Nach einer letzten Runde um den Sportplatz beendete ich das Training und mein erster Weg war der zu meinem Spind, in dem mein Handy lag. Das kleine Lämpchen blinkte. Aufgeregt entsperrte ich mein Telefon und schaute in meine Nachrichten. Mit schnell klopfendem Herzen sah ich Yuseis Namen auf dem Display aufleuchten. Ungeschickt vor Aufregung öffnete ich die SMS und las sie durch. Entschuldige bitte, dass ich so spät reagiert habe. Mir geht’s gut, ich bin gerade im Krankenhaus bei Doktor Arisawa. Mach dir keine Sorgen. Wir telefonieren heute Abend, ja? Verwirrt starrte ich noch immer auf das Display. Warum ist er denn bei seiner Therapeutin? Er hat doch heute gar keinen Termin. Und dann auch noch während des Unterrichts. Und wie ist er ohne sein Motorrad dahin gekommen? „Mit wem schreibst du denn?“ Ich sah auf. Crow hatte nicht mich gemeint, sondern redete mit Jack. „Yusei hat nur geschrieben, dass wir uns erst etwas später treffen.“ „Dann macht ihr das Projekt heute doch noch? Was war denn mit ihm?“ „Steht hier nicht. Nur, dass wir es um eine Stunde verlegen müssen.“ Crow seufzte. „War ja klar, dass er nichts erzählt… Sag mal… Meinst du, er vertraut uns nicht?“ „Natürlich!“ platzte es aus mir heraus und die beiden sahen überrascht zu mir. Crow verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber warum erzählt er uns dann nicht, was bei ihm seit Wochen abgeht?“ Ich warf Jack einen kurzen Seitenblick zu. Er wusste zumindest von einem Teil der Geschichte, wenn auch unfreiwillig. Er seufzte. „Ich rede mal mit ihm.“ Crow schnaubte. „Warum sollte er ausgerechnet heute reden?“ „Lass mich nur machen.“ Damit schloss er seinen Spind, schnappte seine Tasche und verließ die Umkleide. „Was der wohl wieder vorhat?“ Ich sah ihm nach und zuckte mit den Schultern. Jack hielt sich aus solchen Angelegenheiten eigentlich immer raus. * Die Sicht von Yusei * „Fudo-kun, kann ich kurz mit dir reden?“ Ich sah von meinen Noten auf, die ich gerade zusammengeschoben hatte und musterte Sensei Fontaine neugierig. Was wollte sie denn nach der Stunde noch von mir? „Ich bin beeindruckt, dass du die Noten so schnell verinnerlicht hast. Aber ehrlich gesagt hatte ich nichts anderes erwartet“ sagte sie mit einem Lächeln. Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Danke?“ Kichernd fuhr sie fort. „Nein im Ernst, danke, dass du mich am Klavier vertrittst. Ich wollte aber eigentlich mit dir über das Lied reden, von dem du mir die Noten gegeben hast. Ich habe jetzt endlich eine Inszenierungsidee.“ Inszenierungsidee? Ich dachte, das Lied könnte für sich stehen. Ich bin mir allerdings noch immer nicht sicher, warum ich zugestimmt habe es zu spielen. In letzter Zeit bekam ich davon ständig Kopfschmerzen und im Normalfall spielte ich es nicht in der Öffentlichkeit. „Was hältst du von Ausdruckstanz?“ Ich sah sie erschrocken an. Bitte was? Ich tanze nicht! Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lachte sie. „Nein, nicht du. Einige Schüler unseres Musikprojekts sind auch im Tanzclub. Ich habe mit ihrer Lehrerin, Sensei Tredwell, gesprochen und ihr das Lied vorgespielt. Sie hat schon einige Ideen, aber ich hielt es für angemessen das mit dir zu besprechen. Schließlich ist es deines.“ Hm. Das war eigentlich keine schlechte Idee. Ich stimmte zu und sie strahlte mit der Sonne um die Wette. „Sehr schön! Würdest du uns einen Teil deiner Freistunde dafür opfern?“ „Uns?“ In diesem Moment ging die Tür zum Musikraum auf und eine verdammt hübsche Frau betrat den Raum. Sensei Fontaine begrüßte sie. „Da bist du ja, Misty.“ „Entschuldige, ich komme etwas spät. Ich habe keinen Parkplatz gefunden.“ Grazil kam die Frau auf uns zu. Das musste wohl die Tanzlehrerin sein. „Du bist sicher Yusei Fudo. Mein Name ist Misty Tredwell und ich habe schon einige Ideen zu diesem Lied. Wer ist eigentlich der Interpret? Ich kannte es vorher gar nicht, dabei bin ich in der Klassik recht bewandert.“ Ich lächelte verlegen. „Meine Mutter.“ Sie schien nicht überrascht über meine Antwort und bat mich einige kurze Passagen aus dem Lied zu spielen, während sie Sensei Fontaine und mir ihre Ideen vorstellte. Während ich spielte und sie sich dazu bewegte, konnte ich meine Augen nicht von ihr abwenden. Ihre fließenden Bewegungen waren wirklich anmutig und passten perfekt zu der Melodie. Ich war einfach fasziniert. Sensei Fontaine kam aus ihren Belobigungen kaum noch heraus. Sie bat mich längere Passagen zu spielen und ich kam ihrer Bitte nach. Allerdings fing mein Kopf nach einiger Zeit wieder ziemlich an zu schmerzen. „Brauchst du eine kurze Pause? Du bist ganz blass.“ Ich sah auf und Sensei Fontaine musterte mich besorgt. „Nein, schon gut. Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.“ Sensei Tredwell kam auf uns zu. „Dann machen wir nach der letzten Sequenz Schluss für heute. Hättest du donnerstags nach der Schule Zeit um Klavier zu spielen? Dann zeige ich die Schritte den Schülern, die bei der Aufführung mitmachen!“ „Ja, kein Problem.“ „Ach Misty, das wird wundervoll! Würdest du es mir noch einmal komplett zeigen?“ Sie zwinkerte ihr zu. „Nichts lieber als das.“ Dann machte sie sich bereit und gab mir das Zeichen zu spielen. Dieses Mal konzentrierte ich mich nur auf das Klavier. Auch wenn ich von ihren Bewegungen fasziniert war, war es mir doch etwas unangenehm, sie die ganze Zeit anzustarren. Das unaufhörliche Pochen in meinem Kopf wurde mit jeder Note schlimmer. Ich konnte mein Blut in meinen Ohren rauschen hören, doch ich spielte weiter. Meinte Doktor Arisawa nicht, das wären unterdrückte Erinnerungen? Ich wusste zwar nicht, warum der Auslöser dieses Lied war, aber sie sagte, dass ich mich nicht dagegen wehren sollte. Ich spielte weiter. Ich hatte die Hälfte geschafft. Mein Kopf fühlte sich an, als würde mir jemand ein Messer reinrammen und langsam nach unten ziehen. Das war doch nicht normal! Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Schmerz zu ertragen. Plötzlich zogen vor meinem Auge merkwürdige Bilder vorbei. Stimmen, die ich nicht kannte, schwirrten in meinem Kopf herum. „…einseitige Beckenringsprengung mit Schambein- Sitzbein- und Darmbeinfraktur…“ Ich saß an einem Tisch und schüttelte verzweifelt den Kopf. Tränen rannen stumm über meine Wangen und tropften auf die Tischplatte. Ich dachte an dieses Lied. „…schwere innere Blutungen durch eine Ruptur der Beckenarterie…“ Ein blonder Mann saß zusammengesunken hinter einem Tisch und sah mich traurig an. „Zum Aufruf kommt die Sache Kyo Tanaba“ sagte eine tiefe Stimme. Sie gehörte nicht zu dem Blonden. Herr Yuki saß neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Ein Knall. Wirre Stimmen riefen durcheinander und verschmolzen zu einem lauten Sturm. Ich zitterte. Plötzlich saß ich hinter einem kleinen Tisch und sah zu einer Menschenmenge. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Die einzige Person die ich erkannte, war Jaden. Die tiefe Stimme bat mich von dem Unfall zu erzählen. Jaden nickte mir aufmunternd zu. „Du schaffst das!“ rief er. Ich redete. Was, das weiß ich nicht. Ich glaube, ich habe von dem Unfall erzählt. Dass ich meine Mutter anrief als all das passierte. Plötzlich fragte mich eine andere Stimme: „Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie Ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls mit diesem Anruf von ihrer Tätigkeit, also dem Fahren eines Kraftfahrzeugs, abgelenkt haben?“ Ich zitterte. Er gab mir die Schuld an dem Unfall. Hatte er Recht? Jaden schüttelte energisch seinen Kopf und sah wütend aus. Herr Yuki war sauer. Blitzgewitter. Ich setzte mich wieder neben Jadens Vater. Schloss die Augen. Wollte nur noch weg. Mein Zittern wurde stärker. Ich legte die Hände an meine Ohren, um den Stimmen zu entkommen. „…der Fötus starb nur kurz nach dem Opfer…“ Verzweiflung breitete sich in mir aus. Plötzlich wurde alles schwarz. Die Kälte kroch in jeden Winkel meines Körpers. Die Tränen versiegten. Ich fühlte eine unsagbare Leere, die mich zu verschlucken drohte. Und dann sah ich nur noch ihn. Erst verschwommen, doch das Bild klarte zunehmend auf. Jaden hatte seine Hände auf meine Wangen gelegt und sah mich flehend an. „Bitte!“ Warum war er so traurig? So verzweifelt? Im Hintergrund waren Grabsteine zu sehen. War ich… War ich wirklich auf dem Friedhof? Wie lange? Entfernt hörte ich die Stimme von Kalin. Mir war so kalt. Jaden nahm mich in den Arm und wärmte mich. Allmählich verschwanden die Bilder und ich erkannte verschwommen die Tasten des Klaviers. Mir war schwindlig und übel. Meine Arme waren um meinen Körper geschlungen und versuchten irgendwo Halt zu finden. Ich zitterte. Mein Herz klopfte so laut, so schnell, dass meine Brust schmerzte, doch die Kopfschmerzen ließen allmählich nach. Ich atmete schnell und flach, irgendwie gibt es in diesem Raum nicht genügend Sauerstoff um richtig zu atmen. Mein Hals war zugeschnürt und meine Lungen wollten sich einfach nicht mit Luft füllen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, kniff die Augen zusammen und hoffte, dass es bald vorbei war. Ich krallte mich in die Ärmel meiner Jacke fest. Spürte einen Schmerz an meinen Oberarmen, doch er beruhigte mich. Gab mir irgendwie das Gefühl wirklich wach zu sein. In diesem Moment begriff ich, warum ich nur verschwommen sehen konnte. Warme Tränen liefen meine Wangen hinab und landeten auf den Tasten des Klaviers. Langsam bekam ich wieder Luft. Mein Herz beruhigte sich. Was war das eben? „Alles wieder in Ordnung?“ Ich schreckte hoch und sah in die eisblauen Augen von Sensei Tredwell. Sie sah besorgt, fast schon verängstigt aus. Zögerlich nickte ich und sah mich im Raum um. Sensei Fontaine war verschwunden. Ich senkte den Kopf und wischte mir mit den Ärmeln meiner Jacke die restlichen Tränen aus meinem Gesicht. „Was ist passiert?“ flüsterte ich. „Ich bin mir nicht sicher. Kurz vor Ende des Liedes hast du dich plötzlich gekrümmt und Geräusche von dir gegeben als hättest du Schmerzen. Du warst nicht mehr ansprechbar. Fonda ist gerade rausgegangen um deine Eltern und einen Krankenwagen zu rufen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen Krankenwagen.“ Meine Stimme war kratzig. Ich hob den Kopf ein wenig um sie anzusehen und schaute in ein ziemlich verwirrtes Gesicht. Im Hintergrund sah ich, wie die Tür sich öffnete und Sensei Fontaine wieder den Raum betrat, die Augen auf ein Blatt Papier gerichtet. „Ich habe seinen Vater nicht erreicht und bei der anderen Notfallnummer geht gerade niemand ran.“ Andere Notfallnummer? Wenn sie da mein Datenblatt hatte, sollte eigentlich nur die Nummer meines Vaters draufstehen. Ihr Blick hob sich wieder und sie sah mich überrascht an, ehe ihr ein erleichterter Seufzer entfuhr. „Dem Himmel sei Dank, ich wusste wirklich nicht, was ich jetzt noch hätte tun sollen.“ „Hast du den Krankenwagen gerufen?“ „Nein, das wollte ich gerade machen, aber vorher wollte ich nach ihm sehen.“ „Ich brauche keinen Krankenwagen!“ Meine Stimme war wieder fester und die beiden Frauen sahen mich fragend an. „Ich… muss nur telefonieren.“ Ich musste mit Doktor Arisawa darüber reden. Ich war mir nicht ganz sicher, was das alles bedeutete. Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und rausgegangen, doch ich traute meinen Beinen nicht recht. ~*~ Sensei Fontaine und Sensei Tredwell hatten mich letztendlich dazu überredet zumindest auf die Krankenstation zu gehen, bis es mir ein wenig besser gehen würde. Wie sich herausstellte, war die andere Notfallnummer die von Frau Yuki. Sie hatte darauf bestanden mich abzuholen und selbst ins Krankenhaus zu fahren. Niemand wollte mich auf mein Motorrad lassen und wirklich durchsetzen konnte ich mich gegen die ganzen Proteste nicht, also musste ich nachgeben. Im Krankenhaus erzählte ich Doktor Arisawa von dem Vorfall. Ihre Theorie war, dass das Lied der Auslöser für die Erinnerungen war, weil ich mich während der Verhandlung so darauf konzentriert hatte. Zumindest während der schier unerträglichen Aussage des Arztes. Mir war nicht wichtig, warum ich meine Erinnerungen wieder hatte. Ich war nur froh, dass es so war. Auch wenn sie unendlich schmerzten, so war ich mir doch sicher, sie irgendwann verarbeiten zu können. Ich wusste selbst nicht, woher diese Zuversicht plötzlich stammte. Das Einzige, an das ich mich nicht erinnern konnte, war die Zeit auf dem Friedhof. Ich wusste nur, dass Jaden mich fand und wir dann nach Hause gefahren sind. Jetzt hatte ich ihm noch mehr zu verdanken als ohnehin schon. Ich hatte geahnt, dass er an meiner Seite gewesen war. Aber mich jetzt wieder daran erinnern zu können, war etwas ganz anderes. Ich war dankbar für seine Nähe. Dankbar und glücklich. Nach der Therapie wollte ich eigentlich meinem Vater davon erzählen, aber er hatte einen Termin, also ging ich wieder zu den Kindern. Es gehörte mittlerweile irgendwie dazu. Sie taten mir gut. Ich hatte das Gefühl, als würden sie mich wieder runterbringen. Aiko erzählte mir, dass sie morgen wieder nach Hause darf, also forderte sie eine wirklich lange Geschichte und ich kam ihrer Bitte gern nach. Ob es sich so anfühlt eine kleine Schwester zu haben? Der Gedanke ließ mich schmunzeln. ~*~ Jack und ich saßen im Wohnzimmer und arbeiteten schon eine ganze Weile an dem Projekt. Er kam mir allerdings stiller vor als sonst schon. Im Raum war nur das Klicken der Tasten auf der Tastatur zu hören. Außerdem sah er ständig zur Uhr. „Hast du heute noch was vor?“ fragte ich deshalb irgendwann in die Stille, während ich weiter Datensätze in die Tastatur hämmerte. „Nein, ich frage mich nur, wann dein Vater nach Hause kommt.“ Überrascht sah ich auf. Warum wollte er das denn wissen? „Der… ist noch eine Weile weg“ sagte ich ausweichend und widmete mich wieder meinem Laptop. Gelogen war es nicht. In drei Wochen wäre er wieder hier. „Ich habe ihn nur noch nie gesehen.“ „Warum interessierst du dich plötzlich dafür? Ich kenne deine Eltern auch nicht.“ Vielleicht war das schnippisch, aber ich wollte das Thema damit beenden. Obwohl… Vielleicht sollte ich ihnen langsam davon erzählen. Diese Geheimniskrämerei wurde mit der Zeit anstrengend, und Jaden log auch ständig für mich. „Nein, aber du warst auch noch nie bei mir.“ Ich hörte auf zu tippen und seufzte. „Was willst du wissen?“ Auf irgendwas wollte er hinaus. „Traust du uns?“ „Was?“ Ich sah ihn verwirrt an. Wie kam er denn jetzt darauf? „Ob du uns traust.“ Er sah mich eindringlich an. Das war eine ernste Frage, aber ich wusste trotzdem nicht, was er damit bezwecken wollte. Ich nickte. Natürlich traute ich ihnen. Jack wusste seit Wochen von dem Unfall und hatte es für sich behalten. Auch Carly hatte dichtgehalten. Und Crow war, im Vergleich zur Anfangszeit, ziemlich diskret geworden. „Warum willst du uns dann immer noch nicht sagen was los ist?“ Ich begriff, worauf er hinauswollte. Ganz bereit dazu fühlte ich mich nicht, aber vielleicht kann ich es Jack anvertrauen. Irgendwann musste ich es meinen Freunden erzählen. Sie hatten sich bis heute geduldig zurückgehalten, nachdem sie mitbekommen hatten, dass ich nicht reden wollte. Ich wollte nur kein Mitleid haben. „Crow zumindest denkt, du traust ihm nicht“ sagte er plötzlich. Ich starrte auf den Bildschirm meines Laptops, ohne ihn wirklich zu sehen. Irgendwo konnte ich ihn verstehen. Er war mein Freund und selbst als es anfing mir besser zu gehen, hatte ich nichts gesagt. Mir vertrauten sie doch auch ihre Anliegen an. Ich schloss die Augen, um mich einen Moment zu sammeln, dann sah ich ihn ernst an. „Na schön, ich mache dir einen Vorschlag. Ich schreibe Crow, dass er herkommen kann und dann erzähle ich euch von der Sache, einverstanden? Ich will es nicht unbedingt mehrmals erzählen. Aber lass uns das hier zumindest noch fertigbekommen.“ Jack schien zufrieden mit meinem Vorschlag. ~*~ Das Klingeln an der Tür ließ mich hochschrecken. Seit ich Crow geschrieben hatte, dachte ich die ganze Zeit darüber nach wie und was ich ihnen erzählen sollte. Wie weit konnte ich gehen? Wie weit wollte ich gehen? Langsam ging ich zur Tür und Crow strahlte mir entgegen. Sofort verkrampfte sich mein Magen. So wie er guckt, gibt es kein Zurück mehr. „Hey, ich war echt überrascht als ich deine Nachricht bekommen hab!“ sagte er und ging zu Jack ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür und folgte ihm. Kein Wunder, dass er überrascht war. Geplant war die ganze Sache nicht. Ich nahm mir einen Stuhl aus der Küche und setzte mich mit verschränkten Armen ihnen Gegenüber. „Na schön, was wollt ihr genau wissen?“ Jack blieb still. „Eigentlich nur, warum du so drauf warst. Im Kino hast du ja gesagt, du würdest es irgendwann erzählen.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Um ihm das zu erklären, müsste ich weiter ausholen. „Das… ist eine längere Geschichte.“ Crow grinste. „Ich hab heute nichts mehr vor, wie sieht’s bei dir aus, Jack?“ Seine Mundwinkel zuckten etwas nach oben. „Nein, ich habe Zeit.“ Ein leises Seufzen kam über mich. Natürlich. Ich atmete noch einmal tief durch und sammelte meine Gedanken. Wo fange ich eigentlich an? „Wir sind eigentlich nicht vorrangig wegen eines Jobwechsels umgezogen“ begann ich und sah die beiden an. Jack kannte den ersten Teil der Geschichte bereits, also ahnte er, was der eigentliche Grund war. Crow hingegen schaute etwas verwirrt. „Meine Mutter ist… sie hatte etwa drei Wochen davor einen Autounfall.“ Ich senkte den Blick. „Sie ist an dem Tag gestorben, zusammen mit meiner ungeborenen Schwester…“ Ich hörte wie einer der beiden, vermutlich Crow, schnell die Luft einzog, aber ich sah stur auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa. „In dem Augenblick, als sie den Unfall hatte, habe ich mit ihr telefoniert. Eine ganze Weile lang hatte ich Alpträume davon, deswegen war ich in der Schule so oft müde.“ Ein Schauer lief mir beim Gedanken an diesen Anruf über meinen Rücken. „Mein Vater…“ Ich wollte nicht zu sehr ins Detail gehen. Allerdings konnte ich es nicht ewig verheimlichen. Noch einmal holte ich tief Luft. „Er hat das alles anscheinend nicht mehr ausgehalten und kurz nach dem Umzug versucht, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wurde er gefunden und versorgt, aber seitdem ist er im Krankenhaus. Das ist jetzt etwas mehr als sechs Wochen her. Seit diesem Tag wohne ich allein, deswegen habt ihr meine Eltern nie gesehen.“ Ich traute mich nicht aufzusehen. Meine Haltung wurde immer verkrampfter, aber sie ließen mich ausreden. Dafür war ich ihnen dankbar. „Vor ein paar Wochen, als ich in Osaka war, musste ich deshalb auch selbst zu der Gerichtsverhandlung wegen des Unfalls. Mein Vater konnte ja nicht. Jaden war an den beiden Tagen nicht krank, sondern hat mich zusammen mit seinem Vater begleitet. Er ist Sozialarbeiter und war mein Vormund bei der Verhandlung, weil ich noch minderjährig bin.“ Meine Hände krallten sich in meine Oberarme. Ob sie mich für verrückt halten werden, wenn ich ihnen von dem Gedächtnisverlust erzähle? „Ich… war danach so seltsam, weil…“ Ich schluckte. „Weil ich mich eine Weile nicht an alles erinnern konnte. Eigentlich an nichts davon. Eine Zeit lang war ich einfach nicht mehr ich selbst, aber ich habe es nicht wirklich mitbekommen.“ Ich sah sie immer noch nicht an, stattdessen wanderte mein Blick aus dem Fenster. „Jaden war in dieser Zeit für mich da und ich bin eine Weile lang bei seiner Familie untergekommen.“ Ein kurzes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Er hatte so viel für mich getan. Das könnte ich ihm nie wieder zurückgeben. „Letzte Woche haben mich seine Eltern zu einer Therapeutin geschickt, bei dem ich jetzt mehrmals in der Woche nach der Schule bin. Deswegen habe ich auch so selten Zeit. Ich begann mich zu erinnern. Seitdem kommt jeden Tag ein bisschen mehr wieder. Allerdings…“ In meinem Kopf schwirrten die Erinnerungen von heute Morgen und mein Herz begann wieder schneller gegen meine Rippen zu hämmern. „Heute Morgen war alles ein bisschen viel. Ich habe mich daran erinnert, wie der Arzt vor Gericht die Verletzungen meiner Mutter aufgezählt hat und bei meiner Aussage hat der Verteidiger versucht mir eine Teilschuld unterzuschieben, weil ich während des Unfalls mit ihr telefoniert habe. Deswegen habe ich in der Freistunde eine Panikattacke bekommen und wurde ins Krankenhaus gebracht.“ „Du warst im Krankenhaus?“ Jacks Stimme ließ mich kurz zusammenzucken und wieder zu ihnen sehen. Ich hatte mich so an meinen Monolog gewöhnt, dass ich mit einer Antwort nicht mehr gerechnet hatte. Jack sah überrascht aus, Crow hingegen komplett entsetzt. Beide hatten sich ein wenig nach vorne gelehnt und sahen ziemlich verspannt aus. „Ähm… Ja, war ich… Jedenfalls wisst ihr jetzt alles.“ Eine Weile lang sagte niemand etwas. Vielleicht brauchten die beiden ja ein bisschen, um das zu verdauen, aber ich wurde mit jeder Sekunde nervöser. Was sie jetzt wohl von mir halten? „Hm.“ Crow lehnte sich in die Sofalehne zurück und musterte mich. Er hatte sich wieder beruhigt, sah aber immer noch überfordert aus. „Mit der Geschichte im Hinterkopf hast du dir echt wenig anmerken lassen.“ Ich gab meine verkrampfte Körperhaltung etwas auf und sah ihn überrascht an. „Was?“ „Naja, ich mein ja nur. Ich glaube, mich könntest du nach so einer Geschichte in die Tonne treten.“ „Crow hat Recht. Sowohl mit der Tatsache, dass man ihn in die Tonne treten könnte, als auch damit, dass du vergleichsweise locker damit umgegangen bist.“ „Ey!“ „Was denn? Das waren deine Worte.“ „Ja, aber das hab ich anders gemeint!“ Jack grinste. „Wie denn?“ „Bedeutet das…“ Die zwei ließen von ihrer Streiterei ab und sahen mich überrascht an. „Ihr findet mich nicht seltsam? Crow entgleiste fast das Gesicht. „Hä?! Wie kommst du darauf?“ „Zum Beispiel, weil ich mein Gedächtnis verloren habe.“ „Alter, ist das dein Ernst? Da kannst du doch nichts dafür!“ „Wolltest du uns deswegen nichts sagen?“ Jack sah mich eindringlich an. Ich nickte zögerlich. Das war zumindest einer der Gründe. Crow verzog das Gesicht. „Du hast doch echt nen Knall.“ „Ganz unrecht hat die kleine Krähe nicht. Du hättest uns doch gleich alles sagen können, statt es ewig in dich rein zu fressen.“ Ich seufzte. „Ich weiß, aber ich kenne euch noch gar nicht so lange. Mein bester Freund hatte mich damals wegen der Sache mit meiner Mutter schon gemieden. Ich wollte einfach nicht, dass sich das wiederholt.“ Crow verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber Jaden hast du doch anscheinend auch alles gesagt!“ Ich sah ihn kurz erschrocken an, mied dann aber schnell wieder seinen Blick. Mein Gesicht wurde ganz warm. „Das… Ist was anderes.“ „Wieso?“ Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören. Verdammt, ich hatte es Jaden überlassen, wann wir unseren Freunden davon erzählen würden! Natürlich wollte ich, dass die anderen davon wussten. Ich schämte mich nicht für meine Beziehung. Aber ich wollte warten, bis Jaden so weit ist. Ich konnte das nicht einfach vorwegnehmen. „Wahrscheinlich wegen der Sache vor Gericht, oder?“ Ich sah auf. Jack sah mich abwartend an. Das war bei Weitem nicht die schlechteste Ausrede, also nickte ich einfach und hoffte, Crow würde es auch schlucken. „Hä?“ Jack verdrehte die Augen. „Jadens Vater ist doch mit nach Osaka gefahren. Und unser Kapitän ist noch neugieriger als du!“ „Hm… Okay, ergibt Sinn.“ Ich atmete erleichtert auf. Zum Glück hatte mich Jack aus der Erklärungsnot herausgeholt. Ob er wirklich davon überzeugt war? Vielleicht ahnte er ja auch etwas und wollte mir helfen. Egal, darüber konnte ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen. Der restliche Abend war weitaus ungezwungener. Wir unterhielten uns noch eine Weile, ehe die beiden sich verabschiedeten. Am Tag darauf wollten wir uns zusammen mit Jaden, Alexis, Aki und Carly treffen und zum Straßenfest gehen. Jaden rief mich, kurz nachdem ich wieder allein war, an, damit ich ihm alles erzählen konnte. Er war überrascht von meiner Entscheidung, den beiden alles zu sagen, aber irgendwie schien er glücklich darüber. Im Nachhinein war meine Sorge darüber wirklich unbegründet. Sie behandelten mich wie vorher auch. Ich war wirklich erleichtert. Kapitel 21: Bunka no Hi ----------------------- „Jaden! Jetzt komm schon, ich will nicht zu spät kommen!“ Die Stimme von Alexis hallte durchs ganze Haus, während ich mich schnell anzog. Ich kann doch auch nichts dafür, dass ich mich beim Frühstück aus Versehen mit Milch vollgekippt habe! Es dauerte eben etwas, ehe ich mich geduscht hatte. „Ich komm ja gleich!“ rief ich zurück. Schnell zwängte ich mich in meinen schwarzen Rollkragenpullover, während ich schon Richtung Tür lief und dabei über meine Sporttasche fiel. Mit einem lauten ‚Rumms‘ ging ich zu Boden und stöhnte auf. Vielleicht sollte ich mal aufräumen. „Na endlich!“ beschwerte sich Alexis als ich im Flur angekommen war. Sie wippte nervös mit dem Fuß auf und ab und hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt. Ihr Blick war angriffslustig. Oh je, jetzt nur nichts Falsches sagen. Meine Mutter legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Jetzt lass doch deinen Bruder in Ruhe. Wir kommen trotzdem noch pünktlich zu deiner Aufführung.“ „Ja, aber Mizuki wollte mir noch mit meiner Frisur helfen!“ Ich verstand die Aufregung nicht. Es sind nur Haare! Und so wie sie jetzt aussahen, standen sie ihr sowieso am besten. „Lass sie doch einfach offen, wen juckts?“ Ein weiterer vernichtender Blick ließ mich zusammenzucken. Vielleicht hätte ich doch lieber den Mund gehalten. Mein Vater schob mich schnell aus der Tür. „Jetzt aber los, sonst finden wir keinen Parkplatz.“ Ausrede. Aber damit hatte er mich gerettet. Alexis‘ Aufführung würde auf einer kleinen Freilichtbühne im Park stattfinden. Yusei wollte sich eigentlich dort mit uns treffen, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Alexis rannte zu ihrer Gruppe und meine Eltern wollten sich an dem kleinen Imbissstand einen Kaffee holen. Kurz nachdem meine Eltern losgegangen sind, hielt ich weiter Ausschau nach Yusei, aber der Park war recht voll, sodass ich ihn einfach nicht entdecken konnte. „Hey, hier bist du.“ Ich würde diese Stimme aus tausenden wiedererkennen. Grinsend wandte ich mich um und gab ihm zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss. „Entschuldige, wir sind meinetwegen spät dran. Hast du lange gewartet?“ „Nein, ich habe mich ein wenig umgesehen. Wusstest du, dass es hier heute Abend einen Showkampf mit Schwertern geben wird?“ „Echt? Cool, das müssen wir uns ansehen!“ Er schenkte mir ein warmes Lächeln und nickte. Wie sehr ich dieses Lächeln liebte. „Crow schwirrt hier auch irgendwo herum. Er will sich ebenfalls die Aufführung ansehen.“ Ein Lachen konnte ich in diesem Moment beim besten Willen nicht unterdrücken. „Das hätte er nie gemacht, bevor er mit meiner Schwester zusammengekommen ist!“ „Das gehört doch dazu. Ich freue mich für die beiden.“ „Ich mich ja auch, aber wehe er kommt mir mal mit Details!“ Ein Schauer lief mir über den Rücken. Nein, ich wollte mir wirklich keine Eroberungsstorys von ihm anhören! Nachdem meine Eltern wieder zu uns gestoßen sind, und wir auch Crow gefunden hatten, suchten wir uns Plätze, von denen aus wir die kleine Bühne gut sehen konnten. Ich interessierte mich wirklich kein Stück für diese Aufführung, aber meine Schwester spielte nun einmal die Hauptrolle, also musste ich mit. Die Gruppe spielte einige Ausschnitte aus Romeo und Julia. Ich verstand wirklich nicht so ganz, warum dieses Buch so großartig war. Wer zur Hölle bringt sich denn für seine erste Liebe um? Okay, ich war wirklich verdammt verliebt, aber so weit würde ich auch nicht gehen, wenn Yusei etwas zustoßen sollte. Und die beiden Hauptfiguren kannten sich wie lange? Ein paar Tage? Bei der Sterbeszene am Ende, in der meine Schwester diesen Romeo küssen sollte, verkrampfte sich Crows Gesicht ziemlich. Ich grinste. „Na, eifersüchtig?“ Mit zusammengebissenen Zähnen sah er mich an und versuchte zu lächeln, was eher einer gruseligen Grimasse ähnelte. „Ach was. Ich doch nicht!“ Innerlich lachte ich mich kaputt, aber ich versuchte wirklich mich zu beherrschen. Yusei schüttelte nur belustigt den Kopf. ~*~ „Das war Klasse!“ sagte Crow begeistert und lief auf Alexis zu, um sie in den Arm zu nehmen. Sie wurde etwas rot, bedankte sich und gab ihm einen Kuss. Wie gern würde ich Yusei einfach küssen, wann ich es wollte. Ob jetzt ein guter Zeitpunkt ist, es den anderen zu sagen? Ich schielte zu ihm herüber, aber er unterhielt sich gerade mit meiner Mutter. Nein, der Zeitpunkt war schlecht. Ich wollte den restlichen Tag mit ihm zusammen auf dem Stadtfest verbringen, und meiner Mutter nicht Rede und Antwort stehen müssen. „Das war sehr schön, mein Schatz!“ Ich drehte mich wieder um. Mein Vater sprach gerade mit Alexis. „Eure Mutter und ich wollen heute noch in die altägyptische Ausstellung gehen. Versprecht mir bitte, nicht zu spät nach Hause zu kommen.“ „Klar!“ sagte ich grinsend. Alexis nickte. Mein Vater bedachte Crow noch mit einem ernsten Blick und man konnte förmlich sehen, wie Alexis‘ neuer Freund darunter schrumpfte. Meine Schwester kicherte amüsiert und meine Eltern verabschiedeten sich von uns. Crow beugte sich leicht zu mir, während Alexis den anderen noch beim Aufräumen half. „Alter, ich kenne euren Vater schon ewig, aber so hat er mich noch nie angesehen!“ Ich lachte. „Kannst du es ihm verübeln? Ich meine, nach Zane?“ Yusei sah mich fragend an. „Alexis hatte vorher schon eine Beziehung, aber der Kerl war furchtbar! Arrogant, überheblich, unfreundlich, aber das zeigte er auf dem ersten Blick nicht.“ „Ja, und Alexis hat es ewig nicht geschnallt! Der Typ hat ihr verdammt weh getan. Zum Glück ist der nicht mehr an unserer Schule. Hat letztes Schuljahr seinen Abschluss gemacht und ist auf die Uni.“ Ich sah an Crow vorbei, während er redete. Auf Alexis kam ein ziemlich großer Typ mit langen, dunklen Haaren zu. Irgendwoher kannte ich ihn. Oh nein, das ist doch… „Apropos Zane“ zog ich die Aufmerksamkeit wieder auf mich und zeigte in die Richtung des Typen. „Ist er das nicht?“ „WAS?!“ rief Crow erschrocken und drehte sich um. Knurrend stapfte er schnellen Schrittes in seine Richtung. Oh je, das kann ja heiter werden. „Sollten wir nicht hinterher?“ fragte Yusei. „Nicht, dass sich Crow jetzt mit ihm anlegt.“ Ich lachte auf. „Bei dem Temperament meiner Schwester mach ich mir eher Sorgen um Zane! Aber ja, du hast recht.“ Crow hatte schon etwas Vorsprung und war bei den beiden angekommen. Alexis registrierte erst in diesem Moment die Anwesenheit von Zane. Crow blaffte den Typen an, aber ich verstand nicht was er sagte. Alexis ging dazwischen, ehe wir angekommen waren. „Was willst du?“ fragte sie Zane genervt. Er hob abwehrend seine Hände und hatte wieder dieses schleimige Lächeln aufgesetzt. „Hey, ich komme in Frieden. Ich habe mir deine Aufführung angesehen. Du warst wirklich wundervoll.“ „Und warum sollte sie deine Meinung interessieren?!“ „Crow!“ Alexis warf ihm einen ernsten Blick zu. „Danke, aber ich kann das selbst regeln!“ Zane lachte. „Warum verteidigt dich der Zwerg so? Hast du etwa was mit ihm?“ Alexis sah ihn erhobenen Hauptes und mit verschränkten Armen an. „Warum sollte dich das was angehen?“ Sein Lächeln wurde höhnisch. „Wirklich? Der abgebrochene Meter? Eine Frau wie du hat doch was Besseres verdient. Ich bin eine wesentlich bessere Partie als er. Ich würde dich sogar wieder zurücknehmen, oder hast du unsere Zeit schon vergessen?“ Ich wollte mich schon einmischen, aber Yusei hielt mich mit seinem ausgestreckten Arm zurück. Ich sah ihn verwirrt an und er schüttelte nur leicht mit dem Kopf. Warum soll ich mich da raushalten? Der Kerl hat gerade meinen Freund beleidigt! Aber eigentlich hatte Yusei Recht. Das war nicht meine Sache und Alexis hat Crow schon klar gemacht, dass sie das allein regeln wollte. Etwas widerwillig entspannte ich mich wieder ein wenig und beobachtete die Situation weiter. Alexis lächelte. „Nein, und ich bin dir wirklich dankbar dafür.“ Bitte was?! Crow und ich sahen sowohl überrascht, als auch schockiert zu meiner Schwester. Sie ging seelenruhig ein paar Schritte auf einen siegessicher grinsenden Zane zu, während sie weitersprach. „Dank dir weiß ich wirklich, was ich in meinem Leben nicht gebrauchen kann. Viel Spaß noch auf dem Stadtfest!“ Mit diesen Worten warf sie ihre Haare zurück, nahm Crow an der Hand und ging einfach weg. Das war schon eher meine Schwester! Ich grinste, streckte ihm einen kurzen Moment die Zunge raus, schnappte mir Yuseis Hand und folgte Alexis und Crow. Geschieht dem Typen Recht! ~*~ Wir standen am Rande des Getümmels auf der Straße zwischen einem Okonomiyaki*-Stand und einem kleinen Onigiri*-Wagen und warteten auf den Rest. Wegen Alexis‘ Abgang waren wir ziemlich früh am vereinbarten Treffpunkt. Ich hoffe sie beeilen sich, mein Magen beschwert sich jetzt schon, und dass wir hier zwischen den Imbissständen stehen, macht es nicht besser. Was würde ich jetzt nicht alles für ein paar frittierte Shrimps geben! „Da kommen Jack und Carly“ sagte Crow plötzlich und ich folgte seinem Blick. Ich sah Jacks blonden Haarschopf einen halben Kopf aus der Masse herausragen. Dass Carly dabei war, hatte Crow sicher nur angenommen. Ich winkte ihm fröhlich zu und er entdeckte uns schnell. Als er aus der Masse herausgetreten war, sah ich auch Carly. „Ihr seid aber früh dran“ bemerkte sie lächelnd. Ich grinste breit. „Ja, Alexis hat uns alle ziemlich überrascht nach dem Auftritt!“ Ich könnte mich immer noch über Zanes dummes Gesicht lustig machen, spürte aber plötzlich Alexis‘ Ellbogen in meiner Seite. „Au!“ Gut, okay, erzähle ich es eben nicht! „Dann fehlt eigentlich nur noch Aki“ meinte meine Schwester und sah sich um. Carly schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat mir geschrieben, dass sie später dazukommt.“ Na, wenn das so ist! „Könnten wir uns erst was zu essen holen? Ich sterbe vor Hunger!“ „Oh ja!“ sagte Carly mit strahlenden Augen. „Ich hätte total Lust auf ein paar Onigiri mit süßer Bohnenfüllung!“ „Schau dir mal die Schlange an dem Stand an, da warten wir sicher eine halbe Stunde.“ Carly strahlte Jack immer noch an. „Aber es lohnt sich!“ Er seufzte leise und gab nach. Alexis überlegte. „Also ich wäre ja eher für Okonomiyaki mit Früchten.“ Sie wandte sich an Crow. „Was willst du denn?“ „Ich hab da hinten einen Yakitori* Stand gesehen.“ Hm, klingt eigentlich auch nicht schlecht. Yusei sah ihn interessiert an. „Da wäre ich auch dabei.“ Da wir uns nicht auf eine Sache einigen konnten, teilten wir uns auf und wollten uns dann anschließend wieder am Ausgangspunkt treffen. Die Schlange vor den frittierten Shrimps war nicht sehr lang, also hatte ich mein Essen recht schnell. Als ich auf dem Weg zu Yusei und Crow war, stiefelte plötzlich Tanaka wütend an mir vorbei und warf mir noch einen Blick zu, als wolle er mir jeden Moment an die Gurgel. Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Ich kam recht gut zum Yakitori Stand durch und sah Yusei und Crow noch in der Schlange stehen. Crow lachte laut auf, ehe er mich entdeckte. „Hey, Jaden! Rate mal, wen wir gerade gesehen haben!“ Ja, das kann ich mir denken. „Lass mich raten: Tanaka.“ „Nicht schlecht. Woher weißt du das?“ Ich lachte. „Der Kerl ist gerade wutentbrannt an mir vorbeigelaufen. Was habt ihr denn gesagt?“ „Naja, ich hab ihn etwas aufgezogen. Hab gehört, dass die Bei Tan die Qualifikation für die Regionals verpatzt hat. Yusei hat ihm dann den Todesstoß versetzt.“ Überrascht sah ich zu Yusei. Er ließ sich doch sonst nicht aus der Ruhe bringen, oder war irgendwie gemein zu anderen. Er verdrehte nur die Augen und sah zu Crow. „Wie oft denn noch? Das war kein Todesstoß, nur konstruktive Kritik. Das ist etwas völlig anderes.“ Jetzt war meine Neugier geweckt. „Was hast du denn gesagt?“ „Nur, dass sie das Spiel vermutlich gewonnen hätten, wenn er seinem Team etwas mehr vertrauen würde. Seine Schüsse haben seit seiner Verletzung anscheinend nicht mehr genügend Kraft und ich hab ihm den Rat gegeben, dass er einen Gang zurückschalten soll, sonst kann er vielleicht gar nicht mehr spielen.“ Crow lachte auf. „Ja, und das hat er anscheinend in den falschen Hals bekommen. Er hat Yusei schon fast angeschrien und ihm vorgeworfen, er würde ihn nur manipulieren wollen, damit er aufhört zu spielen. Dann ist der Trottel einfach abgezogen und hat irgendwas von ‚Euch werd ich’s zeigen‘ gemurmelt.“ Ich schüttelte nur den Kopf. Tanaka war einfach unbelehrbar. Und er war schon ein Hitzkopf gewesen als wir damals zusammen in der Grundschule waren. ~*~ Später sahen wir uns die Parade mit ihren liebevoll gestalteten Wagen an. Aki hatte uns einen Platz in der ersten Reihe freigehalten. Zwischen den Wagen zeigten uns auch einige Tanzgruppen ihr Können. Ich erkannte ein paar Schüler unserer Schule, darunter auch Alexis‘ beste Freundin Mizuki. Fröhlich winkte ich ihr zu und brachte sie damit anscheinend kurzzeitig aus dem Konzept. Upps. Carly machte die ganze Zeit über Fotos mit ihrer neuen Kamera, die sie vor allem Aki stolz präsentierte. Vor einigen Gruppenfotos konnten wir uns einfach nicht retten. Nach der Parade liefen wir durch die Straßen Neo Dominos. Hier und da waren Stände der Vereine unserer Stadt und meine Freunde wollten unbedingt zur Losbude des Kinos. Mit den Einnahmen wollten sie anscheinend einen kleinen Indie-Film produzieren, aber ich stand zum einen nicht auf solche Filme und zum anderen zog ich bei solchen Buden immer nur Nieten. Yusei meinte auch, dass er an solchen Glücksspielen nicht sonderlich interessiert ist, also standen wir etwas abseits von den anderen und ich sah mich etwas um. Zwei Stände weiter gab es einen Bogenschießstand. Ich drehte mich begeistert zu Yusei. „Hey, schau mal da drüben! Wollen wir das mal ausprobieren?“ Er folgte meinem Blick. „Bogenschießen?“ Ich nickte eifrig. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren, aber der Bogenschießklub hat sich immer mit Fußball überschnitten. „Hallo, wollt ihr es mal ausprobieren? Drei Pfeile für 500 Yen*. Es gibt auch kleine Preise zu gewinnen“ sagte eine Frau an dem Stand. Yusei drückte ihr die Münze in die Hand und nahm den Bogen und die Pfeile an sich. „Hast du das schon mal gemacht?“ fragte die Frau, und zu meiner Verwunderung nickte Yusei zur Antwort. „Echt? Wann hast du denn Bogenschießen gelernt?“ „Ich war in der Oberstufe zwei Jahre in einem Verein.“ „Cool! Zeigst du mir wie das geht?“ Er schenkte mir ein warmes Lächeln und nickte. Wir gingen zu den Zielscheiben und Yusei erklärte mir die wichtigsten Punkte zum richtigen Stand und den richtigen Umgang mit dem Bogen. Ich hätte nicht gedacht, dass man dabei so viel beachten musste. Als er den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, traf dieser direkt in die Mitte. „Wow, das war Klasse!“ rief ich begeistert. Yusei hielt mir den Bogen hin. „Hier, versuch du es mal.“ Begeistert nahm ich den Holzbogen an mich. Er war leichter als ich dachte. Na schön, was hat Yusei gesagt? Im 90 Grad Winkel zum Ziel stellen, und dann den Pfeil einlegen und schießen. „Warte!“ sagte Yusei plötzlich und kam näher. Ich sah ihn fragend an. „Was ist denn?“ Er nahm mich an den Schultern und drehte meinen Oberkörper zu ihm, sodass ich gerade dastand. „Mit der Haltung triffst du nicht“ sagte er lächelnd. Dann ging er um mich herum, sodass er hinter mir stand. „Dreh‘ nur deinen Kopf Richtung Ziel und den Rücken gerade halten.“ Er legte eine Hand an meinen Rücken und mein Herz begann schneller zu schlagen. So nah kam er mir noch nie, wenn wir nicht allein waren, aber ich genoss es. Seine andere Hand wanderte zu meinem Arm, mit dem ich den Bogen hielt, und hob ihn etwas an. „Sehr gut, und jetzt den Arm durchstrecken.“ Sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Den Pfeil einlegen und mit drei Fingern spannen. Den Ellbogen nicht vergessen hochzuhalten.“ Ich folgte seiner Anweisung und zielte auf den kleinen Kreis in der Mitte der Zielscheibe. Die Berührung, die ich eben noch an meinem Rücken gespürt habe, verschwand. Stattdessen fühlte ich Yuseis Hand an meiner eigenen, mit der ich den Pfeil spannte. Sanft drückte er meinen Handballen gegen meine Wange und mir wurde ganz warm, als ich seinen Atem an meinem Gesicht, und die Wärme seines Körpers an meinem Rücken spürte. „Genau so. Jetzt einfach zielen und loslassen.“ Ich atmete noch einmal tief durch und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Er bohrte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in den zweiten Kreis von innen. Yusei ließ von mir ab und lächelte. Augenblicklich vermisste ich seine Nähe. „Das waren zehn Punkte. Für den ersten Versuch war das großartig.“ Ich stutzte. „Warum zehn? Ich hab doch nicht ganz die Mitte getroffen.“ „Der innerste Kreis bringt 20 Punkte. Die angrenzenden Kreise bringen in absteigender Reihenfolge zehn bis null Punkte.“ „Ah, okay. Cool!“ „Jetzt probier es allein.“ Ich grinste und probierte es ein zweites Mal. Mal sehen, ob ich auch ohne Yuseis Hilfe in die Mitte treffe. „Ach, hier seid ihr!“ Ich zuckte kurz zusammen und ließ dabei die Sehne los. Der Pfeil traf auf den Kreis, der zwei Punkte brachte. Mist! Ich drehte mich zu meinen Freunden und sah gespielt beleidigt zu Crow, der mich gerufen hatte. „Ach man, jetzt hab ich mich verschossen.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf „Sorry, Alter.“ Aki betrachtete die Zielscheibe. „Wow, Jaden, ich wusste gar nicht, dass du sowas kannst.“ „Nee, der Pfeil in der Mitte ist von Yusei. Aber es macht echt Spaß, probiert es auch mal!“ Das ließen sie sich nicht zwei Mal sagen und so kaufte jeder von ihnen nacheinander drei Pfeile. Alexis war ziemlich gut, dafür, dass sie es auch zum ersten Mal probierte. Sie schaffte immerhin 21 Punkte. Aki und Crow waren etwa gleich gut, auch wenn Crow einen Pfeil ziemlich verrissen hatte, schafften beide 17 Punkte. Jack hätte mit seinem ersten Pfeil beinahe die Frau am Stand getroffen und bekam ziemlich ärger, weil er einfach nicht auf das gehört hatte, was sie ihm erklärt hatte. Letztendlich hatte nur einer seiner Pfeile überhaupt getroffen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte sein Ego ziemlich darunter gelitten und er schob die Schuld auf den Bogen. Als letzte in unserer kleinen Runde versuchte es Carly. Nachdem ihre ersten beiden Pfeile den zehn Punkte Kreis getroffen hatten, bohrte sich ihr letzter Pfeil direkt in die Mitte. „Wahnsinn!“ brach es aus mir heraus. „Wo hast du das denn gelernt?“ Auch Aki lief begeistert auf sie zu. „Jaden hat recht! Das war fantastisch!“ Schamesröte legte sich auf ihr Gesicht und sie wurde plötzlich ganz verlegen. „Keine Ahnung, das war mein erster Versuch.“ Crow sah sie erstaunt an. „Ernsthaft?“ „Du bist ein Naturtalent!“ lobte sie Alexis. Yusei lächelte. „Sie hat recht. Du hast eine gute Hand-Augen-Koordination.“ „Das brauch man dafür?“ Er wandte sich zu mir und nickte. Carly steckte sich verlegen eine Strähne hinters Ohr. „Dann macht sich das Handballtraining ja doch bezahlt.“ Sie sah zu Jack und legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Er erwiderte ihren Blick und wenn man ganz genau hinsah, konnte man ein kleines Lächeln auf seinen Lippen sehen. Irgendwas flüsterte er ihr zu und augenblicklich fing Carly an zu strahlen. Mich würde wirklich interessieren was er ihr gesagt hat. „Ihr könnt euch noch etwas aussuchen“ sagte die Frau vom Stand plötzlich und winkte uns zu sich. Carly durfte sich einen Hauptpreis aussuchen und entschied sich für einen kostenlosen Probemonat im Verein, zu dem der Stand gehörte. Ich musste grinsen. Sie hatte wohl Blut geleckt. Die anderen konnten sich einen Schlüsselanhänger aussuchen. Die Frau war sich allerdings nicht ganz sicher, was sie mit Yusei und mir machen sollte, da wir gemeinsam geschossen hatten. Den Hauptpreis gab es wohl schon ab 30 Punkten, und die hatten wir mit den ersten beiden Pfeilen schon drin. Yusei ließ mir zwar den Vortritt, aber das kam mir unfair vor. Schließlich hatte er mehr Punkte gemacht als ich. „Wir nehmen einfach beide einen Anhänger“ schlug ich ihm vor und wandte mich zu der Frau. „Geht das?“ Sie sah mich etwas überrascht an und reichte uns das kleine Kästchen, in dem die Preise durcheinander lagen. Ich wühlte mich etwas durch, bis ich einen Anhänger mit einem kleinen Igel sah. Statt Stacheln hatte dieser aber an den meisten Stellen auf dem Rücken kleine Plastikschrauben. Auf eine schräge Art war er echt süß. Ich konnte es mir nicht erklären, aber irgendwie erinnerte er mich an Yusei. Mein Freund brauchte gar nicht so lange zu suchen. Ihm schien gleich etwas ins Auge zu fallen und er entschied sich für einen Anhänger, der irgendwie aussah wie eine kleine, braune Fellkugel mit grünen Augen und zwei weißen Flügeln. Ich beobachtete ihn, wie er den Anhänger in seiner Hand drehte und plötzlich lächelte. „Was ist denn?“ fragte ich neugierig. Noch immer lächelnd sah er mich an. „Irgendwie erinnert er mich an dich.“ Ich lachte auf und wir gingen wieder zu den anderen. Er hatte sich seinen Anhänger aus demselben Grund ausgesucht, wie ich mir meinen. Mir wurde ganz warm ums Herz. ~*~ „Irgendwie hatte ich mir dabei mehr erhofft“ meinte Crow und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, während wir den Park wieder verließen. Wir waren gerade auf dem Rückweg von diesem Showkampf, von dem mir Yusei am Mittag erzählt hatte. Ich sah ihn überrascht an. „Echt? Ich fand es gar nicht schlecht. Was hast du dir denn darunter vorgestellt?“ Der Schwertkampf sah aus wie in einem dieser Filme, die im Mittelalter spielten. Crow zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Was anderes eben.“ Hm, ich konnte ihn nicht wirklich verstehen. Was sollte man sich denn sonst darunter vorstellen? Während wir zum Ausgang des Parks liefen, sah ich mich noch etwas um. Wir liefen an ein paar Infoständen vorbei, die gerade abbauten. Es wunderte mich nicht, schließlich war es schon Abend und die meisten Museen, die diese Infostände bewarben, würden bald schließen. Plötzlich zog ein kräftiger Wind auf und das Banner, sowie das Gestell eines Infostandes, wurden ein paar Meter weggeweht. Überall flogen Flyer für die altägyptische Ausstellung durch die Luft. An dem Stand war nur eine Person. Oh je, der arme Kerl. Das würde sicher ewig dauern, alles allein einzusammeln. Ohne groß darüber nachzudenken, lief ich zu ihm und half beim Aufräumen. „Danke!“ sagte der Mann etwas verzweifelt, als ich mich hinkniete um einige Flyer aufzuheben. „Kein Problem, wirklich“ versicherte ich ihm und bemerkte auch Crow und Aki neben mir, die uns halfen. Ich sah mich um. Hinter mir hoben auch Alexis und Carly einige Flyer auf, während Jack sich um das Gestell kümmerte und Yusei das Banner vor dem nächsten Windstoß rettete. Ich musste unweigerlich lächeln. Bei der Unterstützung dauert das ganze nur ein paar Minuten. Ich lief zu Yusei, um ihm bei dem Banner zu helfen und sah ihn am Boden knien. „Hey, brauchst du Hilfe?“ fragte ich, als ich bei ihm angekommen war. Er hatte das Banner etwas angehoben und sah mich unschlüssig an. „Ich nicht, aber der Kleine hier vermutlich schon.“ „Welcher Kleine?“ fragte ich verwirrt. Plötzlich bewegte sich das Banner komisch und Yusei hob es etwas an. Darunter war eine kleine Katze, die etwas orientierungslos aussah. Ich kniete mich neben Yusei und betrachtete das kleine Ding. Sie war anscheinend noch nicht sehr alt und ziemlich dünn. Irgendwie tat sie mir leid. Ich nahm sie hoch und sah mir das Fell überall an. „Verletzt ist sie anscheinend nicht“ murmelte ich. Zumindest sah ich kein blutverkrustetes Fell. Die Katze ließ sich erstaunlich viel gefallen. „Vielleicht hat sie sich nur erschrocken, als sie plötzlich unter diesem riesigen Tuch vergraben wurde“ mutmaßte Yusei und stand auf, um das Banner einzurollen. Vielleicht hatte er recht, aber wo kommt sie überhaupt her? „Jaden, warum kniest du da auf dem Boden?“ hörte ich plötzlich Akis Stimme hinter mir. Ich drehte mich zu ihr und ihr Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an. „Wo hast du die denn plötzlich her?“ „Yusei hat sie gefunden. Das Banner hat sie wohl erwischt.“ Carly kam auf mich zu und nahm mir die Katze ab. „Oh, das arme Ding!“ Carly tastete sie ab und die Katze fing plötzlich an zu schnurren. Ich lachte. „Das gefällt ihr anscheinend!“ Auch Carly lächelte. „Ja, stimmt wohl. Aber verletzt ist sie nicht. Sie scheint keine Schmerzen zu haben und sie kann alles bewegen.“ Seit wann weiß sie denn so viel darüber? „Woher kannst du das eigentlich?“ „Mein Vater arbeitet doch im Tierheim. Ich helfe ihm dort an den Wochenenden ab und zu. Er hat mir beigebracht Tiere auf Verletzungen zu untersuchen.“ „Hm, das wusste ich noch gar nicht.“ Crow, der mit Alexis neben uns stand, betrachtete das kleine Tier. „Und was machen wir jetzt mit ihr? Die sieht so aus, als würde sie niemandem gehören. Sie hat zumindest kein Halsband oder so.“ Auch ich sah wieder zu dem Kätzchen. Ihr beigefarbenes Fell war verstrubbelt und die dunkelbraune Zeichnung auf ihrem Rücken und ihrem Schwanz hob sich kaum vom Schmutz des übrigen Fells ab. Aber trotzdem war sie echt niedlich mit ihren großen, goldfarbenen Augen. „Oh nein!“ hörte ich plötzlich Alexis rufen und sah sie überrascht an. „Was denn?“ „Ich kenne den Gesichtsausdruck! Denselben hast du bei dem Straßenhund, dem verletzten Vogel und dem blinden Hamster im Zoogeschäft gehabt! Wenn es nach dir ginge, hätten wir wahrscheinlich einen ganzen Zoo zu Hause. Außerdem weißt du ganz genau, dass Papa allergisch gegen Katzen ist!“ Gut, okay, ich hatte wirklich daran gedacht, sie mit nach Hause zu nehmen. Aber Papas Allergie hatte ich komplett vergessen. Aber hier im Park zurücklassen wollte ich sie auch nicht. Sie war viel zu klein und zu dünn. Da fiel mir ein, was Carly eben sagte. „Sag mal, dein Vater arbeitet doch im Tierheim“ deutete ich an und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Sie schüttelte nur mit dem Kopf. „Tut mir leid, aber das ist seit Ende Oktober komplett überfüllt.“ Verdammt! Ich sah Crow an und er hob sofort abwehrend die Hände. „Oh nein, vergiss es! Die Kleine übersteht bei mir keine zehn Minuten. Meine kleinen Schwestern spielen mit allem, was sich irgendwie bewegt!“ Mein Blick wanderte zu Aki, aber auch sie schüttelte traurig den Kopf. „Ich würde ja gern helfen, aber wir haben doch einen Hund. Ich bezweifle, dass die beiden sich verstehen würden.“ „Hey, was ist denn hier los?“ fragte Jack, der mit Yusei wieder zu uns stieß. Die Beiden hatten eben dem Mann vom Stand beim Verstauen des Gestells geholfen. „Kannst du dich um eine Katze kümmern?“ fragte ich hoffnungsvoll. Carly fing plötzlich an zu Lachen, dabei hüpfte die Katze von ihrem Arm. Was ist denn jetzt los? Sie hatte sich schnell wieder beruhigt und sah mich an. „Auf Jack liegt ein Fluch, was Katzen angeht.“ „Hä?“ Ich sah zu Jack, der mit den Augen rollte. „Die Viecher können mich nicht leiden und das beruht auf Gegenseitigkeit!“ Auch Crow und Aki begannen zu lachen. Ja, Jack war kein Tiermensch, das hatte ich beinahe vergessen. Aber was wird dann aus dem Tier? Heute war der vorerst letzte schöne Tag und in der Nacht soll es ziemlich stürmen. Ich kann sie doch nicht einfach hier draußen lassen. „Yusei scheint sie zumindest zu mögen“ riss mich Alexis aus meinen Gedanken und ich sah zu meinem Freund. Das Kätzchen schmiegte sich an seine Beine und begann zu schnurren. Ich grinste ihm entgegen und er sah mich etwas zerknirscht an. „Ich bin nicht unbedingt der größte Katzenfan.“ „Aber sie mag dich!“ sagte ich begeistert. Vielleicht kann ich ihn ja doch überreden. Er betrachtete die kleine Katze, die ihren Kopf noch immer an seinen Beinen entlangstreifte und glücklich schnurrte, dann sah er wieder zu mir und ich konnte meine Begeisterung nicht zurückhalten. Ich fand, das war eine großartige Idee! Er seufzte, nahm die Katze hoch und betrachtete sie kurz. Wieder zog ein frischer Wind auf und das Kätzchen nieste. Er verzog das Gesicht etwas und ich wusste wirklich nicht recht, was er jetzt gerade dachte, aber bisher war das kein ‚Nein‘. „Na schön, aber nur ein paar Tage, bis wir einen neuen Besitzer gefunden haben. Vielleicht ist sie ja auch weggelaufen und irgendjemand sucht sie.“ Ich umarmte Yusei freudig und sah wieder zu der Katze. „Hast du das gehört? Du musst doch nicht in der Kälte schlafen!“ Wie zur Antwort mauzte sie und Aki, Alexis und ich konnten nicht anders als zu lachen. Kapitel 22: Süße Träume ----------------------- Ich lief mit meinen Einkäufen in der einen und meinem Regenschirm in der anderen Hand die Straße entlang und hatte große Mühe, alles bei diesem eisigen Wind und dem unbarmherzigen Regen festzuhalten. Bei dem Wetter konnte ich auch nicht mit meinem Motorrad fahren. Zumindest musste ich bei diesem Regen nicht zur Arbeit fahren, obwohl es Samstag war. Sam hatte mir für heute frei gegeben, weil wir zurzeit kaum Aufträge hatten und ich die Kleinarbeiten alle erledigt hatte. Trotz seiner ruppigen Art war er wirklich nett. Ich konnte nicht ganz verstehen, warum Jaden solche Angst vor ihm hatte. Als die ersten Blitze durch die Wolken zuckten, war ich an meinem Haus angekommen und versuchte irgendwie an meinen Schlüssel zu kommen. Wenn zumindest dieser Wind nicht wäre! Irgendwann hatte ich es endlich geschafft und war erleichtert, in meinem warmen, und vor allem trockenen, Haus zu sein. Ich stellte die Einkaufstüten in der Küche ab und stieß dabei versehentlich mein halbvolles Glas Milch um. Der Inhalt verteilte sich einmal über die Arbeitsplatte und hinterließ eine große Pfütze auf dem Boden. Ach, verflixt. Wie kann so wenig Inhalt eines Glases nur so viel Dreck machen? Das Donnergrollen vor dem Fenster beschrieb meine Stimmung recht gut. Das war einfach nicht mein Tag. Genervt von mir selbst ging ich Richtung Garage um den Mopp zu holen. Als ich die Tür öffnete, erschreckte ich mich fürchterlich. Ein kleiner Fellball kam auf mich zugesprungen und krallte sich in mein Hosenbein fest. „Au! Was soll das?“ Ich hatte für einen Moment vergessen, dass sie in der Garage war. Ich hob die Katze an und sie vergrub ihren Kopf fast in meinen Armen. „Was ist denn mit dir los?“ Ein erneutes Donnergrollen ließ das kleine Tier in meinem Arm zusammenzucken. Ach so, verstehe, sie hat Angst. Ich hatte zwar Mitleid mit ihr, aber ich musste zuerst das Chaos in der Küche beseitigen, also setzte ich sie auf die alte Decke ab, die ich ihr bereitgelegt hatte. „Tut mir leid, aber ich habe zu tun.“ Warum rede ich überhaupt mit ihr? Sie kann mich sowieso nicht verstehen. Kopfschüttelnd griff ich mir alles was ich brauchte und ging ins Bad um einen kleinen Eimer mit Wasser zu füllen. Als ich wieder in die Küche kam, hielt ich für einen Moment inne. „Was zum?“ Die Katze saß vor der Milchpfütze und schleckte den Boden ab. Wie ist sie überhaupt aus der Garage gekommen? Sie muss wohl an mir vorbeigeschlüpft sein. Eigentlich wollte ich sie nicht in der Wohnung haben. Auf zerkratzte Tapeten und Katzenhaare überall konnte ich gut und gerne verzichten. Außerdem war es in der Garage nicht kalt und ich hatte ihr eine Decke und zwei Schüsseln bereitgestellt. Warum habe ich überhaupt zugestimmt sie eine Weile bei mir unterkommen zu lassen? Ich mochte Katzen wirklich nicht besonders und hatte auch sonst nie das Bedürfnis ein Haustier zu halten. Nicht einmal für kurze Zeit. Natürlich tat sie mir leid, als ich sie so orientierungslos unter dem schweren Stoffbanner gefunden hatte, aber das bedeutete nicht, dass ich sie bei mir aufnehmen wollte. Aber Jaden war die Sache irgendwie wichtig, also tat ich ihm den Gefallen. Gestern hatten wir in der Umgebung des Parks Zettel mit einem Foto der Katze und meinen Kontaktdaten ausgehängt. In der Hoffnung, sie würde vielleicht irgendjemandem gehören. Bisher hatte sich aber niemand gemeldet. Ein erneutes Donnergrollen ließ mich aus meinen Gedanken schrecken und ich sah hinab zum Boden. Die Katze rannte zu mir, kauerte sich mit angelegten Ohren auf den Boden und sah ängstlich zur Haustür. Ich seufzte. Bei dem Wetter kann ich sie vermutlich nicht allein in der Garage lassen. Ich nahm sie hoch, setzte sie auf einem Küchenstuhl ab und widmete mich erst einmal dem Chaos, das ich angerichtet hatte, und dann den Einkäufen. Währenddessen wurde ich mit großen Augen beobachtet. * Die Sicht von Jaden * Habe ich jetzt alles? Zum wiederholten Mal ging ich noch einmal alles in meinem Rucksack durch. Katzenfutter, eine kleine Tüte Streu, das Shampoo, das mir Carly gegeben hat, Spielzeug, eine weiche Bürste, zwei Näpfe und… Moment, wo ist es denn? Ich suchte überall auf dem Boden und unter dem Bett, bis ich unter einer meiner Hosen fündig geworden war. „Ha!“ rief ich laut aus und verstaute auch die kleine Überraschung in meinem Rucksack. Mal sehen wie er reagiert! Schnell lief ich die Treppe runter. Der Regen hatte gerade nachgelassen, und ich wollte schnell los, ehe es wieder schlimmer wurde. „Bis später!“ rief ich ins Haus, wurde aber kurz vor der Haustür von meiner Mutter aufgehalten. „Warte mal, Jaden!“ Ich drehte mich um und sah sie ungeduldig an. Wer weiß, wann der Regen wieder schlimmer werden würde! „Vergiss bitte nicht, dass dein Vater übers Wochenende bei seinem Bruder ist. Und ich muss später zur Arbeit. Wir können dich bei dem Wetter nicht abholen und das Gewitter zieht sich bis in die Nacht hinein.“ Echt jetzt? Deswegen hielt sie mich auf? „Schon klar, ich weiß. Wenn ich mich beeile brauch ich doch nur zehn Minuten bis nach Hause.“ Sie seufzte. „Mir wäre wirklich lieber, du fährst nicht bei dem Gewitter. Pass bitte auf dich auf, mein Spatz.“ Also wirklich, warum macht sie sich denn wegen sowas Sorgen? Ich muss los, verdammt! „Ja, alles klar. Ich pass auf. Tschüss!“ Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich sie noch kopfschüttelnd im Flur stehen. Mit dem Regen hatte ich wirklich Glück. In letzter Sekunde schaffte ich es bis zu Yusei, ehe es wieder aus Eimern schüttete. Nur einen Augenblick, nachdem ich geklingelt hatte, machte er auch schon die Tür auf. Grinsend trat ich ein und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Das ging ja schnell! Hast du hinter der Tür gewartet?“ Er lächelte. „Nein, ich war in der Küche und habe das Abendessen vorbereitet.“ Verwirrt sah ich auf die Uhr. „Es ist doch erst kurz nach vier.“ „Ich mache Hühnersuppe, das dauert eben eine Weile“ sagte er und ging wieder in die Küche. Jetzt, wo er es sagt. Es riecht wirklich gut. Bevor ich ihm folgte, wollte ich noch in der Garage nach der Katze sehen. Schließlich hatte ich auch einiges für den kleinen Stubentiger dabei. Als ich die Tür öffnete, sah ich mich um, aber seltsamerweise konnte ich sie nirgendwo entdecken. Wo ist sie denn hin? Oh je, ich hoffe, sie ist nicht abgehauen! Schnell lief ich zu Yusei, um ihn zu fragen, ob er die Katze gesehen hätte. Ehe ich jedoch fragen konnte, blieb ich irritiert im Türrahmen stehen. Die Kleine saß geduldig hinter Yusei, der am Herd stand, und wartete vermutlich darauf, dass etwas herunterfallen würde. Ich lachte auf. „Hast du nicht gesagt, dass sie nur in der Garage bleibt, solange sie hier ist?“ Er schmunzelte, widmete sich aber weiter dem Gemüse, das er gerade schnitt. „Komm nicht auf falsche Gedanken. Ich mag Katzen immer noch nicht, aber sie hat einfach nicht aufgehört zu zittern als es vorhin so gewittert hat. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, sie allein in der Garage zu lassen.“ Wenn sich kein Besitzer meldet, könnte ich ihn vielleicht doch umstimmen, damit er die Kleine behält. Ich glaube ja, ein Tier würde ihm guttun. Außerdem habe ich das Kätzchen schon ins Herz geschlossen. Ich lief auf das kleine Tier zu und hob es an. Sie ließ es sich tatsächlich gefallen. Ihr Fell war nicht mehr ganz so verschmutzt, aber wirklich sauber war es auch nicht. „Vielleicht sollten wir dich erstmal baden, Pharao!“ Yusei drehte sich um und sah mich irritiert an. „Pharao?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht? Wir können sie ja schlecht die ganze Zeit ‚Katze‘ nennen.“ „Aber warum Pharao?“ „Der Infostand!“ sagte ich fröhlich. „Das Banner, das sie erwischt hat, war doch von der ägyptischen Ausstellung im Museum!“ Er lachte leise und schob das Gemüse in den Topf. „Es ist trotzdem ein seltsamer Name für eine Katze. Aber übernehmen Katzen ihre Fellpflege nicht selbst?“ „Wir können ja etwas nachhelfen. Ich hab von Carly ein spezielles Shampoo bekommen!“ ~*~ Wenig später waren wir im Bad und versuchten Pharao zu duschen. Es gibt ja durchaus Katzen, die Wasser lieben. Diese gehörte aber definitiv nicht dazu! Beim ersten Kontakt mit dem Wasser versuchte sie ständig aus der Wanne zu hüpfen. Yusei versuchte sie stillzuhalten und zu beruhigen, während ich sie abspülte. Erst als ich sie mit dem Shampoo einseifte, ergab sie sich langsam ihrem Schicksal. Der Farbe des Wassers nach zu urteilen, war diese Dusche aber definitiv notwendig. Als Yusei das Handtuch bereitlegte, spülte ich die letzten Seifenreste aus Pharaos Fell. Allerdings erkannte sie ihre Chance und versuchte sich schon wieder gegen den Duschkopf zur Wehr zu setzen. Kurz darauf saß sie sauber und schnurrend in dem Handtuch, mit dem Yusei sie abtrocknete und ich war von oben bis unten nass, voller Katzenhaare und hatte noch überall Schaumreste an den Klamotten. Ein leises Lachen war zu hören und ich konnte nicht anders als ebenfalls zu lachen. Vermutlich gab ich in diesem Moment einen wirklich seltsamen Anblick ab und sicherlich würde ich jetzt ebenfalls eine Dusche brauchen. Er hob die Katze, die wie ein Burrito im Handtuch eingewickelt war und immer noch zufrieden schnurrte, an und lächelte mir entgegen. „Ich hole dir schnell ein Handtuch und ein paar Wechselsachen. Zieh die Klamotten lieber schnell aus. Nicht, dass du dich noch erkältest.“ ~*~ Es gab bei diesem Wetter vermutlich nichts Besseres, als eine ausgedehnte, warme Dusche. Erst da bemerkt man, wie verspannt man eigentlich war. Allmählich füllte sich der Raum mit heißem Wasserdampf. Als ich endlich fertig mit allem war, schnappte ich mir die Sachen, die Yusei für mich bereitgelegt hatte und zog sie an. Das Sweatshirt war mir etwas zu groß und die Stoffhose rutschte ein wenig, aber aus irgendeinem Grund war ich wahnsinnig glücklich seine Klamotten zu tragen. Ganz dezent konnte ich seinen Geruch wahrnehmen und fühlte mich einfach pudelwohl. Als ich aus dem Bad heraustrat, schlug mir die kühle Luft aus dem Flur entgegen und lächelnd nahm ich ein paar tiefe Atemzüge. Die kühlere Luft war ziemlich wohltuend für meinen aufgeheizten Körper. Ich hatte es mit der Temperatur anscheinend etwas übertrieben. Yuseis Zimmer lag direkt gegenüber und stand offen. Anscheinend hatte er meinen Rucksack dort abgestellt und war wieder nach unten gegangen. Ich ging in das Zimmer und kramte in meinem Rucksack nach der kleinen Überraschung, die ich für Pharao mitgebracht hatte. Im Augenwinkel fiel mir etwas an der kleinen Pinnwand über seinem Schreibtisch auf. Die Fotos, die dort hingen, waren anders platziert als beim letzten Mal. Die Bilder aus seiner Zeit in Osaka waren etwas näher an den Rändern angebracht und in der Mitte waren zwei neue Fotos. Das eine zeigte Aki, Jack, Crow, Alexis, Carly, Yusei und mich beim Stadtfest. Das musste das eine Gruppenfoto kurz nach der Parade gewesen sein. Wann hat er das denn von Carly bekommen? Als ich das zweite Foto betrachtete, musste ich unwillkürlich lächeln. Es war ein Foto von Yusei und mir nach dem Bogenschießen. Ich hatte meinen Arm um ihn gelegt und grinste fröhlich in die Kamera. Auch Yusei wirkte wahnsinnig glücklich auf dem Foto. Sein Lächeln war wirklich etwas ganz Besonderes für mich. Sofort musste ich wieder an diesen Moment zurückdenken, als ich meinen ersten Versuch gestartet hatte, einen Pfeil abzuschießen. Yusei kam mir in diesem Moment unglaublich nah und ich genoss jede seiner sanften Berührungen. Genoss die Wärme seines Körpers und fühlte mich ganz geborgen. In diesem Moment schien die Welt um mich herum für kurze Zeit nicht mehr zu existieren. Nur er. Eine Berührung an meiner Taille ließ mich kurz hochschrecken. Yusei stand plötzlich hinter mir und legte seine Arme um mich. Schmiegte sich enger an meinen Rücken und mich überkam ein gewaltiges Gefühl von Geborgenheit. Wie sehr ich es liebte, wenn er mich so umarmte. „Was machst du denn hier?“ fragte er lächelnd und hauchte mir dabei seinen Atem an mein Ohr, was mir eine leichte Gänsehaut bescherte, die sich schnell über meinen ganzen Körper ausbreitete. Ich strich ihm über seine Unterarme und lächelte ebenfalls. „Mir gefällt das Foto.“ Ich spürte seine weichen Lippen an meinem Hals und seine Hände strichen langsam über meinen Bauch. Genießend schloss ich die Augen und lehnte meinen Kopf etwas zur Seite, um ihm mehr Platz zu schaffen. Diese federleichten Berührungen an meinem Hals waren so angenehm. Doch dann löste er sich von mir und drehte mich sanft zu sich. In seinem Lächeln steckte so viel Zuneigung und ich fühlte ein Kribbeln in meinem Bauch. Zärtlich legte er mir eine Hand auf die Wange und zog mich in einen sanften Kuss. Als ich seine Zunge an meinen Lippen spürte, machte mein Herz einen gewaltigen Satz und ich öffnete bereitwillig meinen Mund. Ich versank förmlich in unserem Kuss und er zog mich ein paar Schritte nach vorn. Ehe ich wusste, was eigentlich passierte, saß er plötzlich auf seinem Bett und zog mich auf seinen Schoß. Dann schenkte er mir wieder ein warmes Lächeln und mir stieg die Hitze ins Gesicht. Mein Herz hämmerte unaufhörlich gegen meine Rippen und ich zog ihn erneut in einen Kuss, um mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte mehr von seinen Berührungen. Meine Hand wanderte zum Bund seiner Hose und zog ihm das Shirt heraus. Ich berührte die warme, weiche Haut an seinem Rücken und strich ihm sanft an seiner Wirbelsäule entlang. Dann fuhr ich ihm über seine Seite. Ich wusste mittlerweile, dass er dort empfindlich war. Er seufzte zufrieden in den Kuss hinein und seine Hände wanderten über meinen Rücken. Seine Finger glitten behutsam unter das Shirt, über meine Haut und lösten ein angenehmes Kribbeln in mir aus. Liebevoll strich er mein Oberteil immer weiter nach oben und ich löste nach Luft schnappend unseren Kuss. Diesen Moment nutzte er, um mich von dem störenden Stoff zu befreien, der danach achtlos auf dem Boden landete. Zu meiner Überraschung zog sich Yusei sein Shirt ebenfalls aus und warf es irgendwohin, dann bugsierte er mich sanft auf die Matratze und ich konnte ein Gefühl von Nervosität nicht ganz abschütteln. Ich wollte es wirklich, aber es war eben auch mein erstes Mal und ich hatte vielleicht auch ein klein wenig Angst davor. Aber ich wollte mich nicht verrückt machen und genoss das Gefühl der samtigen Berührung seiner Lippen an meinem Hals, die sich langsam über mein Schlüsselbein bis zu meiner Brust arbeiteten. Erneut schloss ich genießend die Augen und seufzte zufrieden. Immer weiter küsste er jeden Zentimeter meiner Brust, berührte sie nur hauchzart mit seinen warmen Lippen und strich dabei mit seiner Hand über meinen Bauch. Seine Hand fuhr so behutsam die Kontur meines Körpers nach, dass ich fast gänzlich in ein wohliges Kribbeln eingehüllt wurde. Wieder strich seine Zunge über meinen Hals und ich hob meine Lider, hatte meine Hände an seine Taille gelegt und schaute in diese wunderschönen, tiefblauen Augen. Langsam beugte er sich zu mir hinab und legte seine Lippen auf meine. Zögerlich wanderte meine Hand von seiner Taille zu seiner Brust und wieder hinab zu seinem Bauch. Zog dort die feinen Linien seiner Muskulatur nach. Er hatte wirklich einen verdammt guten Körper. Meine andere Hand legte ich in seinen Nacken und ich intensivierte den Kuss noch mehr. Egal wie nervös ich am Anfang war, jetzt wollte ich nur noch Yusei ganz nah bei mir haben. Ihn berühren. Wollte, dass auch er mich mehr berührte. Wenn dieser Moment doch nur ewig anhalten könnte. Ob das Liebe war? Oder kamen diese Gefühle nur von den Hormonen, die meinen Körper gerade durchfluteten? Langsam spürte ich auch, wie meine Hose unangenehm eng wurde. Er ließ seine Finger hauchzart am Bund meiner Hose entlangstreifen und ich zuckte kurz zusammen, weil mir die Berührung eine Gänsehaut bescherte. Er zog seine Hand zurück. Ob er denkt, er hätte mich bedrängt? Schnell griff ich nach seinem Handgelenk, um seine Hand wieder zu der Stelle zu führen. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken als er mich erneut berührte. Ich strich ihm über seinen Rücken und genoss das Gefühl seiner warmen Haut. Er löste den Kuss und ich schnappte keuchend nach Luft. Ich spürte seine Lippen, die sich sanft meinen Hals entlangküssten, wobei er immer wieder seine Zunge über meine Haut streichen ließ. Eine erneute Gänsehaut breitete sich bei mir aus. Ich stöhnte leise, als Yusei eine Hand sanft, aber zögerlich über meinen Schritt gleiten ließ. Dabei zuckte ich leicht zusammen, denn dieses Gefühl war so ganz anders. Ich hoffte, er hatte das nicht falsch gedeutet, denn es war keinesfalls unangenehm. Immer wieder strichen seine Fingerkuppen hauchzart über die Beule in meinen Shorts. Meine Finger bohrten sich etwas unsanft in seinen Rücken. Es war, als würde mein gesamter Körper vibrieren und ich wollte, dass er weitermachte. Anscheinend hatte er meine Reaktion richtig gedeutet, denn er legte seine Hand auf meinem Schritt ab, ehe er sanften Druck darauf ausübte und damit begann, mich bestimmt zu streicheln. Unbewusst drückte ich mein Becken etwas nach oben. Ich wollte mehr von seinen Berührungen und hatte das Gefühl gleich durchzudrehen. Fahrig fuhren meine Hände seinen Rücken hinab und schoben sich ein Stück weit unter den Bund seiner Hose. Ich hörte ein Keuchen direkt an meinem Ohr, was mir einen angenehmen Schauer bescherte. Ich schob seine Hose ein wenig nach unten und fuhr mit den Fingern über seine Hüfte, was mir die gleiche Reaktion seinerseits einbrachte. Anscheinend gefiel ihm das, also machte ich mit der einen Hand weiter, während ich meine andere in seinen Haaren vergrub und ihm einen Kuss unterhalb seines Ohrs hauchte. Seine Hand strich an meiner Seite entlang und er presste sein Becken gegen meines, was mich erneut aufstöhnen ließ. Auch er keuchte auf. Ich konnte deutlich spüren, wie erregt er war, und es machte mich ein wenig Stolz, dass ich so etwas in ihm auslösen konnte. Seine Hose rutschte noch ein Stück weiter nach unten und meine Hand strich weiter über seine Hüfte, bis zu den Lenden und wieder zurück. Seine Finger wanderten wieder hinab zum Bund meiner Hose, stoppten dort kurz und glitten schließlich darunter. Wieder überkam mich ein Stöhnen, als ich eine Berührung an meiner Erregung wahrnahm. Es war wirklich etwas komplett anderes, von einer anderen Person dort angefasst zu werden. Intensiver. Er fuhr behutsam auf und ab und ich biss ihm als Reaktion darauf in seinen Nacken, was ihn erneut keuchen ließ. Mir tat das sofort leid und ich strich mit der Zunge entschuldigend über die von mir lädierte Stelle. Verletzen wollte ich ihn nicht. Seine Hand umschloss mein Glied und er begann damit, sie immer wieder auf und ab zu bewegen. Es fühlte sich einfach zu gut an. Ich musste bei seiner Massage mehrmals unweigerlich aufstöhnen. Er zog mich wieder in einen Kuss, aber ich konnte ihn nicht lange aufrechterhalten. Ich bekam einfach keine Luft mehr. Mein Atem ging mittlerweile nur noch stoßweise und immer wieder stöhnte ich laut auf. Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen meine Rippen. Ich drückte meine Stirn gegen sein Schlüsselbein und spürte seinen aufgeregten Herzschlag. Mit einer Hand auf seinem Rücken zog ich ihn näher an mich, meine andere Hand krallte sich regelrecht in seine Hüfte. Der Druck in meinem Inneren stieg an, aber ich wollte nicht, dass es schon aufhörte. Seine Berührungen raubten mir den Verstand. Oh nein! Nicht jetzt schon! „I-Ich-“ Aber ich konnte es nicht mehr zurückhalten, legte den Kopf in den Nacken, drückte meinen Rücken durch, stöhnte laut auf und ergoss mich in seiner Hand. Zitternd und kraftlos lag ich unter ihm und sah ihn peinlich berührt an. Verdammt, jetzt hatte ich es versaut. Er zog seine Hand aus meiner Hose, was mich noch einmal kurz zusammenzucken ließ. „E-Entschuldigung“ presste ich hervor. Statt zu antworten gab er mir einen kurzen, sanften Kuss und fesselte mich dann mit seinen tiefblauen Augen. Sein Lächeln war so liebevoll als er endlich antwortete. „Wofür entschuldigst du dich?“ Mir schoss die Hitze ins Gesicht und ich wandte den Blick ab. „N-Naja, weil ich…“ Ich konnte es gar nicht aussprechen, so peinlich war es mir. „Weil du einen Orgasmus hattest?“ fragte Yusei plötzlich und grinste verschmitzt. Ich nickte. Womöglich lief ich gerade feuerrot an. Ja, verdammt! Und er nicht… Ein belustigter Laut war zu hören und ich sah verwirrt zu Yusei. Warum findet er das denn so komisch? Es ist mir doch so schon peinlich genug! Er strich mir eine Strähne aus meinem Gesicht und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Es war ein so angenehmes Gefühl. Irgendwie tröstlich. Dann sah er mich wieder mit diesen warmen Augen an. „Und warum entschuldigst du dich dafür? Das ist doch etwas Gutes.“ Wieder wurde ich verlegen. Natürlich war es etwas Gutes. Es war sogar das intensivste, dass ich je erlebt habe! Aber… „N-Naja, du bist… ich meine, du hast nicht…“ Ach, verdammt, warum bekomme ich es nicht einfach heraus? Wieder gab er mir einen kurzen Kuss und lächelte mir entgegen. „Das ist doch nicht schlimm. Wenn du denkst, ich wäre sauer oder enttäuscht, dann liegst du wirklich falsch damit.“ Ich drehte meinen Kopf auf die Seite, um seinem Blick auszuweichen. Das kann er doch nicht ernst meinen! „Hey, sieh mich an“ forderte er mich auf und zögerlich sah ich wieder zu ihm. Ich war sauer auf mich selbst. Warum konnte ich mich nicht einfach etwas besser unter Kontrolle haben?! „Jaden, egal ob ich einen Höhepunkt hatte oder nicht. Ich fand es sehr schön… Du etwa nicht?“ Ich sah ihn erschrocken an. Wie konnte er denn jetzt denken, es wäre nicht schön für mich gewesen? „Doch, natürlich!“ Sein Blick wurde ganz weich und liebevoll. „Na siehst du?“ Er legte sich neben mich und ich kuschelte mich näher an ihn heran. Seine Arme waren um meinen Körper geschlungen und ich fühlte mich augenblicklich wieder ganz geborgen. Ich hörte seinen Herzschlag, der noch immer etwas schneller ging und entspannte mich. Ein zufriedenes Seufzen entkam mir als er damit begann, mit seinen Fingerkuppen meine Wirbelsäule entlangzufahren. Es war mir immer noch peinlich, aber Yusei schien wirklich nicht sauer oder enttäuscht zu sein. Das beruhigte mich zwar, aber ich konnte trotzdem nicht verhindern, dass ich sauer auf mich selbst war. Eine Weile lang lagen wir noch in seinem Bett und allmählich döste ich dank seiner Streicheleinheiten und meiner Erschöpfung ein. Plötzlich schreckte er hoch und ich zuckte furchtbar zusammen. Ohne ein Wort verließ er fluchtartig das Zimmer. Was ist denn jetzt los?! Hab ich ihn doch verärgert? Ich saß ein paar Minuten ziemlich unschlüssig in seinem Bett und überlegte ob ich ihm folgen oder warten sollte. Schließlich siegte aber doch meine Neugier und ich stand auf, um die Treppe nach unten zu gehen. „Yusei?“ rief ich zögerlich und schielte um die Ecke zur Küche. Er stellte gerade eine kleine Schüssel auf den Boden, über die sich Pharao sofort glücklich hermachte, und seufzte. Ist er gerade ernsthaft geflüchtet um die Katze zu füttern? „Was machst du da?“ fragte ich. Yusei drehte sich zu mir und lächelte schief. „Ich habe das Essen auf dem Herd vergessen.“ Oh je, das stand doch jetzt sicher schon ewig auf dem Herd! Ich lachte auf. „Oh man, ich hab mich schon gewundert, warum du so plötzlich die Flucht ergreifst. Ist das Essen noch genießbar?“ Er sah zu Pharao und auch mein Blick wanderte zu der Katze. Die Schüssel vor ihr war mit Fleisch und etwas Gemüse gefüllt und sie schien wirklich zufrieden mit ihrer Mahlzeit. „Naja, der Reis ist komplett zerkocht und das Gemüse ist viel zu weich, aber das Hühnchen war noch gut, wenn auch etwas zäh. Aber zumindest die Katze freut sich. Hast du stattdessen Lust auf Pizza?“ Was war das denn für eine Frage? Pizza geht immer! Ich nickte eifrig und wir bestellten schließlich etwas beim Lieferdienst. ~*~ Der Regen prasselte noch immer unaufhörlich gegen die Fensterscheibe und im Licht der Straßenlaternen konnte man sehen, wie sich die Bäume im Wind bogen. Ich stand am Fenster und seufzte. Meine Mutter hatte anscheinend recht… Bei dem Wetter konnte und wollte ich nicht mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Ich schickte meiner Mutter eine Nachricht, dass ich die Nacht bei Yusei schlafe. Nicht, dass sie sich morgen Sorgen macht, weil ich nicht zu Hause bin. Ihre Antwort kam nur einen Augenblick später. Sie hatte nichts dagegen, ganz im Gegenteil. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie etwas ahnte. Aber woher denn? Pharao schmiegte den kleinen Kopf an meinen Beinen. Ich nahm sie hoch und kraulte sie hinter dem Ohr. Das gefiel ihr anscheinend, denn sie fing augenblicklich an zufrieden zu schnurren. Diese Katze war wirklich so süß. Und das schmale, rote Halsband stand ihr wirklich gut. Meine Tante hatte es mir gestern zugeschickt. Sie hatte es immer noch, obwohl ihr Kater letztes Jahr gestorben war. An dem kleinen Anhänger war eine Kapsel befestigt, in der man einen Zettel mit seiner Adresse reinstecken konnte. Sollte Pharao also doch mal ausbüxsen, weiß der Finder zumindest wo sie wohnt. Naja, vorrübergehend jedenfalls. Auch wenn ich glaube, dass Yusei beginnt sie zu mögen. Wieder sah ich gedankenverloren aus dem Fenster und streichelte währenddessen Pharaos kleines Köpfchen. Draußen flogen Blätter und kleine Zweige durch die Luft und wurden unbarmherzig herumgewirbelt. Ab und zu zuckten Blitze durch die Wolken und erhellten die Umgebung für einen Augenblick. „So ein Sturm hat etwas Beruhigendes, meinst du nicht?“ Yusei hatte sich hinter mich gestellt und seine Arme um mich gelegt. Seinen Kopf stützte er auf meiner Schulter ab und schaute aus dem Fenster. „Wie meinst du das?“ fragte ich. Als Kind hatte ich bei solchem Wetter immer Angst und auch heute finde ich es nicht unbedingt beruhigend. „Ich weiß nicht“ setzte er an und seufzte. „Ich finde solche Naturgewalten einfach faszinierend.“ Ich lachte leise. „Du bist manchmal echt seltsam.“ „Vielleicht“ sagte er schmunzelnd, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und löste sich von mir. „Es ist schon ziemlich spät. Soll ich dir ein Futon zurechtmachen, oder willst du bei mir schlafen?“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, dabei sprang Pharao aus meinen Armen und lief Richtung Heizung, um es sich dort gemütlich zu machen. „Ist die Frage ernst gemeint?“ Sein Lächeln wurde breiter. „Ich wollte nur nachfragen.“ ~*~ Ich lag an ihn gekuschelt im Bett und genoss die angenehme Wärme seines Körpers. Schon allein durch seine Nähe fühlte ich mich unglaublich wohl. Er strich mir kurz durchs Haar und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ob ich dieses wohlige Gefühl immer spüren werde, wenn er das macht? „Danke, dass ich bei dir schlafen kann“ murmelte ich und schmiegte mich enger an ihn. Er lachte leise. „Ich bin fast zwei Wochen bei euch untergekommen, schon vergessen? Das ist doch das Mindeste. Außerdem habe ich dich sehr gern bei mir.“ Unwillkürlich musste ich lächeln und sah ihn im schwachen Licht an. „Ich dich auch.“ Ich legte meine Lippen auf seine und wollte dieses Kribbeln in meinem Bauch, das ich jedes Mal dabei spürte, nie wieder missen. Ich legte ihm eine Hand auf die Wange und fuhr mit meiner Zunge zögerlich über seine Lippen. Fast augenblicklich öffnete er seinen Mund und legte so viel Gefühl in diesen Kuss, dass ich schon wieder wie Wachs in seinen Händen wurde. Er hatte wirklich eine unglaubliche Wirkung auf mich. Schnell wurde mir bewusst, dass ich mehr als nur diesen Kuss wollte, aber ich hatte Angst davor, dass ich ihm schon wieder keine Befriedigung verschaffen kann. Nein, dieses Mal wollte ich mich zusammenreißen. Meine Hand wanderte von seiner Wange über seine Brust und seinen Bauch bis zu seiner Taille und strich dort auf und ab. Er fuhr mit seinem Daumen zärtlich über meine Wange wollte sich schon über mich beugen, doch ich kam ihm zuvor und drückte ihn sanft in sein Kissen. Ich kniete mich über ihn und löste den Kuss. Immer noch konnte ich seinen warmen Atem in meinem Gesicht spüren, während er mich etwas irritiert ansah. Ich grinste und schnappte kurz nach seinen Lippen. „Jetzt bin ich dran“ hauchte ich ihm gegen die Lippen. Er lachte leise und strich mir durchs Haar. Ich verteilte immer wieder zarte Küsse auf seinem Hals und wanderte über sein Schlüsselbein bis zu seiner Brust. Währenddessen strichen seine Hände über meinen Rücken und meine Oberschenkel. Ich konnte die Wärme seiner Hände selbst durch den Stoff der Hose spüren. Ich fuhr mit der Zunge über eine seiner Brustwarzen und knabberte vorsichtig daran, als sie sich etwas aufstellten. Der Druck von Yuseis Händen auf meinen Beinen verstärkte sich. Anscheinend gefiel es ihm. Immer wieder zogen meine Finger die feinen Konturen seiner Bauchmuskeln entlang und ich strich mit den Händen darüber, fuhr über seine Taille und die Lenden. Langsam setzte ich mich auf sein Becken. Er legte mir seine Hände auf den Hintern und drückte mich näher an ihn, was mich aufkeuchen ließ. Erst jetzt bemerkte ich den ansteigenden Druck in meiner Hose, aber ich wollte nicht schon wieder zu früh kommen. Dieses Mal wollte ich ihn verwöhnen. Noch einmal zog ich ihn in einen leidenschaftlichen Kuss und fuhr mit den Händen die Kontur seines Körpers nach, strich zögerlich über seinen Schritt und entlockte ihm so ein leises Stöhnen. Seine Finger glitten unter meine Hose und zog sie weiter nach unten. Strichen dort über meinen Hintern und meine Hüfte, was mir ein Keuchen entlockte, während ich immer noch seinen Schritt mit leichtem Druck streichelte. Seine erregten Laute hatten eine wahnsinnige Wirkung auf mich. Zögerlich schob ich meine Hand unter den Stoff seiner Hose und berührte zum ersten Mal sein erregtes Glied, was ihn den Kuss unterbrechen und aufstöhnen ließ. Es jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken. Ich strich mit der Zunge immer weiter abwärts, während ich ihn massierte, bis ich seine Lenden erreichen konnte. Langsam zog ich seine Hose bis zu den Oberschenkeln nach unten. Ich stockte. Mein Herzschlag beschleunigte sich schlagartig. Ich war neugierig, wie es sich wohl anfühlen würde, aber ich war auch wahnsinnig nervös. Was, wenn es ihm nicht gefällt? Wortlos richtete Yusei sich plötzlich auf und hob meinen Kopf zu sich, zog mich in einen kurzen, sanften Kuss, und sah mir dann direkt in die Augen. „Du musst das nicht mir zuliebe machen, wenn du nicht wirklich willst.“ Ich sah ihn etwas überrascht an. Hat er meine Zweifel bemerkt? Aber eigentlich wollte ich es nicht nur für ihn machen. Ich war wirklich neugierig, wie es sich wohl anfühlen würde. Lächelnd schüttelte ich den Kopf, gab ihm einen kurzen, aber leidenschaftlichen Kuss und drückte ihn wieder in die Matratze. Dabei massierte ich ihn weiter. Wieder löste er den Kuss und sah mich an. Seine Atmung ging flach und ich spürte mit meiner freien Hand, die ich auf seiner Brust abgelegt hatte, seinen beschleunigten Herzschlag. „Alles okay“ flüsterte ich, schnappte ein letztes Mal kurz nach seinen Lippen und widmete mich wieder seiner Erregung. Meine Zweifel waren fort, auch wenn ich noch ziemlich aufgeregt war. Ich berührte mit den Lippen sein Glied, was ihm ein weiteres Stöhnen entlockte, und strich langsam mit der Zunge den Schaft entlang. Allerdings störte mich seine Hose ziemlich, weswegen ich sie kurzer Hand auszog und vom Bett fallen ließ. Wieder massierte ich ihn und strich mit der Zunge über seine Spitze, was mit einem weiteren Stöhnen belohnt wurde. Dann schloss ich meine Lippen um ihn und bewegte meinen Kopf etwas abgehackt auf und ab. Seine Hände vergruben sich in meinen Haaren, während ich weitermachte. Es war schwieriger als ich dachte, aber es hörte sich so an als würde es im gefallen. Irgendwann hatte ich einen Rhythmus raus und Yusei drückte sein Becken etwas höher. Ruckartig setzte er sich auf und ich musste mein Tun beenden. Verwirrt sah ich ihn an und er zog mich wieder in einen Kuss, legte seine Hände an meine Hüften und presste mich an sich. Ich stöhnte in den Kuss hinein, war aber noch immer verwirrt. Warum hatte er mich unterbrochen? Er legte mir eine Hand an den Rücken und drehte mich wieder so, dass ich unter ihm lag. Liebevoll strich er mir über den Oberkörper und legte seine Hand in meinem Schoß ab. Außer Atem unterbrach er den Kuss und sah mich aus seinen warmen Augen an. „Warum-“ setzte ich leise an und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Er schüttelte aber nur den Kopf und lächelte, während seine Hand unter den Bund meiner Hose wanderte und mir ein Keuchen entlockte. Aber ich wollte nicht, dass sich die Sache von vorhin wiederholt! „Jetzt bin ich dran“ wiederholte er meine Worte und küsste mich. Er zog meine Hose aus. Seine Hand strich an meinen Innenschenkeln entlang und ich spürte wieder den wachsenden Druck in meinem Inneren. Zärtlich fuhr er über meine Erregung und weiter zu meinem Hintern. Sein Finger schob sich zögerlich den Pfad entlang und ich zuckte kurz zusammen als er meinen Eingang berührte. Er löste den Kuss und sah mich eindringlich an. „Ist das in Ordnung für dich?“ Zuerst wusste ich nicht ganz was er meinte, bis es mir endlich dämmerte und mein Herz einen wahren Trommelwirbel in meiner Brust veranstaltete. Ich nickte und er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. „Wenn sich irgendwas komisch anfühlt oder dir Schmerzen bereitet, sag es mir und ich höre auf, okay?“ Er war wirklich so lieb. „Okay.“ Er löste sich ein Stück von mir und kramte nach irgendwas in der Schublade seines Nachtschränkchens. Ich hörte ein Knistern, aber konnte nicht ganz erkennen was er da machte. Schließlich holte er noch etwas heraus und dieses Mal konnte ich das Geräusch nicht ganz einordnen. Er zog mich wieder in einen leidenschaftlichen Kuss, während er sich zwischen meine Beine kniete, und ich versuchte mich zu entspannen. Ich war ziemlich nervös, aber ich war mir sicher, dass ich das wollte. Ihn wollte. Behutsam strich er mit seinem Handrücken über meine Erregung und weiter zu meinem Hintern. Seine Finger tasteten wieder nach meinem Eingang, aber dieses Mal waren sie ganz glitschig. Er massierte mich dort und es war ein seltsames Gefühl, wobei sich diese hauchzarte Berührung schön anfühlte und ein sanftes Kribbeln in meinem Körper auslöste. Als ich mich schließlich an die Massage an meinem Eingang gewöhnt hatte, schob er vorsichtig und ganz langsam seinen Finger ein Stück weit in mich hinein. Dadurch verkrampfte ich mich ziemlich und grub meine Finger unsanft in seinen Rücken. Es war ein verdammt seltsames Gefühl. Ich kniff die Augen zusammen und hielt für einen Moment den Atem an. Yusei löste den Kuss, hielt in seiner Bewegung inne und schaute mich sanft an. "Entschuldige. Tut es sehr weh?" flüsterte er. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust als ich seine Stimme hörte und ich löste mich aus meiner Starre. Genau genommen tat es nicht wirklich weh. Es war einfach nur neu und seltsam. Deshalb konnte ich mich langsam wieder entspannen und sah ihn an. „Nein, alles gut. Mach weiter“ forderte ich ihn auf und küsste ihn wieder. Es lenkte mich etwas von dem seltsamen Gefühl ab. Ich spürte, wie sein Finger noch ein Stück tiefer in mich drang, doch ich gewöhnte mich an die Berührung. Er begann damit, seinen Finger in mir zu bewegen und plötzlich wurde mein Körper von einer unglaublichen Hitzewelle durchflutet, was eine regelrechte Explosion an Gefühlen in mir auslöste. Ich musste laut aufstöhnen und löste dabei unseren Kuss. Während ich mich immer noch fragte, was dieses wahnsinnige Gefühl ausgelöst hatte, massierte er mich weiter in meinem Inneren und traf erneut diese Stelle. Zitternd und keuchend stöhnte ich immer wieder auf und drückte meine Hüfte unbewusst nach oben. Wieder überkam mich eine unglaubliche Gänsehaut und meine Nägel gruben sich förmlich in seinen Rücken. Ich war so erregt, und offenbar bereit für den nächsten Schritt, dass ich kaum wahrnahm, wie er mir einen zweiten Finger einführte und mich nun mit beiden in meinem Inneren massierte. Laut stöhnend löste ich den Kuss und glaubte gleich durchzudrehen. Seine Finger schoben sich in mich, zogen sich wieder heraus, und streiften wieder diesen Punkt, der mich zusammenzucken und stöhnen ließ, während ich wieder keuchend nach Luft schnappte. Der dritte Finger dehnte mich etwas, doch es tat nicht weh. Ich war einfach komplett überreizt. Noch einmal schob er seine Finger tief in mich, sodass ich den Rücken durchbog und erneut lustvoll stöhnte, ehe er sie aus mir entfernte. Immer wieder zuckte ich zusammen und atmete schwer. Sein Atem ging rasch und ich konnte seinen beschleunigten Herzschlag wahrnehmen. Ich spürte die Hitze seines Körpers, obwohl noch einige Millimeter Platz zwischen uns waren. Ich schlang meine Arme in seinen Nacken, zog ihn zu mir und küsste ihn. Im selben Augenblick spürte ich einen Druck an meiner Öffnung. Ich wusste, dass es die Spitze von Yuseis Erregung war. Ich konnte sie pulsieren spüren, als er sich gefühlvoll in mich schob. Es zog ein wenig und entlockte mir ein leicht gequältes Stöhnen. Allerdings bewegte er sich nicht, sodass ich mich an das Gefühl gewöhnen konnte. Trotzdem verkrampfte ich mich und krallte mich fest an ihn, während ich mein Gesicht an seine Brust drückte. Er legte einen Arm zwischen die Matratze und mich, drückte mich so an sich und hauchte mir einen Kuss auf den Kopf. "Es tut mir leid, das war wohl zu schnell..." Seine Stimme war so sanft und irgendwie schuldbewusst. Langsam hob ich den Kopf und sah ihn an. "N-Nein... schon gut, ich bin nur... erschrocken... bitte mach weiter" flüsterte ich. Mein Körper entspannte sich langsam wieder und ich ließ mich ins Kissen sinken. Schwer atmend legte ich ihm meine Hände sanft an seine Taille. Nachdem sich der Schreck gelegt hatte, entspannte ich mich wieder. Ganz langsam und vorsichtig begann Yusei sich zu bewegen, was mich erst zusammenzucken ließ, doch gewöhnte ich mich schnell an das Gefühl und empfand es als angenehm. Seine Bewegungen wurden flüssiger und schneller. Wieder streifte er mich in meinem Inneren an diesem empfindlichen Punkt, was eine wahnsinnige Hitzewelle durch meinen Körper jagte. Yusei stöhnte selbst immer wieder laut auf. Sanft drückte er seinen Körper gegen mich, ohne mich mit seinem Gewicht zu belasten, während er mit seiner freien Hand über meinen Körper strich. Seine Bewegungen wurden immer ungehemmter. Anscheinend hatte er seine Grenze erreicht. Schwer nach Atem ringend kratzte ich ihm über seinen Rücken als er mich erneut fest getroffen hatte, und hinterließ damit wahrscheinlich einige rote Spuren, aber es schien ihn auch nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Er bewegte sich sogar noch schneller. Meine Hand führte ich zu meiner zum Platzen gespannten Erregung und versuchte sie im Takt zu seinen Stößen zu massieren. Ich merkte, dass ich nahe am Höhepunkt war und nicht mehr lange brauchen würde, aber auch Yusei schien es nicht mehr lange auszuhalten. Ein langgezogenes Stöhnen kam mir über die Lippen, als sich meine Spannung mit einem Schlag entlud. Mein Körper zog sich zusammen und ich richtete mich leicht auf. Meine Stirn lehnte an seiner Brust, sodass ich seinen aufgeregten Herzschlag spüren konnte. Er streckte den Rücken durch, stieß sich noch einmal vor und stöhnte selbst laut auf. Keuchend und zitternd sackte ich ins Kissen zurück und spürte Yuseis volles Gewicht auf mir. Er war auch zusammengesackt und rang schwer nach Luft. Einige Sekunden verharrten wir so, bevor er sich schwerfällig erhob und sich aus mir zurückzog. Kurz kniff ich die Augen zusammen und zog scharf die Luft ein. Das war wirklich unangenehm. Kraftlos legte er sich neben mich und schlang einen Arm um mich, drückte mich so sanft an sich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Mein Atem ging allmählich wieder regelmäßig und auch mein Herzschlag hatte sich beruhigt. „Das war…“ brachte ich kraftlos hervor, doch hatte kaum die Kraft noch zu reden. Ich war so unheimlich müde. Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und lächelte mich an. „Unglaublich schön“ beendete er meinen Satz und auch ich lächelte müde. Ja, da hatte er recht. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Lider schwer wurden. „Süße Träume“ war das letzte, dass ich noch wahrnahm, bevor ich allmählich in einen seligen Schlaf glitt. Kapitel 23: Glückseligkeit -------------------------- Ich spürte die Nähe eines warmen Körpers und öffnete schlaftrunken die Augen. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und malte ihre schönsten Farben in den wolkenverhangenen Himmel. Jaden lag friedlich schlafend an meiner Brust und augenblicklich schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Er sah so süß aus, wenn er schlief. Ich zog die Decke etwas höher und schmiegte ihn enger an mich. Ich war einfach so glücklich, dass er bei mir war. Schon seltsam. Hätte mir jemand vor zwei Monaten noch gesagt, dass ich mal solche Gefühle für einen Mann haben und dann auch noch mit ihm im Bett landen würde, ich hätte denjenigen für verrückt erklärt. Und doch war es so, und ich wollte nichts daran ändern. Es hatte alles seine Richtigkeit. Ich war seit einer gefühlten Ewigkeit wieder rundum glücklich, und dass alles dank ihm. Ich wüsste nicht, wie ich die letzte Zeit ohne ihn überstanden hätte. Wahrscheinlich wäre ich verrückt geworden. Eine ganze Weile lang lag ich noch neben ihm und hing meinen Gedanken nach. Irgendwann begann er sich unruhig zu bewegen und wachte kurze Zeit später ebenfalls auf. Er sah sich etwas verwirrt um, bis sein Blick auf meinen traf und ich unwillkürlich ein Lächeln aufsetzte. „Guten Morgen“ sagte ich und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Er wurde etwas rot, lächelte mir aber ebenfalls entgegen. „Morgen.“ Dann vergrub er sein Gesicht an meiner Brust und seufzte zufrieden. „Gut geschlafen?“ sprach ich weiter und fuhr mit meiner Hand durch sein Haar. Sein schönes Lachen hallte in meinen Ohren und bescherte mir ein Glücksgefühl. „Wie ein Stein!“ „Freut mich. Hast du Hunger?“ Wie auf Stichwort begann sein Magen zu knurren und ich lachte leise. Das war mir Antwort genug. Ich löste mich aus der Umarmung und stand auf, um erst einmal die Klamotten auf dem Boden einzusammeln. Ich war kein großer Fan von Unordnung. „Argh!“ hörte ich eine leise Stimme und drehte mich schnell um. Jaden hatte sich aufgesetzt und hielt sich mit verzogenem Gesicht den Bauch. Oh nein, er hatte Schmerzen und das lag an mir. Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante, legte eine Hand an seine Wange und sah ihn schuldbewusst an. Ich hatte es gestern wohl übertrieben und er musste jetzt mit den Konsequenzen zurechtkommen. „Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht!“ sagte er mit einem schiefen Grinsen. „Es zieht nur etwas, damit komm ich klar. Ist nicht so schlimm, wirklich!“ Damit fühlte ich mich nicht unbedingt besser. Er konnte nicht verstecken, dass es ihm weh tat, und ich war auch noch der Grund dafür. Plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen und als er den Kuss löste, sah er mich mit einem warmen Lächeln an. „Mach dir keinen Kopf, ich würde nichts daran ändern wollen!“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel etwas nach oben zuckten. „Na schön, aber bleib trotzdem lieber noch etwas liegen. Ich geh schnell duschen und bereite dann das Frühstück vor, in Ordnung?“ Er nickte und ich gab ihm noch einen letzten, flüchtigen Kuss, ehe ich das Zimmer verließ. ~*~ Am späten Nachmittag verabschiedete ich mich von ihm. Der gemeinsame Tag war wirklich schön gewesen und als ich die Tür hinter ihm schloss, hatte ich nach kurzer Zeit das Gefühl, dass dieses Haus einfach zu still war. Ich hatte zwar gern manchmal einfach meine Ruhe, aber auf Dauer war das wirklich bedrückend. Das Klingeln an der Haustür riss mich aus meinen Gedanken. Hat Jaden irgendetwas vergessen? Ich lief schnell zur Tür, öffnete sie und war ziemlich überrascht. Vor mir stand nicht Jaden, sondern eine ältere Frau. Ihre brünetten, langen Haare wurden von grauen Strähnen durchzogen und waren zu einem Knoten zusammengebunden. Sie war etwas kleiner als ich und von schmaler Statur. Ihre ganze Haltung hatte aber irgendwie etwas erhabenes. Sie löste in mir sofort Respekt aus, auch wenn der Blick aus ihren dunkelblauen Augen mich etwas unsicher musterte. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich schließlich, weil sie noch immer nichts gesagt hatte. „Das hoffe ich“ sagte sie zögerlich und sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. „Ist dein Vater zu Hause?“ Woher kannte sie meinen Vater? Sie kam mir gar nicht bekannt vor. „Nein, der ist nicht da. Kann ich etwas ausrichten?“ „Wann kommt er denn wieder?“ Anscheinend wusste sie nicht, dass er noch im Krankenhaus war. Ob sie eine Bekannte aus Osaka ist? „Tut mir leid, aber das dauert noch eine Weile.“ Ihr trauriger Blick senkte sich. „Verstehe. Es tut mir leid, dass ich dich belästigt habe, Yusei.“ Sie verbeugte sich knapp und wandte sich um zum Gehen. Moment, was? Sie kennt mich? Aber woher? „Warten Sie!“ Sie drehte sich überrascht zu mir und wartete darauf, dass ich weitersprach. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ Ihre Augen weiteten sich für einen Augenblick überrascht, ehe ein trauriges Lächeln ihre Lippen zierte. „Ich glaube, dieses Gespräch wäre etwas zu lang für eine Unterhaltung vor deiner Haustür.“ Ihre Worte verwirrten mich nur noch mehr. Wer ist diese Frau? „Ich kenne ein nettes, kleines Café in der Innenstadt“ sprach sie schließlich weiter. „Das Magidolce. Wenn du wirklich alles wissen möchtest, können wir uns gern dort treffen. Ich bin bis Freitag in der Stadt.“ Sie wartete anscheinend auf eine Antwort, aber ich wusste nicht ganz was ich sagen sollte. Warum konnte sie es mir nicht einfach verraten? Mir kam die ganze Sache ziemlich seltsam vor. Aber vermutlich hatte sie ihre Gründe dafür, auch wenn sie mir schleierhaft waren. Ich wollte unbedingt wissen, woher sie mich und meinen Vater kannte. „Mittwoch?“ schlug ich vor. „So gegen 17 Uhr?“ Sie sah aus irgendeinem Grund erleichtert aus. „Gut, ich werde für Mittwoch 17 Uhr einen Tisch reservieren. Vielen Dank!“ Noch einmal verbeugte sie sich knapp, ehe sie sich endgültig abwandte und in einen Rolls Royes stieg, der am Straßenrand parkte. Ich sah dem Auto noch hinterher und versuchte irgendwie schlau aus der Situation zu werden, aber ich konnte mir auf all das keinen Reim machen. Ich musste wohl oder übel abwarten. Ich ging wieder zurück ins Wohnzimmer und setzte mich seufzend aufs Sofa. Irgendetwas an dieser Frau kam mir bekannt vor, aber ich kam einfach nicht darauf. Kannte ich sie doch? Aber woher? Plötzlich sprang die Katze auf meinen Schoß und rollte sich dort zusammen. „Du bist wirklich verdammt anhänglich“ murmelte ich und wollte sie schon runternehmen, aber sobald ich meine Hände um sie legte, begann sie zu schnurren. Sie fühlte sich anscheinend ziemlich wohl hier. „Na schön, aber nur fünf Minuten.“ Ich schaltete den Fernseher an und strich dabei über ihr Fell. Irgendwann musste ich dabei eingedöst sein. ~*~ Am Montag unterhielt ich mich mit Jack und Crow über das letzte Qualifikationsspiel, das am Freitag stattfinden sollte, während wir zu den Umkleiden liefen. In der dritten und vierten Stunde hatten wir Sport und ich hatte einfach keine Lust auf Sensei Ushio. Seit ich ihm vor einiger Zeit erklärt hatte, dass seine Trainingsmethoden ziemlich veraltet waren, nutzte er jede Unterrichtsstunde die wir zusammen hatten, um mir irgendwelche Strafarbeiten aufzudrücken. „Lass dich doch von dem nicht so schikanieren!“ meinte Crow plötzlich. „Er hat recht“ stimmte ihm Jack zu. „Ich an deiner Stelle würde mich bei Crowler beschweren.“ „Damit es noch schlimmer wird?“ fragte ich sarkastisch. „Nein, Danke. Außerdem wird er einsehen, dass ich recht hatte, wenn wir die Qualifikation am Freitag gewinnen.“ „Warum plötzlich so optimistisch?“ fragte Crow grinsend, während er die Tür zu den Umkleiden öffnete. Ich zuckte mit den Schultern. „Wie war eigentlich dein Ausflug mit Alexis?“ „Ach, der ist im wahrsten Sinne ins Wasser gefallen. Wir haben dann einfach nen DVD-Abend gemacht. Wir hatten sogar sturmfrei, weil Jaden auswärts geschlafen hat und ihre Eltern weg waren.“ Ich schmunzelte, während ich mein Oberteil auszog und in meiner Sporttasche nach dem Trikot suchte. Nicht nur Crow freute sich, dass Jaden an diesem Wochenende auswärts schlief. Ich bin diesem Sturm wirklich dankbar für den schönen Abend. „Alter, was ist denn mit dir passiert?“ Ich drehte mich um und Crow sah mich überrascht an. „Was denn?“ fragte ich verwirrt. Jack deutete auf meinen Oberkörper. „Dein Rücken.“ Was will er denn? Ich ging zu dem kleinen Spiegel an der Wand um meinen Rücken zu begutachten. Tatsächlich entdeckte ich rote Striemen darauf und wusste auch sofort woher die kamen. Ich versuchte mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen und ging wieder zu meiner Sporttasche. „Wahrscheinlich die Katze“ log ich um mich aus der Affäre zu ziehen. Crow grinste mich schelmisch an. „Ja, klar. Erzähl mir doch nichts, so große Pfoten hat das kleine Ding nicht mal! Also, wer ist die Kleine? Kenn ich sie?“ Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Ich gebe ja zu, das war nicht meine beste Ausrede. Crow sah mich abwartend an und ich schüttelte den Kopf. „Ein Gentleman genießt und schweigt.“ „Aber-“ Ich hob abwehrend eine Hand und wollte das Thema damit beenden. „Spielverderber“ gab er schließlich grummelnd nach und ließ mich fürs Erste in Ruhe damit. Natürlich musste ich nach dem Unterricht als einziger alle Hütchen einsammeln und die ganzen Leibchen und Bälle zum Zeugwart zurückbringen. Allerdings halfen mir Jack und Crow netterweise dabei, also brauchte ich dieses Mal nicht so lang. Als wir in der Mittagspause wieder zu den Tribünen liefen, saß Jaden bereits da. „Hey, ihr habt aber lange gebraucht!“ begrüßte er uns mit einem Grinsen im Gesicht. Ich schmunzelte. „Sensei Ushio.“ „Oh man, was hat der Typ für ein Problem?“ Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich neben ihn, während ich mein Bento auspackte. „Hey Jaden, weißt du mit wem Yusei das Wochenende zusammen war?“ Warum konnte er es nicht gut sein lassen? „Crow…“ Wieder hatte er dieses freche Grinsen aufgelegt. „Na, wenn du es mir nicht sagen willst?“ „Warum fragst du?“ meldete sich Jaden zu Wort und biss von seinem Takoyaki* ab. „Er hat nen voll zerkratzten Rücken!“ Augenblicklich verschluckte er sich und prustete ein paar Krümel Richtung Crow, der ihm gegenübersaß. „Bäh! Jaden, das ist ja widerlich!“ „Sorry“ brachte er hustend hervor und lief allmählich hochrot an. „Hallo!“ Wir hörten Akis Stimme aus einiger Entfernung und sahen in ihre Richtung. Sie winkte uns fröhlich zu und Carly lief neben ihr. Ich warf einen ernsten Blick zu Crow, ehe die beiden bei uns ankamen. „Das Thema ist beendet, Crow! Das geht dich einfach nichts an!“ Er hob abwehrend die Hände. „Schon gut, ich lass es ja.“ Hoffentlich hält er sich daran. Ich sah zu Jaden, der immer noch mit hochrotem Kopf neben mir saß. Anscheinend war ihm die ganze Sache wirklich peinlich. ~*~ Das Training lief an diesem Tag wirklich super. Ich war mir sicher, wenn wir auch nur halb so gut spielen würden wie heute, dass wir gute Chancen gegen das gegnerische Team am Freitag hätten. Auch Jaden war begeistert und lobte unsere Mannschaft in den höchsten Tönen. Er war sich ganz sicher, dass wir gewinnen würden. In der Umkleide betrachtete er peinlich berührt meinen Rücken und sah mich schuldbewusst an. Allerdings hatte er wirklich keinen Grund dazu. Ich schüttelte den Kopf ein wenig und lächelte ihn an. Wenn ich überlege wie mich Sherry früher manchmal zugerichtet hatte, sah das noch vollkommen normal aus. Als wir aus der Sporthalle kamen, trafen wir auf Alexis und Carly. Letztere lief fröhlich auf uns zu und sah Jack abwartend an. „Und? Bist du soweit?“ „Was habt ihr denn vor?“ fragte Jim, der sich uns angeschlossen hatte. Carly sah ihn freudestrahlend an. „Jack hat versprochen mich heute zum Bogenschießverein zu begleiten!“ „Echt? Trotz der Katastrophe auf dem Stadtfest?“ stichelte Crow und grinste breit. Jack warf ihm nur einen genervten Blick zu, was Crow allerdings zum Lachen brachte. Jaden versuchte sich zurückzuhalten, aber auch er sah aus, als hätte er wirklich Mühe sich ein Lachen zu verkneifen. „Ach, komm schon Crow. Das war doch sein erster Versuch!“ versuchte Alexis die Wogen zu glätten. Wir setzten uns in Bewegung um zum Parkplatz zu gelangen. Jaden und ich liefen am Ende unserer kleinen Gruppe und ich wandte mich an ihn, versuchte aber meine Stimme etwas zu dämpfen. „Bleibt das eigentlich noch bei unserem Treffen heute Abend?“ Sein Gesicht erhellte sich und er nickte eifrig. „Da fällt mir was ein“ sagte Jim plötzlich und drehte sich zu Jaden. „Du bist doch im Unterricht wieder eingepennt und hast von Sensei Flannigan eine Strafarbeit bekommen. Hast du dir eigentlich die Aufgaben schon geben lassen?“ Jaden sah ihn erschrocken an und hibbelte von einem Bein aufs andere. „Ach, verdammt! Das hab ich komplett vergessen! Die reißt mir doch den Kopf ab, wenn ich das nicht bis morgen erledigt habe!“ Er sah mich entschuldigend an, aber ich war nicht sauer. „Schon gut“ sagte ich aufmunternd und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Er gab mir einen flüchtigen Kuss und rannte dann Richtung Schulgebäude zurück. Einen Augenblick lang sah ich ihm noch nach und wollte mich dann wieder auf meinem Weg zum Parkplatz begeben. Als ich mich jedoch umdrehte, hielt ich in meiner Bewegung inne. Jack, Crow, Alexis, Carly und Jim starrten mich vollkommen überrascht an. Oder entsetzt? Ich konnte es nicht ganz deuten, und viel weniger konnte ich mir erklären, warum sie mich so anstarrten. Plötzlich fiel der Groschen. Jaden hatte mich vor den anderen geküsst! Keine Ausrede der Welt könnte mich aus dieser Situation rausholen, aber irgendwie war ich erleichtert. Ich hatte keine Lust meinen Freunden immer etwas vorzumachen. Jetzt war es raus, auch wenn Jaden das vermutlich weder heute noch auf diese Weise gewollt hat. Sie sagten noch immer nichts, sondern sahen mich weiterhin völlig entgeistert an. Zumindest bis auf Jack und Jim, die sich ziemlich schnell wieder gefasst hatten. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Zum einen, weil ihre Blicke einfach amüsant waren, und zum anderen, weil es jetzt endlich raus war. Jetzt musste ich nur noch Jaden irgendwie beibringen, dass er es unseren Freunden gerade gesagt hatte. „Jetzt ist es wohl raus“ sagte ich belustigt und die anderen lösten sich allmählich aus ihrer Starre. „Seid ihr etwa…“ setzte Alexis an, stockte dann aber. „… ein Paar?“ beendete Carly ihren Satz ungläubig. Ich lächelte glücklich und nickte. „WAS?“ brach es aus Crow heraus. „Und keiner von euch beiden sagt uns was?!“ „Entschuldige, aber ich wollte warten bis Jaden soweit ist.“ Jim lachte. „Typisch Jaden! Er hat wahrscheinlich gerade nicht mal mitbekommen, dass er sich geoutet hat!“ „Also ehrlich“ sagte Alexis, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. „Ich hätte nicht gedacht, dass mein Bruder auf Typen steht.“ „Hast du ein Problem damit?“ fragte ich unsicher. Ich wollte nicht, dass zwischen den beiden jetzt irgendwelche Spannungen herrschten. Sie hob abwehrend ihre Hände. „Nein, nein! Ach was! Es ist nur… überraschend.“ „Wie lange läuft das eigentlich schon?“ fragte Jack. Ich überlegte kurz. „Etwas länger als eine Woche.“ „Oh man“ murrte Crow und verschränkte die Arme vor der Brust. „Jaden bekommt beim nächsten Mal eine Kopfnuss von mir! Damit hätte er echt früher rausrücken können!“ „Ich kann ihn verstehen“ meinte Carly und Crow drehte sich fragend zu ihr. „Naja, kannst du es ihm in dieser Situation verübeln? Vielleicht war er einfach unsicher.“ Crow zuckte als Antwort mit den Schultern. Als wir bei den Fahrzeugen ankamen, verabschiedete sich Jim von uns. Alexis gab Crow noch einen flüchtigen Kuss und folgte Jim anschließend. Carly war gerade dabei ihren Helm aufzusetzen, während Crow vor seinem Fahrzeug grübelte. „Was ist denn los?“ fragte ich. Ob er vielleicht doch ein Problem mit meiner Beziehung zu Jaden hat? „Warte mal…“ murmelte Crow und drehte sich zu mir. „Dann waren diese Kratzer…“ Augenblicklich lief er rot an. Ja, wenn man eins und eins zusammenzählt, hätte man vermutlich schon eher darauf kommen können. Ich grinste verschmitzt und beendete seinen Satz. „… von der Katze.“ Höchstwahrscheinlich glaubte er mir kein Wort, aber er nickte schnell und setzte ebenfalls seinen Helm auf. Zumindest dieses Thema war damit beendet. * Die Sicht von Hakase * Ich stand mit den Händen hinter dem Rücken am Fenster meines Zimmers und ließ meinen Blick über die Parkanlage des Krankenhauses schweifen. Einige vereinzelte Sonnenstrahlen hatten sich tagsüber einen Weg durch die schwere Wolkendecke bahnen können und die letzten bunten Blätter an den Bäumen in warmes Licht getaucht. Jetzt aber war die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwunden und hatte eine graue Tristesse zurückgelassen. Ich seufzte. Du weißt, dass ich diese Jahreszeit noch nie mochte. Aber du und Yusei habt es mir immer erträglich gemacht, mich abgelenkt. Doch jetzt seid ihr beide nicht da. Unser Sohn hat mich bereits ein paar Tage nicht besucht. Versteh mich nicht falsch, das ist kein Vorwurf und ich nehme es ihm nicht übel. Schließlich musste er nur wegen mir plötzlich erwachsen sein und auf eigenen Beinen stehen. Er hat genug zu tun. Und alles nur, weil ich zu feige war. Zu feige um zu leben. Ohne dich. Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Ich muss jetzt für ihn da sein, so gut es mir hier drin möglich ist. Du hast gehört, was die Anhörung mit ihm angestellt hat. Er braucht mich. Er brauch seinen Vater. Aber wie kann ich ihm helfen? Wie würdest du ihm helfen? Du warst in solchen Dingen immer feinfühliger als ich es bin. Ich war wirklich verzweifelt, als mir Naomi von seinem Zustand erzählt hatte, aber es rüttelte mich endlich wach. Gab mir den letzten Anstoß, wieder an meinem Leben anzuknüpfen. Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein. Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen, mein Liebling. Werde dich immer lieben. Aber du bist nicht mehr an meiner Seite, kannst es gar nicht sein, und das muss ich endlich akzeptieren. Stattdessen sollte ich mich auf die Menschen konzentrieren, die an meinem Leben noch teilhaben. Allen voran unseren Sohn. Das bin ich ihm schuldig. Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken und ich neigte den Kopf zur Tür. Wer das wohl ist? „Herein.“ Als die Tür sich öffnete und ich meinen Sohn sah, wich meine trübe Stimmung. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie wirkt er anders als bei seinem letzten Besuch. Glücklich. Meinst du nicht auch, mein Liebling? „Schön dich zu sehen, mein Junge“ begrüßte ich ihn lächelnd. „Hey. Entschuldige, ich wollte dich eigentlich schon früher besuchen, aber beim letzten Mal hattest du einen Termin.“ Ach, so war das. Ich setzte ein schiefes Grinsen auf. „Wie ärgerlich, aber ich freue mich, dass du hier bist. Wie geht’s dir?“ „Sehr gut!“ „Ach was, wirklich? So euphorisch habe ich dich ja seit Monaten nicht gesehen. Was ist passiert?“ Er zuckte nur mit den Schultern, aber so einfach wollte ich ihn nicht davonkommen lassen. Irgendetwas war passiert, dass er jetzt so zufrieden wirkte. Ich wollte unbedingt, dass er mit mir redet. „Machst du Fortschritte bei der Therapie?“ fragte ich gezielt nach und setzte mich an den kleinen Tisch. Er setzte sich ebenfalls. „Ja, das Meiste ist wieder da. Es fehlen nur noch Bruchstücke. Ich habe keine Ahnung, was zwischen dem Ende der Verhandlung und dem darauffolgenden Nachmittag passiert ist. Ich war am Grab von Mama, aber frag mich nicht, wie ich mitten in der Nacht dort gelandet bin.“ Seine Worte versetzten mir einen Stich. Es war fantastisch, dass er sich wieder erinnern konnte, aber ihm hätte in dieser Nacht wer weiß was passieren können, und ich hätte es nicht verhindern können. Ich versuchte mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen, und stellte deshalb eine andere Frage. „Du warst also wirklich an ihrem Grab?“ Ich konnte eine gewisse Sehnsucht nicht aus meiner Stimme verbannen. Wie gern würde ich dich ebenfalls besuchen. Er nickte. „Es wird wirklich gut gepflegt. Dort standen sogar frische Blumen. Wir könnten doch zu ihr fahren, wenn du hier wieder raus bist.“ Ein melancholisches Lächeln legte sich auf meine Lippen und mein Blick wanderte unwillkürlich an ihm vorbei, fixierte einen unbestimmten Punkt hinter ihm. Hörst du das, mein Liebling? Wir werden dich endlich bald gemeinsam besuchen. „Ja, das sollten wir.“ Ich sah ihn endlich wieder an. Er lächelte. „Wie geht’s dir damit?“ fragte ich weiter nach. Er mied meinen Blick und sah auf seine Hände auf dem Tisch. Er wirkte nervös, so wie er mit ihnen spielte. „Ich weiß nicht“ antwortete er schließlich. „Ganz okay, würde ich sagen. Es fühlt sich irgendwie seltsam an, mich wieder zu erinnern.“ „Dich bedrückt doch noch etwas“ stellte ich fest. Stille legte sich über uns. Es dauerte eine Weile, ehe ich wieder das Wort an ihn richtete, um ihn zum Antworten zu bewegen. „Du kannst mir alles erzählen, Yusei.“ Er warf mir einen flüchtigen Blick zu und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. „Meinst du…“ Er seufzte. „Glaubst du, ich bin auch Schuld an dem Unfall?“ „Wie kommst du darauf?“ fragte ich entsetzt. Wo kam dieser Gedanke so plötzlich her? Er biss sich auf die Unterlippe. „Naja… Der Verteidiger von diesem Typen hat sowas behauptet. Dass ich sie mit meinem Anruf abgelenkt habe… Vielleicht… Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich nicht ausgerechnet in diesem Moment angerufen hätte. Vielleicht hätte sie dann bemerkt-“ „Yusei!“ unterbrach ich ihn. Er sah mich überrascht an. Meine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Wut stieg in mir auf. Wie kann der Kerl es wagen, Yusei so etwas in den Kopf zu setzen?! „Glaubst du das wirklich?“ Noch immer sah er mich überrascht an, doch es lag eine gewisse Trauer in seinem Blick. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ „Es war ein Unfall“ sagte ich ernst. „Ein tragischer, keine Frage, aber ein Unfall. Es gibt nichts, was wir hätten dagegen tun können. Und dich trifft keine Schuld, hast du das verstanden? Der Einzige, der Schuld an diesem Unfall hat, ist der Kerl hinter dem Steuer. Nicht du, nicht deine Mutter. Ganz allein er.“ „Hm.“ Sein Blick hatte sich wieder gesenkt. Wie kann ich ihm nur zu verstehen geben, dass er sich keine Vorwürfe machen darf? Miako, was würdest du tun? „Hast du mal mit jemanden darüber gesprochen?“ Er schüttelte den Kopf. „Aber Herr Yuki hat mir während der Verhandlung etwas ähnliches gesagt.“ „Dann hör bitte auf uns. Mach dir bitte keine Vorwürfe. Du trägst keine Schuld an dem Unfall.“ Ein zerknirschtes Nicken war seine Antwort. Seine Zweifel waren noch nicht fort, das sah ich ihm an. Ich seufzte. „Vielleicht sprichst du mal mit Doktor Arisawa darüber. Möglicherweise kann sie deine Zweifel zerstreuen.“ „Okay.“ „Versprich es mir.“ Wieder nickte er. Es war frustrierend, dass ich ihm nicht helfen konnte. Auch wenn ich erleichtert war, dass er sich mir anvertraute. Ich fühlte mich machtlos. Aber er musste diesen Gedanken verbannen. Ihn traf keine Schuld. „Mal was anderes“ versuchte er sich an einem Themenwechsel. „Hm?“ Er lachte leise auf. „Naja, ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen soll, wenn ich ehrlich bin…“ „Oh je, was ist passiert?“ Sein plötzlicher Stimmungswechsel irritierte mich etwas, aber ich stieg darauf ein. „Ob du es glaubst oder nicht. Seit ein paar Tagen wohnt eine Katze in unserem Haus.“ Wollte er mich veralbern? Aber er schien es wirklich ernst zu meinen und ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Es war nicht typisch für ihn, einfach ein Haustier mit nach Hause zu bringen. Schon gar keine Katze. „Warte… Du und eine Katze? Seit unser Kater dich als Kind gebissen hat, wolltest du doch nichts mehr mit Katzen zu tun haben.“ Er sah mich etwas beleidigt an, konnte eine gewisse Belustigung aber nicht verstecken. „Das Vieh war einfach nur diabolisch. Ich habe die Narbe heute noch, dabei wollte ich ihm damals nur den Napf auffüllen.“ „Schon gut, ich weiß was du meinst. Gyoku mochte mich auch nicht besonders.“ „Das ist die Untertreibung des Jahres. Das Vieh mochte nur Mama, sonst niemanden.“ Wieder musste ich lachen. Er hat Recht, mein Liebling. Es tut mir leid, aber Gyoku war mehr als nur eigensinnig und außer dir konnte er wirklich niemanden leiden. „Wie kommt es dann, dass plötzlich eine Katze in unserem Haus lebt?“ Er schmunzelte. „Ich wurde überredet“ war seine knappe Antwort. „Ich brauch schon etwas mehr Informationen“ lachte ich. „Ich war mit meinen Freunden auf dem Stadtfest, da habe ich sie gefunden. Und weil sich keiner um sie kümmern konnte, hat mich Jaden irgendwie dazu überredet, sie vorübergehend mit zu mir zu nehmen.“ „Naomis Sohn?“ Sein Lächeln wurde breiter und er nickte. Ich konnte nichts mehr von der Trauer und den Zweifeln erkennen, die sich vor wenigen Momenten noch in seinem Gesicht spiegelten. Er sah wieder so glücklich aus, wie in dem Augenblick als er den Raum betrat. Lag das etwa an diesem Jungen? Mir kam unser Gespräch von vor einigen Wochen wieder in den Sinn. War er damals nicht auch schon verliebt? Er hatte es nicht zugegeben, aber die Anzeichen erkannte ich sofort an ihm. Und meine Vermutung war damals schon, dass es ein Junge war. „Verstehe, und wie hat er dich rumgekriegt?“ fragte ich bewusst doppeldeutig. Ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. Abgesehen davon, versuchte er sich allerdings nichts anmerken zu lassen. „Keine Ahnung… Vielleicht hatte ich auch nur Mitleid mit der Katze.“ Also hatte ich doch recht. Irgendetwas war mit diesem Jungen. „Hör auf so zu grinsen“ sagte Yusei plötzlich. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich ein breites Grinsen aufgelegt hatte. „Willst du mir vielleicht noch etwas über Jaden sagen?“ Er schüttelte belustigt den Kopf. „Ja, schon gut. Du hattest recht. Bist du jetzt zufrieden?“ Und wie ich das war. Ich freute mich so für ihn. War glücklich, dass er endlich seine Isolation verlassen hatte. Dass er andere wieder an sich heranließ. Ach Miako, vielleicht wird doch wieder alles gut. Sieh nur, wie glücklich unser Sohn ist. Er hat sich verliebt. Wenn du das nur sehen könntest, mein Liebling. „Warum weinst du?“ riss mich seine Stimme wieder aus meinen Gedanken. Ich spürte eine einzelne Träne meine Wange hinablaufen, aber ich schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Schön, dass es dir gut geht.“ Im ersten Moment wirkte er überrascht, doch dann nickte er grinsend. „Aber sag Naomi nichts davon“ fügte er hinzu. „Jaden sollte es ihr selbst sagen.“ „Natürlich“ versicherte ich ihm. „Da fällt mir noch was ein“ sagte er nach kurzem Überlegen. „Gestern hat eine Frau bei uns geklingelt und wollte zu dir.“ „Welche Frau denn?“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie hat mir ihren Namen nicht verraten. Sie war um die 60, etwas kleiner als ich mit braun-grauen Haaren und ziemlich schmal.“ Diese Beschreibung traf auf niemanden zu, den ich kannte. „Und du bist dir ganz sicher, dass sie zu mir wollte?“ „Ja, sie hat mich gefragt ob mein Vater da ist. Als ich ihr gesagt habe, du seist noch eine Weile weg, meinte sie ‚Entschuldige, dass ich dich belästigt habe, Yusei‘.“ „Sie kannte deinen Namen?“ fragte ich misstrauisch. Langsam wurde mir die Sache zu dubios. Er nickte. „Ja, und als ich gefragt habe woher, sagte sie nur, das Gespräch wäre zu lang und wir könnten uns treffen.“ „Du hast hoffentlich abgelehnt.“ „Warum?“ Ich seufzte. Manchmal war er einfach noch zu naiv. „Du kannst nicht immer nur das Gute in Menschen sehen. Was, wenn sie etwas vorhat? Du kannst dich doch nicht mit fremden, dubiosen Leuten treffen.“ Er lachte auf. „Sie ist eine kleine, ältere Dame, mit der ich mich in einem öffentlichen Café treffe, um herauszufinden woher sie mich kennt. Was glaubst du, soll groß passieren?“ Das hat er eindeutig von dir, Miako. Ich schüttelte den Kopf. Ausreden konnte ich es ihm wohl nicht. „Pass bitte trotzdem auf dich auf, mein Junge.“ Ein Klopfen an der Tür ließ uns beide aufsehen. Kurz darauf kam einer der Krankenpfleger ins Zimmer. „Tut mir wirklich leid, aber die Besuchszeit ist schon seit zehn Minuten um. Ich muss Sie bitten, sich zu verabschieden.“ Ich nickte und er verließ den Raum. Wir standen auf und ich zog Yusei in eine Umarmung. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal so ungezwungen unterhalten konnten. Es machte mich wahnsinnig glücklich. Gab mir einen kleinen Teil Normalität zurück. „Pass bitte auf dich auf, mein Junge. Versprichst du mir das?“ Er lachte leise. „Ja, schon gut, ich verspreche es.“ Damit löste er sich von mir und verabschiedete sich. Die Sache mit dieser Frau wollte mir an diesem Abend nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wer könnte das nur sein? Hast du eine Idee? Kapitel 24: Planung ------------------- „Hey, Jaden!“ flüsterte Jim mir in der zweiten Stunde zu und stieß mir dabei seinen Ellbogen leicht in die Seite, während Sensei Banner mit dem Tafelbild beschäftigt war. Ich sah ihn fragend an. Es ist doch gleich Pause, warum riskiert er den Ärger, wenn wir erwischt werden? „Willst du nach der Schule mit zur Spielhalle gehen? Die haben da ein paar Neuheiten!“ Hm, eigentlich keine üble Idee, ich war schon ewig nicht mehr dort gewesen. „Du kannst ihn ja mitbringen“ fügte er zu meiner Überraschung hinzu. „Was?“ Wen meint er denn jetzt? „Yuki-kun, du kannst mir die Antwort sicher sagen!“ Verdammt! Ich schielte an Sensei Banner vorbei an die Tafel. Zumindest hatte ich vorher ein wenig zugehört, also hatte ich das Thema mitbekommen. Die Frage leider nicht. „1941?“ riet ich ins blaue. Unser Geschichtslehrer nickte und widmete sich weiter der Tafel. Ich atmete erleichtert auf. Auf noch mehr extra Hausaufgaben hatte ich wirklich keine Lust. Jim sah mich entschuldigend an, da fiel mir auf, dass er mir immer noch nicht gesagt hatte, wen er meint. „Wen soll ich denn deiner Meinung nach mitbringen?“ flüsterte ich. Er sah mich verständnislos an. „Na, Yusei!“ Schlagartig wurde mir verdammt warm. Wie kommt er denn jetzt auf Yusei?! „Der arbeitet heute. Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich heute mit ihm verabredet bin?“ Jim musste ja nicht wissen, dass ich nach seinem Feierabend wirklich zu ihm fahre. „Na, warum wohl?“ war seine Gegenfrage. Dabei hob er eine Augenbraue, als ob meine Frage komplett überflüssig gewesen wäre. Ahnt er was? „Keine Ahnung, was du meinst“ antwortete ich beiläufig und sah wieder stur zur Tafel. Im Augenwinkel erkannte ich, dass er sich ein Lachen verkniff. Er ahnt definitiv irgendwas! Was mach ich denn jetzt? Ich sollte den anderen wirklich langsam davon erzählen. Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte es endlich zur Pause und wir schnappten uns unsere Sachen für den Schwimmunterricht. „Also, bist du heute mit dabei oder nicht?“ fragte Jim noch mal nach als wir durch die Gänge liefen. „Ja klar, ich will dieses neue Beat ‘em up ausprobieren!“ „Klasse! Nur schade, dass Yusei keine Zeit hat, sonst hätte ich Aki auch gefragt.“ Mir stockte der Atem und ich sah ihn kurz erschrocken an. Zum Glück hatte er es vermutlich nicht mitbekommen, weil er von weitem Aster gegrüßt hatte. Will er Aki etwa auch mit Yusei verkuppeln? So wie Alexis? Das darf doch nicht wahr sein! „Was hat denn das Eine mit dem Anderen zu tun?“ fragte ich vorsichtig nach. Ich wusste, dass Yusei nichts von ihr wollte. Immerhin hatte er sich für mich entschieden. Aber irgendwie war das trotzdem noch ein wunder Punkt für mich. „Naja, Aki schwärmt immer noch für ihn“ sagte er geradeheraus. Als ob ich das nicht wüsste! „Ich hab einfach gehofft, dass sie auch mitkommt, wenn Yusei dabei ist. Dann hättet ihr euch vielleicht irgendwann abkapseln können und ich hätte mit ihr noch einen netten Nachmittag verbracht.“ Moment, was? Das war sein Plan? Ich musste unweigerlich lachen und Jim sah mich ein wenig beleidigt an. „Sorry“ sagte ich immer noch lachend. „Aber das ist wirklich unnötig kompliziert! Frag sie doch einfach ob sie mit dir ausgehen will!“ „Das sagt sich so einfach.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ist es doch auch.“ „Oh man, Jaden! Sie spielt einfach in einer anderen Liga als ich!“ „So ein Blödsinn. Was wäre das schlimmste, was passieren könnte?“ Er schien kurz zu überlegen. „Keine Ahnung. Sie könnte nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.“ „Du meinst so wie Crow es mit Alexis vermasselt hat?“ lachte ich. „Genau.“ Ich grinste. „Und was ist jetzt aus den beiden geworden?“ „Schlechtes Beispiel“ grummelte er und stieß die Tür zu den Umkleiden auf. Im Schwimmbad entdeckten wir von weitem Yusei, Jack und Crow, die sich gerade unterhielten. Als ich Yusei nur in seiner Badehose sah, schlug mir mein Herz bis zum Hals. Ich dachte unwillkürlich an diesen stürmischen Samstagabend zurück und versuchte mich mit einigen tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen. Jetzt und hier daran zu denken war eine ganz blöde Idee. Meine Badehose war recht eng und kaschierte nicht sonderlich gut. Auch, wenn ich am liebsten auf ihn zugehen und einfach küssen würde. „Vielleicht können wir das auf morgen verschieben“ murmelte Jim neben mir, während wir zu den anderen liefen. „Was meinst du?“ „Naja, du hast irgendwie immer Zeit. Vielleicht frag ich Yusei ob er morgen Zeit hat und wir gehen zusammen in die Spielhalle.“ Ich schüttelte mitleidig den Kopf. „Alter, vergiss den Plan. Frag sie einfach.“ „Hey“ begrüßte uns Crow fröhlich. „Was gibt’s denn bei euch zu tuscheln?“ „Ach, Jim traut sich nur nicht A- AU! Hey, was soll das?“ Ich rieb mir meinen schmerzenden Oberarm und sah Jim beleidigt an. Als ob Crow sich darüber lustig machen würde. Es war ein offenes Geheimnis, dass Jim auf Aki stand. „Was traust du dich nicht?“ fragte Jack. Sensei Ushio fing mit seiner Ansprache an und ging die Namen der Schüler durch. Währenddessen setzten wir uns. „Nicht so wichtig“ tat Jim das Thema leise ab und wandte sich an Yusei. „Sag mal, hast du morgen nach dem Training Lust mit in die Spielhalle zu kommen?“ „Lust schon, aber ich treffe mich morgen mit jemandem und habe keine Ahnung wie lange ich brauchen werde.“ Jim seufzte. „Schade.“ Ich sah Yusei fragend an. „Mit wem denn?“ „Ich weiß es nicht.“ „Hä? Wie, du weißt es nicht?“ Ein Pfiff und der Lehrer rief meinen Namen auf. „Ach, verdammt.“ Ich stand auf und drehte mich noch einmal zu Yusei. „Vergiss meine Frage nicht“ fügte ich grinsend hinzu und lief zu den Bahnen. ~*~ Nach dem Schwimmunterricht gingen wir wieder zu den Tribünen und unterhielten uns über das kommende Spiel. Da kamen Alexis, Aki und Carly auf uns zu. „Hey. Unterhaltet ihr euch schon wieder über Fußball?“ fragte Aki missmutig. „Ist doch aufregend!“ sagte ich fröhlich. „Wir haben es bisher noch nie in die Regionals geschafft und unsere Gegner am Freitag sind anscheinend nicht sonderlich gut.“ „Wie kommt ihr darauf?“ fragte Carly, die sich zu Jack setzte. Crow grinste. „Das sind die Pfeifen, gegen die wir angetreten sind als wir noch im ersten Jahrgang waren. War das einzige Team, gegen das wir gewonnen haben.“ „Schön und gut“ sagte Alexis „Aber ihr habt euch auch verbessert. Nimm das nicht so auf die leichte Schulter.“ Auch Yusei sah Crow ernst an. „Sie hat recht. Dein Optimismus in allen Ehren, aber unterschätze niemals deine Gegner.“ „Jetzt sei doch nicht so ein Pessimist“ stichelte ich und grinste. „Wir waren noch nie so gut in Form!“ „Ach, das wird schon“ sagte Aki lächelnd. „Aber könnten wir endlich das Thema wechseln? Ihr unterhaltet euch seit Tagen über nichts anderes mehr.“ Plötzlich fiel mir die Unterhaltung mit Jim wieder ein und ich legte ein breites Grinsen auf. Das könnte vielleicht funktionieren. „Na schön. Du magst doch Videospiele, oder Aki?“ Eigentlich war die Frage überflüssig. Beim letzten Mal hatte sie mich auf ganzer Linie fertig gemacht. „Ja, warum?“ „Jim und ich wollten heute in die Spielhalle gehen. Willst du mitkommen? Ich brauch endlich mal einen würdigen Gegner.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Ich weiß nicht.“ „Ach, komm schon!“ drängte ich sie. „Eigentlich schon, aber bei mir wird es etwas später. Ich habe nach der Schule noch Tennis.“ „Klasse! Dann treffen wir uns einfach dort, wenn du fertig bist, einverstanden?“ Sie nickte zufrieden und sah anschließend auf ihr Handy. „Ach, na toll. Meine Mutter. Das wird länger dauern“ sagte sie und verabschiedete sich von uns um zu telefonieren. „Warum war es dir eigentlich so wichtig, dass sie mitkommt?“ fragte Alexis. Ich grinste sie an. „Eigentlich war das Jims Idee. Er traut sich nicht sie einzuladen, deswegen wollte er Yusei morgen mit an Bord holen.“ „Warum mich?“ Ich sah ihn mit gehobener Augenbraue an und er schien meinen Einwurf zu verstehen. Da fiel mir wieder ein, warum er morgen keine Zeit hatte. „Mit wem triffst du dich jetzt eigentlich?“ „Wie schon gesagt, ich weiß es nicht.“ Jack musterte ihn skeptisch. „Wie kann man denn nicht wissen, mit wem man sich trifft? Wird das ein Blind Date?“ Crow lachte auf. „Nee, er hat ja Jaden. Wozu brauch er da noch ein Blind Date?“ Mir stieg die Hitze ins Gesicht. „WAS?“ rief ich erschrocken und sah zu Yusei. „Hast du es ihnen gesagt?“ Crow lachte sich halb tot und Jack, Carly und Alexis stimmten in sein Gelächter ein. Yusei schüttelte den Kopf und versuchte sich zurückzuhalten, aber auch er fand die Sache irgendwie komisch. Was geht hier ab? Woher wissen die anderen davon? Nachdem sich mein orangehaariger Freund wieder etwas gefasst hatte, sah er mich an. „Alter, das warst du!“ „Wie? Wann denn?“ Yusei gab einen belustigten Laut von sich und sah mich an. „Denk mal darüber nach, wie du mich gestern verabschiedet hast.“ Was meint er denn? Ich hatte mich doch genauso verabschiedet, wie sonst auch, oder nicht? Ich hatte ihn wie immer ge… Für einen Moment ratterte es, ehe ich endlich verstand und mir die Hitze in den Kopf schoss. Vermutlich hätte mein Gesicht in diesem Moment gut mit einem Feuerlöscher konkurrieren können. Ich hatte ihn geküsst! Und dabei hatte ich die anderen komplett ausgeblendet! Oh Mann! Stimmt, das war wirklich eindeutig und Yusei ist wahrscheinlich in Erklärungsnot geraten. Peinlich! So wollte ich es den anderen definitiv nicht sagen! „Ich glaube, er ist in Schockstarre“ sagte Alexis trocken und Crow brach in einen erneuten Lachanfall aus. „Jetzt lasst ihn doch in Ruhe“ sagte Carly belustigt und versuchte mich zu retten. „Mich würde viel mehr interessieren, warum Yusei keine Ahnung hat mit wem er sich trifft.“ Ich war ihr so dankbar für den Themenwechsel und auch die anderen sahen neugierig zu Yusei. „Ist schwer zu erklären. Eine ältere Frau hat am Samstag bei mir geklingelt und wollte zu meinem Vater. Ich habe ihr gesagt, dass er noch eine Weile weg ist und sie hat sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Sie kannte meinen Namen, dabei habe ich sie noch nie gesehen. Und um herauszufinden woher sie mich kennt, treffe ich mich mit ihr.“ „Und warum konnte sie dir das nicht gleich sagen?“ fragte Alexis. Yusei zuckte nur mit den Schultern. Carlys Augen glänzten förmlich. „Das ist ja spannend! Was denkst du wer sie ist?“ „Keine Ahnung, deswegen will ich mich ja mit ihr treffen.“ „Klingt seltsam“ warf Jack ein. Ich musste ihm zustimmen. Die ganze Sache klang wirklich verrückt. „Wo trefft ihr euch eigentlich?“ „In einem kleinen Café, aber ich habe noch nicht nachgesehen wo es ist. Sie meinte, dass sie dort für 17 Uhr einen Tisch reservieren will.“ „Welches denn?“ fragte Carly aufgeregt. Ich schielte zu ihr rüber. Ich traute ihr durchaus zu, Yusei einfach in das Café zu folgen, um ihre Neugier zu stillen. „Warte…“ überlegte Yusei kurz und sah sie dann an. „Es hieß Magidolche.“ „WAS?!“ brach es aus Carly und Alexis gleichzeitig heraus. Auch Jack, Crow und ich musterten ihn überrascht. Yusei sah nur fragend in die Runde. „Ja, was ist denn los?“ „Du musst dich verhört haben!“ sagte Alexis. „Das Magidolche ist super berühmt. Auch außerhalb der Stadt. Um da einen Termin zu bekommen, muss man monatelang warten!“ „Sie hat recht“ pflichtete Jack ihr bei. „Und selbst wenn man einen Termin machen will, lassen sie nicht jeden rein. Ich wollte zu unserem Jahrestag mal dort hin, da haben sie Carly und mich einfach weggeschickt.“ „Warum?“ Carly verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Wir passten einfach nicht ins Bild, was weiß ich. Ich war stinksauer!“ „Wir waren zu Omas Geburtstag mal dort, weißt du noch, Jaden?“ „Stimmt, vor zwei oder drei Jahren. Der Laden war echt cool, aber auch sauteuer.“ „Hm. Verhört habe ich mich nicht. Sie sagte wirklich Magidolche. Aber wenn das stimmt, dann wird sie wohl schlecht einen Termin bekommen haben.“ Crow verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. „Zumindest kann ich es mir nur schwer vorstellen. Was machst du jetzt?“ Yusei schien zu überlegen. „Keine Ahnung, ich werde trotzdem mal hingehen. Laut des Kennzeichens an ihrem Auto kommt sie aus Tokio, also weiß sie das mit der Reservierung wohl nicht.“ „Das wird immer seltsamer“ stellte ich fest. Carly sah mich an. „Ja, und wenn sie aus Tokio kommt, woher kennt sie dann das Café? Und wenn sie es wegen seines Rufs kennt, müsste sie das mit der Reservierung eigentlich wissen.“ Yusei lehnte sich seufzend zurück und schloss die Augen. „Keine Ahnung. Ich werde mich wohl überraschen lassen müssen.“ ~*~ Nach der Schule traf ich mich mit Jim in der Spielhalle. Ich freute mich schon wahnsinnig. Es war wirklich lange her, seit wir mal wieder etwas nur zu zweit gemacht hatten, dabei war er einer meiner besten Freunde. Dass ich Aki für später auch eingeladen hatte, wollte ich ihm nicht verraten. Es sollte eine Überraschung werden. Ich war schon gespannt, wie er reagiert! Immerhin war es eigentlich sein eigener Plan. „Na schön, ran an die Konsole“ sagte er zwinkernd. Es war verdammt lustig. In dem neuen Beat ‘em up hatte er mich rundenlang komplett abgezogen, ehe ich endlich gewann. Bei dem neuen Rennspiel war es genau anders herum. Jedes Mal fuhr ich vor ihm durch die Ziellinie, auch wenn es manchmal wirklich knapp war. „Oh Mann!“ beschwerte sich Jim. „Wie machst du das eigentlich? Ich bekomm auf der Strecke die Kurve immer nicht.“ Ich lachte. „Das ist doch gar nicht so schwer. Hör einfach auf in der Kurve ständig auf Gas zu drücken. Logisch, dass du immer in der Bande landest!“ „Hier seid ihr!“ hörte ich Akis Stimme hinter uns und drehte mich um. „Hey, cool dass du es doch geschafft hast. Willst du auch mal?“ „Klar, gerne!“ Ich machte Aki Platz, damit sie gegen Jim antreten konnte, der mich mit hochrotem Kopf anstarrte. Ich grinste breit. Mit der Reaktion hatte ich gerechnet. „Bereit?“ fragte Aki lächelnd an Jim gewandt. Der löste sich endlich aus seiner Starre und sah auf den Bildschirm. „J-Ja klar.“ Aki machte ihn komplett fertig und ich lachte mich schlapp. „Was hab ich dir denn gesagt, du Bleifuß? Geh doch mal vom Gas runter, wenn du die Kurve erwischen willst!“ „Entweder das, oder du driftest einfach. Dadurch bekommst du eine bessere Zeit“ berichtigte mich Aki. „Ja, aber das ist ziemlich knifflig bei der Steuerung.“ „Stell dich doch nicht so an, Jaden. Den Dreh hat man schnell raus“ lachte sie. „Kannst du… mir das zeigen?“ fragte Jim kleinlaut. Sie nickte zufrieden. „Du musst nur am Scheitelpunkt der Kurve beschleunigen, dadurch bricht das Heck aus. Um das Auto zu kontrollieren, verwendest du nicht die Bremse, sondern die Lenkung und das Gas. Dann musst du das Lenkrad nur noch in die Gegenrichtung drehen. Ganz einfach.“ Jim und ich starrten sie fragend an und brachten sie damit zum Lachen. „Probier es einfach mal aus, es ist wirklich nicht schwer. Warte einfach den richtigen Zeitpunkt ab. Jaden, übernimm du mal den Platz, dann helfe ich ihm.“ Zufrieden setzte ich mich wieder an die Konsole und schielte zu Jim, der schon wieder rot wurde, weil Aki ihm über die Schulter sah. Das lief besser und einfacher als gedacht. „Auf mein Zeichen beschleunigst du einfach, okay?“ Jim nickte mechanisch und starrte auf den Bildschirm. Ich versuchte währenddessen nicht zu lachen. Akis Tipps brachten tatsächlich etwas. Jim hatte es mit ihrer Anweisung nach einige Anläufen wirklich geschafft um die Kurve zu kommen und ich fuhr knapp hinter ihm über die Ziellinie. „Verdammt!“ rief ich aus, aber eigentlich ärgerte es mich nicht. Ich fand das Rennen wirklich lustig. „Klasse, Jim!“ sagte Aki fröhlich und ich nickte ihm bekräftigend zu. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und lachte nervös. „Danke, das war wirklich hilfreich.“ Ich glaube, jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt zu gehen. Ich sah auf mein Handy. In einer Stunde hat Yusei sowieso Feierabend und ich wollte ohnehin nochmal nach Hause. „Ich muss los“ sagte ich deshalb und stand auf. „Was, jetzt schon? Ich bin doch erst angekommen.“ „Ach was“ sagte ich grinsend, während auch Jim sich erhob. „Ihr könnt euch ja noch einen schönen Nachmittag machen, aber ich muss noch für Physik lernen.“ Jim stutzte. „Physik? Aber wir-“ Ich schlug ihm freundschaftlich gegen die Schulter. Auch, damit er seine Klappe hielt. „Sensei Flannigan hat doch gesagt, dass wir was schreiben.“ „Musst du dann nicht auch lernen?“ fragte Aki an Jim gewandt. Ich lachte. „Nee, der hat den Stoff drauf. Anders als ich. Also, man sieht sich morgen!“ Mit diesen Worten machte ich mich auf den Weg und ließ die beiden allein zurück. Jetzt lag es an Jim, ob er daraus was macht. Zufrieden mit mir selbst stieg ich aufs Rad und fuhr nach Hause. Dort angekommen, lief ich in mein Zimmer und stellte erschreckend fest, dass ich tatsächlich noch Hausaufgaben in Physik hatte. Ach, verdammt! Ich kramte die Aufgaben raus, hatte nach der Hälfte aber keine Lust mehr. Auf dem Display meines Handys blinkte eine Nachricht auf. Ich entsperrte es und sah verwirrt auf den Absender. Jim. Hat der nicht gerade was anderes zu tun? Der Inhalt der SMS bestand nur aus einem Wort. - Danke Ich musste schmunzeln. Anscheinend lief es gut. - Warum schreibst du MIR? Viel Spaß noch mit Aki und hör auf an deinem Handy zu hängen! Wir hatten übrigens wirklich Physikhausaufgaben. Kann ich bei dir abschreiben? Seine Antwort kam eine halbe Stunde später. - Klar, ich bin dir was schuldig. Ich habe mich gerade von ihr verabschiedet. Sie will wirklich mit mir ausgehen :) Lief doch super! Grinsend wollte ich mein Handy wegstecken, bemerkte allerdings die kleine Zeitanzeige auf dem Display. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und lief die Treppe runter. Unten angekommen sah ich meine Mutter. „Hey, ich übernachte heute bei Yusei, ist das in Ordnung?“ Sie sah mich überrascht an. „Ja, wieso nicht, mein Spatz.“ „Cool, danke!“ sagte ich fröhlich und wollte schon los. „Ach, Jaden, warte!“ Ich drehte mich verwundert zu ihr. „Hm?“ „Hast du deine Schularbeiten schon erledigt?“ „Ja?“ Sie hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich stöhnte genervt auf. „Ist ja gut! Ich mach den Rest bei Yusei.“ „Wehe wenn nicht!“ sagte sie streng. „Ich verlasse mich auf dich.“ „Schon gut“ grummelte ich. ~*~ „Ach, komm schon! Das ist Folter!“ beschwerte ich mich, während ich bei Yusei im Wohnzimmer saß und über meinen Physikaufgaben grübelte. Er wollte mich partout nicht küssen, solange ich nicht damit fertig war. Meine Mutter hatte ihm tatsächlich geschrieben, damit ich den Mist erledige. Er lachte. „Du sitzt erst seit zehn Minuten daran. Es ist doch nur noch eine Aufgabe.“ „Ich versteh trotzdem nicht, warum ich nicht einfach bei Jim abschreiben kann.“ „Wie willst du es dann verstehen?“ „Kannst du mir verraten, wann ich irgendwann mal wissen muss, wie viel CO2 beim Verbrennen von Steinkohle ausgestoßen wird?“ „Spätestens während der Prüfung“ erwiderte er. Ich stöhnte genervt auf und ließ mich in die Sofalehne sinken. Es war zwecklos. Die Diskussion hatte ich vermutlich verloren. „Streber“ murmelte ich und schloss die Augen, um mich an die Gleichung zu erinnern. Plötzlich spürte ich für einen kleinen Augenblick seine warmen Lippen auf meinen und ich öffnete verwundert meine Augen. Er lächelte liebevoll. „Als kleine Motivation.“ Letzten Endes hatte er recht. Es dauerte wirklich nicht lange bis ich fertig war und so schwer war es nicht. Ich hatte einfach nur keine Lust darauf. Kaum hatte Yusei meine Aufgaben durchgesehen und das Heft zusammengeklappt, da zog ich ihn auch schon am Kragen zu mir und küsste ihn endlich. Das war eine so viel bessere Beschäftigung als diese blöden Physikaufgaben. Seine Hand legte er an meine Wange und ich konnte spüren, dass er grinste. Er löste den Kuss und lehnte seine Stirn an meine. „Warum so stürmisch?“ hauchte er gegen meine Lippen und sah mich belustigt an. „Darauf warte ich seit der dritten Stunde“ lachte ich. „Du weißt, dass wir jetzt offiziell zusammen sind und du das jederzeit machen kannst, oder?“ Ich lächelte verlegen. „Naja, vor anderen ist es trotzdem seltsam.“ Er gab einen belustigten Laut von sich. „Du wirst dich dran gewöhnen“ säuselte er und gab mir einen sanften Kuss. Ich seufzte und erwiderte ihn. Ohne den Kuss zu lösen drückte ich ihn sanft in die Sofalehne und rutschte auf seinen Schoß. Fordernd fuhr ich ihm mit der Zunge über seine weichen Lippen und er kam meiner wortlosen Bitte augenblicklich nach. Als ich mit meiner Hand über seine Seite und unter sein Shirt fuhr, löste er sich von mir und ich sah ihn verwirrt an. Ich wusste einfach nicht, warum er mich unterbrochen hatte. „Bist du sicher, dass du das willst?“ fragte er unsicher und fuhr mit seinem Daumen über meine Wange. „Wir müssen morgen wieder in die Schule.“ Es dauerte einen Moment, ehe ich verstanden hatte worauf er hinauswollte. Ich schüttelte belustigt den Kopf. „Als ob mich das stören würde. Du musst echt mal aufhören alles totzudenken. Du tust mir nicht weh!“ Er sah noch nicht ganz überzeugt aus, doch erwiderte er meinen Kuss. Nach einer kleinen Weile hatte er seine Zweifel wohl überwunden und zog mich enger an sich, intensivierte den Kuss und schaltete endlich ab. * Erzähler * Eine ältere Frau saß an einem großen, massiven Schreibtisch und blätterte durch einige Unterlagen. Seit Stunden betrachtete sie die Dokumente, kam aber doch zu keinem Ergebnis. Seufzend lehnte sie sich zurück und drehte sich mit ihrem Sessel, um durch das Panoramafenster hinter ihr die Skyline der Stadt zu betrachten. Die Dämmerung hüllte Neo Domino in ein angenehmes Licht. Alles wirkte so friedlich und doch kam sie nicht zur Ruhe. Ein innerer Zwiespalt plagte sie. Seit viel zu langer Zeit hatte sie auf diesen Tag gewartet, und doch war sie nervös. Ein Klopfen hallte durch das geräumige Hotelzimmer. „Herein“ sagte sie mit bestimmter Stimme, ohne sich vom Anblick der Stadt abzuwenden. Ein Mann in einem eng geschnittenen, schwarzen Anzug betrat den Raum und hielt einige Unterlagen in seinem Arm. Sein langes, schwarzes Haar war zurückgebunden und untermalte sein elegantes Aussehen. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Fujigawa-sama“ sagte er mit tiefer Stimme und verbeugte sich. Noch immer sah die Frau aus dem Fenster. „Sind das die Unterlagen aus Tokio?“ Ein zustimmender Laut erklang. „Leg sie auf den Tisch“ forderte sie ihn auf. „Das war alles, danke.“ Der Mann räusperte sich. „Bei allem Respekt, Fujigawa-sama, halten Sie das ganze wirklich für eine gute Idee? Ihr Mann-“ „Ist tot!“ unterbrach sie ihn scharf und drehte sich aufgebracht zu ihm herum. Noch einmal verbeugte er sich. „Es tut mir leid, aber als Euer Berater halte ich es für keine gute Idee, wenn-“ „Ich kenne Ihre Bedenken!“ unterbrach sie ihn erneut. Sie stand auf und betrachtete abermals die Skyline der Stadt. „Ich bin mir auch über die Risiken bewusst, aber die gehe ich gern ein.“ „Aber reicht es nicht, dass Ihr sein Stipendium finanziert habt? Das war doch großzügig genug“ versuchte er sie wieder zur Vernunft zu bringen. Seufzend ließ sie sich erschöpft in ihren Sessel sinken. „Nichts könnte diesen Fehler je wiedergutmachen. Ich will ihn nur kennenlernen“ sagte sie wehmütig. Diese Schuldgefühle plagten sie schon so lange Zeit. „Was ist mit seinem Vater?“ gab der Mann zu bedenken. Sie schwieg einen Moment, ehe sie ihre brüchige Stimme erhob. „Ich werde ihm morgen einen Besuch abstatten. Mich entschuldigen. Er wird sicher gegen mein Treffen mit Yusei sein, aber ich will ihn zumindest darauf vorbereiten. Davon abhalten wird er mich nicht.“ Der Mann erkannte, dass er sie nicht umstimmen konnte und verbeugte sich ein letztes Mal, ehe er den Raum verließ. Seufzend griff sie in einer Schublade nach einem alten Brief und öffnete ihn. Sie wusste nicht, wie oft sie ihn gelesen, und das beigefügte Foto betrachtet hatte. Sehnsüchtig strich sie über das Bild. Nichts hätte dieses Glück zu dieser Zeit zerstören können. Und doch hatte ein einziger Mensch ihr an diesem Tag den Boden unter den Füßen weggezogen. Kapitel 25: Die Fremde ---------------------- „Du musst aufstehen“ sagte ich zum dritten Mal an diesem Morgen und bekam, wie schon die letzten beiden Male, nur ein Grummeln zur Antwort. Ich grinste. „Du hast noch 20 Minuten, dann fahre ich ohne dich los.“ „Machst du nicht“ kam es verschlafen zurück. Mein Lächeln wurde breiter. „Willst du es darauf ankommen lassen?“ Jaden zog die Decke nach unten, sodass ich endlich sein Gesicht sehen konnte und musterte mich verschlafen. Schließlich seufzte er und stand langsam auf. „Warum bin ich mit einem Morgenmenschen zusammen?“ fragte er schläfrig und rieb sich die Augen. Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „20 Minuten“ wiederholte ich und verließ das Zimmer, um das Bento in der Küche vorzubereiten. Als ich alles zurechtmachte, meldete sich Pharao zu Wort und streifte um meine Beine. „Du hattest schon dein Frühstück.“ Kopfschüttelnd schloss ich die Boxen. Warum rede ich eigentlich ständig mit ihr? Sie versteht mich sowieso nicht. Leichtfüßig hüpfte sie Richtung Flur. Plötzlich hörte ich einen erschrockenen Schrei, gefolgt von einem dumpfen Knall, und lief schnell aus der Küche. Pharao kam mir blitzschnell entgegengeschossen und rannte ins Wohnzimmer. Am Fuß der Treppe lag Jaden auf dem Bauch. „Alles in Ordnung?“ fragte ich besorgt und half ihm auf. „Ja, alles gut. Ich bin nur über Pharao gestolpert.“ Wie auf Abruf tapste die Katze schüchtern zu uns und schmiegte ihren Kopf an sein Bein. Lächelnd nahm er sie in die Arme. „Ich bin dir nicht böse!“ sagte er fröhlich. Pharao schleckte Jadens Hand ab und er lachte. Ich schmunzelte. Es war wirklich fast, als wolle sie sich entschuldigen und Jaden hatte sie wirklich gern. Sie stiftete zwar manchmal Chaos, aber ich hatte mich irgendwie schon an sie gewöhnt. Mir lief vorher noch nie eine so zutrauliche Katze über den Weg. „Na schön, ich gebe auf“ sagte ich und erntete einen verwunderten Gesichtsausdruck. „Was meinst du?“ „Die Katze kann bleiben. Mein Vater hat auch nichts dagegen.“ Er grinste breit, setzte Pharao ab und fiel mir um den Hals. „Großartig!“ Ich schmunzelte und erwiderte seine Umarmung. Allein seine Reaktion war es eigentlich schon wert. ~*~ „Was für ein Scheißtag!“ fluchte Crow genervt, während wir in der Umkleide waren. „Weswegen bist du eigentlich so mies drauf?“ fragte Jaden. Jack schüttelte mitleidig den Kopf, während er nach seinem Trikot kramte. „Mich kotzt Physik einfach an! Sensei Flannigan hat mir schon wieder eine schlechte Note reingedrückt. Und Sensei Banner kam in der Vierten plötzlich mit einem Test um die Ecke. Rate mal, wer nicht gelernt hat. Wenn das so weitergeht, hat mir mein Alter angedroht mir die Klubs zu streichen.“ „Oh nein…“ „Ich kann dir wieder helfen“ bot ich ihm an. „Nee, lass mal. Alexis kam dir zuvor“ sagte Crow und seufzte schwer. Als ich mein Hemd auszog, schielte er zu mir. „Hat dich dein Kätzchen schon wieder malträtiert?“ Schnell schlüpfte ich in mein Trikot und versuchte mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Jaden sah ihn verwirrt an. Crow wandte sich an meinen Freund. „Sag mal, Jaden. Warum darfst du eigentlich ständig bei Yusei pennen, und Alexis kann nicht mal für ein Wochenende zu mir?“ Jaden verzog etwas ins Gesicht und ich konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken. Crow warf uns verwirrte Blicke zu. „Was denn?“ „Meine Mutter ist total vernarrt in ihn.“ Anscheinend wurde Crow aus dieser Antwort auch nicht schlau, also ergänzte ich Jadens Aussage. „Vernarrt ist wirklich zu viel gesagt. Naomi meinte gestern, ich hätte einen guten Einfluss auf ihn, und seitdem ist er bei diesem Thema ein wenig mürrisch.“ „Mürrisch ist gut. Sie hat dich einfach beauftragt meine Aufgaben zu kontrollieren. Und du hast das auch noch durchgezogen!“ Ich hob abwehrend die Hände. „Schon gut, tut mir leid.“ Eine gewisse Belustigung konnte ich nicht aus meiner Stimme verbannen. Ich würde wieder so handeln und Jaden wusste das. Ich glaube auch nicht, dass er deswegen wirklich sauer ist. Immerhin war das Ganze wirklich nur zu seinem Besten. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich sah verwundert auf das Display. Warum ruft sie mich jetzt an? „Na toll. Wenn man vom Teufel spricht“ scherzte Jaden, der ebenfalls auf mein Handy sah. Ich nahm den Anruf an. „Hallo?“ „Hallo, Yusei. Entschuldige die Störung, aber ich war gerade bei deinem Vater und er bat mich wirklich energisch darum, dir etwas auszurichten.“ Ich zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Okay, was sagt er denn?“ Jaden beobachtete mich neugierig. „Du wolltest dich doch heute mit jemandem in der Stadt treffen, richtig?“ „Ja, warum?“ Eine Kurze Stille folgte, ehe Jadens Mutter weitersprach. „Es ist ihm wirklich wichtig, dass du das Treffen absagst.“ Was? Warum? Erinnert er sich doch an sie? Aber warum jetzt? Er war sich doch ganz sicher, dass er niemanden mit dieser Beschreibung kannte. Und warum will er unbedingt, dass ich das Treffen absage? „Yusei?“ holte mich ihre Stimme wieder in die Realität. „Entschuldige. Hat er irgendeinen Grund genannt?“ Crow deutete ungeduldig in Richtung Tür und Jack ging schon zum Platz. „Nein, aber es war ihm wirklich wichtig, dass ich dir das sage. Bei seiner Entschlossenheit habe ich selbst ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ „Na schön, aber wenn er mir keinen Grund nennen kann, gehe ich trotzdem.“ Wieder folgte eine kurze Stille. Jaden stand vor mir und platzte förmlich vor Neugier. „Pass bitte auf dich auf, Yusei.“ Ich verstand einfach nicht, warum sich die beiden solche Sorgen machen. „Ist gut. Aber ich muss jetzt wirklich zum Training.“ Wir verabschiedeten uns und ich legte auf. Nachdem ich mein Handy in den Spind legte, drehte ich mich wieder zu Jaden, der mich mit einem drängenden Blick ansah. Ich musste lachen und schloss meinen Spind. „Es ging um das Treffen nachher. Mein Vater hat wohl plötzlich doch was dagegen, sagt aber nicht warum.“ Wir verließen die Umkleide. „Aber er hatte doch zugestimmt“ stellte Jaden verwundert fest. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich muss morgen sowieso ins Krankenhaus, da kann ich ihn fragen.“ „Gehst du trotzdem?“ „Klar, was soll schon passieren? Außerdem will ich endlich wissen, wer sie ist und warum sie mich kennt.“ Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte Jaden genau die gleichen Fragen im Kopf. Anscheinend erinnerte sich mein Vater wieder an sie, aber ich konnte mir auf seine Reaktion keinen Reim machen. Durch den Anruf wurde ich selbst ein wenig nervös. ~*~ Ich sah auf die Navigationsapp meines Handys und bog in die nächste Seitenstraße. Auf einem kleinen Platz angekommen, sah ich mich etwas um. In der Mitte des Platzes war ein Springbrunnen und mit etwas abstand standen darum massive Pflanzkübel mit Grünpflanzen. Um mich herum waren einige Geschäfte, darunter auch ein kleines Café. Von außen sah es sehr elegant aus. Durch die großen Fenster konnte man vom Inneren des Lokals allerdings kaum etwas sehen. Dem Schild nach zu urteilen, war ich angekommen. Ich hielt Ausschau nach der Frau, konnte sie aber nicht entdecken. Vielleicht ist sie noch nicht da? Ich bin immerhin 15 Minuten zu früh. Ob ich einfach reingehen sollte? Aber selbst, wenn sie eine Reservierung bekommen hatte, kannte ich nicht ihren Namen. Was sollte ich dem Mann am Empfang schon sagen? Etwas unschlüssig stand ich noch einen Augenblick auf dem Platz, bis ein Anzugtyp mit langen, schwarzen Haaren auf mich zukam. „Sind Sie Yusei Fudo?“ fragte er. Ich nickte verwirrt. Woher kennt der Typ mich? „Fujigawa-sama ist bereits drinnen. Folgen Sie mir bitte.“ Fujigawa? Ich hatte den Namen schon einmal gehört, erinnerte mich aber nicht mehr an den Zusammenhang. Immer noch perplex folgte ich ihm in das Innere des Cafés. Der Mann am Empfang verbeugte sich knapp vor uns, ehe wir eintraten. Jetzt verstand ich, warum alle so einen Wirbel um dieses Lokal gemacht hatten. Es erinnerte stark an eines dieser angesagten Maidcafés. Die Tische waren bis auf den letzten Platz belegt und es herrschte reges Treiben. Die Dekoration des Raumes bewegte sich auf einem schmalen Grad zwischen elegant und kitschig. Die Kellner in ihren eng geschnittenen Anzügen und die Kellnerinnen in ihren schwarzen Rüschenkleidern, liefen mit ihren befüllten Tabletts zu den Tischen. Die Nachspeisen darauf waren wirklich liebevoll und detailliert verziert, selbst die Getränke hatten Unmengen an süßer Dekoration. Der Mann führte mich eine Wendeltreppe hinauf. Hier oben war ebenfalls alles belegt, aber die Atmosphäre war eine andere. Die Stimmung war genauso fröhlich wie im Erdgeschoss, aber es wirkte Alles in allem ruhiger. Wir gingen auf ein weiter hinten gelegenes Separee zu, das man mit schweren Vorhängen abtrennen konnte. Der dicke, rote Samtstoff war allerdings zurückgebunden, sodass man in die geräumige Nische blicken konnte. Dort entdeckte ich sie. Die ältere Frau hatte ihre Hände ineinander verschränkt und sah aus dem großen Fenster. Vor ihr stand eine leere Tasse. Der Mann räusperte sich. „Fujigawa-sama?“ Langsam löste sie sich von dem Anblick und sah uns an. Ihr Blick ruhte einen Moment auf mir und, wie schon beim letzten Mal, konnte ich ihn einfach nicht deuten. „Hallo, Yusei“ sagte sie, und ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Setz dich doch.“ Während ich ihrer Einladung zögerlich nachkam, und mich ihr gegenübersetzte, wandte sie sich an den Mann. „Ich danke dir, du kannst dir eine Pause gönnen. Ich melde mich später.“ Der Mann verbeugte sich und verließ das Separee. Ihr Blick ruhte wieder auf mir, doch keiner von uns beiden sagte etwas. Ich war plötzlich so nervös. Ich hatte mir gar nicht überlegt, wie ich das Gespräch am Besten beginnen sollte. Sollte ich sie einfach direkt fragen? Doch sie nahm mir diese Entscheidung ab. „Du bist deinem Vater wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten“ sagte sie plötzlich. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Ihr Lächeln wurde etwas breiter. „Aber die Augen hast du von deiner Mutter*.“ „Sie kannten meine Mutter?“ Für einen kurzen Moment senkte sie ihren Blick und seufzte lautlos. „Besser als du denkst, aber nicht so gut, wie ich es gern von mir behaupten wollen würde.“ Was? Diese rätselhaften und vagen Aussagen verwirrten mich nur noch mehr. Ich wollte einfach nur wissen, wer sie ist! „Woher kennen Sie meine Eltern? Und mich? Entschuldigen Sie, aber ich kann mich wirklich nicht erinnern, Sie je gesehen zu haben.“ „Ich weiß, du hast viele Fragen, Yusei. Und ich werde sie dir beantworten, das habe ich versprochen. Aber ich habe dir bereits gesagt, dass es eine etwas längere Geschichte wird.“ Meine Anspannung nahm allmählig zu. Ich hatte unzählige Fragen und endlich würde ich Antworten bekommen. * Die Sicht von Jaden * Ich sah zum wiederholten Mal auf die Zeitanzeige meines Handys. Langsam sollte er doch fertig sein, schließlich ist es schon fast drei Stunden her, seit er sich mit dieser Frau getroffen hatte. Wie kann denn ein Gespräch so lange gehen? Vielleicht hat er auch einfach vergessen sich bei mir zu melden. Dabei wollte er mir nach dem Treffen davon erzählen. Allerdings kann ich mir das nicht vorstellen. Er ist normalerweise immer ziemlich zuverlässig und vergisst sowas nicht. Ein dezentes Klopfen hallte durch mein Zimmer. Ruckartig sah ich auf. „Ja?“ Langsam betrat meine Mutter das Zimmer und musterte mich. „Hey, mein Spatz. Hat Yusei schon Bescheid gegeben?“ Ich sah sie etwas verwirrt an und schüttelte den Kopf. Warum macht sie sich denn jetzt Gedanken? „Verstehe. Ich wollte dich auch gar nicht stören“ sagte sie und wollte schon den Raum verlassen. „Warte!“ Überrascht drehte sie sich zu mir. „Warum war Yuseis Vater eigentlich gegen das Treffen?“ „Ich weiß es nicht“ gestand sie. „Allerdings hatte er kurz vorher Besuch. Ich vermute mal von dieser Frau, denn er war danach ziemlich wütend. Er kennt sie, wollte mir aber nichts sagen.“ „Ich versteh trotzdem nicht, warum er dann so sauer ist.“ „Einige Menschen aus der Vergangenheit will man eben nicht mehr sehen. So ist das manchmal.“ „Hm.“ Ich fand die Antwort eher unbefriedigend. Was soll die Frau schon gesagt oder gemacht haben, dass Yuseis Vater so sauer ist und das Treffen verbieten wollte? An Yuseis Stelle hätte ich genauso gehandelt. Der Klingelton meines Handys holte mich wieder in die Realität. Ich sah auf das Display. „Yusei“ murmelte ich und entsperrte den Bildschirm. Meine Mutter stand immer noch im Türrahmen „Was sagt er denn? Geht es ihm gut?“ „Warte doch mal“ sagte ich gedankenverloren. „Ja, er ist gerade zu Hause angekommen, aber ziemlich müde.“ Schade, heute sagt er mir wohl nichts. Meine Mutter atmete er leichtert auf. „Na, die Hauptsache ist doch, dass es ihm gut geht. Mach dir keine Gedanken, mein Spatz.“ ~*~ Am nächsten Tag sah ich Yusei in der Schule kaum. Erst in der Mittagspause konnten wir uns wirklich unterhalten, allerdings nicht ungestört, denn unsere Freunde waren auch dabei und Jack sprach ihn auf das Treffen an. „Wie lief dein Blind Date?“ Aki musterte Yusei überrascht. „Welches Blind Date?“ „Sehr witzig“ überging er Akis Frage und seufzte lautlos. „Es war wirklich seltsam, anders kann ich es nicht beschreiben.“ Als er keine Anstalten machte weiterzureden, bohrte Carly weiter nach. „Und wer war sie jetzt nun?“ „Ja, erzähl schon! Und wart ihr wirklich im Magidolce?“ Anscheinend hielt es Alexis auch nicht mehr aus. „Ja, aber im oberen Stockwerk.“ „Echt?!“ platzte es aus Crow. „Wie hat sie das denn angestellt?“ Aki sah zu Crow. „Wow, wir kamen da nur mit den Beziehungen meiner Mutter hin.“ „Du hast Carlys Frage übergangen“ bemerkte Jack. „Ihr Name war Kazuko Fujigawa.“ „Warte mal“ überlegte Carly. „Den Namen hab ich irgendwo schonmal gehört.“ Yusei lächelte müde. „Kein Wunder. Du hast ihn wahrscheinlich gelesen, als du den Artikel über meine Mutter gefunden hast.“ „Wie meinst du das?“ fragte Alexis. „Fujigawa… war ihr Mädchenname.“ Carly schlug ihre Faust in ihre flache Hand. „Stimmt! In einem der Artikel ging es um ihre Eltern!“ „Warte mal!“ mischte ich mich ein. „Bedeutet das, du hast dich gestern mit deiner Oma getroffen?“ Ein zögerliches Nicken war seine Antwort. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Er sagte doch mal, dass sein Vater seine einzige leibliche Familie ist. „Aber du hast doch gesagt du kennst die Frau nicht, oder hab ich das falsch verstanden?“ sagte Crow verwundert. „Ich kenne sie auch nicht.“ „Wie geht das denn?“ Yusei seufzte. „Mein Vater hat mir mal erzählt, dass meine Mutter von ihren Eltern verstoßen wurde, als sie ihn geheiratet hat. Sie haben sich danach nie wieder gemeldet, ich konnte sie also gar nicht kennen.“ Das warf mehr Fragen auf als es beantwortete. „Und warum taucht sie so plötzlich auf? Das ist doch Jahre her.“ Yusei sah mir einen Augenblick lang in die Augen und deutete ein Schulterzucken an. Ich sah ihm an, dass er vor den anderen nicht darüber reden wollte. Verständlich. Das war ein ziemlich sensibles Thema für ihn. Ich wüsste nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich mein ganzes Leben lang der Auffassung wäre, meine Familie bestünde nur aus meinen Eltern und mir. Und wenn nach dem Tod meiner Mutter plötzlich eine weitere, noch lebende, Verwandte auftauchen würde, hätte ich keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Ob er es mir unter vier Augen erzählen würde? „Oh man, du hast echt ne seltsame Familie“ bemerkte Crow und bekam sofort einen bösen Blick von Alexis ab. Feinfühlig war er eben noch nie. „Gut möglich“ erwiderte Yusei mit einem schiefen Lächeln. Weiterreden wollte er über das Thema also nicht mehr. Auch Jack schien den Wink zu verstehen. „Wie auch immer. Hast du jetzt eigentlich die finale Aufstellung für morgen, Jaden?“ Aki stöhnte genervt auf. „Das darf doch nicht wahr sein! Schon wieder Fußball?“ Ich musste unweigerlich lachen und auch meine Freunde stimmten mit ein. Selbst Yusei schien die Sache komisch zu finden und lachte leise. ~*~ Nach der Schule vertrieb ich mir die Zeit noch mit Jim, bis der Tanzklub vorbei war. „Schon aufgeregt?“ fragte ich verschmitzt und sah zu, wie Jim rot wurde. „Hör mir bloß auf!“ Ich lachte. „Jetzt mach bloß keinen Rückzieher, du hast sie doch schon ewig um ein Date bitten wollen!“ „Mach ich nicht! Ich bin nur nervös“ sagte er kleinlaut und blickte verlegen zur Seite. „Was habt ihr eigentlich vor?“ „Naja, zuerst dachte ich an Kino, aber das war mir zu klischeehaft.“ Eine kurze Pause folgte. „Und was machst du stattdessen?“ hakte ich weiter nach. „Rollschuh fahren.“ Ich unterdrückte mehr oder weniger erfolgreich ein Auflachen. „Du und Rollschuhe?“ „Hey, ich bin vielleicht kein Profi, aber es macht Spaß… Und ich dachte, es wäre etwas einfallsreicher als Kino.“ „Hast schon recht, aber verletz dich nicht, wir brauchen dich morgen“ scherzte ich. Jim grinste. „Zur Not kann doch Leo für mich einspringen. Sein Bein ist wieder verheilt und er hat das Go von seinem Arzt bekommen.“ „Schon, aber wir müssen es ja nicht darauf anlegen“ gab ich mit einem Zwinkern zurück. „Hey, Jim“ hörten wir Akis Stimme und drehten uns zu ihr. „Das ging ja schnell“ bemerkte ich. „Ich dachte, der Klub würde länger dauern.“ „Sensei Tredwell hat durchgezogen, dadurch waren wir schneller fertig.“ „Können wir?“ fragte Jim. Von seiner Nervosität schien nicht mehr viel übrig zu sein, oder er versteckte sie gut. Aki nickte zufrieden und wir verabschiedeten uns. Ich machte mich schnell auf den Weg ins Musikzimmer, um Yusei noch abzupassen. Im Gang kam mir Sensei Tredwell entgegen, die mir zur Begrüßung zunickte. Ob Yusei überhaupt noch da ist, wenn sie schon geht? Allerdings wurde meine Frage schnell beantwortet. Ich hörte Klaviermusik aus dem Zimmer, also war er wohl noch da. Dort angekommen, blieb ich schmunzelnd im Türrahmen stehen. Er war wie immer in seiner eigenen Welt, wenn er spielte. Irgendwoher kannte ich die Melodie. Sie war wirklich schön. Weder glücklich, noch traurig. Irgendwas dazwischen. Ich glaube, Yusei hatte sie mir mal vorgespielt, aber an den Titel konnte ich mich nicht genau erinnern. Irgendwas mit Fluss. Langsam ging ich auf ihn zu, und hoffte, ihn nicht zu erschrecken. Anscheinend bemerkte er mich, denn er sah kurz auf und lächelte, ehe er seine Augen wieder schloss und sich auf die Musik konzentrierte. Ich setzte mich zu ihm und schloss ebenfalls für einen Moment die Augen. Diese Melodie war wirklich schön. Während die letzten Klänge durch den Raum hallten, sah er wieder auf. „Spielt ihr das bei der Weihnachtsaufführung?“ fragte ich. „Nein, ich hatte nur gerade Lust darauf. Hätte ich allerdings gewusst, dass du auf mich wartest, wäre ich gleich rausgekommen.“ Ich grinste. „Dann hätte ich aber verpasst, wie du spielst!“ Das entlockte ihm einen belustigten Laut. „Also“ setzte ich an und musterte ihn. Ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden. „Was ist los mit dir?“ Wieder legte sich dieses melancholische Lächeln auf seine Lippen und er sah zu den Tasten des Klaviers. „Du kennst mich zu gut“ sagte er und sah wieder auf. „Ich weiß nur nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Schließlich hat sie sich 20 Jahre lang nicht gemeldet und plötzlich taucht sie nach dem Tod meiner Mutter in meinem Leben auf, obwohl sie sich vorher scheinbar nicht für mich interessiert hat?“ „Hat sie dir einen Grund genannt?“ „Sie würde mich gern kennen lernen. An meinem Leben teilhaben. Und an dem meines Vaters. Warum sie ausgerechnet jetzt auftaucht hat sie nicht wirklich beantwortet. Ihr Mann ist wohl kurz nach meiner Mutter an einem Herzinfarkt gestorben. Er war schon fast 80. Vielleicht hat sie jetzt einfach niemanden mehr.“ „Keine Ahnung, aber ist das nicht egoistisch? Ich meine, sie hat ihre eigene Tochter verstoßen. Macht sie das jetzt nur für ihr Gewissen?“ Yusei schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Sie schien wirklich verzweifelt. Ihre Seite der Geschichte war, dass ihr Mann meine Mutter verstoßen hat, und sie sich nicht gegen ihn gestellt hat. Sie hatte Angst vor ihm. Das bereut sie wohl. Sie hat mir sogar einige Briefe und Fotos gezeigt.“ „Welche Briefe denn?“ Seine Mundwinkel zuckten etwas nach oben. „Immer an meinem Geburtstag hat sie einen Brief von meiner Mutter bekommen und wurde so auf dem Laufenden gehalten. Sie wusste ziemlich viel über mich und meinen Vater.“ Ich fand das alles trotzdem merkwürdig. „Und was machst du jetzt?“ „Ich weiß es nicht“ seufzte er und lehnte sich an meine Schulter. „Was spricht dagegen sie kennenzulernen? Immerhin gehört sie zur Familie, egal was passiert ist.“ Ich legte einen Arm um ihn und lehnte meinen Kopf auf seinen. „Stimmt zwar, aber was ist mit deinem Vater? Anscheinend hat er was dagegen.“ „Vielleicht weiß er nicht, dass ihr Mann meine Mutter verstoßen hat. Vielleicht denkt er, es wäre ihre Schuld gewesen. Keine Ahnung, ich würde sie auf jeden Fall gern kennenlernen.“ Ich lachte kurz auf. „Klingt doch, als hättest du deinen Entschluss schon gefasst.“ Ich hatte zwar irgendwie ein mulmiges Gefühl bei der Sache, aber die Hauptsache war, dass es ihn glücklich machte. Ich hörte ein leichtes Lächeln in Yuseis Stimme. „Stimmt wohl. Jetzt muss ich es ihm nur noch beibringen.“ Kapitel 26: Familie ------------------- Wieder wanderte ich durch die Gänge des Krankenhauses. Diese Wände waren mir mittlerweile viel zu vertraut. Aber bald hatte das alles ein Ende. Nur noch zwei Wochen, dann soll mein Vater entlassen werden. Nach meinem Gespräch mit Doktor Arisawa wollte ich zu ihm. Ich wollte wissen, warum er so gegen dieses Treffen mit meiner… Großmutter war. Allein der Gedanke, dass ich tatsächlich noch Verwandtschaft, außer meinem Vater, hatte, war befremdlich. Auf der anderen Seite war ich glücklich darüber, dass es so war. Vielleicht wollte ich auch nur die ganze Geschichte kennen. Ich wollte mir selbst ein Urteil über diese Frau bilden, doch dafür musste ich beide Seiten kennen. Noch einmal atmete ich tief durch, ehe ich an der Tür meines Vaters klopfte. Zu meiner Überraschung bekam ich keine Antwort. Ich sah durch die Lamellen am Fenster, doch konnte ich ihn nicht im Zimmer entdecken. Wo ist er? „Suchst du Hakase?“ fragte mich plötzlich eine helle Stimme. Ich fuhr herum und sah eine Krankenschwester vor mir, die mir freundlich zulächelte und auf eine Antwort wartete. „Ja, wissen Sie wo er ist?“ Sie nickte. „Er ist im Gemeinschaftsraum. Du gehst einfach den Gang entlang, auf der rechten Seite kommt eine Doppeltür. Du kannst sie nicht verfehlen.“ Ich bedankte mich und folgte ihrer Beschreibung. Seltsam. War er vorher jemals außerhalb seines Zimmers, wenn er nicht gerade eine Behandlung hatte? Kurze Zeit später trat ich durch eine Doppeltür und sah mich etwas um. Im Raum verteilt standen einige Tische, an denen mehrere Patienten saßen. Einige spielten Brettspiele, einige unterhielten sich einfach nur. An einer Seite des Raumes sah ich zwei Krankenpfleger, dessen Blicke über die Patienten schweiften. Der Raum war erfüllt von verschiedenen Stimmen, die angeregt miteinander redeten. Etwas abseits, am Fenster, entdeckte ich meinen Vater allein an einem der kleinen Tische sitzen. Als ich auf ihn zuging, zuckten meine Mundwinkel etwas nach oben. Er saß vor einem Schachbrett und spielte schon wieder eine Partie mit sich selbst. Das hatte er früher oft gemacht, wenn er nachdenken wollte. Irgendwie war ich erleichtert über diesen Anblick. Es hatte schon fast etwas von Normalität. „Kann ich mich dazusetzen, oder störe ich dich bei deiner Grübelei?“ fragte ich und setzte ein Lächeln auf. Er sah überrascht auf. „Oh, was machst du denn schon hier?“ „Schon?“ lachte ich und setzte mich ihm gegenüber. „Es ist schon nach fünf.“ Sein Blick wanderte zu der Wanduhr. „Entschuldige, ich habe wohl die Zeit vergessen“ sagte er und grinste schief. Ich winkte ab. „Kein Problem. Über was denkst du denn nach?“ „Die Übermacht der Dame“ antwortete er knapp und stellte die Figuren wieder in ihre Ausgangsposition. „Was meinst du damit?“ „Nicht so wichtig“ sagte er und nahm sich zwei Bauern unterschiedlicher Farbe. „Lust auf ein Spielchen?“ „Wozu, wenn der Ausgang schon klar ist?“ fragte ich missmutig. In all den Jahren hatte ich nie gegen ihn gewonnen. „Seit wann gibst du schon vor dem Anpfiff auf?“ „Komm mir jetzt nicht mit Analogien.“ Er lachte und hielt mir seine geschlossenen Hände hin. Ich seufzte. „Rechts.“ Seine rechte Hand öffnete sich. „Weiß“ sagte er und stellte die Figuren wieder hin. „Dein Zug.“ „Na schön“ sagte ich und setzte meinen Springer nach vorn. Er setzte seinen Bauern und befreite so seinen König. Verdammt. „Du bist doch Taktiker“ sagte er. „Wie kommt es dann, dass du denselben Eröffnungsfehler immer wieder machst?“ „Ich habe eben ewig nicht gespielt“ verteidigte ich mich und setzte den nächsten Bauern. „Naomi hat mich gestern übrigens angerufen.“ Er baute seine Verteidigung weiter aus. „Ich weiß. Entschuldige, aber ich kann hier drin ja nicht telefonieren.“ „Ja, aber was sollte das? Du kanntest doch meinen Standpunkt.“ „Du hast dich also mit ihr getroffen“ schlussfolgerte er. In seiner Stimme konnte ich seine Verärgerung heraushören, auch wenn er versuchte sie zu verstecken. Ich nickte, ging in den Angriff über und schnappte mir seinen Springer. „Warum wolltest du nicht, dass ich mich mit ihr treffe?“ „Ich wollte dich nur beschützen“ sagte er und schlug meinen Läufer. Ich nahm seinen Bauern an mich und stellte ihn ins Schach. „Ich bin alt genug, du brauchst mich nicht immer beschützen wollen.“ „Du kennst sie nicht“ sagte er und brachte seinen König in Sicherheit. Wieder brachte ich ihn ins Schach. „Natürlich nicht, aber sie hat mir alles erzählt. Ich verstehe nur nicht, warum du so sauer auf sie bist.“ Natürlich befreite er sich aus der Situation. „Ich bin gespannt. Was hat sie denn gesagt?“ Ich seufzte. Wie kann ich denn drei Stunden Gespräch kurz zusammenfassen? „Sie hat sich für alles entschuldigt und war wirklich nett. Sie wollte Mama damals nicht verstoßen, aber sie hatte Angst vor ihrem Mann, deswegen hat sie sich nicht gegen ihn gestellt.“ „Sie hatte Angst um ihre Position“ unterbrach er mich. „Dame auf A5, Schach.“ Wie kann man nur so stur sein? Ich tauschte meinen König gegen den Turm. „Was macht dich da so sicher?“ „Sie ist eine durchtriebene Schlange, die sich darauf versteht, andere durch ihre Lügenkonstrukte zu manipulieren.“ Ich sah ihn überrascht an. So feindselig kannte ich meinen Vater gar nicht. Er verstand sich doch sonst immer mit fast allen Leuten und ich hatte ihn noch nie schlecht über andere reden hören. „Was hat sie getan, dass du dir da so sicher bist?“ Irgendwas musste doch dahinterstecken. „Das ist eine lange Geschichte, die Details will ich dir ersparen. Als ich deine Mutter damals kennenlernte, dachte ich wie du. Ihr Vater versteckte seine Missachtung für mich nicht. Ihre Mutter hingegen hatte nichts gegen unsere Beziehung. So dachte ich zumindest. Aber sie war es, die Miako damals das Ultimatum gesetzt hatte.“ „Was macht dich da so sicher?“ fragte ich zögerlich. Natürlich wusste ich, dass sich ihre Geschichten nicht decken würden, aber damit hatte ich nicht gerechnet. „Deine Mutter hat es mir unter Tränen selbst gesagt. Ich verstand die Welt nicht mehr und habe Kazuko zur Rede gestellt. Sie hat natürlich alles abgestritten und ihr Mann sagte zu der ganzen Sache nur, dass er seine Frau in dieser Entscheidung unterstützen wollte. Ich war verzweifelt und habe mit deiner Mutter gesprochen. Ich wollte nicht, dass sie wegen mir ihre Familie aufgibt, aber sie hat nicht gezögert und sich letztendlich dazu entschieden bei mir zu bleiben. Kurz darauf wurde die Drohung wahr und sie wurde von ihren Eltern verstoßen. Wir zogen von Tokio nach Osaka. Ihr hat das Ganze fast das Herz zerrissen. Egal was sie getan haben, sie waren noch immer ihre Eltern und sie liebte sie. Ganz darüber hinweggekommen ist sie vermutlich nie.“ „Aber… was ist, wenn sie nicht gelogen hat? Vielleicht hat Mama sie nur falsch verstanden.“ Er seufzte. „Sei bitte nicht so naiv, Yusei. Glaubst du wirklich, deine Mutter hätte mir das erzählt, wenn sie nicht wirklich ganz sicher gewesen wäre?“ Ich senkte den Blick. Was soll das ganze bedeuten? Mein Vater hatte keinen Grund mich anzulügen, das hatte er bisher nie getan, aber ich war mir so sicher, dass diese Frau mir die Wahrheit gesagt hatte. „Was hat sie dir eigentlich gesagt als sie dich besucht hat?“ fragte ich leise. Mein Vater machte seinen nächsten Zug. „Sie wollte sich bei mir entschuldigen, aber ich habe sie rausgeschickt. Was sie damals getan hat, lässt sich nicht so einfach vergeben.“ Ich sah auf das Spielfeld. Was sollte ich von der Situation nur halten? Ich war eingekesselt. „Weißt du… Ich glaube wirklich, dass sie das Ganze bereut.“ „Selbst wenn du mit deiner Vermutung richtig liegst, kann ich ihr nicht verzeihen. Sie hat versucht unsere Beziehung zu zerstören und deiner Mutter das Herz gebrochen. Könntest du ihr an meiner Stelle vergeben?“ Ich sah noch immer auf das Spielfeld. Könnte ich ihr verzeihen? Ich wollte wirklich, dass mein Vater unrecht hatte. „Hast du nicht mal selbst gesagt, dass Familie das Wichtigste ist?“ fragte ich und setzte meinen Turm, um den König zu schützen. „Was mich betrifft, gehört sie nicht zur Familie“ sagte er kalt und setzte seinen König in den Angriff. „Für mich schon“ erwiderte ich und sah auf. Mein Vater blickte mir einen Moment tief in die Augen. Seine Gesichtszüge wurden angespannt. „Ich kann dich nicht aufhalten, Yusei. Nur warnen. Wenn du sie wirklich kennenlernen willst, bitte. Aber erwarte nicht, dass wir plötzlich heile Familie spielen können. Ich traue ihr nicht. Das habe ich vielleicht früher, aber ich kann das nicht mehr.“ Wieder mied ich seinen Blick. Er war in seiner Meinung einfach zu festgefahren. Er war verletzt. Vielleicht hatte er wirklich recht, und es war eine schlechte Idee sie näher kennenzulernen, aber vielleicht lag er auch falsch. Plötzlich fiel mir etwas auf und ich sah meinen Vater ernst an. Ich wollte daran glauben, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Ein Lächeln legte sich plötzlich auf seine Lippen. „Du hast ein gutes Herz, mein Junge. Pass nur auf, dass dir das nicht mal zum Verhängnis wird.“ „Ich glaube daran, dass Menschen sich ändern können“ sagte ich bestimmt und setzte meine Dame vor seinen König. „Schachmatt.“ ~*~ Ich wusste noch immer nicht, was ich von all dem halten sollte. Aber selbst wenn es wahr sein sollte, was mein Vater gesagt hatte, war ich dennoch sicher, dass sich Menschen ändern konnten. Unangenehm an der ganzen Sache war nur, dass ich zwischen zwei Stühlen stand. Ich wollte mich nicht auf die Seite meines Vaters oder meiner Großmutter stellen. Im Idealfall würden sich die beiden einfach verstehen, aber mir fiel einfach nicht ein, wie ich das anstellen sollte. Ich musste mir irgendwas überlegen. Am nächsten Tag sammelte sich meine Mannschaft pünktlich auf dem Fußballplatz hinter unserer Schule. Anders als bei unseren bisherigen Spielen, waren die Tribünen tatsächlich gut gefüllt. Selbst Sensei Ushio stand am Spielfeldrand, um uns zuzusehen. „Wer hätte das gedacht“ sagte Crow breit grinsend. „Da müssen wir erst kurz vor der Regionalmeisterschaft stehen, ehe sich die anderen mal für eines unserer Spiele interessieren.“ „Erhöht irgendwie den Druck, meint ihr nicht?“ bemerkte Aster unsicher. Jaden klopfte ihm mit etwas zu viel Schwung gegen die Schulter. „Mach dir doch keinen Kopf. Wir sind top vorbereitet!“ „Jaden hat recht“ meldete sich Jack zu Wort. „Die Pfeifen stecken wir locker in die Tasche.“ Ich war mir da nicht so sicher wie Jack. Einer der Spieler kam mir von der letzten Regionalmeisterschaft bekannt vor. Jim wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Hallo, Erde an Yusei?“ „Hm?“ Auch die anderen sahen mich verwundert an. „Warum starrst du die andere Mannschaft so an?“ fragte Hiroshi. „Die Nummer 10“ sagte ich und mir fiel wieder ein, wann ich gegen ihn angetreten war. „Ich habe vor zwei Jahren im Finale gegen ihn gespielt.“ „Die Mannschaft war im Finale?“ fragte Aster. Man sah ihm an, dass seine Nervosität zunahm. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nur die Nummer 10.“ „Na und?“ meinte Jaden und drehte sich zu Aster. „Yusei war doch auch im Finale und seine Mannschaft hat gewonnen.“ „Auf welcher Position war er denn?“ fragte Jack. „In der Abwehr, aber er hat sich irgendwie verändert.“ „Inwiefern?“ „Keine Ahnung. Wachstumsschub? Ich hätte schwören können, er war kleiner und schmaler, aber ich kann mich auch irren.“ Auch er sah zu mir rüber und sein Blick wurde ernst. Ob er mich auch erkannt hat? „Wie hat er denn gespielt?“ fragte Ohara. Ich zuckte mit den Schultern. „Ganz gut. So viel kann ich über ihn nicht sagen, er wurde erst im letzten Drittel der zweiten Halbzeit eingewechselt, weil sich sein Vorgänger beim Zweikampf mit Kalin verletzt hat.“ „Na toll, dann hat er einen Vorteil“ bemerkte Leo. „Was meinst du?“ fragte Crow. Jim verzog das Gesicht. „Das bedeutet, dass er Yuseis Spiel kennt, aber andersrum nicht.“ „Jetzt kommt mal runter“ lachte Jaden. „Das war vor zwei Jahren. Lasst euch doch nicht von einem einzigen Abwehrspieler so verrückt machen.“ „Sag mal, Aster“ sagte Leo und deutete in die Richtung der Tribünen. „Ist das da nicht deine Familie?“ Unsere Blicke wanderten zu den Plätzen und wir entdeckten zwei sehr liebevoll gestaltete und extrem auffällige Plakate, die von vier euphorischen Personen hochgehalten wurden. Aster knallte seine flache Hand gegen die Stirn, während der Rest sich ein Lachen verkniff. „Oh Mann!“ „Ist doch süß“ sagte Jim und versuchte angestrengt sich zu beherrschen. Als Antwort bekam er einen verzweifelten Blick. „Du hast gut reden, deine Eltern benehmen sich nicht so peinlich!“ In dem Moment konnten sich Jaden und Crow nicht mehr zurückhalten und lachten schallend los. „Nimm das nicht so schwer“ sagte ich aufmunternd. „Sie freuen sich nur für dich. Meine Eltern haben sich beim Finale ähnlich aufgeführt.“ „Das ist was anderes“ meinte er verzweifelt. „Das war das Finale. Zumindest benehmen sie sich heute nicht so!“ Für einen kleinen Moment verschwand meine gute Laune. Auch wenn ich mich mit meiner Situation abgefunden hatte, war der direkte Vergleich zu meinen Freunden doch schmerzhaft. „Nein, da hast du recht“ murmelte ich. Jaden trat an meine Seite, lächelte aufmunternd und drückte einen Augenblick lang meine Hand. Ich schmunzelte. Er hatte recht. Ich war nicht allein mit meiner Situation. Er, seine Familie und meine Freunde waren bei mir. „Anscheinend geht es los“ bemerkte Jack und wir nahmen unsere Positionen ein. Zu meiner Überraschung saß der Typ mit der Nummer 10 auf der Bank. Entgegen meiner Erwartung hatten Crow und Jack absolut recht mit ihrer Prognose. Wir machten unsere Gegner in der ersten Hälfte der ersten Halbzeit regelrecht fertig. Sie kassierten fünf Tore, vier davon durch mich, während sie es nicht schafften durch unsere Abwehr zu kommen. In der zweiten Hälfte wurde die gegnerische Nummer 10 eingewechselt. Sein Spiel war aggressiv, aber immer noch regelkonform, sodass der Schiedsrichter die Tackles nicht pfeifen konnte. Er machte es Jaden und mir wirklich schwer durchzukommen, aber ein Tor konnten wir bis zur Halbzeit trotzdem noch schießen. Als der Pfiff ertönte, erkannte ich, warum die Nummer 10 erst in der zweiten Hälfte eingewechselt wurde. „Er hat keine Kondition“ sagte ich zu den anderen. Auch Jack und Crow warfen ihm einen Seitenblick zu. „Stimmt, der ist komplett aus der Puste.“ „Wahrscheinlich werden sie ihn die erste Hälfte wieder nicht spielen lassen“ schlussfolgerte Jaden. Jack verschränkte seine Arme vor der Brust. „Ist das nicht egal? So wie die spielen, machen wir sie ohnehin haushoch fertig. Den Vorsprung holen die nie auf.“ „Stimmt schon“ bestätigte ich seine Aussage. „Um uns für die Regionals zu qualifizieren, brauchen wir nur drei Punkte Vorsprung. Aktuell haben wir sechs.“ Jaden sah mich zuversichtlich grinsend an. „Großartig, nicht? Aber unsere Wertung wird besser, wenn wir ein paar mehr schaffen. Wenn der Kerl wieder eingewechselt werden sollte, lass uns die Positionen tauschen.“ Ich sah ihn fragend an. „Warum?“ „Der Kerl hat sich auf dich eingeschossen. Du hast einfach zu viele Punkte gemacht. Wenn er aber mich decken muss, kommst du besser durch.“ „Klasse“ grinste Crow. „Dann lasst uns die Typen fertig machen!“ Auch die anderen stimmten freudig zu. Anders als Jaden erwartet hatte, saß die Nummer 10 in der ersten Hälfte nicht auf der Bank, sondern stellte sich gleich in die Startaufstellung. Als er auf den Platz kam, warf er mir einen finsteren Blick zu. Etwa nur, weil ich ein paar Tore geschossen hatte? „Du hast recht“ sagte ich als Jaden auf mich zukam. Auch er sah kurz zu dem Kerl. „Sag ich doch. Hattet ihr damals irgendeine Auseinandersetzung?“ „Nicht, dass ich mich erinnern könnte“ überlegte ich laut. Jaden zuckte nur mit den Schultern und grinste. „Ist eh nur noch die eine Halbzeit und es steht 6:0 für uns, die machen wir fertig!“ Ich nickte schmunzelnd und wir wechselten unsere Positionen. Jaden hatte recht. In der kurzen Zeit war es so gut wie unmöglich, dass sie diesen Vorsprung aufholen könnten. Ihr Angriff war einfach zu schlecht. Kurz nach dem Pfiff war ich wieder im Ballbesitz und stürmte auf das gegnerische Tor zu. Ich ließ den ersten Abwehrspieler hinter mir, sah kurz nach rechts und riss erschrocken die Augen auf. Der Typ mit der Nummer 10 hatte seine Position verlassen und kam mit einer ziemlichen Geschwindigkeit auf mich zu. Um noch zu reagieren, war es bereits zu spät. Plötzlich spürte ich einen dumpfen Kopfschmerz und im nächsten Moment war alles schwarz. Ich sah Sternchen vor meinen Augen und fühlte, dass ich fiel. Alles drehte sich. Ich konnte nichts machen. Im nächsten Moment landete ich auf dem harten Boden. Ich hörte ein Knacken und ein unglaublicher Schmerz durchzog meinen Körper. Mir blieb die Luft weg. Verschwommen erkannte ich den grünen Rasen unter mir. Ein schriller Pfiff ertönte. Er war unerträglich laut. Ich stützte mich mit meinem rechten Arm am Boden ab und versuchte aufzustehen. Der Schmerz ließ mich die Augen zusammenkneifen und ich zog scharf die Luft ein, krallte meine Finger in das weiche Gras. Keine Ahnung was schlimmer war. Die Kopfschmerzen oder diese Schmerzen in meiner linken Schulter. Etwas benommen versuchte ich mich aufzusetzen, wurde aber im nächsten Moment von jemandem gestützt. Ich unterdrückte weniger erfolgreich einen Aufschrei, denn derjenige versuchte mich an meiner linken Schulter zu stützen und ein erneuter, unglaublicher Schmerz durchzuckte meinen Körper. Jetzt wusste ich was schlimmer war. Schnell zog die Person ihre Hand zurück und ich versuchte die Augen zu öffnen. Jaden kniete vor mir und sah mich erschrocken an. Ich hatte es endlich geschafft mich aufzusetzen und versuchte ihn zu beruhigen. „Schon gut, ist nicht so schlimm“ presste ich hervor, wurde aber vom nächsten Schmerz für meine Lüge gestraft. „Es… tut nur weh, sonst geht’s.“ „Bist du bekloppt?“ brach es aus ihm heraus. Oh Gott, bitte nicht so laut! „Du blutest!“ Was? Ich sah zu meiner Schulter, konnte aber kein Blut erkennen. „Nicht da, über dem Auge!“ Meine Hand wanderte zu meinem Kopf und sofort bereute ich diese unglaublich dämliche Handlung. Ich zuckte zusammen. Es tat verdammt weh. Aber er hatte Recht. Da war Blut an meinen Fingern. „Ist nur eine Platzwunde“ sagte ich. „Die bluten immer so stark.“ Jaden sah ruckartig zur Seite und stand im nächsten Moment auf, um zwei Personen Platz zu machen. Ihrer Kleidung nach Sanitäter. Der eine legte eine Trage neben mir ab. „Meine Beine funktionieren noch“ protestierte ich und machte Anstalten aufzustehen, wurde aber im nächsten Moment durch einen plötzlichen Schwindel daran gehindert. „Das glaube ich sofort, aber du wanderst hier trotzdem nicht rum“ sagte der eine Mann. „Wie heißt du denn?“ „Yusei Fudo.“ Der andere stellte gerade eine Tasche ab. „Hast du starke Schmerzen, Yusei?“ „Geht schon“ presste ich hervor. Zumindest, wenn ich mich nicht bewege. „Kommst du allein auf die Trage, oder brauchst du Hilfe?“ Meine Motivation mich auf dieses Ding zu legen und dann von den beiden vom Spielfeld getragen zu werden, ging gegen Null. Allerdings schaffte ich es nicht mich aufzurichten. So wie ich mich in diesem Moment fühlte, würde ich vermutlich gleich wieder umkippen. Es hatte keinen Zweck. Widerwillig rutschte ich mit der Hilfe von Jaden und den Sanitätern auf die Trage und versuchte meinen verdammten Arm dabei nicht zu bewegen. Ich drehte meinen Kopf etwas zur Seite und sah an dem Typen rechts von mir vorbei. Jack stritt sich gerade mit einem unserer Gegner. Um ihn herum standen Crow, Jim und der Schiedsrichter. Während ich von den beiden vom Spielfeld getragen wurde, schloss ich meine Augen, um zumindest den Blicken der Zuschauer zu entkommen. Kurz darauf war ich im Sanitätsraum der Sporthalle. Dort wartete schon eine Notärztin. Die Sanitäter gaben ihr einen kurzen Abriss der Situation. „Na schön“ sagte sie schließlich und sah mich an. „Wo sind die Schmerzen denn am stärksten?“ Mir dröhnte der Kopf, und meine linke Schulter tat höllisch weh. Also gab ich beides an. Sie nickte. „Schaffst du es, dein Trikot auszuziehen?“ Mit Mühe und Hilfe schaffte ich es, mich aufzusetzen. Als ich mein Oberteil jedoch ausziehen wollte, hob ich unweigerlich meinen Arm dabei an und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. „So wird das nichts“ bemerkte die Ärztin und wies mich an, mich wieder hinzulegen. Drei Schnitte mit der Schere später hatte sie das Problem gelöst. In dieser Situation war mir der Zustand meiner Klamotten herzlich egal. „Die ist ziemlich sicher durch“ murmelte sie einem der Sanitäter zu. Was ist durch? „Ich werde dich jetzt abtasten. Solltest du an irgendeiner Stelle Schmerzen haben, sag bitte Bescheid.“ Ich deutete ein Kopfnicken an. Mir dröhnte zwar nach wie vor der Schädel, aber zumindest wurde es bei Berührungen nicht schlimmer. Die Stelle mit der Platzwunde ließ sie zum Glück aus. Auch meine Schulter fasste sie nicht an, wofür ich ihr still dankte. „Spürst du das?“ fragte sie. Ich spürte eine Berührung an meiner Hand und deutete ein Kopfnicken an. „Welchen Finger berühre ich?“ fragte sie gezielt nach. „Ringfinger“ antwortete ich knapp. „Kannst du deine Hand bewegen?“ Ich versuchte es und ballte meine linke Hand zu einer Faust. „Sehr schön. Wie sieht es mit deinem Unterarm aus?“ Es tat höllisch weh, aber kurz anheben konnte ich ihn. Im Augenwinkel konnte ich sie zufrieden nicken sehen, dann sah sie mich wieder an. „Kannst du mir auf einer Skala von eins bis zehn sagen wie stark die Schmerzen sind? Eins heißt dir geht es gut, zehn bedeutet Gesicht in die Fritteuse gehalten.“ Was für ein Vergleich. Wären die Schmerzen nicht, hätte ich vermutlich darüber gelacht. Ich überlegte kurz. „Sieben.“ Sie lächelte und wies einen der beiden Männer an, mir einen Zugang zu legen. Kurz darauf spürte ich eine Nadel an meinem Handrücken. Sie schlossen irgendeinen Schlauch an, aber wirklich konzentrieren konnte ich mich nicht darauf. Ich hatte das Gefühl, die Kopfschmerzen wurden langsam stärker. Genauso wie das Pochen in meiner Schulter. Vage hörte ich das Gespräch zwischen den Leuten um mich herum. Irgendwas wollten sie mir spritzen. Kerosin… Keta… Ketamin? Mir war so schwummrig. Das andere war Dormammu… Nein, Dormicum. Diese verdammten Kopfschmerzen! „Ich gebe dir jetzt ein Schmerzmittel, dann wird es gleich besser“ sagte der eine Mann plötzlich und ich sah wieder auf. Allmählich verebbten die Schmerzen und ich entspannte mich etwas. Der Mann zu meiner Rechten hielt mir irgendwas gegen die Schläfe. Ich war mit einem Schlag so müde. Über irgendwas unterhielten die anderen sich noch, aber ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren. Irgendwas mit Stabilisieren. Ich wollte einfach nur noch meine Augen schließen. „Yusei?“ Ich sah wieder auf und musste mehrmals blinzeln. Es war einfach zu hell. Im Hintergrund hörte ich ein gleichmäßiges Piepen. Meine Umgebung hatte sich verändert. Ich war nicht mehr in dem Raum in der Sporthalle. Hier war es viel enger. Jaden stand neben mir. Ich konnte den Ausdruck in seinen Augen einfach nicht einordnen. Das Denken funktionierte nur noch träge. Blödes Schmerzmittel. „Geht’s wieder?“ fragte er. „Ja, geht schon“ antwortete ich schläfrig und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass mein Versuch kläglich scheiterte. „Die wollen dich ins Krankenhaus fahren“ sprach er weiter. „Überlass den Rest einfach uns, Leo springt für dich ein.“ Ins Krankenhaus fahren? Bin ich im Rettungswagen? „Okay“ sagte ich und stellte erleichtert fest, dass er ein Lächeln aufgelegt hatte. „Meine Mutter und ich holen dich nach dem Spiel wieder ab, okay?“ Ich deutete ein Nicken an. „Viel Glück“ murmelte ich noch und Jaden gab mir vorsichtig einen Kuss auf die Wange. Ich hörte, wie eine Tür sich schloss. „Die Fahrt dauert nicht lang“ sagte der Mann neben mir. „Im Krankenhaus werden deine Verletzungen versorgt. Deine Schulter muss geröntgt werden und um deine Platzwunde muss sich auch gekümmert werden.“ „Entschuldigen Sie, Sie dürfen hier nicht rein.“ hörte ich eine leise Stimme. „Wer sind Sie?“ Das war der andere Mann. Er war außerhalb des Wagens. Eine andere Stimme antwortete ihm, aber ich verstand sie nicht. Kurz darauf stieg jemand ein und ich sah überrascht zur Seite. „Was machst du denn hier?“ murmelte ich. * Die Sicht von Jaden * In der Notaufnahme wuselten einige Pfleger und Krankenschwestern herum. Ich saß mit meiner Mutter schon über eine halbe Stunde im Wartebereich herum, zusammen mit einem Duzend anderer Leute. Davor hatte es schon eine halbe Ewigkeit gedauert, ehe wir endlich herausgefunden hatten, wo Yusei steckte. Ich hatte echt Angst, als er von diesem Kerl einfach umgenietet wurde und dann für einen Augenblick regungslos am Boden lag. Ich hatte nichts machen können. Ich hatte einfach hilflos neben ihm gestanden, während er von den Sanitätern verarztet wurde. Und jetzt saß ich hier und wartete darauf, dass ich endlich zu ihm konnte. Meine Nervosität brachte mich fast um. „Oh Mann!“ beschwerte ich mich, stand ruckartig auf und erschreckte dabei den älteren Mann neben mir. „Wie lange dauert denn so eine Operation?!“ „Jaden, sei doch bitte nicht so laut!“ wies mich meine Mutter zurecht. Grummelnd setzte ich mich wieder. Sie seufzte. „Ich habe es dir doch schon erklärt. Der Eingriff dauert je nach Behandlungsart bis zu 45 Minuten. Er ist doch erst seit 20 Minuten im OP. Er hatte wirklich Glück, dass überhaupt ein OP-Raum frei war, weil eine andere verschoben werden musste.“ „Schon, aber warum muss er überhaupt operiert werden? Ich denke es ist nur ein Bruch?“ Meine Mutter schüttelte etwas verzweifelt den Kopf. „Du kannst ein Schlüsselbein nicht eingipsen. Es wird eine Platte eingesetzt, damit der Bruch heilen kann. Das habe ich dir doch vorhin schon erklärt.“ „Hat Opa nicht mal die gleiche Verletzung gehabt? Er wurde auch nicht operiert.“ „Ja, aber bei ihm war der Bruch auch nicht verschoben. Und jetzt beruhige dich bitte, du machst mich mit deinem Rumgehüpfe noch ganz nervös. Mal ganz abgesehen von den Leuten um uns herum.“ Mit diesen Worten hob sie wieder ihre Zeitschrift an. Ich sah mich um. Mich starrten tatsächlich einige verwirrte Augenpaare an. Ich versank förmlich in meinem Sitz und kramte mein Handy heraus, um mich etwas abzulenken. So ganz klappte das allerdings nicht. Ich hatte immer noch einen Haufen unbeantworteter Nachrichten von meinem Team, die sich nach Yusei erkundigen wollten. Ich seufzte lautlos und begann endlich damit, sie zu beantworten. Das beschäftigte mich tatsächlich eine ganze Weile. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Ärztin den Wartebereich betrat und einen Namen aufrief, der mich überrascht aufsehen ließ. „Frau Fujigawa, Kazuko?“ Ich brauchte einen Augenblick, um den Namen einzuordnen. Währenddessen stand eine ältere Frau, mit brünetten, hochgesteckten Haaren auf und folgte der Ärztin. „Was macht die denn hier?“ murmelte ich. Und woher weiß sie, dass er hier ist? „Hm?“ Meine Mutter sah von ihrer Zeitschrift auf. „Wen meinst du, Spätzchen?“ „Yuseis Oma.“ Sie zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Er hat doch keine Großeltern mehr.“ Oh, den Teil hatte ich vergessen ihr zu erzählen. „Doch von seiner Mutter. Mit ihr hat er sich vor zwei Tagen getroffen.“ Sie schaute mich gleichzeitig verwirrt und überrascht an. „Mir erzählt wirklich niemand mehr was.“ Ich grinste. „Jetzt sei nicht gleich beleidigt. Er hat es mir auch erst gestern erzählt.“ „Aber wie kann das denn sein? Hakase hat sie bisher mit keinem Wort erwähnt.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Die sind sich wohl nicht ganz grün. Du hast doch seine Reaktion nach ihrem Besuch mitbekommen.“ „Wie geht es Yusei damit?“ „Naja, er will sie kennenlernen, aber sein Vater ist sauer auf sie. Er weiß nicht genau was er machen soll.“ „Hm.“ Sie dachte nach und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. „Er sollte das mit seinem Vater wirklich klären, wenn es ihm wichtig ist. Zur Not kann ich mal mit Hakase reden.“ „Weißt du was mich mehr wundert?“ Sie sah wieder zu mir. „Woher sie weiß, dass er im Krankenhaus ist.“ „Vielleicht war sie bei eurem Spiel dabei. Ich habe vom Spielfeldrand aus eine Frau in den Rettungswagen steigen sehen.“ Ich verzog das Gesicht. „Worauf achtest du eigentlich alles?“ Das entlockte ihr ein Kichern. „Als Mutter braucht man einen Rundumblick. Ohne den hätte ich dich schon wer weiß wie oft im Einkaufszentrum verloren, so oft wie du mir ausgebüxt bist.“ „Jetzt komm mir nicht mit alten Kamellen“ grummelte ich. „Naomi? Jaden?“ Wir sahen auf. Eine der Krankenschwestern stand im Eingang des Wartebereichs und sah uns erwartungsvoll an. Schnell sprang ich auf und lief zu ihr. Meine Mutter folgte mir in ruhigerem Tempo. „Können wir endlich zu ihm?“ fragte ich aufgeregt. Die Frau lächelte. „Ja, es ist alles gut verlaufen. Er ist gerade aufgewacht.“ * Die Sicht von Yusei * Langsam öffnete ich die Augen und versuchte sie an die Helligkeit zu gewöhnen. Ich starrte an eine weiße Decke über mir. Meine Sicht war verschwommen. Wo bin ich? Eine Berührung an meiner Hand. Ich drehte meinen Kopf und spürte ein dumpfes Pochen in meinem Arm. Neben mir stand eine Frau. Meine Sicht war noch immer nicht ganz klar, aber ich erkannte sie. „Mama?“ murmelte ich und blinzelte mehrmals. Ich wollte sie endlich klar vor mir sehen. Sie drückte meine Hand fester und ich schloss für einen Moment meine Augen. Ich hörte, wie eine Tür sich öffnete und kurz darauf wieder ins Schloss fiel. Wieder öffnete ich meine Augen. Jemand kam auf mich zu. Eine Frau in einem weißen Kittel. Eine Ärztin? Bin ich im Krankenhaus? Was ist passiert? Stimmt, das Fußballspiel. Ich wurde umgerannt und ins Krankenhaus gebracht. „Wie fühlst du dich, Yusei?“ fragte die Ärztin. Ich versuchte sie zu fixieren. Meine Sicht wurde besser. „Überfahren“ murmelte ich und hörte ein Lachen. „Kann ich mir gut vorstellen. Weißt du noch was passiert ist?“ „Ja“ sagte ich leise. „Ich wurde beim Spiel gefoult.“ Meine Zunge fühlte sich wahnsinnig schwer an. „Sehr schön. Keine Erinnerungslücken“ bemerkte die Ärztin zufrieden. „Wie sind deine Schmerzen?“ „Ich habe keine.“ Sie nickte zufrieden und schrieb etwas auf. „Wenn die Narkose vollständig nachgelassen hat, werden sicherlich Schmerzen auftreten. Sollten die zu schlimm werden, sag uns Bescheid, dann verabreichen wir dir ein Schmerzmittel. Du musst ein paar Tage auf der Station bleiben. Zum einen wegen der Operation, zum anderen wegen der Gehirnerschütterung.“ „Gehirnerschütterung?“ murmelte ich perplex. „Nichts Schwerwiegendes, keine Sorge. Wir wollen dich zur Sicherheit noch ein, zwei Nächte beobachten. Ich denke spätestens am Montag kannst du hier raus.“ Okay, das war zu viel Information auf einmal. Sie leuchtete mir mit einer kleinen Lampe abwechselnd in ein Auge und hielt das andere zu. Ehe ich sie zusammenkneifen konnte, war es allerdings schon wieder vorbei. Zufrieden betrachtete sie den Monitor neben mir, auf dem ein Haufen Daten standen, dann verließ sie den Raum wieder. Endlich Ruhe. Ich sah wieder neben mich. Entgegen meiner Erwartung stand dort allerdings nicht meine Mutter. Meine Enttäuschung war lächerlich. Sie konnte gar nicht neben mir stehen. „Du siehst ihr wirklich ähnlich“ murmelte ich. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Danke für das Kompliment. Ich hatte einen Augenblick lang Angst du hältst mich tatsächlich für Miako.“ „Warst du bei dem Spiel dabei?“ „Ja, das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich muss aber gleich zurück nach Tokio, ich hoffe du nimmst mir das nicht übel.“ „Nein, anscheinend sitze ich hier sowieso noch eine Weile fest.“ „Du vertreibst dir die Zeit schon. Nebenbei bemerkt hast du wirklich gut gespielt.“ „Allerdings habe ich es bisher noch nicht geschafft, dabei im Krankenhaus zu landen.“ Ihr Lächeln intensivierte sich. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn sich das nicht wiederholen würde.“ So etwas wie ein Lachen bekam ich heraus. „Ich versuch es.“ Wieder hörte ich eine sich öffnende Tür und sah in die Richtung des Geräuschs. Jaden legte ein Grinsen auf als er mich sah und kam auf mich zu. „Hey, du scheinst das Krankenhaus ja echt zu mögen“ scherzte er. „Wie geht’s dir?“ „Ganz okay.“ „Musst du eigentlich hierbleiben?“ Ich nickte. „Die Ärztin meinte bis Montag.“ Jaden zog sich einen Stuhl ran und sah überrascht zu meiner Großmutter. Hat er sie eben erst mitbekommen? Sie stand doch schon die ganze Zeit hier. „Jaden, das ist Kazuko Fujigawa“ stellte ich sie vor, während Naomi ebenfalls den Raum betrat. „Hey, ich bin Jaden!“ sagte er und streckte grinsend eine Hand aus. Etwas zögerlich begrüßte sie ihn ebenfalls. „Freut mich. Du bist doch der Junge, der etwas Leben in den Wartesaal gebracht hat, nicht?“ Naomi lachte, während Jaden sich verlegen den Hinterkopf rieb. Was habe ich verpasst? „Das ist wirklich nett ausgedrückt“ sagte Naomi noch immer amüsiert und begrüßte ihr Gegenüber ebenfalls. „Es hat mich gefreut euch kennenzulernen, aber ich muss leider los“ bemerkte meine Großmutter und wandte sich an mich. „Wie ich sehe, bist du in guten Händen. Wenn du willst, besuche ich dich bald wieder. Gute Besserung.“ „Das wäre schön, danke“ murmelte ich und sie verließ den Raum. Naomi setzte sich neben mich. „Die Schwester sagte leider, wir können nicht lang bleiben. Du brauchst viel Ruhe. Ich kann dir aber morgen ein paar Wechselsachen vorbeibringen. Brauchst du noch etwas von zu Hause?“ Ich überlegte einen Augenblick. Was sollte ich die nächsten beiden Tage schon brauchen? Ich schüttelte den Kopf. „Wenn dir doch was einfällt, sag einfach Bescheid.“ Wieder nickte ich. Langsam wurden meine Lider schwer. Sie sah auf die Uhr. „Ach, wie die Zeit verfliegt. Ich wollte deinem Vater noch davon erzählen und die Besuchszeit ist gleich um. Jaden, kommst du in zehn Minuten nach? Wir treffen uns am Auto.“ „Okay, bis gleich.“ Die Tür fiel wieder ins Schloss. „Oh Mann“ sagte Jaden und ich sah wieder zu meiner Linken. „Du siehst echt furchtbar aus.“ Ich schmunzelte. „Danke für das Kompliment.“ Er sah aus als würde er sich Sorgen machen. Ich wollte ihm meine Hand auf seine legen, bemerkte aber in diesem Moment erst die Schlinge an meinem linken Arm. So konnte ich ihn nicht bewegen. „Jetzt schau doch nicht so“ sagte ich. „Wie ist es eigentlich ausgegangen?“ Die Frage heiterte ihn wohl etwas auf. „Wir haben gewonnen, was sonst? Die anderen mussten mit zehn Spielern weitermachen, weil der Typ, der dich umgehauen hat, eine rote Karte kassiert hat. Ging 12:1 aus. Leo hat sich echt gefreut wieder im Sturm zu spielen. Du hast wirklich nicht mehr viel verpasst. Obwohl…“ Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Sensei Ushio ist komplett ausgerastet.“ „Ist doch nichts neues.“ Er lachte. „Glaub mir, im Vergleich dazu war er sonst immer gut drauf. Er hat erst den Trainer lautstark zur Schnecke gemacht und dann den Spieler, der dich umgehauen hat. Dabei hat er irgendwas von ‚Taktisches Foul‘ rumgeschrien. Das hättest du sehen sollen. Er ist ja sonst schon immer schlecht gelaunt, aber so wütend hab ich ihn noch nie gesehen. Kaum zu glauben, dass der Typ sich mal für einen Spieler aus dem Fußballteam stark macht.“ Ich sah ihn verblüfft an. Ich war mir ganz sicher, Sensei Ushio könnte mich nicht ausstehen. Wieder lachte Jaden. „So wie du grad guckst, hab ich auch ausgesehen. Ach so, und Jack hätte fast gelb kassiert als du noch verarztet wurdest, weil er dem Typen fast an die Gurgel gegangen ist. Crow und Jim hatten gut zu tun ihn zurückzuhalten.“ „Stimmt, das habe ich halbwegs mitbekommen. Dann habe ich ja doch einiges verpasst.“ „Von den anderen soll ich dir übrigens auch gute Besserung wünschen. Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ Ich seufzte. „Ich weiß, tut mir leid. Ich habe einfach zu spät reagiert.“ „Das war kein Vorwurf!“ lachte er. „Hätte jedem von uns passieren können. Hauptsache du wirst schnell wieder gesund.“ Ich lächelte müde. „Ich gebe mir Mühe.“ Das Pochen in einem Arm wurde stärker und ich schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich spürte ich wie Jaden meine Hand drückte. Ich sah auf. Er hatte die Seite gewechselt. „Du bist echt müde, was?“ bemerkte er. „Ja, leider.“ „Dann lass ich dich mal lieber in Ruhe. Ich komme dich morgen wieder besuchen, okay?“ Ich befreite meine Hand aus seinem Griff und legte sie an seine Wange. Strich mit dem Daumen darüber. Schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Ich freue mich schon.“ Langsam beugte er sich zu mir und gab mir einen sanften Kuss. Kapitel 27: Wieder Daheim ------------------------- „Wie ist es jetzt?“ fragte Naomi, während sie die Spritze in eine kleine Schale neben mich legte. Ich atmete erleichtert auf. „Besser.“ „Tu mir bitte den Gefallen und warte mit dem Schmerzmittel nicht immer bis zu dem Zeitpunkt, an dem es kaum noch erträglich ist. Damit tust du niemandem einen Gefallen.“ Sie hatte ja recht, aber ich wurde dadurch immer so müde. Naomi war gerade dabei meinen Verband zu wechseln. Als sie den alten Verband abnahm, schielte ich kurz zu meinem Schlüsselbein. „Es verheilt wirklich gut“ sagte sie zufrieden. „Die Ärztin wird dich heute sicher wieder entlassen. Wenn du es bis heute Abend hier aushalten kannst, nehme ich dich nach meiner Schicht mit.“ Ich war erleichtert. Von Krankenhäusern hatte ich wirklich erstmal die Nase voll. „Das klingt toll. Wie geht’s Pharao?“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie den neuen Verband anlegte. „Jaden kümmert sich um die Kleine. Sie ist wirklich verspielt. Wenn Makoto nicht so allergisch wäre, hätte ich sie sicher auch aufgenommen.“ Ich lachte leise auf. „Jaden war auch sofort begeistert. Mein Vater hat auch nichts dagegen sie zu behalten.“ „Er freut sich schon richtig darauf“ sagte sie als sie fertig war. „Wie meinst du das?“ Sie kicherte amüsiert. „Er hat es mir letzte Woche ganz begeistert erzählt. Dass eine Katze bei dir lebt meine ich. Er freut sich schon darauf, endlich wieder nach Hause zu kommen.“ Ich schmunzelte. Auch ich freute mich darauf, dass er in zwei Wochen wieder nach Hause kommt. Und vor allem freute ich mich, dass er langsam wieder der Alte war. Die Angst, dass er sich wieder etwas antun könnte, war verschwunden. Das lag zu einem großen Teil auch an Naomi. Wäre sie nicht gewesen, hätte mein Vater nur meine kurzen Besuche gehabt. Sie hat sich während seines Aufenthalts hier so gut um ihn gekümmert. „Danke für alles“ sagte ich und sah Naomi an. Sie schüttelte nur den Kopf und lächelte herzlich. „Du brauchst dich für nichts zu bedanken. Das war selbstverständlich für mich. Wir sind für dich da. Und auch für deinen Vater. Außerdem muss auch ich dir danken.“ Ich sah sie fragend an. Was in aller Welt hatte ich schon für sie getan? Ihr Lächeln intensivierte sich und sie packte den alten Verband in die Schale neben mir, nahm sie an sich und ging anschließend zur Tür. Ein letztes Mal drehte sie sich zu mir und hatte immer noch diesen glücklichen Gesichtsausdruck. „Jaden ist wirklich glücklich“ sagte sie. Überrascht sah ich ihr nach und beobachtete, wie die Tür langsam ins Schloss fiel. ~*~ Wenig später kam die Ärztin zur Visite. Ich war froh zu hören, dass ich wirklich entlassen wurde. Allerdings sollte ich es wegen der Gehirnerschütterung bis Ende der Woche noch langsam angehen lassen und mich nicht überanstrengen. Außerdem gab sie mir wegen meiner Schulter noch Schmerztabletten mit. In den nächsten beiden Wochen sollte ich die Schlinge um meinen Arm noch tragen, damit die Wunde ausheilen konnte. Danach muss ich zur Physiotherapie. Ich seufzte. Also werde ich das Krankenhaus doch nicht so schnell wieder los. Ein dezentes Klopfen hallte durch den Raum. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und meine Großmutter betrat den Raum. „Hallo“ begrüßte ich sie überrascht. „Hallo, Yusei“ „Hast du in Tokio schon alles erledigt?“ „Nicht ganz, aber den Rest schaffe ich auch von hier aus. Ich habe ja gesagt, dass ich dich bald wieder besuche. Du wirst heute entlassen, nicht?“ Noch immer etwas verwirrt nickte ich. So früh hatte ich sie wirklich nicht erwartet. „Ich wurde schon entlassen.“ „Und warum bist du dann noch hier?“ fragte sie verwundert. „Naomi will mich nach ihrer Schicht mitnehmen. Das Motorrad kann ich in nächster Zeit wohl vergessen.“ „Die Mutter dieses quirligen Jungen?“ Wieder nickte ich. „Wenn du möchtest, kann ich dich nach Hause fahren. Es wäre angenehmer als hier zu warten, meinst du nicht?“ Zögerlich stimmte ich ihr zu. Kurz darauf verabschiedete ich mich von Naomi und den anderen und lief mit meiner Großmutter zusammen zum Parkplatz. Ich sah mich um. „Wo ist denn der lange Typ mit den schwarzen Haaren?“ Sie sah wieder zu mir. „Du meinst sicher Mister Devlin. Er ist noch in Tokio und koordiniert einige Angelegenheiten in meiner Abwesenheit.“ Wir waren am Parkplatz angekommen und sie hielt mir die Tür ihres Wagens auf. Ich bedankte mich und stieg ein. Erstaunt sah ich mich um. Dieses Auto sah von innen noch besser aus als ich dachte. Während sie ebenfalls einstieg und losfuhr, sah ich wieder zu ihr. „Welche Angelegenheiten meinst du eigentlich?“ Ich wusste von ihr bisher nur, dass sie einen kleinen Konzern leitete, seit ihr Mann verstorben war. Weder wie der Konzern hieß, noch was ihre eigentliche Aufgabe war. „Ach, das übliche“ antwortete sie vage. „Finanzchecks, Buchhaltung, das ein oder andere Gespräch mit einem Mitarbeiter. Seine Hauptaufgabe besteht im Wesentlichen darin, mich zu beraten. In meiner Abwesenheit vertritt er mich allerdings auch.“ „Aber was machst du genau?“ wollte ich wissen. „Bevor ich meinen Mann kennenlernte, verdiente ich meinen Lebensunterhalt damit zu komponieren. Ein Stück weit ist das auch heute noch meine Aufgabe. Allerdings nicht mehr für mich selbst. Ich manage unter anderem einige Solisten.“ „Unter anderem?“ Sie schien zu überlegen. „Naja, man kann sagen, dass ich in Tokio darüber entscheide, welcher Musiker weiterkommt und welcher keine Zukunft in diesem Bereich haben wird.“ „So wie Herr Kazuki?“ Sie musterte mich einen kurzen Augenblick, ehe sie ihre Augen wieder auf die Straße richtete. „Nicht ganz. Mein Einfluss beschränkt sich nicht nur auf eine einzelne Konzerthalle.“ Ich verstand es noch immer nicht genau. „Wo hast du denn überall Einfluss?“ „Das ist wirklich nicht einfach zu erklären. Sagen wir einfach, er reicht über einige Unternehmen und Einrichtungen.“ „Hm.“ Weiterreden wollte sie darüber wohl nicht. Ihre Gründe dafür waren mir zwar schleierhaft, aber fürs erste nahm ich ihre Antworten zur Kenntnis. Später hatte ich noch immer Gelegenheit dazu, mehr herauszufinden. Der Wagen bog die Einfahrt zu unserer Garage ein und kam langsam zum Stehen. Ich bedankte mich und bat sie mit rein. Als ich die Tür öffnete, wartete schon jemand auf mich. Ich schmunzelte als Pharao auf mich zu getapst kam und mich begrüßte. Ich kraulte sie kurz hinter dem Ohr, ehe sie sich wieder davonmachte. Überraschenderweise beachtete sie meine Großmutter nicht. „Die ist aber süß“ bemerkte sie und hing ihren Mantel an die Garderobe. Ich nickte und sah der Katze nach, wie sie um die Ecke bog. Das war das erste Mal, dass sie jemanden ignorierte. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich meine Großmutter vor den Bildern an der Wand stehen. Ich konnte ihren Blick nicht deuten, während sie die vielen Fotos begutachtete. „Willst du einen Tee?“ versuchte ich das Gespräch fortzuführen. Ohne sich von den Fotos zu lösen, gab sie mir ihre Antwort. „Nein, mach dir keine Umstände deswegen. Du sollst dich doch schonen.“ „Das macht keine Umstände. Den bekomme ich mit einem Arm noch hin“ beharrte ich. Sie sah wieder zu mir und lächelte. „Wenn du so darauf bestehst.“ Ich bat sie ins Wohnzimmer und machte den Tee in der Küche zurecht. Als ich zu ihr ging, betrachtete sie einen kleinen Stapel Blätter auf dem Tisch. Sie sah wieder auf. „Ist das von dir?“ Ich brauchte etwas, ehe ich wusste was sie meinte. Auf dem Tisch lag noch das Projekt, an dem ich gerade saß. Ich hatte wohl letzte Woche vergessen sie wieder oben zu verstauen. „Ja, ich spiele gerade mit einigen Ideen herum. Aber ich bin noch lange nicht fertig.“ „Der Ansatz ist sehr interessant“ sagte sie und sah mich an. „Darf ich?“ Ich nickte und stellte die Tasse vor ihr ab. Eine Weile betrachtete sie still die Noten, die ich aufgeschrieben hatte. „Der Teil hier ist etwas eigenwillig“ sagte sie plötzlich. Ich lehnte mich kurz zu ihr, um zu sehen was sie meinte. „Ich weiß, aber den Teil der höheren Oktave will ich so beibehalten. Mir ist nur noch nicht eingefallen, wie ich die Begleitakkorde schreiben soll.“ „Hm.“ Eine Weile besah sie sich das Blatt, legte ihre Hand dabei an ihr Kinn und schloss dann ihre Augen. Ich schmunzelte. So sieht sie wirklich aus wie meine Mutter, wenn sie in ihrem Arbeitszimmer saß. Schon interessant, wie sehr sie sich in mancher Hinsicht ähnelten. Währenddessen sprang Pharao auf das Sofa, um es sich neben mir bequem zu machen. Neugierig beäugte sie die Schlinge um meinem Arm. Plötzlich legte meine Großmutter das Blatt wieder auf den Tisch, nahm sich einige unbeschriebene Notenblätter und schrieb etwas auf. Während sie die Noten zeichnete, blieb ich still und betrachtete neugierig das Blatt vor ihr. Allem Anschein nach hatte sie eine Idee für mein Problem. Als sie fertig war, reichte sie mir ihre Arbeit. „Diese Variante ist etwas eleganter, wenn du die hohen Töne wirklich so belassen willst.“ Überrascht las ich mir die Noten durch. „Das ist wirklich besser“ sagte ich und sah wieder auf. „Danke.“ Ein dezentes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Das meiste davon ist noch immer von dir. Ich habe es nur etwas abgewandelt.“ Wie gern hätte ich es gleich gespielt, aber das war in der nächsten Zeit leider unmöglich. Dieser verdammte Arm war zu nichts zu gebrauchen. Allerdings hatte mir die Ärztin versprochen, dass ich bis zur Aufführung wieder Klavier spielen könnte. Zumindest wenn ich die Physio schnell beginne. Doch dafür musste erst die Wunde von der OP heilen. „Was bedrückt dich?“ hörte ich wieder ihre Stimme und sah auf. Sie musterte mich besorgt. Ich winkte ab. „Nichts, alles gut. Ich würde es nur am liebsten gleich spielen.“ Ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder. „Selbst wenn du deinen Arm bewegen könntest, wäre das im Moment keine gute Idee.“ „Warum?“ fragte ich irritiert. „Du brauchst immer noch viel Ruhe. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.“ Die Klingel der Haustür ließ mich Aufsehen. „Schon gut, ich hatte in den letzten Tagen genug Ruhe“ sagte ich, während ich aufstand und zur Tür ging. Als ich sie öffnete, grinste mir Jaden entgegen. Seine Schultasche hing über seinen Schultern. „Hey, meine Mutter meinte ich hab dich knapp verpasst“ sagte er fröhlich, und gab mir zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss. Verwundert sah ich auf die Uhr. „So früh habe ich gar nicht mit dir gerechnet. Ist das Training ausgefallen?“ „Ja, der Platz ist wegen dem Regen gestern komplett unspielbar“ sagte er, während er Richtung Wohnzimmer lief. „Die Halle haben wir erst morgen.“ Ich folgte ihm und er hob zur Begrüßung die Hand. „Hey, so sieht man sich wieder!“ „Hallo“ erwiderte meine Großmutter verwundert. „Jaden, nicht?“ Jaden nickte und stellte seine Tasche ab. In diesem Moment kam Pharao auf ihn zugetapst und begann plötzlich damit, mit ihm zu spielen. Er lachte herzlich und ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Für einen Augenblick sah meine Großmutter überrascht zu mir. Mein Lächeln wurde breiter. Anscheinend hat sie es bemerkt. ~*~ Die Tage vergingen und allmählich fühlte ich mich wieder besser. Die Kopfschmerzen waren weg, und wenn ich sie nicht bewegte, hatte ich auch kaum noch Schmerzen in meiner Schulter. Dadurch blieben mir zumindest die Schmerzmittel erspart. Vormittags besuchte mich fast täglich meine Großmutter für ein paar Stunden, um mir ein wenig zu helfen. Das Einkaufen und der Haushalt gestalteten sich etwas schwierig für mich. Wir unterhielten uns unter anderem oft über mein Projekt und mein baldiges Studium in Tokio. Sie erzählte mir viele Geschichten von meiner Mutter, als sie noch ein kleines Mädchen war und ich lauschte gespannt jedem ihrer Worte. Die meisten Erzählungen hörte ich zum ersten Mal. Anscheinend war sie damals ein kleiner Wirbelwind und sehr lebensfroh. Letzteres hatte sich bis zu ihrem letzten Tag nicht verändert. Es war seltsam, aber irgendwie lernte ich sie auf diese Art ganz anders kennen, und dafür bin ich meiner Großmutter wirklich dankbar. Allmählich wurde ich wirklich warm mit ihr und auch sie wirkte entspannter als am Anfang. Um auf dem Laufenden zu bleiben, kam Alexis nach der Schule oft mit Crow und Jaden vorbei, um mit mir den Schulstoff durchzugehen. Crow murrte zwar oft rum, aber Alexis hatte stolz verkündet, dass seine Noten sich schon gebessert hatten, und er mit dem Fußball weitermachen konnte. Ich war wirklich erleichtert. Zwar würde ich für die nächsten drei Monate ausfallen, aber Leo war ein wirklich guter Ersatz für mich. Für Crow hätten wir allerdings niemanden gehabt und ab Januar würde die Regionalmeisterschaft starten. Mit nur zehn Spielern wäre das unmöglich gewesen. Am Montag stand ich pünktlich vor meinem Haus und wartete auf Naomi. Sie wollte mich zusammen mit Jaden und Alexis mit zur Schule nehmen. Ich freute mich schon darauf meine Freunde wiederzusehen. Zwar hatte ich in den letzten Tagen ständig Gesellschaft, aber mein Alltag war mir doch lieber. Aus der Seitenstraße sah ich schon den quietschgelben Wagen vorfahren, der neben mir zum Stehen kam. Ehe ich ihn erreicht hatte, öffnete sich die hintere Tür und Alexis half mir einzusteigen. Ich bedankte mich und begrüßte die anderen. Jaden saß schräg hinter mir und sah so aus, als würde er jeden Moment wieder einschlafen. „Was ist denn mit dir los?“ fragte ich besorgt. Er gähnte herzhaft. „Nichts, bin nur müde.“ Alexis seufzte. „Warum denkst du auch nicht eher daran zu lernen.“ „Hey, ich hab gedacht wir schreiben die Klausur erst nächste Woche!“ beschwerte er sich. „Wozu hast du eigentlich einen Kalender, wenn du dir doch nichts einschreibst?“ Jaden stöhnte genervt auf und ließ sich in den Sitz sinken. „Was schreibst du denn heute?“ fragte ich. „Geschichte. Hätte mich Jim gestern Abend nicht erinnert, hätte ich das komplett vergessen.“ Naomi schüttelte nur ein wenig verzweifelt den Kopf. In der Schule angekommen, verabschiedete ich mich von Jaden und wünschte ihm viel Glück. Hoffentlich bleibt er während der Klausur wach. „Hey, da ist er ja wieder!“ begrüßte mich Crow fröhlich als ich das Klassenzimmer betrat. „Du bist ja die komischen Streifen an der Schläfe losgeworden.“ Was für Streifen meint er denn? Ach so, stimmt, die Klemmpflaster. „Ja, die Wunde ist wieder verheilt.“ „Wie geht’s deinem Arm?“ fragte Jack. „Besser, aber ich darf ihn noch nicht bewegen.“ „Und wie lange fällst du aus?“ bohrte er weiter. Alexis lachte. „Jetzt lass ihn doch erstmal ankommen, Jack!“ Ich stellte meine Tasche an meinem Platz ab. „Schon gut. Spielen darf ich drei Monate nicht. Aber das Training kann ich trotzdem leiten.“ „Echt? Drei Monate?“ fragte Crow erstaunt. Ich nickte. „Warum so lange?“ „Weil ich mir beim nächsten Tackle sonst wieder das Schlüsselbein breche. Da bringt mir die Metallplatte auch nicht viel.“ „Das ist ja ätzend.“ Ich konnte ihm nur zustimmen. Sensei Flannigan betrat den Raum und wir setzten uns auf unsere Plätze. ~*~ „Braucht du Hilfe mit deiner Jacke?“ fragte Alexis. Ich schmunzelte. „Nein, geht schon, danke. Ich hänge sie mir nur über die Schulter. So kalt ist es heute nicht.“ „Ist heute wohl das letzte Mal, dass wir die Mittagspause draußen verbringen können“ meinte Crow als wir zu den Tribünen liefen. „Ab morgen soll es arschkalt werden.“ „Was erwartest du?“ sagte Jack. „Ist immerhin schon Ende November.“ Als wir angekommen waren, warteten Aki und Carly bereits und begrüßten uns fröhlich. Auch Jaden und Jim stießen einen Augenblick später zu uns. „Wie lief die Klausur?“ fragte ich, während sich Jaden neben mich setzte. „Ganz gut, aber ich glaube der Kaffee lässt nach.“ „Ist echt ein Wunder, dass du bei Sensei Flannigan in der letzten Stunde nicht weggepennt bist“ stichelte Jim. Jaden antwortete nur mit einem mürrischen Blick. „Kannst du eigentlich bis zur Aufführung wieder Klavier spielen?“ fragte mich Aki. Jaden gähnte herzhaft, legte seinen Kopf auf meinem Schoß ab und schloss die Augen. Ich sah kurz zu ihm herunter, widmete mich dann aber wieder Aki, während ich ihm meine rechte Hand auf den Kopf legte und ihm durchs Haar strich. „Nächste Woche beginnt die Physio, ich denke von da an geht es ziemlich schnell, bis ich wieder spielen kann. Die Schlinge kann Ende der Woche auch schon ab.“ „Willst du jetzt echt hier draußen pennen?“ fragte Jim belustigt. „Lass ihn doch“ kicherte Carly. Jack zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bringt das ja was bis zum Training.“ Während die anderen sich unterhielten, zog ich meine Jacke von meinen Schultern und legte sie über Jaden. Crow grinste mich an. „Jetzt sieht er wirklich aus wie dein Kätzchen.“ „Jetzt hör schon auf“ antwortete ich. Ich wollte ernst klingen, konnte eine gewisse Belustigung allerdings nicht aus meiner Stimme verbannen. „Wieso? Du hast doch damit angefangen.“ Ich seufzte lautlos. „Mag sein, aber ich wollte nicht, dass sich das als Spitzname etabliert.“ Das dezente Geräusch meines Handys erklang. Mein Nachrichtenton. Vorsichtig fischte ich es aus meiner Jackentasche, darauf bedacht, Jaden nicht zu wecken. Überrascht sah ich auf den Absender. Sherry. Hey, wie läufts? Kalin meinte, du wurdest bei deinem letzten Spiel umgerannt. Hoffe es geht wieder. Ich wollte dich fragen, ob du nächstes Wochenende Zeit hast um nach Osaka zu kommen. Ach so, und grüß Jaden von mir. Vielleicht hat er ja auch Zeit. Nächstes Wochenende? Ach stimmt, sie hat bald Geburtstag. Ich wollte mit meinem Vater zwar ohnehin nach Osaka fahren, aber bis dahin ist er noch nicht wieder aus dem Krankenhaus raus. Das Motorrad fällt flach, aber ich könnte den Zug nehmen. Fragt sich nur ob Jaden auch mitkommen möchte. Zumindest steht er in Kontakt mit ihr und Kalin. Es wäre wirklich schön, die beiden mal wiederzusehen. „Mit wem schreibst du denn da?“ Ich sah auf. Alexis musterte mich neugierig. „Mit meiner Ex-Freundin.“ „Hä?!“ Crow sah mich irritiert an. „Ich denke du bist schwul.“ Ich grinste verschmitzt. „Das habe ich nie gesagt.“ „Ich komm nicht mehr mit.“ „Du schreibst mit deiner Ex?“ bohrte Alexis weiter nach. „Ja, wieso nicht? Sie hat Jaden und mich zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen.“ Alexis zog fragend eine Augenbraue hoch. „Deine Ex hat dich und meinen Bruder, mit dem du zusammen bist, zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen?“ fragte sie skeptisch. Ich lachte auf. „Nicht jede Beziehung endet in einem Drama. Wir verstehen uns gut und Jaden hat auch Freundschaft mit ihr geschlossen.“ „Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole“ sagte Crow und sah mich noch immer irritiert an. „Du bist echt seltsam.“ „Vielleicht“ erwiderte ich nur und wandte mich wieder an Alexis. „Wie haben eure Eltern eigentlich gestern reagiert?“ „Was meinst du?“ „Wollte Jaden nicht gestern mit ihnen reden?“ „Ach so“ lachte sie. „Das meinst du. Papa war ziemlich überrascht, dass ihr beiden plötzlich zusammen seid, aber Mama wusste es wohl schon vor Jaden. Zumindest hat sie das gesagt.“ Überrascht musterte ich sie. Wie konnte Naomi schon vor Jaden wissen, dass wir zusammen sind? Das ergibt doch keinen Sinn. Wieder lachte Alexis. „Schau doch nicht so bedröppelt. Unserer Mutter kann man nicht viel vormachen. Sie durchschaut uns eigentlich immer sofort.“ ~*~ Endlich hörten wir das erlösende Geräusch der Schulklingel, die das Ende des Tages verkündete. Der Schultag war zwar wirklich schön gewesen, doch die letzte Stunde Japanisch bei Sensei Banner zog sich unglaublich in die Länge. Anscheinend forderte die Gehirnerschütterung noch immer ihren Tribut. Ich war so ungewöhnlich müde. Jaden hingegen hatte sein Tief wohl überwunden, denn er war wieder so energiegeladen wie immer. „Anscheinend hat dein Mittagsschläfchen doch geholfen“ bemerkte Crow und grinste breit, während wir über den Parkplatz zur Turnhalle liefen. Jaden lachte. „Oder einfach nur die Vorfreude auf das Training. Immerhin haben wir unseren Trainier wieder!“ Ich schmunzelte und ließ meinen Blick über den Parkplatz schweifen. Ein gutes Stück von uns entfernt stand ein Wagen, der mir nur allzu bekannt vorkam. Ich blieb stehen. Das ist unmöglich. „Was ist denn?“ hörte ich Jacks Stimme. Ich sah nicht zu ihm, betrachtete weiter den Wagen. Das kann doch nicht sein! Plötzlich öffnete sich die Tür auf der Fahrerseite und meine Augen weiteten sich überrascht. Beinahe hätte ich meine Tasche fallen lassen. „Ich glaube, das Training übernehme ich heute wieder. Sieht aus, als hättet du noch was vor.“ Ich sah wieder zur Seite. Jaden grinste breit. „Jetzt geh schon!“ forderte er mich auf und gab mir zum Abschied einen flüchtigen Kuss, ehe er mit Jack und Crow zur Turnhalle lief. Die beiden wirkten etwas verwirrt, doch das war im Moment das letzte, was mich beschäftigte. Wieder sah ich zum Auto und ging langsam darauf zu. Auf halbem Wege wurde ich schneller. Kurz vor meinem Ziel ließ ich die Tasche los, die unbeachtet auf dem Boden landete, und umarmte meinen Vater. Vorsichtig legte er seine Arme ebenfalls um mich und für einen kleinen Augenblick ignorierte ich komplett meine Umgebung. Stille umschloss mich. Nachdem sich die Überraschung gelegt hatte, war ich einfach nur glücklich ihn zu sehen. „Warum bist du denn schon entlassen worden?“ fragte ich und löste mich aus der Umarmung. Mein Vater grinste schief. „Die haben mich dort wohl nicht mehr ausgehalten. Am Freitag sagte der Arzt, dass er mich heute entlassen will, aber ich wollte dich überraschen.“ Ich lachte kurz auf. „Das hast du geschafft. Aber warum haben dich die Ärzte eine ganze Woche vorher rausgelassen?“ Er ging an mir vorbei und hob meine Tasche auf, die er im Wagen verstaute. Währenddessen gab er mir seine Antwort. „Sie meinten ich hätte so große Fortschritte gemacht, dass es keinen Zweck hätte, mich weiter stationär zu behandeln. Der Rest der Therapie läuft ambulant ab.“ „Also musst du weiter dort hin?“ Er nickte und hielt mir die Tür auf. Nachdem wir eingestiegen waren, sprach er weiter. „Für den Rest der Woche wurde ich beurlaubt. Ab Dienstag fange ich wieder an zu arbeiten. Das ist für die Abrechnung einfacher, schließlich ist es der erste Dezember. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue wieder Zuhause zu sein.“ Ich schmunzelte. So in etwa konnte ich mir vorstellen wie er sich fühlen musste. Nach all der Zeit im Krankenhaus, hätte ich auch lieber ein wenig von meinem Alltag wieder. Ich freute mich selbst wahnsinnig, dass er wieder da war. * Die Sicht von Hakase * Langsam rollte der Wagen die letzten Meter bis zur Einfahrt unserer Garage hinauf. Zuhause. Es fühlt sich so seltsam an. Seit dem Umzug hatte ich den größten Teil der Zeit im Krankenhaus verbracht. Ich war überglücklich, als mein behandelnder Arzt mich entlassen hatte, aber dennoch fühlte ich eine gewisse Nervosität. Es war, als würde für mich ein neues Leben beginnen, wenn ich über die Schwelle der Tür trete. „Alles in Ordnung?“ hörte ich die Stimme meines Sohnes. Ein letztes Mal atmete ich tief durch und sah ihn an. Schenkte ihm ein kleines Lächeln und nickte. Etwas unbeholfen stieg er aus, ehe ich ihm helfen konnte. Er schloss die Garagentür auf und öffnete sie. Das Auto passt doch ohnehin nicht rein. Warum öffnet er sie? Für einen Moment hielt ich inne und sah zu Yusei. „Du hast Platz geschaffen?“ Er grinste. „Ich hatte viel Zeit. Außerdem habe ich es in dem ganzen Chaos nicht mehr ausgehalten.“ Verstehe. Er war immer schon ein kleiner Ordnungsfanatiker. Nachdem ich das Auto in der Garage geparkt hatte, folgte ich Yusei in den Flur. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Vor einigen Wochen war hier noch alles kahl und trist. Jetzt sah es so liebevoll eingerichtet aus, wie in unserem alten Haus. Mein Blick schweifte über die alten Fotos an der Wand und ich musste schmunzeln. Es waren so schöne Erinnerungen. „Hallo Pharao“ hörte ich wieder Yusei hinter mir und drehte mich um. Aus der Küche lief ein kleines Kätzchen und tapste zu meinem Sohn. Schmiegte sich an seine Beine und er kraulte das kleine Ding hinter dem Ohr, was sie schnurren ließ. „Die ist noch süßer als auf den Fotos“ sagte ich und lächelte. „Aber was hat sie denn eigentlich für ein Geschlecht?“ Yusei hob sie mit einer Hand hoch. „Keine Ahnung. Das sieht man noch nicht so gut. Ich hatte bisher auch noch keine Gelegenheit zum Tierarzt zu fahren.“ Ich nahm sie ihm ab und sah selbst einmal nach. Er hatte recht. So ganz konnte ich es auch nicht sagen. In meiner Armbeuge machte es sich das kleine Ding bequem und schnurrte, während ich weiter über das weiche Fell strich. Sie war wirklich zutraulich. „Das erledige ich im laufe der Woche“ sagte ich, während ich durch die Küche lief. Auch hier hatte sich einiges verändert. Doch die größte Veränderung erwartete mich im Wohnzimmer. Mein Blick schweifte über die Einrichtung. Die hälfte der Möbel stand vorher in der Garage. Selbst mein Plattenspieler hatte seinen Weg ins Wohnzimmer gefunden. Ich drehte mich wieder zu Yusei und sah ihn erstaunt an. „Hast du das alles allein gemacht?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Jack und Crow haben mir geholfen. Aber es hat gar nicht so lange gedauert. Ein paar Tage vielleicht.“ „Jack und Crow?“ „Ein paar Freunde aus der Schule. Du hast sie heute vielleicht gesehen. Sie liefen mit Jaden und mir Richtung Turnhalle, als ich dich auf dem Parkplatz gesehen habe.“ „Verstehe. Schön, dass du neue Freunde gefunden hast. Vielleicht lädst du sie mal ein.“ Wieder lächelte er und nickte. Zumindest war er in den Wochen meiner Abwesenheit nicht allein. Das hätte ich mir nicht verzeihen können. Etwas später bereitete ich das Abendessen vor, bis mich das Klingeln an der Tür aufsehen ließ. Wer könnte das sein? „Ich geh schon“ sagte Yusei und lief an mir vorbei zur Wohnungstür. Als er sie öffnete, sah er sein Gegenüber etwas erschrocken an. Eine Frauenstimme begrüßte ihn. Skeptisch ging ich zu ihm, doch noch ehe ich ihn erreicht hatte, betrat die Person das Haus. Wie erstarrt blieb ich einige Schritte vor der Frau stehen, und auch sie sah mich etwas erschrocken an. Doch ich fasste mich schnell wieder und musterte sie argwöhnisch. „Kazuko“ brachte ich kühl hervor. Yusei sah unschlüssig zu mir, dann wieder zu Kazuko, die sich ebenfalls schnell wieder fasste. „Hallo Hakase.“ Eine kurze Stille legte sich über uns. Man konnte die angespannte Stimmung förmlich spüren. „Was willst du hier?“ fragte ich schließlich. Yusei trat zwischen uns und sah mich an. Sein Blick erinnerte mich an damals, als er als kleines Kind versehentlich mit dem Ball eine Scheibe eingeschlagen hatte. „Sie hat mich in den letzten Tagen oft besucht“ erklärte er. „Und sie hat mir wirklich geholfen, seit ich wieder aus dem Krankenhaus raus bin.“ „Schon gut, Yusei“ sagte sie und zog so meine Aufmerksamkeit wieder zu sich. Sie sah wieder zu mir und hatte ihren üblichen Blick aufgesetzt, den ich einfach nicht lesen konnte. „Ich dachte du würdest erst nächste Woche entlassen werden. Wenn ich hier unerwünscht bin, sag es und ich lasse euch wieder allein.“ „Nein!“ sagte Yusei schnell und wandte sich wieder an Kazuko. „Du bist nicht unerwünscht.“ Dann sah er mich wieder an. „Vielleicht solltet ihr euch einfach mal aussprechen.“ Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und ließ Kazuko nicht aus den Augen. „Es gibt nichts zu besprechen. Ich kann dich nicht von Yusei fernhalten, aber in diesem Haus bist du nicht länger willkommen.“ Ein kurzes Zucken ihrer Lider war ihre Antwort. „Wie du willst“ sagte sie schließlich und drehte sich zur Tür, die immer noch einen Spalt weit geöffnet war. „Warte!“ versuchte Yusei sie aufzuhalten, doch sie winkte ab und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Keine Angst, ich verschwinde nicht gänzlich aus deinem Leben. Aber wir sollten die Entscheidung deines Vaters akzeptieren, meinst du nicht?“ Ein letztes Mal noch, sah sie zu mir. „Es ist schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht, Hakase. Solltest du deine Meinung ändern, kannst du mich jederzeit erreichen.“ Sie sah wieder zu Yusei und verabschiedete sich von ihm, ehe sie endlich durch die Tür ging. Als ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, entspannte ich mich wieder etwas. „Das ist doch lächerlich!“ Yusei stand vor mir. In seinen Augen spiegelten sich Trauer und Wut. „Wieso willst du ihr nicht zuhören? Sie kam dir schon auf halbem Weg entgegen. Ihr müsst euch ja nicht vertragen, aber könntet ihr es wenigstens gemeinsam in einem Raum aushalten?“ Schon wieder. Diese Frau bringt nichts als Probleme. Ich seufzte. „Ich verstehe dich, Yusei. Aber ich habe dir beim letzten Mal schon gesagt, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Du musst das wohl oder übel akzeptieren.“ „Aber-“ „Ich will nichts mehr davon hören! Und jetzt komm, das Abendessen ist fertig.“ Er schnaubte und mied meinen Blick. „Mir ist der Appetit vergangen.“ Mit diesen Worten drehte er sich zur Treppe und war verschwunden. Wieder seufzte ich und sah ihm nach. Ich weiß, wie wichtig ihm die ganze Sache ist, aber ich kann das nicht. Diese Frau ist toxisch. Je eher er das begreift, desto weniger wird er leiden, wenn sie sich von ihm abwendet. Und das wird sie. Da bin ich mir sicher. Kapitel 28: Happy Birthday -------------------------- „Na? Wie war der erste Abend mit deinem Vater?“ fragte Jaden mit einem Grinsen im Gesicht, während wir zum Schulgebäude liefen. Ich seufzte. „Eigentlich fing er wirklich gut an, aber dann hatten wir Streit.“ „Echt? Worüber denn?“ „Irgendwann klingelte es bei uns an der Haustür. Dreimal darfst du raten wer es war.“ Er überlegte kurz, dann fiel ihm etwas ein und er sah mich traurig an. „Deine Oma?“ Ich nickte. „Hatte ganz vergessen, dass sie mich besuchen wollte. Ihr war die ganze Sache sicher unangenehm und mein Vater war so abweisend ihr gegenüber. Er wollte ihr nicht mal zuhören.“ „Aber überrascht dich das? Du hast ja gesagt, die beiden wären sich nicht ganz grün.“ „Ich hatte eben etwas Hoffnung, aber die ist ziemlich schnell wieder verflogen. Nach einer Weile hatte ich mich wieder beruhigt und bin wieder zu meinem Vater. Das Thema haben wir allerdings seit gestern totgeschwiegen.“ Plötzlich legte Jaden wieder ein breites Grinsen auf. „Vielleicht solltest du die beiden mal in einen Raum einsperren. Dann müssen sie ja miteinander reden.“ Ich musste kurz auflachen. „Du schaust zu viele Filme. Das klappt doch nie.“ Auch er musste lachen. „Aber den Versuch wäre es wert! Klappt vielleicht doch!“ Mit diesen Worten gab er mir einen flüchtigen Kuss und verabschiedete sich, um in sein Klassenzimmer zu laufen. Auch in den nächsten Tagen sprach ich nicht mit meinem Vater über das Thema. Ich wusste einfach nicht, wie. Meine Großmutter war noch am selben Abend wieder nach Tokio abgereist. Seitdem telefonierten wir hin und wieder. Sie hatte mir sogar angeboten, dass ich sie in Tokio besuchen könnte. Vielleicht über das Wochenende. Mein Vater wusste natürlich nichts davon. Zumindest stimmte er zu, über das Wochenende mit Jaden und mir nach Osaka zu fahren. So könnten wir den Besuch am Grab meiner Mutter und die Geburtstagsfeier von Sherry verbinden. * Die Sicht von Jaden * Das Gras wiegte sich sanft in der kühlen Brise. Ein Schwarm von Vögeln flog aus einer Reihe Bäume, nicht weit von mir entfernt. Sonst war es still. So friedlich. In einiger Entfernung sah ich Yusei und seinen Vater vor dem Grabstein stehen. Ich fand es unangebracht, jetzt bei ihnen zu sein. Dieser Moment sollte nur den beiden gehören. Yusei sah zu seinem Vater und redete leise mit ihm, ehe er sich langsam von ihm entfernte und auf mich zukam. „Schon fertig?“ fragte ich etwas verwirrt, als er wieder zu mir stieß. Er nickte und neigte seinen Kopf wieder zu seinem Vater, der noch immer regungslos vor dem Grab seiner Frau stand. „Wie geht’s ihm?“ fragte ich vorsichtig. Ich hatte Sorge, dass es ihm danach wieder schlechter gehen würde. Yusei drehte sich wieder zu mir und zu meiner Überraschung sah er wirklich zufrieden aus. „Ich glaube, er braucht einen Moment für sich. Ich habe ihm gesagt, dass wir am Eingang auf ihn warten. Gehen wir?“ Ein letztes Mal noch wanderte mein Blick wieder zu seinem Vater. Schließlich nickte ich und ging zusammen mit Yusei Richtung Ausgang. „Wo laufen wir denn lang?“ fragte ich verwundert. Wir nahmen einen anderen Weg als ich erwartet hatte. Yusei drückte meine Hand fester. „Ich dachte wir nehmen einen kleinen Umweg. Mal abgesehen von den Grabsteinen ist das eine wirklich schöne Anlage, und wir müssen ohnehin auf meinen Vater warten.“ Ich sah mich um. Eigentlich hatte er recht. Hier war es wirklich sehr schön. Selbst jetzt, wo die Bäume schon alle Blätter verloren hatten und der Himmel wolkenverhangen war. Nach einer kleinen Weile sah ich wieder zu Yusei. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Er nickte und sah mich wieder an. Ich konnte keine Spur von Traurigkeit in seinem Blick entdecken. „Keine Sorge“ sagte er. „Er brauch nur einen Moment allein mit ihr. Ich glaube wirklich, das tut ihm jetzt gut. Vielleicht hilft es ihm damit abzuschließen.“ Nach den Strapazen der letzten Wochen wünschte ich mir das sehr für ihn. Und auch für Yusei wäre das eine Sorge weniger. Wieder dachte ich an den Augenblick zurück, in dem ich seinem Vater das erste Mal begegnet war. Alexis und ich schlichen uns, ohne Yuseis Wissen, in sein Krankenzimmer. Er saß einfach nur in seinem Bett und sah irgendwie verzweifelt aus. Traurig. Verloren. Damals wusste ich nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, er hätte sämtlichen Lebensmut verloren. Seine Verletzungen hatten mich schockiert, genauso wie Alexis. In diesem Moment begriff ich, dass ich mich wirklich glücklich schätzen konnte. Mein Leben war ziemlich sorgenfrei. Yusei hingegen hatte auf einen Schlag so viele Probleme. Ich hatte einfach nur den Wunsch ihm zu helfen und wusste nicht einmal, woher dieser Wunsch kam. Mit der Zeit wollte ich Yusei einfach nur glücklich wissen. Dass ich am Ende selbst so glücklich sein würde, hätte ich mir nicht vorstellen können. Es grenzte an ein Wunder, dass er genauso für mich empfand. Plötzlich hielten wir an und ich sah mich überrascht um. Wir waren wieder am Eingang zum Friedhof. Sehr viel hatte ich von meiner Umgebung nicht wirklich mitbekommen. Wieder sah ich zu Yusei und lächelte. Verwundert erwiderte er meinen Blick und ehe er etwas sagen konnte, legte ich meine Arme vorsichtig um seine Taille und zog ihn in eine Umarmung. Drückte mein Gesicht in seine rechte Halsbeuge und grinste einfach glücklich vor mich hin. Ich wollte ihn nicht wieder aus Versehen verletzen, aber ich hatte das dringende Bedürfnis ihm nah zu sein. Seit seinem Unfall hatte ich mich damit eher zurückgehalten. Einen kurzen Augenblick zögerte er, doch schließlich erwiderte er meine Umarmung und lehnte seinen Kopf auf meinen. Es war ein schönes Gefühl. Ja, ich war wirklich wahnsinnig glücklich. Dank ihm. „Du bist heute wirklich anhänglich“ bemerkte Yusei amüsiert und löste sich aus der Umarmung. Ich wollte schon protestieren, aber im nächsten Augenblick spürte ich seine Hand an meiner Wange und seine weichen Lippen auf meinen. Ich löste mich von ihm und grinste. „Lass mich doch.“ Er schüttelte nur belustigt den Kopf und lehnte seine Stirn an meine. Das Einzige was ich in diesem Moment sah, waren seine klaren, tiefblauen Augen. Sie faszinierten mich schon seit unserem ersten Treffen. Sie strahlten so eine Wärme aus. Unwillkürlich setzte ich ein Lächeln auf, gab ihm einen flüchtigen Kuss und löste mich ein Stück von ihm. Als ich an ihm vorbei sah, bemerkte ich seinen Vater in einiger Entfernung. „Schau mal“ sagte ich nur und auch Yusei wandte sich zu ihm. „Hm. Das ging schneller als gedacht“ murmelte er. Als ich sein Gesicht erkannte, war ich ehrlich überrascht. Entgegen meiner Erwartung sah er nicht traurig aus, sondern zufrieden… Irgendwie erleichtert. ~*~ „Soll ich euch nach der Feier wieder abholen?“ fragte Yuseis Vater, als wir durch ihre alte Nachbarschaft fuhren. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte: Ich war ein klein wenig nervös, dass ich Yuseis alte Freunde kennenlernen würde. Bisher kannte ich nur Sherry und Kalin. „Nein, schon gut, wir schlafen bei Sherry.“ „Echt?“ schaltete ich mich ein. Das Gespräch lenkte mich zumindest von meiner Nervosität ab. „Ich dachte, wir fahren wieder zu diesem Herr Kazuki.“ Yusei lachte. „Nein, sein Anwesen ist am anderen Ende der Stadt.“ „Ah, okay. Und wo schlafen Sie dann?“ fragte ich an seinen Vater gerichtet. „Bei einem alten Freund von mir. Ich habe schon ewig nicht mehr mit ihm gesprochen. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.“ „Goodwin?“ fragte Yusei nach. Sein Vater nickte. „Ich hoffe nur, er lenkt das Gespräch nicht wieder auf die Azteken-Kultur. Das letzte Mal dauerte sein Monolog wie lange?“ Wieder lachte Yusei auf. „Zwei Stunden? Zumindest kam es mir so vor.“ Sein Vater schüttelte nur belustigt den Kopf. „Es ist ja schön, dass er sich so für etwas begeistern kann, aber muss er alle daran teilhaben lassen?“ „Sherry hatte doch auch mal so eine Phase, weißt du noch?“ „Stimmt“ lachte er. „Da fällt mir ein, was hast du eigentlich als Geschenk für sie?“ „Konzertkarten.“ „Oh je“ platzte es plötzlich aus mir heraus. Dass ich da nicht schon eher dran gedacht habe! „Was ist denn los?“ Yusei musterte mich neugierig. „Ich hab gar nichts für sie“ gestand ich kleinlaut. Er schmunzelte. „Das ist doch nicht schlimm. Wir sagen einfach die Karten sind von uns beiden.“ Genervt von mir selbst ließ ich den Kopf hängen. Toller erster Eindruck. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ein Druck auf meiner Hand ließ mich aufsehen. Sie wurde von Yuseis umschlossen. Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen, auch wenn es mir trotzdem peinlich war, dass ich es vergessen hatte. Kurze Zeit später hielt Yuseis Vater den Wagen vor einem Haus. „Dann viel Spaß“ sagte er lächelnd. „Und wenn irgendetwas sein sollte, ruf mich an, ja?“ Yusei nickte knapp und stieg aus. Ich folgte ihm und hob grinsend die Hand zum Abschied, ehe der Wagen davonfuhr. „Bereit?“ fragte Yusei. Ich sah wieder zu ihm und nickte. Mein Herz klopfte mir zwar bis zum Hals, aber ich freute mich auf den Abend. „Keine Sorge“ sagte er und schmunzelte. „Sei einfach du selbst, dann werden sie dich lieben.“ „Das war echt kitschig“ sagte ich grinsend, nahm seine Hand und lief mit ihm zum Haus. Eigentlich war meine Nervosität bescheuert. Sherry und Kalin kennenzulernen war auch kein Problem. Warum war ich jetzt also so aufgeregt? Nachdem Yusei geklingelt hatte, machte Sherry nur einen Augenblick später auf und begrüßte uns herzlich. „Ihr habt es geschafft!“ rief sie freudig aus und fiel Yusei um den Hals. Ein leises, gequältes Stöhnen ließ mich wieder zu ihm sehen. Sherry entfernte sich sofort von ihm und sah ihn verlegen an. „Oh, entschuldige. Ganz vergessen, dass du Invalide bist.“ „Sehr witzig“ antwortete er und ich musste kurz auflachen. Natürlich tat er mir leid, aber sein Blick war einfach zu großartig. „Meinst du wirklich es war eine gute Idee, dass du diese komische Schlinge wieder abgenommen hast? Vielleicht hättest du sie noch dran lassen sollen“ bemerkte Sherry. „Das Ding hat mich zwei Wochen genervt. Ich bin froh, dass es jetzt endlich weg ist.“ Sie zuckte nur mit den Schultern und wandte sich an mich. „Hey Jaden. Schön, dass du auch dabei bist. Die anderen sind schon ganz gespannt auf dich.“ Ich musste trocken schlucken und sah sie erschrocken an. Die anderen wissen schon von mir?! Ich hörte ein leises Lachen und sah wieder zur Seite. Yusei schien die Sache zu amüsieren. Das habe ich wohl verdient. „Alles Gute“ sagte Yusei und reichte Sherry einen Umschlag. Vermutlich die Konzertkarten. „Danke dir!“ erwiderte sie mit einem breiten Lächeln. „Aber kommt doch endlich rein! Rally geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven wann du endlich aufkreuzt!“ Im Wohnzimmer angekommen, sah ich einige Gäste. Natürlich war Kalin dabei. Der Junge mit der langen Wuschelmähne stellte sich als Rally heraus. Er war vielleicht 15 Jahre alt und wahnsinnig glücklich Yusei wiederzusehen. Dann gab es noch einen Typen, der sicher so groß war wie Jack. Sein Name war Bruno. Ich kannte ihn von dem alten Mannschaftsfoto in Yuseis Zimmer. Genauso wie den anderen Typen, der neben ihm war. Jesse. Seinem Aussehen nach war er Europäer. Die beiden begrüßten Yusei ebenfalls und beschwerten sich gespielt, dass er so lange nicht aufgekreuzt war. Außerdem war da noch eine Gruppe von drei Mädchen. Ich hatte den Eindruck, als hätten sie in dem Moment angefangen zu tuscheln, als wir den Raum betraten. Allerdings konnte das auch an meiner Nervosität liegen. Sherry stellte sie als Mei, Akiko und Kaori vor. „Du bist also Jaden.“ Ich drehte mich erschrocken zur Seite. Vor mir stand dieser Europäer und musterte mich neugierig. Wie hieß er gleich? Ach ja, Jesse. Ich kratzte mir verlegen am Hinterkopf und grinste schief. „Ja. Hey. Du warst mit Yusei zusammen in einer Mannschaft, oder?“ Er grinste breit. „Und ob! Der beste Mittelstürmer in ganz Osaka!“ „Und der Bescheidenste“ fügte Bruno lachend hinzu. Jesse stemmte die Hände in die Hüften und grinste noch immer. „Man sollte zu seinen Talenten stehen.“ Bruno zuckte nur mit den Schultern und wandte sich an mich. „Aber ich hab gehört du bist auch nicht schlecht. Auf welcher Position spielst du denn?“ „Im Sturm“ antwortete ich perplex. Ob ihnen das alles Kalin oder Yusei erzählt haben? „Bin schon gespannt auf die Auslosung“ sagte Jesse fröhlich. „Vielleicht treffen wir sogar im ersten Block aufeinander!“ „Später wäre mir lieber“ mischte sich Kalin ein. „Ich würde Yusei zu gern mal fertig machen.“ „Als ob du das schaffen würdest“ scherzte ich. Rally stellte sich direkt vor Kalin. „Er hat recht! Yusei ist besser als du. Hab ich nicht recht?“ fragte er an Yusei gewandt. Dieser hob nur abwehrend eine Hand. „Das kommt doch nicht nur auf einen einzelnen Spieler an. Wir werden ja sehen wie die Aufstellung wird. Könnten wir das Thema nicht einfach beenden?“ „Endlich mal ein guter Vorschlag“ hörte ich eine belustigte Stimme. Ich sah wieder zur Seite. Eines der Mädchen stand neben mir. Kaori, glaube ich. „Bruno, hilfst du mir kurz? Ich bekomme die Karaokeanlage nicht richtig angeschlossen. Es kommt einfach kein Ton.“ Der große Typ nickte zustimmend und folgte ihr. Eine ganze Weile unterhielt ich mich mit den anderen. Die Stimmung war wirklich toll. Meine Nervosität war komplett verflogen. Wieso habe ich mir eigentlich so einen Kopf gemacht? „Ich versteh das einfach nicht!“ hörte ich plötzlich Brunos Stimme und sah zu ihm. Er und Kaori waren immer noch mit der Anlage beschäftigt. Yusei stand auf und lief zu den beiden um ihnen zu helfen. Er kniete sich hin und sah sich die Kabel an. „Seit wann braucht man drei Leute um eine Anlage anzustöpseln?“ lachte Jesse. Yusei hielt Bruno ein Kabel vor die Nase. Jetzt war ich doch neugierig und ging auf sie zu. „Was ist denn los?“ fragte ich. Yusei sah mich an. „Da steckt irgendwas in der Buchse. Der Anschluss vom Kabel ist verklebt. Ich vermute mal deshalb kommt kein Ton raus.“ Dann wandte er sich an Sherry. „Hast du noch ein anderes VGA-Kabel?“ Als Antwort bekam er nur einen verwirrten Blick. „Ich müsste noch eins haben“ schaltete Kalin sich ein. „Aber ich hab meinen Schlüssel vergessen und meine Eltern sind nicht da.“ Plötzlich grinste er. Yusei seufzte. „Nicht schon wieder.“ „Ach, komm schon! Bei dir geht das viel schneller! Und die anderen wohnen zu weit weg, als dass sie nur wegen nem Kabel nach Hause fahren.“ „Was hast du denn genau vor?“ fragte ich verwirrt. Yusei sah etwas genervt aus. „Ich soll ihm die Wohnung aufsperren.“ „Wie denn ohne Schlüssel?“ Kalin sah mich an. „Die Türen in meinem Wohnblock lassen sich recht leicht knacken, wenn man nicht zuschließt. Aber ich brauch dafür ewig. Yusei ist schneller.“ Wieder sah ich fragend zu Yusei. Wieso weiß er wie man Schlösser knackt? Er schmunzelte. „Ich brauche vielleicht 20 Minuten, dann sind wir wieder da. Willst du mitkommen, oder bei den anderen bleiben?“ Ehe ich antworten konnte, legte Sherry plötzlich ihren Arm über meine Schulter und zog mich mit etwas zu viel Schwung an ihre Seite. „Ach, geht ihr nur allein. Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.“ „Was?“ fragte ich verwirrt. Das kann sie doch auch, wenn Yusei dabei ist. Sie grinste mich nur an. „Sieh es als Geburtstagsgeschenk.“ Irgendwie machte mich ihr Blick wieder nervös. Ablehnen konnte ich nicht. Hilfe… Kurz darauf waren Kalin und Yusei verschwunden und ich hielt mich zum größten Teil an Jesse, um mich vor dem Gespräch mit Sherry zu retten. Allerdings wurde er nach einiger Zeit von Bruno beschlagnahmt und ich spürte eine Berührung auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und sah Sherry, die ein zuckersüßes Lächeln aufgelegt hatte. Den Blick kannte ich von meiner Schwester. Das bedeutete nie etwas Gutes für mich. „Ich hol mir schnell was zu trinken!“ sagte ich um mich schleunigst aus der Affäre zu ziehen und schnappte mir mein leeres Glas. Ob Yusei bald wieder da ist? Wie lange dauert das denn ein Kabel zu holen? Kurz vor der Küche hörte ich Stimmen. Zwei Freundinnen von Sherry unterhielten sich wohl. „Traust du das Yusei wirklich zu?“ Da wurde ich hellhörig und blieb stehen. Lauschen war vielleicht nicht die feine Art, aber ich konnte nicht anders. Ich stand mit dem Rücken zur Wand, gleich neben der offenen Tür. Die andere Stimme antwortete ihr. „Jetzt mal ehrlich: Glaubst du ernsthaft, dass Yusei von heute auf morgen auf Typen steht? Entweder hat er Sherry jahrelang was vorgemacht, oder die ganze Sache mit dem Jungen ist nur eine Phase. Anders kann ich mir das Ganze nicht vorstellen.“ Mein Herz sackte eine Etage tiefer. Das Glas rutschte aus meiner Hand, doch ich konnte es noch vor dem Aufprall auffangen. Was hat sie gesagt? Wie kommt sie darauf? „Ich weiß ja nicht. Yusei ist eigentlich niemand, der anderen etwas vormacht. Er und Sherry waren doch ganz glücklich.“ „Sag ich doch! Glaub mir, wenn sich bei ihm der ganze Stress gelegt hat, wird er Jaden wieder in den Wind schießen. Naja, auf seine überkorrekt nette Art. Du weißt schon, was ich meine. Jedenfalls kann man doch nicht eine jahrelange Beziehung so gut vortäuschen, wenn man schwul ist. Meinst du nicht? Oder sehe ich da was falsch?“ Ich stand da wie erstarrt. Nein. Nein, das kann nicht sein. Yusei macht mir nichts vor, da bin ich mir sicher. Das ist doch absurd! Ich war schon kurz davor einfach in das Gespräch reinzuplatzen, doch sie sprachen weiter. „Aber er wirkt doch gerade ganz glücklich.“ „Dass er im Moment glücklich ist, glaube ich ihm. Nur nicht, dass das wirklich halten wird. Ich sag dir: Spätestens, wenn er sein Studium beginnt, ist die ganze Sache vorbei und er ist wieder der Alte. Ich meine, wann hat eine Fernbeziehung je gehalten? Er findet auf der Uni sicher eine Freundin und wird wieder normal.“ Normal. Dieses Wort versetzte mir einen tiefen Stich. Was an der ganzen Sache soll denn nicht normal sein? Ich? Yusei? „Vermutlich. Aber, mein Gott, ich bin so neidisch! Ich würde auch gern nach Tokio und dort studieren!“ Ein Lachen hallte durch die Küche. „Ernsthaft? Mir ist Osaka schon zu voll. Ich würde ja lieber nach Kyoto. Na komm, wir sollten wieder zurück zu den anderen.“ Schritte. Ohne über mein Handeln nachzudenken, lief ich weg, ehe sie mich sehen konnten. Ich war wieder bei den anderen. „Alles okay?“ fragte Sherry und musterte mich. „Ich dachte, du wolltest dir was zu trinken holen.“ Ich starrte kurz auf das leere Glas in meiner Hand. Im Augenwinkel sah ich die beiden Mädchen, die sich eben unterhalten hatten und ich dachte wieder an das Gespräch. Mein Magen verkrampfte sich. „J-Ja, klar. Ich, ähm, mir ist nur ganz schön warm. Ich geh schnell frische Luft schnappen!“ Sie sah mir noch verdutzt nach, ehe ich verschwand und kurz darauf in dem kleinen Garten war. Aber ich konnte nicht dortbleiben. Das hätte ich nicht hören sollen. Oder war es gut so? Ich wusste nicht wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nicht wie ich über das Gespräch denken sollte! Ehrlich gesagt, wusste ich überhaupt nichts mehr. * Die Sicht von Yusei * „Hast du dieses Mal wenigstens den Schlüssel mitgenommen?“ fragte ich, während ich mit Kalin wieder auf dem Rückweg war. Er grinste und klimperte mit dem Schlüssel herum. „Ich kenne wirklich niemanden, der seinen Schlüssel öfter vergisst, als dich“ bemerkte ich. „Jetzt sei nicht so griesgrämig“ lachte er. „Ist doch alles gut gegangen.“ „Wie machst du das eigentlich, wenn ich nicht da bin?“ „Eigentlich hat Sherry nen Ersatzschlüssel, aber… naja…“ „Du hast ihn gebraucht und zuhause vergessen“ schlussfolgerte ich. Er kratzte sich verlegen den Hinterkopf. „Hundert Punkte. Deswegen hab ich jetzt beide mitgenommen. Ich hab keine Lust eine Stunde an dem Schloss rumzuwerkeln.“ Das entlockte mir doch ein Lachen. „Dann nimm deinen verdammten Schlüssel mit!“ Wieder bei den anderen angekommen, gab ich Bruno das Kabel und die Anlage war kurz darauf endlich angeschlossen. Ich sah mich um. „Wo ist Jaden?“ fragte ich an Sherry gerichtet. „Hm? Der wollte vor ein paar Minuten frische Luft schnappen und ist in den Garten gegangen.“ „Ich seh mal nach ihm“ sagte ich im Gehen, doch Sherry widmete sich wieder den anderen. Im Garten musste ich meine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen. Einzig das Licht hinter den Fenstern spendete ein wenig Helligkeit und warf einen dumpfen Schein auf eine Gestalt im Garten. „Jaden?“ rief ich in die Dunkelheit. Er drehte sich kurz zu mir, wandte sich dann aber wieder ab. „Was ist denn los?“ fragte ich, während ich näher auf ihn zuging. „Keine Sorge“ hörte ich seine leise Stimme. „Bist du sicher?“ Ich streckte meinen Arm nach ihm aus, doch er wich meiner Berührung aus. Irgendetwas stimmte nicht. Er sah mich nicht einmal an. „Ja, schon gut“ antwortete er schließlich. „Ich bin nur müde, das ist alles.“ Ich stutzte. Ob er wirklich nur müde ist? Aber warum sollte er mich anlügen? „Sollen wir lieber wieder gehen? Ich kann meinen Vater anrufen. Goodwin hat sicher nichts dagegen, wenn wir heute Nacht auch bei ihm schlafen.“ „Nein!“ erwiderte er schnell. Überrascht musterte ich ihn. Er wich meinem Blick noch immer aus. „Ist schon gut. Geh lieber wieder zu deinen Freunden. Du hast dich doch gefreut sie wiederzusehen.“ Endlich sah er mich an und lächelte müde. „Ist okay. Ich komme später nach.“ Eine kleine Weile stand ich einfach nur da und versuchte schlau aus der Situation zu werden. Er wollte allein sein. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich ihn wirklich allein lassen sollte. Er wandte sich wieder von mir ab und sah in den wolkenverhangenen Himmel. Ich folgte seinem Blick. An einer Stelle riss er auf, und legte den Anblick auf einige Sterne frei. „Findest du Sherry attraktiv?“ fragte er plötzlich, betrachtete aber weiter den Himmel. Ich sah ihn völlig verwirrt an. Wie kommt er denn jetzt darauf? „Ähm… Ja“ antwortete ich zögerlich. „Sonst wäre ich nicht mit ihr zusammen gewesen.“ „Und du hast sie geliebt“ murmelte er. Ich verstand den Zusammenhang noch immer nicht. „Jaden, was ist los?“ fragte ich und kam ihm näher. Er wich jedoch zurück und ich stoppte in meiner Bewegung. Irgendwas musste doch in meiner Abwesenheit passiert sein. Nur was? Aus traurigen Augen sah er mich an. „Warum bist du dann mit mir zusammen?“ „Was?“ „Ich bin keine Frau. Warum bist du mit mir zusammen? Vorher warst du doch auch nicht…“ Er brach ab und mied meinen Blick. Völlig verwirrt schüttelte ich meinen Kopf. „Jaden, wie kommst du darauf?“ „Ist doch egal.“ „Nein, ist es nicht“ sagte ich ernst und er sah endlich wieder zu mir. „Also. Wie kommst du plötzlich darauf?“ Schweigend musterte er mich. Schließlich seufzte er und gab mir endlich seine Antwort. „Ich habe ein Gespräch aufgeschnappt. Zwei deiner Freunde haben sich gewundert, warum du mit mir zusammen bist. Sie meinten es wäre unmöglich, dass du nach so kurzer Zeit plötzlich auf einen Kerl stehst. Dass du glücklich mit Sherry warst, und du sie geliebt hast. Dass du eine ziemlich schwere Zeit hattest. Und… Dass das mit mir vermutlich nur eine Phase ist.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Warum ist es so verwunderlich, dass ich mich verliebt habe? Dann ist Jaden eben keine Frau. Na und? Doch ich wollte ihn nicht unterbrechen. „Ich glaube dir, dass du etwas für mich empfindest, und du nicht mit mir spielst. Aber… Vielleicht haben sie recht. Du machst zurzeit einiges durch. Vielleicht…“ „Jaden!“ unterbrach ich ihn schließlich doch. Überrascht sah er auf. Ich wollte nicht, dass er diesen Gedanken zu Ende spinnt. Das war absurd! „Was tut es zur Sache, dass du ein Mann bist?“ Er sah mich noch immer perplex an. „Du hast doch vorher auch nicht auf Kerle gestanden“ murmelte er. Ich seufzte lautlos. „Ich gebe zu, ich habe eine Zeit lang gebraucht, ehe ich verstanden habe, dass ich in dich verliebt bin. Diese Gefühle für einen anderen Mann waren neu für mich. Aber deswegen sind sie nicht weniger echt. Ich liebe dich.“ Für einen Moment, sah er genauso überrascht aus wie ich. Ich liebe dich. Diese Worte hatte ich bisher nie verwendet. Genauso wenig wie Jaden. Aber es fühlte sich richtig an, es auszusprechen. Diese Worte kamen nicht aus einem Affekt heraus, das wurde mir in diesem Moment wirklich bewusst. „Ich liebe dich, Jaden. Das mit dir ist keine Phase. Ich habe mich doch nicht in dich verliebt, weil ich eine schwere Zeit hatte und du für mich da warst. Ich habe mich verliebt, obwohl all diese Dinge um mich herum passiert sind, verstehst du? Und es tut nichts zur Sache, dass du ein Mann bist. Ich liebe dich, weil du eben du bist. Du bist freundlich, fröhlich, immer für die Menschen da, die dir am Herzen liegen. Hin und wieder bist du ziemlich tollpatschig, aber all das macht dich aus. Ich liebe jede deiner Eigenschaften. Dabei ist es mir herzlich egal, ob du eine Frau oder ein Mann bist. Bitte glaub mir.“ Er sagte nichts. Sah mich nur überrascht an. Langsam wurde ich nervös. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so offen über meine Gefühle gesprochen hatte. Aber ich meinte jedes Wort ernst und wollte, dass Jaden mich verstand. Er sollte wissen, was ich für ihn fühlte. „Du…“ sagte er plötzlich leise und musterte mich noch immer überrascht und verwirrt zugleich. „Aber… Ich…“ Langsam ging ich auf ihn zu, überwand die letzte Distanz zwischen uns und schloss ihn in meine Arme. Endlich ließ er es zu, und wich mir nicht mehr aus. „Ich liebe dich“ flüsterte ich erneut. Zögerlich legte er seine Arme um mich und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. Suchte mit den Händen Halt in meiner Kleidung und begann leise zu schluchzen. Warum weint er jetzt? Hatte ich doch etwas Falsches gesagt? Ich wusste nicht, wie lange wir im Garten standen, und ich versuchte ihn zu beruhigen. Schließlich löste er sich ein Stück von mir und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke die Tränen aus dem Gesicht. Als er wieder aufsah, lächelte er. „Ich liebe dich auch“ sagte er mit belegter Stimme. Mein Herz hämmerte in einem wilden Tempo gegen meine Rippen. Ich lächelte glücklich, legte ihm eine Hand auf die Wange, strich die letzte Träne weg und gab ihm einen sanften Kuss. Als wir unseren Kuss lösten, sah ich ihm eine kleine Weile einfach nur in die Augen. Ich war über alle Maße glücklich. Hinter uns hörte ich leise die schiefen Gesänge meiner Freunde, die anscheinend die Karaokeanlage angeworfen hatten. Wir sahen uns kurz an und begannen zu lachen. „Okay“ sagte er schließlich und grinste. „Gehen wir wieder zu den anderen.“ Schmunzelnd nickte ich, nahm seine Hand und ging gemeinsam mit ihm in Richtung Haus. „Singst du auch was?“ fragte er fröhlich. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und sah ihn an. „Tut mir leid, aber um keinen Preis der Welt singe ich Karaoke. Da höre ich mir lieber die schiefen Stimmen der anderen an.“ „Spielverderber“ lachte er als wir im Haus angekommen waren. Schließlich verbrachten wir noch einen wirklich lustigen Abend. Kapitel 29: Weihnachtsaufführung -------------------------------- Die Zeit verging wirklich wie im Flug. Durch die Physio machte ich schnell Fortschritte und konnte bald wieder Klavier spielen. Mein Vater ging wieder arbeiten und ich ging wieder in die Werkstatt, auch wenn ich nur leichte Arbeiten erledigen durfte. Wenn ich nicht in der Werkstatt oder bei Jaden war, verbrachte ich viel Zeit mit der Vorbereitung für die Weihnachtsaufführung. Zu diesem Anlass hatte ich Naomi gebeten, meinem Vater an diesem Abend keine Schicht einzutragen. Ich wollte ihn überraschen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich das Klavier spielen aufgegeben und er war noch immer der Überzeugung, dass sich daran nichts geändert hatte. ~*~ Die Leute nahmen allmählich ihre Plätze ein und ich ließ den schweren Samtstoff des Vorhangs los, der die Sicht auf die Zuschauer wieder verbarg. „Im Prinzip war es dein Plan. Mal sehen, ob es funktioniert“ sagte ich. Wir standen hinter der Bühne. Jaden grinste optimistisch. „Wird schon schief gehen.“ Ich hatte eher ein schlechtes Gefühl. Ob das so eine gute Idee war? Vielleicht hätte ich es lassen sollen. „Hey, im schlimmsten Fall wird dein Vater vielleicht sauer sein und der Plan geht schief.“ Das entlockte mir ein kurzes Lachen. „Sehr aufbauend, danke.“ Auch er lachte kurz auf, gab mir einen flüchtigen Kuss und grinste. „Na dann!“ sagte er im Gehen, während er die Hand hob. „Hals- und Beinbruch!“ Mit diesen Worten verschwand er, um seinen Platz einzunehmen. Belustigt schüttelte ich den Kopf und sah ihm nach. Doch mein Lächeln erstarb. Heute Morgen hatte ich noch gehofft der Plan funktioniert. Mittlerweile hoffte ich einfach nur, dass mein Vater es mir nicht übelnehmen würde. Wieder schob ich den Stoff des Vorhangs etwas beiseite, um auf die Zuschauer zu sehen. In der dritten Reihe entdeckte ich meinen Vater, der neben Jadens Eltern Platz genommen hatte. Jaden war auch bei seinen Eltern angekommen und setzte sich dazu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Alles in Ordnung?“ hörte ich die Stimme von Alexis und ließ den Vorhang wieder los. Sie musterte mich besorgt. „Du siehst blass aus.“ Ich winkte ab. „Nein, schon gut. Ich bin nur nervös.“ Fragend zog sie eine Augenbraue nach oben. „Ernsthaft? Du spielst großartig, außerdem standest du doch schon auf einer Bühne.“ Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Jetzt mal ehrlich. Das wird schon. Wir haben so viel geübt.“ „Hast recht“ antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. Auch wenn es nicht der Auftritt war, weswegen ich so nervös wurde. * Die Sicht von Hakase * Noch einmal sah ich mich suchend um. Der Saal war bereits fast voll und noch immer war keine Spur von meinem Sohn zu sehen. Seit ich Naomi und ihren Mann in der Menge ausgemacht hatte, war er unauffindbar. Dabei wollte er doch unbedingt bei dem Auftritt von Alexis dabei sein. Das grelle Licht der Aula wurde gedimmt, sodass abgesehen von der Bühne nur die Gänge beleuchtet waren und die Gespräche um uns herum wurden gedämpfter. „Merkwürdig“ murmelte ich und sah zu Naomi. „Weißt du wo Yusei steckt?“ Sie lächelte amüsiert. „Sicher bei Jaden. Er wollte den anderen hinter der Bühne viel Glück wünschen. Aber er sollte sich langsam beeilen, die Vorstellung beginnt jeden Augenblick.“ Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, sah sie an mir vorbei. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte Jaden. Den einzelnen, leeren Stuhl neben mir ignorierend, schlängelte er sich an mir und seinen Eltern vorbei, um ebenfalls Platz zu nehmen. Wieder sah ich in die Richtung, aus der er kam, aber von meinem Sohn war noch immer nichts zu sehen. Langsam machte ich mir Sorgen. Wo könnte er nur stecken? Ob ich ihn suchen sollte? Aber selbst wenn ich losgehen würde, hätte ich keine Idee wo er sein könnte. „Mach dir keine Gedanken“ hörte ich wieder Naomis Stimme und sah in ihr zufriedenes Gesicht. „Bleib einfach hier und genieß die Vorstellung.“ Eine Bewegung zu meiner Rechten. Jemand streifte meinen Arm. Dann hat Yusei es doch rechtzeitig vor Beginn des Auftritts geschafft. Wenn auch nur knapp, denn der schwere Samtvorhang der Bühne bewegte sich zur Seite und gab langsam die Sicht dahinter Preis. Ich drehte mich zu ihm, doch entgegen meiner Erwartung, saß nicht mein Sohn neben mir. Meine Muskeln verspannten sich. Irritiert sah ich die Silhouette der Frau neben mir an, die mich keines Blickes würdigte. „Hallo Hakase“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, den Blick weiterhin auf die Bühne gerichtet. Es dauerte einige Augenblicke, ehe ich mich wieder gefasst hatte. Ich verstand einfach nicht, warum ausgerechnet Kazuko sich die Vorstellung ansehen wollte. Noch dazu von dem Platz aus, den ich für Yusei freigehalten hatte. „Der Platz ist besetzt“ sagte ich kühl und ebenso leise. Was hat sie hier zu suchen? Einen Moment lang zog sie ehrlich irritiert die Stirn in Falten und sah mich an. Im Nächsten holte sie einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche, warf einen Blick darauf und zeigte ihn mir. „Yusei sagte, er würde mir genau diesen Platz freihalten.“ Ich warf einen kurzen Blick auf den Zettel. Reihe und Platz stimmten, aber sonst war hier kein Stuhl mehr frei. „Ich muss dich enttäuschen, aber den Platz hatte ich für Yusei freigehalten, sobald er hier auftaucht.“ Ein verhaltenes Kichern neben mir. Das war Naomi. Die Gespräche um uns herum kamen zum Erliegen. Ich sah noch immer abwartend zu Kazuko, doch sie machte keinerlei Anstalten den Platz zu wechseln. Stattdessen verstaute sie den Zettel wieder in ihrer Tasche und sah mich überrascht an. Ihre Antwort war nur ein Flüstern. „Warum, um alles in der Welt, sollte Yusei bei den Zuschauern sitzen? Er ist dort vorn.“ Was? Mein Blick wanderte zur Bühne, über die Gruppe von Schülern, die mit ihren Instrumenten bereits an ihren Positionen waren, der hochgewachsenen, bebrillten Frau, die in diesem Moment das Mikrofon zur Hand nahm, bis zu dem Schüler am Klavier. Ich konnte es nicht fassen. Dort auf der kleinen Bank vor dem Klavier saß tatsächlich Yusei und warf mir einen kurzen Seitenblick zu, während die Frau am Mikrofon zu sprechen begann. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, Sie zur Weinachtsaufführung unserer Schule willkommen zu heißen. Mein Name ist Fonda Fontaine. Im Laufe des Abends werden wir Ihnen einige Musikstücke präsentieren, die die Schüler der Jahrgänge zwei und drei einstudiert haben. Am Cello haben wir…“ Wieder sah ich zu Yusei, während seine Lehrerin die Schüler an den Instrumenten vorstellte. Wann hat er wieder begonnen, Klavier zu spielen? Nach Miakos Tod hatte er es doch aufgegeben, und ich hatte es damals ohne Nachfrage zur Kenntnis genommen. Ich konnte ihn verstehen. Seitdem stand das Klavier unangetastet in dem freien Raum im Obergeschoss. Warum hat er mir nichts davon erzählt? Und die nicht weniger interessante Frage war, warum ich scheinbar für Kazuko den Platz freihalten sollte. Anscheinend hatte er sich das ausgedacht, damit ich gezwungen war, den ganzen Abend neben ihr zu sitzen. Tja, der Plan geht wohl auf, aber darüber würde ich später noch mit ihm sprechen müssen. Auch wenn er sich noch so oft wünscht, Kazuko und ich würden miteinander auskommen können, muss ich ihn da wohl enttäuschen. Ich hatte es widerwillig hingenommen, dass er sie vor zwei Wochen über das Wochenende besucht hatte. Aufhalten konnte ich ihn nicht. Aber wenn er mich wieder überzeugen wollte mitzukommen, oder sie zu uns einzuladen, hatte ich mehr als deutlich klar gemacht, dass ich an diesen Treffen kein Interesse hatte. Und es machte mich schlichtweg wütend, dass er es wieder versuchte. „Jetzt setz nicht so ein Gesicht auf“ holte mich eine leise Stimme wieder in die Realität und ich neigte meinen Kopf wieder zu Kazuko. Schlimm genug, dass ich gezwungen war in ihrer Nähe zu sein, wollte ich zumindest kein weiteres Gespräch mit ihr führen. „Yusei hat uns anscheinend beide nicht eingeweiht, aber sieh ihn dir mal an.“ Was meint sie? Wieder sah ich zu meinem Sohn. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich wusste, was sie meinte. Yusei wirkte nervös. Er versuchte es zu verstecken, aber er warf mir immer wieder einen unauffälligen Seitenblick zu und wenn man ganz genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine Finger mit dem Saum der Jacke seiner Schuluniform spielten. Es sah ihm nicht ähnlich auf der Bühne nervös zu sein. Schließlich war das bei weitem nicht sein erster Auftritt und er war dabei stets sehr souverän. Warum also wirkte er jetzt so verunsichert? Da erst spürte ich, wie meine Finger sich förmlich an den Stuhllehnen festklammerten. Wie sich mein Kiefer verspannte. Vielleicht war das der Grund, warum er so verunsichert wirkte. Ich seufzte lautlos und schloss die Augen. Ihm zuliebe sollte ich meine Abneigung gegenüber Kazuko zumindest heute runterschlucken und den Abend genießen. Immerhin freute ich mich wirklich, dass Yusei diesen wichtigen Teil seines Lebens nicht aufgegeben hatte. Vermutlich hatte er mir nichts davon erzählt, um mich zu überraschen. Das war ihm gelungen. In mehrerlei Hinsicht. Die Zuschauer applaudierten und ich versuchte auszumachen warum, während ich automatisch ebenso in die Hände klatschte. Ich hatte nicht mehr auf das Geschehen auf der Bühne geachtet. Was war passiert? Die Frau steckte das Mikrofon in die dafür vorgesehene Halteeinrichtung und stieg zwei der Stufen, die von der Bühne zu den Zuschauern führten, hinunter, hinter einen Notenständer, drehte sich zu ihren Schülern und hob einen Taktstock an. Der Applaus erstarb und auch ich ließ meine Hände wieder sinken. Die Kinder machten sich bereit und das erste Stück begann. Es war so schön zu sehen, wie Yusei von der ersten Note an wieder ganz in der Musik versank. Es waren nur Begleitakkorde, nichts Kompliziertes, aber es klang wundervoll und er wirkte wieder so entspannt. Friedlich. So sah ich ihn seit dem Umzug nur selten. Ich schmunzelte. Er war wieder ganz wie früher, wenn er spielte. Mir wurde ganz warm ums Herz. „Er ist ihr wirklich ähnlich“ hörte ich wieder Kazukos leise Stimme. Ich hatte Mühe sie durch die Musik zu verstehen und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre Augen waren auf die Bühne gerichtet. Ich nickte, auch wenn ich das Gefühl hatte, als würde sie eher mit sich selbst sprechen. In diesem Punkt musste ich ihr tatsächlich zustimmen. Er hatte viel von seiner Mutter. „Deine Tochter hat eine wirklich schöne Stimme“ richtete ich mich in der Pause an Naomi. „Ich weiß, und sie hat so viel Spaß dabei. Und Yusei spielt ganz wundervoll. Ich wusste zwar, dass er Klavier spielt, aber ich habe ihn vorher noch nie gehört.“ „Warst du eigentlich eingeweiht?“ Mit einem breiten Lächeln sah sie mich an. „Ja, er wollte dich überraschen. Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass wir heute Abend beide Frei haben. Entschuldigst du mich kurz?“ Mit diesen Worten stand sie auf und schlängelte sich an mir vorbei, um die Aula zu verlassen. Kurz sah ich ihr nach, doch mein Blick schweifte ungewollt zu Kazuko. Sie tippte auf ihrem Handy herum. Zu meiner linken unterhielten sich Makoto und Jaden angeregt miteinander. Unschlüssig saß ich auf meinem Platz und überlegte ebenfalls mein Telefon zur Hand zu nehmen, doch plötzlich hörte ich wieder Kazukos Stimme. „Ist dir das Ganze sehr unangenehm?“ Ich musterte sie überrascht. Ihr Blick war ernst. Dass sie das wirklich interessieren würde, hätte ich nicht gedacht. „Unangenehm trifft es nicht ganz. Ich war überrascht dich zu sehen. Aber selbst, wenn ich jetzt weiß, dass Yusei hier auftritt, hätte ich nicht gedacht, dass du deswegen extra aus Tokio kommst.“ „Hat er dir das nicht gesagt?“ Ich schüttelte den Kopf und sah wieder auf die geschlossenen Vorhänge der Bühne. „Das ist nicht die erste Aufführung, die ich mir von ihm ansehe.“ Überrascht sah ich doch wieder zu ihr. „Was?“ „Hat dir Miako von den Briefen an mich erzählt?“ Ich nickte und betrachtete sie skeptisch. „In einem schrieb sie von einem Wettbewerb, an dem Yusei teilnehmen wollte. Das war im letzten Jahr.“ „Du warst dabei?“ Sie nickte und lächelte zaghaft. „Die meisten Teilnehmer spielten ihre Stücke perfekt. Aber es waren ausnahmslos recht einfache, langweilige, eintönige Stücke, ohne Leidenschaft. Als ich Yusei spielen hörte, war ich ein wenig stolz. Er war einer der wenigen, die sich an etwas komplizierterem versuchten. Er hatte sich zwar einmal verspielt, aber es war meiner Ansicht nach dennoch der beste Auftritt des Abends. Nicht weil er technisch perfekt war, sondern weil Yusei Emotionen in dieses Stück legte. Leider reichte es nur für den zweiten Platz.“ „Er war sehr stolz auf seine Platzierung“ verbesserte ich sie. Immerhin traten an diesem Abend 30 Teilnehmer an, die im Vorfeld ausgewählt wurden. „Ich sage ja nicht, dass es eine schlechte Leistung war. Wäre diese eine falsche Note nicht gewesen, hätte er an diesem Abend vermutlich das Stipendium für die Hochschule bekommen.“ „Das hat er doch“ sagte ich verwirrt. Hat Yusei gar nichts davon erzählt, als er bei ihr in Tokio war? Sie sah aus, als wolle sie etwas darauf erwidern, doch sie blieb still. „Ich bin überrascht, dass du da warst. Warum bist du nicht auf Miako zugegangen?“ Ihr Blick wurde wieder undurchdringlich. Sie straffte ihre Schultern. „Was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen? ‚Hallo Liebes, wir haben uns fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen, wie geht es dir‘? Ich dachte einfach es war zu spät.“ Ihr Blick senkte sich. „Hätte ich gewusst, dass ich sie an diesem Tag zum letzten Mal sehe, hätte ich vielleicht anders gehandelt.“ Auch ich senkte den Blick, sah in die Ferne. Es hätte ihr viel bedeutet, wenn sie sich mit ihren Eltern hätte aussprechen können. „Du hättest schon früher auf sie zugehen können“ murmelte ich. „Schon vor dem Wettbewerb. Wären diese Briefe nicht, hättest du keine Ahnung gehabt, wie ihr Leben verlief.“ Ich sah wieder auf, musterte sie. „Warum hast du ihr nicht wenigstens geantwortet?“ Ihre Finger vergruben sich in das Leder ihrer kleinen Handtasche. „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern“ sagte sie und sah mich ernst an. „Aber ich habe sie nie aus den Augen verloren. Wenn ich die Zeit hatte, war ich auf ihren Konzerten. Ich sah mir jeden noch so kleinen Artikel in der Zeitung über sie an. Verfolgte alle Interviews. Aber ich hatte Angst! Ich wusste einfach nicht, wie ich auf sie zugehen sollte!“ Das war der vermutlich erste Moment, in dem ich nicht das Gefühl hatte, dass sie mir etwas vorspielen würde. Ich traute ihr zwar noch immer nicht, aber ich glaubte ihr. Das Licht im Saal wurde wieder gedimmt. Verwundert sah ich mich um. Für einen Augenblick hatte ich ganz vergessen wo wir waren. Naomi schlüpfte wieder auf ihren Platz und sah mich an. „Habe ich was verpasst?“ Ich verneinte und sah wieder zur Bühne. Der Vorhang öffnete sich langsam. Die Gespräche um uns herum erstarben. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich verändert. Wenn auch nur ein wenig. Auch wenn ich es nicht gutheiße, dass sie einfach in unserem Leben aufgetaucht war, konnte ich Yusei verstehen. Er sah sie als Teil der Familie. Aber… Wenn sie solche Angst vor dem Aufeinandertreffen mit ihrer Tochter hatte, warum dann der plötzliche Sinneswandel? Wegen Miakos Tod? Und warum ging sie auf Yusei in genau dem Moment zu, als er allein war? Wusste sie davon? Und wenn ja, woher? Der Klang einer vertrauten Melodie riss mich aus meinen Gedanken. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor in der ich sie nicht gehört hatte. Es war wie ein Lied aus einem früheren Leben. Auf der Bühne sah ich nur Yusei am Klavier. Nur vage erkannte ich einige andere Schüler, die sich zu der Melodie bewegten. Wie lang hatte ich dieses Lied nicht mehr gehört? Ich schmunzelte. Bilder der Vergangenheit strömten auf mich ein. Mein kleiner Sohn, der fieberhaft versuchte dieses Lied zu lernen. Meine bezaubernde Frau, die ihn mit so viel Stolz beobachtete. So viele Abende, an denen wir einfach gemeinsam Zeit verbrachten, während sie etwas spielten. Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, ein so erfülltes Leben zu haben. Auch wenn du nicht mehr hier bist, mein Liebling, bist du wohl für immer bei uns. Unser Sohn hat das längst erkannt. Verzeih mir, dass ich es eine Weile vergessen habe. Die letzten Klänge hallten durch den Raum und verebbten. In dem großen Saal herrschte eine geisterhafte Stille. Yusei öffnete seine Augen und sein Blick fiel auf meinen. Ein warmes Lächeln legte sich auf seine Lippen und plötzlich wurde die Stille von einem schallenden Applaus durchbrochen. Naomi stupste mich an und hielt mir ein Taschentuch hin. Kurz fragte ich mich nach dem Grund, als ich die vereinzelten Tränen in meinem Gesicht spürte. Ich nahm es dankend entgegen und sie lehnte sich ein kleines Stück zu mir. „Ihr habt während des Liedes übrigens beide den gleichen Gesichtsausdruck gehabt“ sagte sie schmunzelnd. ~*~ Nach der Aufführung lichteten sich die Reihen allmählig und wir warteten auf die Kinder, die hinter der Bühne noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Nach einiger Zeit tauchte Yusei auf, sah sich kurz um und kam sogleich auf uns zu, als er uns entdeckte. Auf halbem Weg wurde er allerdings von Jaden aufgehalten, der ihn freudig umarmte. Yusei sah immer so glücklich aus, wenn sie zusammen waren. Naomi lachte leise und auch ich musste grinsen. Langsam kam ich ihm entgegen und er sah mich an. „Das war großartig, mein Junge. Aber warum hast du mir in den letzten Wochen verheimlicht, dass du wieder angefangen hast zu spielen?“ „Ich wollte dich eben überraschen. Wärst du ins Gästezimmer gegangen, wäre allerdings alles aufgeflogen.“ Ich sah ihn fragend an. Sein Lächeln wurde breiter. „Ich hab doch gesagt, ich habe alles ausgepackt.“ „Hey!“ meldete sich Jaden zu Wort. „Papa meinte eben, wir könnten noch was Essen gehen. Wollt ihr auch mitkommen?“ Ich schmunzelte. „Sicher doch.“ „Bist du auch dabei?“ fragte Yusei und sah an mir vorbei. Schräg hinter mir stand Kazuko. „Es ist schon recht spät“ setzte sie an, doch Jaden fiel ihr ins Wort. „Ach bitte! Hier um die Ecke gibt es einen Italiener. Dort gibt’s die beste Pasta der Stadt!“ Ein dezentes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Danke für die Einladung, aber ich sollte wirklich langsam gehen.“ „Hey, Yusei!“ hörten wir die Stimme von Alexis, die auf uns zu kam. „Sensei Fontaine will nochmal kurz mit dir reden.“ Fragend sah er sie an, nickte aber. Dann richtete er sich wieder an Kazuko. „Schade, dass du schon wieder losmusst. Sehen wir uns zum Neujahr?“ Ihr Blick wanderte zu mir. „Wenn du nichts dagegen hast?“ Auch Yusei sah mich hoffnungsvoll an. Ablehnen konnte ich schlecht, also seufzte ich innerlich und stimmte zu. Yuseis Gesicht erhellte sich. „Wir gehen schonmal zum Auto“ schlug Naomi vor. „Wir treffen uns draußen. Jetzt solltest du aber wirklich langsam zu eurer Lehrerin, meinst du nicht, Yusei?“ „Oh, stimmt. Bis gleich“ sagte er mit einem Lächeln und verschwand. „Haben wir noch was vor?“ fragte Alexis verwundert. „Wir wollten noch essen gehen. Ist alles in Ordnung? Du bist ganz blass“ sagte Naomi und legte eine Hand an die Stirn ihrer Tochter. Sie schob sie beiseite. „Ja, schon gut. Ich hab nur Kopfschmerzen.“ Kazuko trat einen Schritt auf sie zu. „Wenn du willst, habe ich eine Tablette dabei.“ „Das wäre wirklich nett.“ Kazuko nickte und kramte in ihrer Handtasche nach den Tabletten, während sie auf Alexis zuging. Als sie sie herausholte, fiel eine kleine Plastikdose zu Boden. Ich konnte das Etikett nicht sehen, aber darin befanden sich ebenfalls Tabletten. Naomi hob sie auf und betrachtete sie einen Augenblick lang. „Schilddrüse“ sagte Kazuko schnell und griff sich das Döschen. „In meinem Alter hat man schonmal das ein oder andere Wehwehchen.“ Naomi musterte sie unschlüssig und nickte. „Jetzt kommt schon“ drängte Jaden. „Ich hab riesen Hunger!“ Naomi seufzte und folgte ihrem Sohn. „Jaden, benimm dich.“ Auf dem Weg zum Parkplatz sah ich zu Kazuko. Wir liefen am Ende unserer kleinen Gruppe. „Eine Frage hätte ich noch“ sagte ich. Sie musterte mich aufmerksam. „Warum jetzt?“ Fragend zog sie eine Augenbraue nach oben. „Was meinst du?“ „Nach all den Jahren. Warum tauchst du ausgerechnet jetzt auf?“ Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und schwieg einen Augenblick. „Ihr wart nicht die Einzigen, die um sie getrauert haben“ sagte sie schließlich und sah wieder zu mir. „Ich habe innerhalb kürzester Zeit meinen Mann und mein einziges Kind verloren. Dann kam mir der Gedanke, dass ich schon zu viel Zeit verschwendet habe. Wenn ich das Verhältnis zu meiner Tochter schon nicht wieder aufbauen konnte, wollte ich zumindest meinen Enkelsohn kennenlernen.“ Wir waren am Parkplatz angekommen. Zielgerichtet ging Kazuko auf ihr Fahrzeug zu, das nahe am Eingang parkte. „Warte“ sagte ich. Sie drehte sich noch einmal zu mir. „Woher hast du gewusst wo wir jetzt leben? Die neue Adresse hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal meinen Freunden gegeben. Woher hattest du sie?“ Wieder legte sie ein kleines Lächeln auf. „Ich dachte du hättest nur noch eine Frage.“ Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, doch sie ignorierte es. „Ich habe meine Mittel“ sagte sie und öffnete die Tür ihres Wagens. Als sie einstieg hatte sie noch immer dieses Lächeln im Gesicht. „Bis nächste Woche.“ Mit diesen Worten schlug sie die Tür ihres Wagens zu und fuhr davon. Ich sah ihr noch einen Augenblick nach. Was soll das bedeuten, sie hätte ihre Mittel? Kapitel 30: Weihnachten ----------------------- Ich lief durch die Straßen meiner Nachbarschaft und bekam dieses Grinsen einfach nicht aus meinem Gesicht. Vom Himmel rieselten die ersten Schneeflocken des Winters und färbten die Landschaft weiß. Die Sonne stand schon ziemlich tief und ließ die Umgebung glitzern. Warm eingepackt, stapfte ich durch den Schnee und genoss die kalte Luft in meinem Gesicht. Endlich waren Ferien und heute Abend wollte ich zusammen mit Yusei zu Akis Weihnachtsfeier gehen. Auch meine anderen Freunde würden dabei sein und ich freute mich schon wahnsinnig. An Yuseis Haustür empfing mich sein Vater überrascht „Du bist ja früh dran“ sagte er und sah auf die Uhr. „Wollt ihr nicht erst in einer Stunde los? Ich habe eben erst angefangen das Abendbrot vorzubereiten.“ „Naja, sonst bin ich immer zu spät“ lachte ich und legte meine Jacke ab. „Wo ist denn Yusei?“ „Der ist schon seit ein paar Stunden in der Garage“ antwortete er, während er in die Küche ging. Erst jetzt bemerkte ich die gedämpfte Musik, die anscheinend aus der Garage kam. „Willst du mitessen? Yusei braucht sicher noch eine Weile bis er fertig ist.“ „Nein, ich hab schon gegessen. Aber danke!“ antwortete ich und stellte meine Tasche ab. Als ich die Tür zur Garage öffnete, dröhnte mir Painkiller aus einer Musikbox entgegen. „Yusei?“ sagte ich laut um die Musik zu übertönen. Er kniete auf dem Boden vor seinem Motorrad, drehte sich zu mir und stellte die Box mit seinem Handy leiser, damit man sich auch mit normaler Lautstärke unterhalten konnte. „Ist was mit dem Motorrad?“ fragte ich besorgt, ging auf ihn zu, beugte mich zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Erst da bemerkte ich, dass er von oben bis unten voller Flecken war. „Ich wollte nur etwas prüfen“ sagte er und sah noch einmal auf sein Handy. „Wir haben doch noch Zeit, bevor wir zu Aki gehen.“ „Ja, ich weiß. Aber Alexis und ich waren schon fertig und ich dachte ich lauf schon mal früher zu dir“ sagte ich und musste auflachen. „So wie du aussiehst, solltest du aber vorher noch duschen.“ Er schmunzelte, griff sich sein Werkzeug und widmete sich wieder seinem Motorrad. „Vermutlich, aber ich will das hier noch beenden.“ „Was machst du da eigentlich?“ fragte ich und setzte mich auf die Werkbank ihm gegenüber. „Ich habe doch vor einiger Zeit mein Motorrad von der Schule hierherfahren müssen, weil es seit dem Unfall immer noch dort stand. Seitdem hat es ein paar Macken, weil Wasser in den Tank und den Vergaser gekommen ist.“ „Ja, stimmt, hast du schon gesagt. Aber ich dachte dir fehlt da ein Teil zum Reparieren.“ „Richtig. Die Tankdeckeldichtung. Eigentlich der komplette Deckel, aber mein Tank ist uralt und die Dichtung hat eine recht spezielle Größe. In der Werkstatt haben wir die leider nicht da und Sam meinte, es wäre nicht lieferbar. Ich fürchte ich brauche einen neuen Tank. Aber bevor ich den wechsle, muss ich sowieso den Vergaser reinigen.“ „Und da fängst du jetzt an?“ lachte ich. „Du musst dein Motorrad doch sowieso die nächsten Monate stehen lassen. Warum die Eile?“ Klirrend fiel ein Schraubenschlüssel zu Boden und Yusei fluchte leise. „Metall, Wasser und Sauerstoff vertragen sich auf lange Zeit nicht. Ich habe einfach keine Lust auf Rost.“ Ich stand auf und lehnte mich auf den Sitz um Yusei anzusehen. Er sah auf. „Schon klar, aber wir haben jetzt zwei Wochen Ferien und du fängst damit ein paar Stunden vor der Feier an? Bei so lauter Musik?“ Ich grinste. „Ich glaube du willst dich damit vor irgendetwas ablenken.“ Einen Augenblick musterte er mich überrascht. Schließlich schnaufte er belustigt und widmete sich wieder dem Wirrwarr an Teilen auf dem Boden, schnappte sich eines und begann, es in sein Motorrad einzubauen. „Vielleicht hast du recht.“ Eine kleine Weile beobachtete ich Yusei dabei, wie er an seinem Fahrzeug herumwerkelte. Den Gesichtsausdruck kannte ich schon. Wenn er so konzentriert aussah, wollte ich ihn nicht stören. Schließlich schnappte er sich ein neues Teil. „Ich habe heute Morgen mit meiner Großmutter telefoniert, weil ich sie wegen nächster Woche etwas fragen wollte. Sie meinte im Laufe des Gesprächs, ihr ist aufgefallen, dass wir ziemlich vertraut miteinander sind.“ Fragend legte ich die Stirn in Falten. „Naja, klar. Wir sind schließlich zusammen. Warum wundert sie sich darüber?“ „Sie wusste es nicht.“ Ich war noch immer verwirrt. Wie kann einem das nicht auffallen? Hat Yusei ihr das verschwiegen? Ich wollte schon nachfragen, doch Yusei sprach weiter. „Anscheinend dachte sie wirklich wir wären nur Freunde. Ich habe ihr nie direkt gesagt, dass wir ein Paar sind, weil ich dachte es wäre offensichtlich. Ihr letzter Stand war meine Beziehung mit Sherry. Vielleicht hat sie das… verwirrt.“ Mir fiel auf, dass er mir schon seit einiger Zeit nicht mehr in die Augen gesehen hatte. Er friemelte konzentriert mit einem Schraubenzieher an dem Teil herum, auch wenn ich keine Schrauben daran erkennen konnte. „Okay?“ meinte ich konfus. „Und gibt’s da jetzt ein Problem?“ „Sie…“ Er seufzte, unterbrach was auch immer er da tat und sah mich an. „Sie war weniger darüber überrascht, sondern entsetzt.“ Mir entgleiste fast das Gesicht. „Was?! Warum?“ „Keine Ahnung“ murmelte er, wandte sich von mir ab und nahm das letzte Teil auf dem Boden zur Hand. „Vielleicht hab ich es auch einfach falsch interpretiert.“ Mit diesen Worten widmete er sich wieder seinem Motorrad. Ich legte meine Hand auf seine und hielt ihn so von seiner Arbeit ab. Er sah wieder zu mir. „Was hat sie genau gesagt?“ fragte ich ernst. Die Momente verstrichen und er musterte mich. War anscheinend hin- und hergerissen. Doch schließlich gab er mir seine Antwort. „Ich… dachte du wärst in einer normalen Beziehung. Wie stellst du dir so eine Zukunft vor?“ Mir schlief das Gesicht ein. Ernsthaft?! Wie kann man nur so beschissen reagieren? „Genau“ sagte Yusei leise und schraubte wieder irgendetwas an dem Motorrad. „Ich hab es auch nicht verstanden.“ „Und jetzt?“ fragte ich plump. Zumindest erklärt das sein Verhalten heute. „Sie wird lernen müssen damit umzugehen. Ich liebe dich, und daran wird sie garantiert nichts ändern können.“ „Und wenn sie das nicht kann?“ fragte ich leise und bereute noch im selben Moment, dass ich diese Frage gestellt hatte. „Dann ist das ihr Problem.“ Damit sammelte er sein Werkzeug vom Boden zusammen und ging an mir vorbei, um alles zu verstauen. Ich verstand es einfach nicht. Erst reißt sie sich ein Bein aus, damit sie und Yusei Kontakt haben und dann das. Das ist doch völliger Blödsinn! Sie muss doch wissen, dass sie ihn damit verletzt. Während Yusei seine Hände an einem Stofftuch säuberte, drehte ich mich zu ihm und umarmte ihn von hinten. Vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. „Ich mache dich noch ganz schmutzig“ sagte er, doch das kümmerte mich im Moment wenig. „Das wird sich schon wieder einrenken“ murmelte ich. „Sie mag dich, oder nicht? Und sie will dich bestimmt nicht verlieren. Sie wird einsehen, dass ihre Aktion bescheuert war. Und dann ist alles wieder beim Alten.“ Darauf wollte ich zumindest hoffen. Er löste sich ein Stück von mir und drehte sich um, schenkte mir ein kleines Lächeln. „Du hast sicher recht“ sagte er und legte seine Lippen sanft auf meine. Ich erwiderte seinen Kuss und legte meine Hand in seinen Nacken, zog ihn näher zu mir. Schließlich löste er sich von mir und seufzte. „Na schön. Ich sollte mich langsam fertig machen, sonst kommen wir noch zu spät.“ Wieder legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Es gibt keine bessere Ablenkung als eine Feier mit seinen Freunden, meinst du nicht?“ * Die Sicht von Yusei * Das warme Wasser milderte meine Anspannung, während sich das Bad allmählich mit heißem Wasserdampf füllte. Ich versuchte mich auf das beruhigende Gefühl zu konzentrieren, wie das Wasser in dünnen Bahnen meine Haut entlangfließt. Doch schnell wanderten meine Gedanken wieder zu dem Telefonat. Mir war bewusst, dass sie mich nicht absichtlich verletzen wollte, und doch tat es weh zu wissen, dass sie gegen meine Beziehung mit Jaden war. Eigentlich könnte es mir egal sein wie sie darüber denkt, schließlich ist es mein Leben. Meine Gefühle ändern sich nicht, nur weil sie es nicht akzeptiert. Ich wusste von Vornherein, dass nicht jeder diese Beziehung gutheißen würde. Das ist nun mal unsere Gesellschaft. Viele halten es einfach für unnormal, vielleicht sogar für falsch. Ich wusste es und doch versetzte mir diese Ablehnung einen Stich. Gerade von jemandem, der mir nahesteht. Ich schüttelte den Kopf und stellte das Wasser ab. Versuchte den Gedanken loszuwerden. Jaden hatte Recht. Vielleicht renkt sich wieder alles ein, und wenn nicht, dann muss ich mich einfach damit abfinden. Und zumindest heute wollte ich nicht mehr daran denken. Glücklicherweise wurde ich pünktlich fertig mit allem. Wir verabschiedeten uns von meinem Vater und brachen zu Aki auf. Sie wohnte ein ganzes Stück weit weg, in einer recht ruhigen Gegend mit großen, wirklich schönen Häusern. Eigentlich nicht verwunderlich. Sie erwähnte mal, dass ihre Eltern in der Politik arbeiteten. „Cool, oder?“ fragte Jaden, als wir vor einem weißen Haus zum Stehen kamen. Ich nickte. Es war ein wirklich schönes Anwesen. Die sauber gestutzten Büsche im Vorgarten trugen kleine Blüten aus Schnee, die im Licht der Straßenlaterne glitzerten. Die großen Fenster des Hauses waren beleuchtet und warfen ein angenehmes Licht in die inzwischen dunkle Umgebung. Wir liefen den gepflasterten Weg zur Haustür entlang und Jaden klingelte. Einen Augenblick später öffnete uns ein großgewachsener, brünetter Mann die Tür. Er war vielleicht Ende 40 und hatte ein freundliches Lächeln auf den Lippen. „Hallo, Herr Izayoi“ begrüßte ihn Jaden grinsend. „Hallo, Jaden. Lange nicht gesehen“ sagte er und bat uns herein. „Deine Schwester ist schon oben bei Aki im Kaminzimmer. Und du bist sicher Yusei“ wandte er sich an mich und wartete auf eine Antwort. Er kennt meinen Namen bereits? Ich verbeugte mich knapp zur Begrüßung. „Ja, richtig. Schön, Sie kennenzulernen.“ „Oh, ein junger Mann mit Manieren, das sieht man gern“ bemerkte er lächelnd. „Ich wünsche euch viel Spaß.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und Jaden führte mich eine Treppe nach oben. In dem breiten Gang im Obergeschoss hörte man leise Musik. Jaden öffnete eine Tür, aus der sie zu kommen schien und wurde plötzlich von etwas Großem, schwarzen angesprungen. Ich wich zurück, doch Jaden schien nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Er freute sich und streichelte den Rottweiler, der freudig um uns herumsprang. „Taro!“ hörten wir Akis Stimme in strengem Tonfall und der Hund tapste wieder ins Zimmer zurück. Als wir eintraten, strahlte sie uns entgegen. „Hey, schön, dass ihr da seid!“ Wir umarmten sie knapp und ich sah mich ein wenig um, während Jaden sich wieder mit dem Hund beschäftigte. Der große Raum war komplett mit dunklem Holz ausgelegt und sah sehr edel aus. Die gegenüberliegende Wand bestand fast gänzlich aus einer Fensterfront. In der Mitte des Zimmers stand ein niedriger Tisch, um den eine große Couch und einige Sessel aufgestellt waren. Sie alle waren zu einem Kamin an der anderen Wand ausgerichtet, in dem bereits ein Feuer prasselte, das den gesamten Raum beheizte. Auf dem Kaminsims lagen Tannenzweige und allerlei Weihnachtsdekoration. Auch den restlichen Raum hatte Aki mit einigen Lichterketten und Dekoration weihnachtlich geschmückt. Man sah, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatte. „Willst du was trinken?“ fragte Aki mit einem Lächeln. „Nein, danke. Jetzt noch nicht“ antwortete ich. „Wo ist denn der Rest?“ „Jim musste nochmal los, weil er was vergessen hatte. Abgesehen von ihm und Alexis seid ihr die ersten.“ Etwas Kaltes berührte meine Hand und ich sah nach unten. Der Hund schnüffelte schwanzwedelnd an meiner Hand und schleckte sie kurz ab. Ich schmunzelte und kraulte seinen Kopf. Er war wirklich freundlich. Als ich mich auf das Sofa setzte, öffnete sich die Tür erneut und Jack betrat den Raum, gefolgt von Carly. Letztere strahlte über das ganze Gesicht. „Frohe Weihnachten!“ trällerte sie und stellte eine kleine Schachtel auf dem Tisch ab. Jaden beäugte sie neugierig und setzte sich neben mich. „Was ist das denn?“ „Jack und ich haben etwas vorbereitet“ sagte sie mit einem breiten Lächeln und öffnete die Schachtel. Darin waren viele verzierte Plätzchen. Die eine Hälfte sah sehr liebevoll gestaltet aus, die andere eher, als wären sie in den Zuckerguss gefallen und hätten bei der Rettungsaktion ein paar Streusel abbekommen. Alexis lachte. „Lieb von euch, aber das bekommen wir heute nie alles weg.“ Carly sah sie fragend an. „So viele sind es doch gar nicht.“ „Das nicht“ meinte Jaden, während Alexis eine große Dose aus ihrer Tasche holte. „Aber wir hatten die gleiche Idee.“ Erneut öffnete sich die Tür und Crow kam ins Zimmer. „Hey“ begrüßte er uns knapp. „Jim kommt auch gleich, der ist nochmal in die Küche abgebogen.“ „Na hoffentlich kam er nicht auch auf die Idee“ lachte Jaden. Crow hob nur fragend eine Augenbraue, kannte die Antwort aber vermutlich schon als er auf den Tisch sah. Er schnaufte belustigt und nahm einen der Unfallkekse aus der kleinen Schachtel, die Carly abgestellt hatte. „Was ist denn mit denen passiert?“ Carly steckte verlegen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Ich kann das eben nicht so gut wie Jack…“ Überrascht sah ich zu dem Blonden. „Die anderen sind von dir?“ Ich hatte eigentlich angenommen, dass Carly die mit dem größeren Geschick war. Er zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern und setzte sich in einen der Sessel. Ich hatte den Eindruck, als wäre ihm die Sache unangenehm. Aki stand auf und stellte die Stereoanlage an, aus der kurz darauf einige englische Weihnachtslieder liefen, während die anderen sich unterhielten. In diesem Moment kam Jim ins Zimmer, beladen mit einem großen Teller. Was darauf war, hielt er allerdings durch eine Abdeckung versteckt. Als er uns ebenfalls begrüßte und den Teller auf dem Tisch abstellte, kam Aki zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Danke fürs abholen“ sagte sie lächelnd und man konnte zusehen, wie Jim rot wurde. Ich schmunzelte. Die beiden passen wirklich gut zusammen. Das Vibrieren meines Handys holte mich wieder in die Realität. Eine Nachricht von Jesse. Ob er schon angekommen ist? „Die sieht ja toll aus!“ Ich sah wieder auf. Aki hatte die Abdeckung entfernt. Auf dem Teller stand eine kleine, wirklich liebevoll detailliert verzierte Torte. „Wo hast du die denn bestellt?“ fragte Alexis beeindruckt. „Die ist aus dem Magidolce“ antwortete Aki. „Ich hab sie schon Anfang September vorbestellt.“ „Die sieht echt klasse aus“ bestätigte Crow. „Hoffentlich schmeckt sie auch so.“ Aki nickte. „Na dann, auf ein schönes Weihnachtsfest!“ Carly zückte ihre Kamera und schoss einige Fotos, während Aki die Torte anschnitt. Währenddessen sah ich noch einmal schnell auf mein Handy und tippte eine Antwort. Als ich es wegsteckte, reichte mir Jaden einen kleinen Teller mit einem Stück Kuchen und grinste. „Mit wem schreibst du denn?“ „Mit Jesse“ antwortete ich und nahm den Teller dankend entgegen. „Ich soll dir Grüße von ihm ausrichten. Er ist gerade gelandet und kämpft jetzt schon mit dem Jetlag.“ „Wie spät ist es denn dort?“ Ich überlegte kurz. „Ich weiß es nicht genau. Acht oder neun Stunden früher.“ „Krass, da ist erst Mittag?“ „Wer ist denn Jesse?“ fragte Carly. „Ein Freund aus Osaka.“ „Und wo ist er hingeflogen?“ „Er ist über Weihnachten bei seiner Familie in Norwegen.“ Aki war fertig mit dem Verteilen der Torte, setzte sich und sah mich erstaunt an. „Er fliegt extra die lange Strecke, nur wegen Weihnachten?“ „Das ist dort ein wenig anders als in Japan. Es hat da in etwa den gleichen Stellenwert wie Neujahr bei uns.“ „Irgendwann flieg ich da auch mal hin“ sagte Jaden fröhlich. Alexis stöhnte auf und ließ ihre Gabel klirrend auf dem Teller landen. „Jetzt geht das wieder los.“ Dafür erntete sie von Jaden nur ein freches Grinsen, bevor er sich ein Stück Kuchen in den Mund schob. Ich sah sie fragend an. „Was geht los?“ „Jaden hat die komplett absurde Idee direkt nach der Schule durch die Welt zu reisen.“ „Das ist nicht absurd“ verteidigte er sich. „Die Welt ist viel zu groß, als dass ich mein ganzes Leben in Neo Domino verbringen kann. Ich schnapp mir einfach meinen Rucksack und zieh los. Mal sehen was danach wird.“ Mit einem Grinsen wandte er sich an mich. „Und wenn du Semesterferien hast, besuche ich dich. Oder du reist mir nach, das wird Klasse!“ Ich schmunzelte. „Das klingt gut.“ „Ermutige ihn nicht auch noch!“ kam es von Alexis. Jaden lachte los. „Und wie willst du das mit dem Geld machen?“ fragte Crow. „Ich hab ein bisschen was gespart. Nächstes Jahr jobbe ich noch neben der Schule und ansonsten kann ich unterwegs auch den ein oder anderen Gelegenheitsjob machen. Das wird schon.“ „Aber wie willst du das mit der Sprache machen?“ bemerkte Carly. „Mit Japanisch kommst du nicht weit.“ „Naja“ setzte Jim an. „Sprachen liegen ihm zumindest. Wenn Jaden in einem Fach gut ist, dann in Englisch. Was hattest du noch belegt?“ „Spanisch und Deutsch*“ antwortete er. „Und ich bin in allen dreien nicht schlecht.“ „Entweder ist das mutig oder dumm“ bemerkte Jack. Alexis schüttelte den Kopf. „Ganz klar dumm. Du kannst doch nicht einfach losziehen und aufs Beste hoffen.“ „Also ich finde es toll“ sagte Aki freudestrahlend. „Wäre meine Zukunft nicht schon durchgeplant, würde ich das auch machen wollen.“ „Was machst du denn nach der Schule?“ fragte ich. „Ich will Medizin studieren“ antwortete sie stolz. „Und irgendwann werde ich Ärztin.“ „Warte mal“ sagte Crow. „Bin ich echt der Einzige, der nach der Schule noch keinen Plan hat wie es weitergeht?“ „Hast du dich immer noch nicht entschieden?“ fragte Alexis fassungslos. Crow schüttelte nur den Kopf. „Aber bei den meisten Unis ist schon Anmeldeschluss.“ „Ich weiß“ grummelte er und sah in die Runde. „Was ist denn mit dem Rest?“ „Ich will Archäologie studieren“ sagte Jim breit grinsend. Alexis verschränkte die Arme. „Lehramt.“ Carly lächelte fröhlich. „Ich will Reporterin werden.“ „Profifußballer“ antwortete Jack knapp. Crow lachte auf. „Alter, ich sag’s dir nur ungern, aber so gut bist du auch nicht. Und davon leben kannst du nur, wenn du in der ersten Liga spielst.“ „Das werde ich auch!“ „Hast du nicht zumindest einen Plan B?“ fragte ich verwundert. Es ist ja gut Ambitionen zu haben, aber Crow hatte Recht. Jack war zwar gut, aber das Potential für einen Profispieler hatte er leider nicht. „Wozu?“ war seine Gegenfrage. „Ich werde Profispieler und Punkt.“ „Dann fall halt auf die Schnauze“ kam es trocken von Crow. „Zumindest habe ich einen Plan!“ „Jetzt reichts aber, ihr zwei!“ ging Alexis dazwischen und die beiden gaben grummelnd nach. „Wie sieht es denn bei dir aus, Yusei?“ fragte Aki. „Ich studiere vermutlich klassische Musik“ antwortete ich. Jack verschränkte die Arme vor der Brust. „Und in welcher Hinsicht soll das sicherer sein als mein Ziel?“ „Tja, er hats halt drauf.“ „Crow!“ Alexis sah sauer aus, Jim lachte sich schlapp. „Warum vermutlich?“ fragte Jaden und zog fragend die Stirn in Falten. „Du hast doch schon dein Stipendium.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Entweder das oder Automobiltechnik in Osaka. Ich hätte für beides einen Platz an einer Uni.“ Ehrlich gesagt hatte ich mich noch immer nicht entschieden, wie es in Zukunft weitergehen soll. Ich war hin und hergerissen. Ich liebte meine Arbeit mit Autos und Motorrädern, aber auch das Klavier spielen. Eines davon musste aber ein Hobby bleiben. Das Problem am Ingenieurwesen war nur, dass ich das Geld für das Studium noch nicht zusammen hatte. Durch den Umzug geriet mein Plan durcheinander, weil ich jetzt in Osaka nach einer kleinen Wohnung suchen müsste. Tokio wäre durch das Stipendium kein Problem. „Dann solltest du dich aber bald entscheiden“ bemerkte Alexis, was mir ein Seufzen entlockte. „Apropos Osaka“ setzte Crow an und musterte mich neugierig. „Stimmt das eigentlich, dass die Leute dort zum Neujahr von der Brücke springen, oder hat sich das mein Vater nur ausgedacht?“ Ich lachte auf. „Nein, das stimmt. Ist schon Jahre Tradition.“ „WAS?“ kam es wie aus einem Mund von Aki und Alexis. Jack zog die Stirn in Falten. „Meine Eltern meinten auch, dass die in Osaka ziemlich eigenartig sind.“ „Aber warum?“ fragte Jim. „Ist das nicht saugefährlich?“ Ich lehnte mich in die Rückenlehne des Sofas und überlegte kurz. „Naja, der Kanal ist recht tief und hat kaum Strömung, aber es gab schon einige Tote. Die Strömung wird unten stärker und das Wasser ist verdammt kalt und dreckig.“ „Hast du das auch mal gemacht?“ fragte Jaden verwundert. Ich nickte. „Einmal mit Kalin. Hat uns eine Woche Hausarrest eingebracht.“ Crow sah mich verständnislos an. „Wie kommt man auf sowas als Neujahrstradition?“ „Das hat irgendwas mit unserem Baseballteam zu tun, glaube ich.“ „Ja, stimmt!“ rief Carly aus und ich sah sie verwundert an. Auch die anderen wandten sich an sie. „Das hab ich mal gelesen. In den 80ern haben die Fans von einer gegnerischen Mannschaft irgendeine Statue in den Kanal geworfen, und dann glaubten die Fans aus Osaka, dass das 18 Jahre Pech bringt.“ Jack sah mich an hob skeptisch eine Augenbraue. „Und da hilft es natürlich hinterher zu springen.“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war kaum zu überhören. Wieder lachte ich auf. „Ich habe nie behauptet, dass das Ganze Sinn ergibt. Eigentlich gehe ich zum Neujahr immer mit meiner Familie im Mino Park wandern und wir sehen uns den ersten Sonnenaufgang an.“ Ich stutzte. Wir hatten noch gar nicht überlegt was wir dieses Jahr machen. Es hatte sich ja alles verändert. „Das machen wir auch“ sagte Aki fröhlich. „Also nicht in diesem Park, aber es ist nicht sehr weit bis zur Küste. Der Sonnenaufgang über dem Meer ist unglaublich schön! Und Taro liebt den Strand, nicht wahr?“ Der Hund legte seinen Kopf schwanzwedelnd auf ihren Schoß und starrte das halb aufgegessene Stück Torte auf ihrem Teller an. „Naja, nicht weit ist relativ“ warf Jim ein. „Wie lange brauchst du zu Fuß von hier aus? Zwei Stunden?“ Aki nickte. Zwei Stunden sind tatsächlich nicht viel. Wir hatten zum Aussichtspunkt im Mino Park immer knapp drei Stunden gebraucht. Vielleicht schlage ich das meinem Vater mal vor. Alexis seufzte. „Die Route sind wir früher auch gelaufen.“ „Was ist passiert?“ fragte ich. „Jaden ist passiert.“ Jaden verdrehte die Augen. „Ich hab doch gesagt geht ohne mich.“ Ich sah ihn nur fragend an und er antwortete auf meine stumme Frage: „Ganz ehrlich, das ist nicht meine Zeit! Ich hab ja nichts gegen wandern, aber nicht um 5 Uhr früh! In den ersten Jahren wurde ich mitgeschliffen, weil ich keine Wahl hatte, dann, weil ich sonst ein schlechtes Gewissen hätte und letztes Jahr hatte ich eben keine Lust mitzugehen. Das hat mir Alexis ewig übelgenommen!“ „Und was machst du dieses Jahr?“ fragte ich nach. Jaden zuckte als Antwort mit den Schultern. Alexis sah mich eindringlich an. „Willst du nicht mitkommen, Yusei? Du und dein Vater könnt euch doch uns anschließen.“ Die Einladung freute mich, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht nur fragte, weil sie mich und meinen Vater dabeihaben wollte. Ein Grund wird sicher der sein, dass Jaden so vielleicht der Wanderung zustimmen würde. Er hatte mich vor einigen Tagen bereits gefragt, ob wir an Neujahr etwas zusammen machen wollten. Jaden zog eine Schnute und sah genervt zu seiner Schwester. Vermutlich dachte er das Gleiche wie ich. Letzten Endes hatte sich Jaden dazu breitschlagen lassen mitzugehen. Als er den Raum kurz verlassen hatte, hatte mich Alexis breit angelächelt und sich bedankt. Ich wollte Jaden zwar nicht unbedingt überreden mitzugehen, wenn er nicht wollte, aber ich freute mich trotzdem, dass er zugestimmt hatte. Ein paar Stunden später verabschiedeten wir uns von Aki und den anderen, die sich ebenfalls langsam aufmachten. Der Abend war wirklich schön gewesen. Ich genoss die Zeit mit meinen Freunden, die mir in so kurzer Zeit ans Herz gewachsen waren. Kurz bevor ich mit Jaden bei mir Zuhause angekommen war, hörte ich den Nachrichtenton meines Handys und holte es heraus. Meine Großmutter. Sie schrieb nur ein Wort, aber ich musste unwillkürlich schmunzeln. Entschuldige. Natürlich machte das ihre Aussage vom Vormittag nicht ungeschehen. Sie wird meine Beziehung zu Jaden sicherlich noch immer nicht gutheißen, aber das war zumindest ein Anfang. Jaden musterte mich neugierig und ich hielt ihm die Nachricht hin. Auch er grinste breit. ~*~ „Jetzt mach schon auf!“ drängte Jaden, als wir im Wohnzimmer saßen. Ich stellte meine Tasse ab und nahm die kleine, blaue Schachtel an mich, die mit gefühlt drei Meter Geschenkband eingewickelt war. Von den 20 Knoten mal ganz abgesehen. Irgendetwas klapperte darin. „Nicht schütteln, öffnen“ sagte er und lachte. „Du hättest mir nichts schenken müssen“ sagte ich. „Klar! Das gehört doch auch zu Weihnachten!“ Ich seufzte lautlos. „Warum hast du so viel Geschenkband benutzt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Hat beim ersten Mal irgendwie nicht geklappt, und als ich fertig war sah es eben so aus.“ Ich schnaufte belustigt und holte eine Schere, um das Wirrwarr aus Bändern zu bändigen. Wenn ich Jaden so ansah, dauerte es ihm allem Anschein nach zu lang, doch irgendwann hatte ich es geschafft. Als ich die Schachtel öffnete, und mir den Inhalt genauer besah, sah ich überrascht auf. „Woher…?“ Jaden grinste breit. „Ich hoffe echt, es passt. Sam meinte zumindest die Größe wäre die richtige.“ In meinen Händen hielt ich den fehlenden Deckel inklusive Dichtung für meinen Tank. Woher hatte er die Teile? Sam meinte doch, es wäre nicht lieferbar und auf den Websites der Lieferanten hatte ich auch nichts gefunden. „Schau nicht so verwirrt“ lachte er. „Irgendwann findet man alles im Internet!“ Ich schmunzelte und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Danke. Aber woher hast du gewusst nach was du suchen sollst?“ Seine Kenntnisse über die Bauteile waren eher beschränkt. Das lag vor allem daran, dass er kein Interesse in dem Gebiet hatte. „Naja, bei der Suche hat mir Crow geholfen“ gestand er. „Nachdem mir Sam genau gesagt hatte, wonach ich suchen muss, hab ich Crow mit an Bord geholt. Allein hätte ich bestimmt das Falsche bestellt. Das Teil gab‘s aber nur noch gebraucht.“ „Der wird passen“ sagte ich und verstaute die Teile wieder in der Schachtel auf dem Couchtisch. „Willst du es nicht gleich testen?“ fragte er verwundert. Ich schmunzelte und zog ihn zu mir. Hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Morgen“ flüsterte ich. Es würde nicht lang dauern, aber ich hatte keinen Grund mich in diesem Moment von irgendwas abzulenken. Er nahm meine Antwort hin, schmiegte sich näher an mich und seufzte zufrieden. „Ich wusste, dass es dir gefällt“ murmelte er, während ich mit den Fingerkuppen über seinen Arm strich. Natürlich freute ich mich über sein Geschenk. Es war durchdacht und praktisch. Eigentlich ganz entgegen Jadens Charakterzügen. Er war ein liebenswerter, spontaner Chaot. Mit so einem Geschenk hatte ich nicht gerechnet. „Ich wollte dir deins eigentlich an Neujahr geben“ sagte ich leise und lehnte meinen Kopf auf seinen. „Dann warte ich eben. Ist doch kein Ding“ sagte er und hob seinen Kopf um mich anzusehen. „Ist es noch nicht fertig?“ Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Doch, es ist oben. Willst du es gleich haben?“ „Wie du willst“ sagte er mit einem Grinsen. Seine Neugier konnte er allerdings nicht verbergen. Mein Lächeln intensivierte sich und ich gab ihm einen kurzen, sanften Kuss. Sah in seine kastanienbraunen Augen. „Dann komm.“ Als wir oben ankamen, steuerte Jaden direkt auf mein Zimmer zu. Ich schüttelte belustigt den Kopf und ging weiter. Überrascht folgte er mir in das Arbeitszimmer. „Es ist hier?“ fragte er verwundert. Ich nickte, setzte mich auf die kleine Bank vor dem Klavier und bedeutete ihm, es mir gleichzutun. „Ein Lied?“ fragte er weiter und setzte sich neben mich. „Ja, aber es ist mein erster richtiger Versuch, also sei nicht zu streng mit mir“ sagte ich schmunzelnd. Er legte den Kopf schief. „Erster Versuch? Du spielst doch schon ewig. Oder meinst du damit, du hast das Lied noch nicht geübt?“ Ich spürte, dass meine Wangen ganz warm wurden. „Nein, das nicht“ sagte ich und klappte die Abdeckung für die Tasten nach oben. Mein Herz schlug schneller, während ich die Noten darauf platzierte. „Es ist nur mein erstes eigenes Lied.“ Zuerst sah er überrascht aus, doch dann schenkte er mir ein warmes Lächeln und schloss die Augen. Ich war stolz darauf, dass ich zum ersten Mal ein komplettes Lied komponiert hatte. Und dabei war Jadens Meinung die Einzige, die mich dazu interessierte. Schließlich schrieb ich es seit zwei Monaten nur für ihn. Ob es ihm gefallen wird? Noch einmal atmete ich tief durch und begann zu spielen. Während ich spielte, kam mir aus irgendeinem Grund mein erstes Aufeinandertreffen mit Jaden in den Sinn. Sein intensiver Blick aus diesen warmen Augen. Sein fröhliches Gesicht. Sein Lachen… Dieses Lachen inspirierte mich zu diesem Lied. Es machte mich glücklich. Ich schmunzelte. Er machte mich glücklich. Wenn ich zurückdenke, dann bin ich schon seit diesem Tag gern in seiner Nähe. Auch wenn ich es Anfangs nie zugegeben hätte. Er half mir durch eine verdammt schwere Zeit, die ich ohne ihn vermutlich nicht überwunden hätte, wurde mein bester Freund und letzten Endes meine Liebe. Kitschig. Aber so spielt das Leben wohl manchmal. Als die letzten Klänge verklungen waren, musterte ich ihn. Er hatte seine Augen noch immer geschlossen und lächelte stumm vor sich hin. Langsam schlug er seine Lider auf und sah mich an. Schenkte mir ein warmes Lächeln. „Das war echt schön“ sagte er. „Die Melodie ist ziemlich glücklich.“ Ich nickte. Ob er es bemerkt hat? „Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommt mir die eine Stelle bekannt vor“ sagte er. Ich schmunzelte und spielte die Noten, die er vermutlich meinte, ohne Begleitakkorde an. „Ja, genau das“ bemerkte er und stutzte. „Woher kenne ich das denn?“ Ich wollte es ihm nicht einfach sagen, sondern wollte, dass er selbst darauf kam. Aber wie? Da fiel mir etwas ein. „Weißt du noch als wir letzte Woche mit den Anderen Schlittschuh gefahren sind?“ Wieder legte er den Kopf schief. „Ja, aber wie kommst du jetzt darauf?“ Ich ließ die Finger meiner rechten Hand auf den Tasten des Klaviers und lachte leise. „Und wie Crow versucht hat sich mit Jack ein Wettrennen zu liefern und dabei weggerutscht ist?“ Er lachte bei dieser Erinnerung und ich spielte währenddessen die Melodie an. Überrascht hörte er auf zu lachen und sah mich an. „Ist das etwa…“ Mein Lächeln intensivierte sich und ich nickte. Anscheinend hat er es jetzt bemerkt. Jetzt kann ich es ihm ja erklären. Wieder wurde mein Gesicht ganz warm und ich mied seinen Blick. Sah auf die Tasten des Klaviers, ohne sie wirklich zu sehen. „Das… ist für mich inzwischen meine Lieblingsmelodie… Wenn du lachst, meine ich. Deswegen habe ich angefangen, dieses Lied zu schreiben.“ Einen unendlich langen Augenblick saßen wir nur still da. Schließlich hob ich meinen Blick wieder und war ziemlich überrascht. Er sah mich einfach nur überrumpelt an und war knallrot im Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, aber er überwand seine Starre, schnaufte belustigt und beugte sich zu mir. „Na schön, was das Geschenk angeht, hast du gewonnen.“ Ehe ich antworten konnte, zog er mich in einen sanften Kuss. Ich schloss die Augen, legte meine Hand in seinen Nacken und erwiderte ihn. Ich konnte nicht ansatzweise beschreiben, wie glücklich ich in diesem Moment war. Als wir unseren Kuss lösten, strahlte Jaden über das ganze Gesicht. „Sag mal“ setzte er an, rückte sich so auf der Bank zurecht, dass ich ihm gegenübersaß und musterte mich neugierig. „Hast du dir das wirklich allein ausgedacht?“ „Naja, nicht ganz allein“ gab ich zu. „Meine Großmutter hat mir an einer Stelle geholfen.“ Ich musste für einen kurzen Augenblick schmunzeln. „Weißt du, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und sie mich nach Hause gefahren hat, wollte sie sich das Stück ansehen. Sie hat mir ein paar Tipps gegeben. Und als du dann aufgetaucht bist und mit Pharao gespielt hast, da hat sie es bemerkt.“ „Und da ist sie nicht schon eher darauf gekommen, dass wir zusammen sind?“ fragte er mit einem Grinsen. Ich schüttelte belustigt den Kopf. Genau wegen dieser Situation dachte ich eigentlich, es hätte ihr auffallen müssen, dass wir zusammen sind. Aber anscheinend war sie wirklich nur überrascht über die Melodie. „Spielst du es nochmal?“ Kapitel 31: Bonus: Stille Nacht ------------------------------- „Spielst du es nochmal?“ fragte er. Ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen und nickte. Wieder wanderten meine Finger über die Tasten des Klaviers. Er legte seine Hand auf mein Bein und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. Ich versuchte mit meiner rechten Hand an die Tasten zu kommen, doch machte es Jadens Kopf mir etwas schwer. Auf keinen Fall wollte ich seine Nähe missen, die Wärme seines Körpers, also versuchte ich weiterzuspielen. Auch, um ihm nicht das Gefühl zu geben, er würde mich stören. Während ich weiterspielte, schlang er seinen anderen Arm um meine Taille. Hauchte mir einen Kuss an meinen Hals. Ich schmunzelte und sehnte die letzten Noten herbei, um ihn endlich zu küssen. Wieder verklang das Lied und ich sah zu ihm. Legte meine Lippen auf seine und genoss die sanfte Berührung, als er meinen Kuss erwiderte. Er fuhr mit der Zungenspitze über meine Lippen und ich öffnete bereitwillig meinen Mund. Fordernd rutschte er auf meinen Schoß und ich löste den Kuss. Sah in sein verwundertes Gesicht. „Nicht hier“ flüsterte ich und schnappte noch einmal nach seinen weichen Lippen. Sanft drückte ich ihn in das Kissen und spürte seinen warmen Atem, der mir eine Gänsehaut bescherte. Seine Hände wanderten in meinen Nacken, verschränkten sich dort ineinander und zogen mich näher zu ihm. Mit einem Arm stützte ich mich ab, während ich mit meiner anderen Hand langsam unter sein Oberteil fuhr. Behutsam strich ich über die warme Haut und schob dabei den dünnen, schwarzen Stoff nach oben. Er seufzte zufrieden in den Kuss hinein und drängte sich näher an mich. Keuchend löste er den Kuss und ich streifte ihm seinen Pullover gänzlich ab. Er ließ sich nicht ganz so viel Zeit und mein Oberteil flog regelrecht durch den Raum. Sanft küsste ich mich seinen Hals entlang und biss ihm leicht in sein Ohrläppchen. Ich spürte die leichte Gänsehaut, die sich über seinen Körper ausbreitete und lächelte amüsiert über seine ungewollte Reaktion. Ungeduldig nestelte er an meinem Gürtel und ich löste mich von ihm. Konnte den amüsierten Ausdruck in meinem Gesicht nicht verbergen. „Brauchst du Hilfe?“ fragte ich. Er grinste nur frech und sah mich herausfordernd an. „Das wäre andersherum viel leichter.“ Ach, das wollte er. Mein Lächeln wurde breiter. Ich drehte mich auf den Rücken und zog ihn dabei auf meinen Schoß. Unter ihm liegend, befreite ich ihn in kürzester Zeit von seinem Gürtel und schob seinen Hosenbund ein Stück über den Hintern. Ließ meine Hände dort liegen und grinste breit. „Angeber“ sagte er und legte seine Lippen auf meine. Ich lachte leise in den Kuss hinein und spürte wieder seine Hände, die sich an meinem Gürtel zu schaffen machten. Ich spürte das angenehme Gefühl, etwas mehr Platz zu haben. Er löste den Kuss und wanderte mit seinen weichen Lippen meinen Hals entlang, über die empfindliche Stelle an meinem Schlüsselbein. Fuhr mit der Zungenspitze vorsichtig über die feine Narbe, was mir einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte. Seine Hände strichen über meinen Bauch und meine über seinen Rücken, während er meine Brust immer wieder mit sanften Küssen bedeckte. Wieder fuhr er mir über die Seiten, was meinen Körper in ein sanftes Kribbeln hüllte. Ein kleines Seufzen kam über mich, als er immer weiter mit den Lippen über meinen Bauch wanderte, bis er schließlich an meinen Lenden ankam. Quälend langsam striff er mir die Hose ab, ließ die Shorts aber noch an, was mich ungeduldig grummeln ließ. Ich hörte nur ein belustigtes Kichern und das Geräusch von Stoff, der auf dem Boden landete. Im nächsten Moment spürte ich seine Zungenspitze, die die Beule in meinen Shorts entlangfuhr. Meine Hand krallte sich in sein Haar, denn viel mehr bekam ich nicht mehr von ihm zu fassen. Sanft biss er in meine Spitze und ließ mich aufstöhnen, bis er schließlich keine Lust mehr auf das Spielchen hatte, und mich endlich von meinem verbliebenen Kleidungsstück befreite. Ich atmete erleichtert auf und spürte im nächsten Moment wieder seine Zunge, die meine Erregung entlangfuhr. Dieses Mal intensiver, denn der störende Stoff war verschwunden. Sanft schloss er seine Lippen um mich und bewegte seinen Kopf auf und ab, was mich immer wieder aufstöhnen ließ. Mein Herz hämmerte inzwischen in einem unglaublichen Tempo gegen meine Rippen. Seine Bewegungen wurden von Mal zu Mal flüssiger und angenehmer. Meine Hand krallte sich in seinem Haar fest und ich hörte einen leisen Schmerzenslaut. Schnell ließ ich ihn los und suchte Halt in dem zerknitterten Laken. Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Als ich schließlich mit einem lauten Stöhnen den Rücken durchstreckte, konnte ich mich nur mit größter Anstrengung davon abhalten zum Höhepunkt zu gelangen. Mit flachem Atem setzte ich mich schnell auf und hinterte ihn daran, weiterzumachen. Für einen kurzen Moment wirkte er irritiert, vielleicht auch etwas enttäuscht. Als ich ihn an der Taille nahm und unter mich drehte, sah er mich kurz erschrocken an. Wieder schlich sich das freche Grinsen in sein Gesicht und ich zog ihn in einen Kuss. Fuhr mit der Zunge über seine Lippen und spürte im nächsten Moment seine in meinem Mund. Fordernd zog er mich näher zu sich und vergrub seine Finger in meinem Haar. Mit einer Hand stützte ich mich ab, meine andere fuhr über seine Brust und ich spürte seinen aufgeregten Herzschlag. Fahrig strich meine Hand über seinen flachen Bauch, seine Lenden bis zum Bund seiner Hose, die ich zwar nach unten geschoben, aber noch nicht ausgezogen hatte. Ich streifte sie ab und ließ sie vom Bett gleiten. Langsam strich ich mit der Hand über die zarte Haut an der Innenseite seiner schlanken Oberschenkel. Außer Atem löste ich mich von ihm, und auch er sah mich keuchend an. Der Blick aus seinen kastanienbraunen Augen verklärt, die Lippen bebend, die Wangen gerötet. Ich konnte bei seinem Anblick meinen eigenen Herzschlag hören. Seine schmalen Arme klammerten sich an mir fest. Für einen kleinen Augenblick wanderten meine Augen weiter nach unten. Seine Brust hob und senkte sich schnell, die Muskeln an seinem Bauch waren angespannt. Ich spürte, wie seine Hüfte zitterte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal so über einen Mann denken würde, aber in meinen Augen war er einfach perfekt. Das hier war mehr als nur Lust. Es war Liebe. Ich löste mich von ihm und nahm das Gleitgel aus der Schublade neben dem Bett. Am liebsten wäre ich gleich über ihn hergefallen. Ich hielt das beinahe schmerzhafte Pochen kaum noch aus und wollte ihn endlich spüren, doch ich musste mich noch gedulden. Verletzen wollte ich ihn schließlich nicht. Wieder zog ich ihn in einen Kuss und legte mein Knie zwischen seine Beine. Ohne zu zögern öffnete er sie. Als das Gel an meinen Fingern wärmer wurde, intensiverte ich den Kuss und fuhr mit meiner Hand langsam seinen Pfad entlang. Schnell fand ich seinen Eingang und massierte ihn an der Stelle. Jaden drückte mir seine Hüfte entgegen. Anscheinend wollte er auch nicht mehr warten, und so glitt ich mit einem Finger in ihn hinein. Hörte ein leises Stöhnen. Sein Atem wurde flacher, seine Hände suchten Halt, krallten sich in die Haut an meinem Rücken. Ich tastete nach einem bestimmten Punkt, bis er schließlich den Kuss löste und ich einen leisen, heiseren Schrei hörte, der mir einen Schauer durch den Körper jagte. Ich nahm einen zweiten Finger dazu und versuchte ihn zu dehnen. Wieder suchte ich nach der Stelle und traf sie einige Male, hörte wieder und wieder sein Stöhnen, spürte seine Nägel, die sich in meine Haut gruben, ehe er mich aus dunklen Augen ansah. „Ich… kann gleich nicht mehr“ sagte er heiser und legte eine Hand an meine Wange. Fuhr mit dem Daumen sanft darüber und ließ mich schmunzeln. Sein intensiver Blick ließ mein Herz noch schneller schlagen und ich beugte mich zu ihm. „Na schön“ flüsterte ich direkt an sein Ohr und biss noch einmal leicht hinein. Wieder spürte ich die leichte Gänsehaut an seinem Hals und ich legte meine Lippen sanft auf seine. Im selben Moment drückte ich meine Spitze gegen seinen Eingang und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, um nicht einfach über ihn herzufallen. Langsam schob ich mich in ihn und spürte die heiße Enge, die mich umfing. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Vorsichtig begann ich mich in ihm zu bewegen. Nach den ersten beiden Stößen hielt ich inne und beobachtete, ob er sich verkrampfte oder es irgendwelche Anzeichen gab, dass ich ihm Schmerzen bereitete. Doch stattdessen spürte ich sein Bein, das sich um meine Hüfte schlang und mich so näher zu ihm zog. Nur allzu gern kam ich seiner stillen Aufforderung nach. Noch einmal schnappte ich kurz nach seinen Lippen, zog das Becken zurück, nur um mich kurz darauf etwas härter in ihm zu versenken. Jaden stöhnte laut auf und warf den Kopf in den Nacken. Ich strich ihm die schweißnassen Haare aus dem Gesicht und stieß mich erneut vor. Sein Becken zuckte mir entgegen. Ich drängte mich tiefer in ihn, küsste vorsichtig die zarte Haut an seinem Hals und hörte sein Stöhnen an meinem Ohr, während ich immer wieder in ihn stieß. Mein Herz schlug in einem so wilden Tempo gegen meine Rippen, dass ich dachte es würde daran zerspringen. Ich versuchte den Winkel etwas zu ändern und hob sein Becken etwas an. Wieder traf ich diesen bestimmten Punkt und hörte sein heiseres Stöhnen. Ich versuchte ihn noch einmal zu treffen und hörte immer wieder den Klang seiner Stimme. Ich spürte, dass ich nah am Höhepunkt war, aber auch Jaden schien es nicht mehr lange auszuhalten. Sein Atem ging mittlerweile nur noch stoßweise und sein Becken zuckte unkontrolliert. Meine Bewegungen wurden schneller und ich schien mich mit jedem Stoß tiefer in ihn zu drängen, bis er ein letztes Mal den Rücken durchbog und mit einem langgezogenen Stöhnen kam. Er verkrampfte sich und die unglaubliche Hitze und Enge die mich mit einem Schlag umfing, erlöste mich zwei Stöße später ebenfalls. Kraftlos sackte ich auf ihm zusammen und versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Als ich mein Herz wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, erhob ich mich schwerfällig und legte mich neben ihn. Legte einen Arm um seine Hüfte. Auch sein Atem ging noch schneller als gewöhnlich und er sah mich mit einem seligen Lächeln an. „Danke“ sage er nur leise, doch ich verstand nicht wofür er sich bedankte. Er lachte müde über mein verwundertes Gesicht. „Das… war ein toller Tag“ fuhr er weiter aus. Ich musste schmunzeln. „Zum Glück hat mein Vater heute Nachtschicht, sonst wäre er sicher anders ausgegangen.“ „Meinst du?“ fragte er und hatte wieder dieses freche Grinsen aufgelegt. Ich schüttelte belustigt den Kopf. „Wärst du so ausgelassen gewesen, wenn er am Ende des Flurs geschlafen hätte?“ Die Schamesröte, die sich auf seinen Wangen ausbreitete, amüsierte mich. „Ich… war vielleicht wirklich zu laut.“ Ich schüttelte den Kopf und gab ihm einen kurzen, sanften Kuss. „Mir gefällt es.“ Wenn es irgendwie möglich war, nahmen seine Wangen einen noch dunkleren Rotton an. Ich lachte leise. „Nein, ehrlich. Du musst dich dafür nicht schämen“ sagte ich und drehte mich auf den Rücken. Mein Körper fühlte sich tonnenschwer an und ich war komplett verschwitzt. Jaden schmiegte sich näher an mich und seufzte zufrieden. „Allerdings haben wir ein kleines Problem“ stellte ich fest und Jaden hob seinen Kopf, um mich verwundert zu mustern. Ich schnaufte belustigt. „Wir sollten beide noch duschen.“ Kurz blinzelte er mich verwirrt an, fing aber gleich darauf an zu lachen. Dieses wundervolle Lachen. „Hast vermutlich recht, aber lass uns nur noch fünf Minuten im Bett bleiben, okay? Ich bin echt fertig.“ „Das wird in fünf Minuten auch nicht besser“ stellte ich fest, wehrte mich allerdings nicht dagegen noch etwas liegen zu bleiben. Ich hatte selbst keine große Lust darauf aufzustehen. Der Tag war wundervoll, aber wirklich lang. Für einen Augenblick schloss ich meine Augen und genoss einfach nur seine Nähe. Strich dabei mit den Fingerkuppen über seinen Arm. „Yusei?“ „Hm?“ „Wegen Neujahr… kannst du mir einen Gefallen tun?“ Kapitel 32: Neujahr ------------------- „Aufwachen, Schlafmütze!“ Grummelnd zog ich die Decke über meinen Kopf um wenigstens noch zehn Minuten liegen zu bleiben. Unter der Decke konnte ich erkennen, dass sie das Licht einschaltete. Selbst gedämpft war es mir zu hell. Wie kann man nur nach so wenig Schlaf so fröhlich klingen? Manchmal denke ich wirklich, wir wären gar nicht verwandt. „Jetzt komm schon, Jaden! Du hast es versprochen!“ „Ist ja gut“ murmelte ich und schlug die Decke genervt zur Seite. Öffnete schlaftrunken meine Augen und versuchte sie an die Helligkeit zu gewöhnen. Alexis grinste breit und verließ mein Zimmer, während sie leise irgendetwas summte. Langsam sah ich zur Uhr und stöhnte genervt auf. Es war erst kurz nach vier! Morgenmenschen. Die sind doch alle verrückt. Ich hasse es, so früh aufzustehen. Und das auch noch in meinen Ferien! Das ist doch unmenschlich! Blöde Tradition. Aber sie hatte ja recht. Ich hab es versprochen. Als ich im Bad mit allem fertig war, ging ich nach unten in die Küche, wo schon der Rest meiner Familie am Frühstückstisch wartete. Mein Vater gähnte herzhaft und begrüßte mich. Zumindest war ich wohl nicht der Einzige, der nicht genug Schlaf abbekommen hatte. Meine Mutter hingegen war genauso fröhlich drauf wie Alexis. Eigentlich logisch. Sie war es wegen der Schichtarbeit gewohnt um diese Zeit wach zu sein. „Schade, dass dein Bruder nicht mitkommen wollte“ sagte sie an meinen Vater gerichtet, während ich mich setzte. Der Glückliche. „Ja, aber du kennst ihn ja“ antwortete mein Vater mit einem kleinen Lächeln. „Er macht sich eben Sorgen um unsere Mutter.“ „Aber Oma war doch nur ein bisschen erkältet“ mischte sich Alexis ein. „Übertreibt er es nicht?“ „Du musst versuchen ihn zu verstehen, Schätzchen“ sagte mein Vater. „Wir hätten sie vor ein paar Jahren fast verloren. Seitdem ist er besorgt um sie.“ Stimmt ja. Vor einigen Jahren war Oma ziemlich krank. Ich hatte damals nicht verstanden was eigentlich los war, aber meine Eltern, mein Onkel und Opa waren über Monate hinweg ständig bei ihr im Krankenhaus. Allerdings hatte sie sich irgendwann erholt und war wieder so fit wie vorher. Meine Mutter stellte ein Glas Saft vor mir ab und wandte sich wieder an meinen Vater. „Eigentlich hat Alexis recht, Liebling. Sie ist längst wieder gesund. Ihr dürft nicht bei jedem kleinen Husten so überreagieren. Ich habe gestern mit ihr geredet. Das macht sie noch wahnsinnig und ganz ehrlich: mir würde es auch so gehen. Sie ist doch kein rohes Ei.“ Ohje, das Gespräch hatten wir schon öfter. Ich sollte schnell das Thema wechseln. „Wo treffen wir uns eigentlich mit Yusei und seinem Vater?“ Gut, der Themenwechsel war vielleicht nicht elegant, aber meine Mutter stieg darauf ein. „Am Tempel. Ich habe Hakase vorgeschlagen, dass wir auf dem Rückweg dort einkehren könnten. Dann hätten wir endlich alles gleich am ersten Tag des Jahres erledigt.“ „Aber ist das am ersten Tag nicht super voll dort?“ fragte ich. „Ja!“ ging Alexis dazwischen. „Und ich wollte eigentlich wie jedes Jahr im Kimono dahin. Den kann ich doch nicht bei der Wanderung schon anziehen.“ Meine Mutter seufzte. „Dann zieh dich um, wenn wir wieder zurück sind. Jaden hat recht. Wir werden ohnehin eine Weile warten müssen. Du kommst einfach dazu, einverstanden?“ Na toll. Ich hatte keine Ausrede nicht ewig in der Schlange stehen zu müssen. Aber zumindest hätte ich dieses Mal Yusei dabei. Und meine Eltern kamen ziemlich gut mit seinem Vater aus. Da fiel mir etwas ein. „Hat Yuseis Vater eigentlich gesagt, ob seine Oma auch mitkommt?“ Ich wusste, dass sie gestern den Tag zusammen verbracht hatten, aber Yusei meinte sie könnte nicht lange bleiben. Gut möglich, dass sie gar nicht mitkommt. „Nein, das hat er nicht gesagt“ überlegte meine Mutter laut. „Wir werden uns einfach überraschen lassen“ meinte mein Vater mit einem Lächeln. „Aber wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät.“ Stimmt. Wenn ich schon um so eine Uhrzeit aufstehen musste, wollte ich wenigstens nicht den Sonnenaufgang verpassen. Dann wäre das alles umsonst gewesen und ich hätte einfach liegen bleiben können. „Holst du noch deinen Rucksack, Spätzchen?“ fragte meine Mutter. „Die Bentos sind schon fertig, du musst deins nur noch einpacken.“ Ich nickte und ging in mein Zimmer. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Am sternklaren Himmel stand der Mond hoch über uns und spendete der Umgebung sein schwaches Licht. Während wir durch den Schnee stapften, sah ich mich um. Die Straßen waren nahezu menschenleer. Wir liefen nur wenigen, kleinen Gruppen über den Weg, die vermutlich ein ähnliches Ziel hatten wie wir. Als wir zur Tempelanlage abbogen, sah ich am Eingangstor einige Personen, die nur durch den schwachen Lichtschein der Laternen beleuchtet wurden. Als wir näherkamen, erkannte ich sie. Yusei unterhielt sich gerade mit seinem Vater, daneben stand tatsächlich seine Oma. „Hey“ sagte ich, als wir bei ihnen ankamen und gab Yusei einen flüchtigen Kuss. Im Augenwinkel erkannte ich seine Oma, die mich irgendwie missbilligend betrachtete. Zumindest hatte ich das Gefühl. Ich musste schlucken. So ganz hatte sie es wohl doch nicht akzeptiert. Yusei folgte meinem Blick und was auch immer ich eben noch in ihrem Gesicht erkannt hatte, jetzt war es wieder verschwunden. Oder hab ich mir das nur eingebildet? „Wartet ihr schon lang?“ fragte meine Mutter. Yuseis Vater schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind erst vor ein paar Minuten angekommen. Allerdings müsstet ihr jetzt die Führung übernehmen. Ich habe keine Ahnung wohin es zur Küste geht.“ An der Spitze unserer kleinen Gruppe liefen meine Eltern und Yuseis Vater, die sich angeregt unterhielten. Dahinter Yuseis Oma, dann Yusei, ich und meine Schwester. Yuseis Oma lief ein paar Schritte hinter den anderen Ewachsenen. Nah genug, damit sie sie verstehen konnte, aber trotzdem distanziert. Ihre Körperhaltung war angespannt, aber ich konnte absolut nicht deuten wie sie sich wohl fühlte. Irgendwie tat sie mir leid, so ganz allein. Eine Berührung an meiner Hand holte mich aus meinen Gedanken. Yusei umschloss sie und lächelte mich an. „Wie war es bei deinen Großeltern?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, wie immer eigentlich. Bei manchen aus der Familie bin ich ganz froh, dass ich sie nur einmal im Jahr sehe.“ „Dein Cousin?“ fragte er nach. Ich sah ihn überrascht an und nickte. Dass er sich das tatsächlich gemerkt hat. Wir hatten uns nur ein einziges Mal kurz über ihn unterhalten und ich hatte nur angedeutet, dass ich keine Lust auf ihn hatte. „Du musst aber zugeben, dass er sich dieses Mal mit seinen Streichen zurückgehalten hat“ sagte Alexis. „Außerdem ist er erst elf Jahre alt. Du warst damals genauso anstrengend.“ „Vergleichst du mich ernsthaft mit dieser Knalltüte?“ Alexis lächelte breit. „Und wenn es so ist? Du musst zugeben, dass du auch nicht viel besser warst.“ „Blödsinn.“ Yusei lachte leise, während Alexis weitersprach. „Aber er war immernoch besser als Opa. Nächstes Jahr sollten wir den Sake verstecken.“ „So schlimm?“ fragte Yusei amüsiert. Alexis seufzte. „Er wird immer oberpeinlich, wenn er was getrunken hat.“ „Also ich finde ihn lustig, wenn er betrunken ist“ sagte ich. „Er erzählt dann immer die besten Geschichten.“ „Wer war denn noch dabei?“ fragte Yusei. „Mal sehen“ überlegte Alexis laut und zählte die Gäste an den Händen ab. „Natürlich unsere Großeltern, wir, unser Onkel mit seiner Frau und unserem Cousin, unsere zwei Tanten, unser anderer Opa mit seiner neuen Frau und unsere Großcousine mit ihren zwei Kindern.“ „Wow, die haben alle an einen Tisch gepasst?“ fragte Yusei erstaunt. „Naja, war ganz schön knapp“ sagte ich und Alexis schloss zu meinem Vater auf, um sich mit ihm zu unterhalten. „Wie war es denn bei dir?“ Er überlegte kurz und schien seine Worte abzuwägen. „Eigentlich ganz gut, würde ich sagen. Zumindest besser, als ich befürchtet hatte.“ „Klingt ja sehr lustig“ sagte ich sarkastisch. Er schmunzelte. Seine Stimme war bei seinen folgenden Worten jedoch gedämpfter, sodass seine Oma uns vermutlich nicht hören würde. Das Gespräch unserer Eltern war zumindest lauter. „Naja, es fing gar nicht so schlecht an. Die beiden haben sogar so etwas wie eine ungwezwungene Unterhaltung zustande gebracht.“ „Und was ist dann passiert?“ fragte ich ebenso leise. Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben uns über mein Studium unterhalten, als Kalin mich plötzlich anrief. Ich bin zum telefonieren in mein Zimmer gegangen. Ich war vielleicht 15 Minuten weg und als ich wieder nach unten ging, herrschte eine eisige Stille. Keine Ahnung was passiert ist. Der Rest des Abends war dann ziemlich verkrampft.“ Na toll. Dabei hatte sich Yusei so sehr auf den Abend gefreut. Immerhin waren wir beide überrascht gewesen, dass sein Vater tatsächlich zugestimmt hatte Neujahr mit seiner Oma zu verbringen. Ich hatte mir für ihn gewünscht, dass es besser laufen würde. „Tut mir leid für dich“ sagte ich deshalb. Er schüttelte nur den Kopf. „Muss es nicht. Den Versuch war es wert. Sie hat trotzdem gesagt, dass sie es schön fand Neujahr mit der Familie zu verbringen. Auch wenn sie so klein ist.“ „Aber“ setzte ich an und flüsterte meine nächste Frage schon fast. „Wenn es nicht so gut gelaufen ist, warum kommt sie dann heute mit?“ An ihrer Stelle wäre mir die Situation verdammt unangenehm. Ich wäre sicher einfach nach Hause gefahren. Andererseits weiß ich nicht wer Zuhause auf sie warten sollte. Ihr Mann war tot und andere Kinder hatte sie nicht. Vielleicht ist ihr eine unangenehme Situation lieber, als allein und einsam Zuhause zu sein. „Ich weiß es nicht“ sagte Yusei. „Aber ich bin froh, dass sie trotzdem mitkommt. Sie kann zwar sehr stur sein, und wird sich vermutlich nie so ganz mit meinem Vater verstehen, aber ich habe sie gern.“ Er schmunzelte. „Und ich glaube, ihr geht es ähnlich.“ Ich drückte Yuseis Hand fester und lächelte. Eigentlich dachte ich, er wäre traurig über die Situation. Aber wenn es ihn glücklich machte, dass sie bei ihm war, dann war das doch alles was zählte. Nach zwei Stunden waren wir endlich angekommen. Der Weg zur Küste war eigentlich nicht sonderlich anstrengend, aber im Dunkeln, streckenweise nur im Schein einiger Taschenlampen, war er recht tückisch. Dazu kam, dass mein Vater und Yuseis Oma nachtblind waren, und wir einige Pausen einlegen mussten, also waren wir langsamer als geplant. Der Himmel wurde allmählich heller, als wir das Rauschen des Meeres hörten. Weit war es also nicht mehr. „Da hinten!“ rief Alexis aus und schnappte sich das Handgelenk meines Vaters um schon vorzulaufen. „Langsamer, Alexis!“ kam es nur gequält von meinem Vater, was meine Mutter allerdings zum Lachen brachte. „Sie hat das Meer schon als kleines Kind geliebt“ erklärte meine Mutter. „Manches ändert sich hoffentlich nie.“ Die beiden kamen noch in Sichtweite zum Stehen und Alexis winkte uns zu sich. „Vorsicht, Wurzel“ hörte ich die Stimme von Yusei und drehte mich zu ihm um. Er hatte seinen Arm zu seiner Oma gehalten, um sie zu stützen, falls nötig. „Danke“ sagte sie und ergriff seine helfende Hand. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein so großer Teil des Weges unbeleuchtet ist.“ „Aber die Aussicht lohnt sich“ sagte ich mit einem Grinsen. Sie ließ das unkommentiert und wir liefen zu Alexis und meinem Vater. Mein Blick schweifte über die heller werdende Landschaft. Früher war ich oft mit meiner Familie hier, aber je älter wir wurden, desto seltener wurden unsere Ausflüge ans Meer. Ich liebte das Geräusch der Wellen, die an der felsigen Küste brachen. Den Geschmack der salzigen Seeluft. Die Spiegelung des Lichts auf dem sich ständig bewegendem Wasser. Ich sollte wirklich wieder öfter hierherkommen. „Es ist schon fast so weit“ sagte Yuseis Vater, der plötzlich neben mir stand. Yusei gesellte sich zwischen uns und sah auf das Meer. Nur Augenblicke später färbte sich der Himmel langsam orange und ließ die wenigen Wolken in warmen Tönen erstrahlen. Die einzigen Geräusche waren das Rauschen der Wellen und der Gesang der Vögel, während die Sonne langsam am Horizont erschien. Es war ein wunderschöner Anblick. „Ich war noch nie am Meer“ hörte ich Yuseis leise Stimme und sah zu ihm. Er sah vollkommen fasziniert aus. „Osaka liegt zwar an einer Bucht… aber das hier ist volkommen anders.“ Sein Vater lächelte nur und legte ihm eine Hand auf die Schulter, während er auf das Meer blickte. Auch ich musste schmunzeln und nahm seine Hand. Er löste sich von dem Anblick und sah zu mir. „Frohes neues Jahr“ sagte ich und gab ihm einen kurzen, sanften Kuss. Dann löste er sich von mir und ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen. „Dir auch“ sagte er und sah vollkommen zufrieden und friedlich aus. Plötzlich umschlossen mich zwei Arme von hinten und ich wurde fast umgeworfen. „Frohes neues Jahr, Brüderchen!“ sagte Alexis fröhlich. Oh man, was ist denn mit der heute los? Sie löste sich von mir und lächelte breit. „Danke, dass du doch mitgekommen bist“ sagte sie und ging zu unseren Eltern. Ich sah noch einmal kurz zu Yusei, der mir glücklich zunickte und lief Alexis nach. „Frohes neues Jahr, Spätzchen“ sagte meine Mutter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Mama!“ beschwerte ich mich und wischte mir über die Stirn. Aber ich erntete nur ihr Lachen. „Wollen wir über den Strand zurück gehen?“ schlug Alexis vor. „Das ist zwar ein kleiner Umweg, aber wo wir schonmal hier sind?“ „Gute Idee, mein Schatz“ sagte mein Vater. „Das sollten wir wirklich ausnutzen.“ Ich wollte meiner Familie schon folgen, doch im Augenwinkel sah ich Yuseis Oma, die etwas abseits aufs Meer hinausblickte. Sie stand schon wieder ganz allein da, während Yusei mit seinem Vater redete. Ob ich kurz mit ihr reden sollte? Zumindest kann ich sie ja wegen des Rückwegs in Kenntnis setzen. Ich dachte nicht länger darüber nach und gesellte mich zu ihr. „Hey, wir wollen über den Strand zurück“ sagte ich, doch ihr Blick war weiterhin aufs Meer gerichtet. Einzig ein leichtes Kopfnicken sagte mir, dass sie mich wohl verstanden hatte. „Okay“ sagte ich unschlüssig und sah zu Yusei, der einige Meter weiter weg stand. „Dann bis gleich“ fügte ich hinzu und wandte mich von ihr ab. Ich war in ihrer Nähe immer so unsicher. Leiden konnte sie mich wohl wirklich nicht, das konnte nicht nur meine Einbildung sein. Ich hatte ja wirklich versucht, mich mit ihr gutzustellen, aber wenn sie mich immer nur abwies, konnte ich auch nichts machen. ~*~ Als wir am Stadtrand von Neo Domino ankamen, bog Alexis in eine Seitenstraße ab um nach Hause zu gehen. „Aber beeil dich bitte“ rief meine Mutter ihr nach. Sie hob nur eine Hand und war hinter einem Haus verschwunden. Ich sah mich um. Hier standen mehrere kleinere Häuser und die Gegend wirkte absolut ausgestorben. Während wir durch die schmalen Straßen liefen, begegneten wir keiner Menschenseele. Nicht mal Autos waren in Sicht. Wahrscheinlich hatten die Familien, die hier wohnten, das gleiche Ziel wie wir. „Wir werden bestimmt ewig anstehen“ meinte ich zu Yusei, der nur abwinkte. „Länger als eine Stunde bei Sensei Misawa kann es nicht werden.“ Ich musste unweigerlich lachen. „Stimmt. Der Kerl schafft es, dass sich eine Stunde wie zehn anfühlt.“ „Vor allem, wenn man die letzte Stunde vor den Ferien bei ihm hat“ fügte Yusei hinzu. Da fiel mir etwas ganz anderes ein und ich sah zu Yusei. „Hast du eigentlich daran gedacht?“ fragte ich. Er brauchte nicht lange überlegen, nickte und zog ein kleines, blaues Omamori* hervor, das mit silbernen Schriftzeichen verziert war. „Wow, hast du das echt selbst gemacht?“ „Natürlich“ erwiderte er. „Der Knoten war etwas knifflig, aber er sollte halten.“ Ich grinste. „Der ist perfekt, danke!“ „Ich war ziemlich überrascht“ gestand er und sah mich amüsiert an. „Ich hätte nicht gedacht, dass du der Typ für Glücksbringer bist.“ „Du nicht?“ fragte ich scherzhaft. Eigentlich brauchte ich darauf keine Antwort. Er war eher der pragmatische Typ und ich hatte ihn nicht wirklich als jemanden eingeschätzt, der an Glücksbringer glaubte. „Aber ja, ich glaube sie bringen wirklich was“ fügte ich hinzu. „Vor allem, wenn sie selbst gemacht sind.“ Ich kramte in meiner Jackentasche und hielt ihm ebenfalls ein Omamori hin. Es war rot mit goldenen Schriftzeichen. „Und ganz besonders, wenn man sich gegenseitig eins macht“ fügte ich mit einem Grinsen hinzu. Ein erschrockener Schrei ließ uns aufsehen und wir drehten uns um. Mein Vater stützte meine Mutter, damit sie nicht vornüberkippte. „Alles okay?“ fragte Yusei besorgt. „Ja, schon gut. Ich bin nur ausgerutscht“ sagte meine Mutter, während sie sich wieder aufrichtete. „Heute ist es wirklich glatt.“ Sie hatte recht. Ich war auch schon zwei mal kurz davor auszurutschen. Gestern gab es den ganzen Tag Schneeregen und letzte Nacht hatten wir fast minus zehn Grad. Kein Wunder, dass die Wege und Straßen so rutschig waren. „Hier“ holte mich Yuseis Stimme wieder in die Realität und ich sah zu ihm. Er hielt mir das blaue Omamori entgegen. Ich wollte es an mich nehmen, doch plötzlich zog ein frischer Wind auf und riss den kleinen Glücksbringer aus Stoff mit sich. Oh Nein! Das darf doch nicht wahr sein! * Die Sicht von Katsuya * Immerhin war das Ausladen der Waren schnell gegangen. Etwa eine Stunde früher als geplant war ich wieder auf der Straße und hatte etwas Hoffnung, dass ich doch noch mit meiner Familie unseren örtlichen Tempel besuchen konnte. Mal sehen, ob mein Sohn dieses Jahr überhaupt noch mitkommt. Er ist ja jetzt ‚erwachsen‘ und glaubt eh nicht an solche ‚Spinnerein‘. Immerhin konnte meine Tochter die Magie der kleinen Glücksbringer noch genießen. Für mich und meine Frau gehörte diese alte Tradition einfach dazu. Der Regen gestern und die Minusgrade in der Nacht hatten die Straßen in Eis verwandelt und es war spiegelglatt. Wäre heute mehr Verkehr gewesen, hätte es sicherlich unzählige Staus und Unfälle gegeben. Ich fuhr entsprechend langsam, so ein LKW soll nun wirklich nicht ins Schleudern kommen. Auf den Straßen hier spielten sich Szenen einer Pilgerreise ab. Viele Familien, mit kleinen und größeren Kindern, Großeltern und Enkeln, Gruppen von Freunden, junge Paare. Alle schlugen in etwa dieselbe Richtung ein. Irgendwo rechts die Straße runter musste wohl ein Tempel sein. Ich bog nach links ab, der beste Weg auf die Schnellstraße führte durch ein kleines Wohngebiet mit hübschen Einfamilienhäusern und schmalen Straßen. An einem anderen Tag hätte ich den langen Weg durch die Stadt genommen, aber heute sorgte ich mich nicht um den Verkehr. Alle waren zu Fuß unterwegs. Ein Mädchen hatte es besonders eilig. Sie flitzte den Fußweg entlang und rutschte fast aus, als eine alte Dame aus ihrer Haustür heraus auf den Weg trat. Je näher ich dem Stadtrand kam, umso weniger Leute waren unterwegs, schon bald waren die kleinen Straßen wie ausgestorben. In einiger Entfernung kam mir eine Gruppe entgegen. Vier Erwachsene liefen vorne weg, unterhielten sich. Mit etwas Abstand liefen dahinter zwei Jungs, etwas älter als mein Großer, vermutlich alt genug um nicht ‚zu erwachsen für so eine Spinnerein‘ zu sein. Ich musste schmunzeln. Die beiden hielten an, einer überreichte dem anderen etwas Kleines. Ein Omamori? Was auch immer es war, eine Windböe riss es dem Jungen aus der Hand, es segelte auf die Straße, der andere machte einen Satz. Reflexartig schlug ich aufs Lenkrad, trat die Bremse voll durch und riss das Lenkrad rum. Mein Truck stand quer auf der Straße, ich hörte panische Schreie von draußen, mein Herzschlag pochte mir in den Ohren. Mein Albtraum war also wahr geworden. 25 Jahre LKW fahren und immer hatte ich diese Horrorbilder im Kopf. Radfahrer in Kurven, Kinder im toten Winkel. 25 Jahre verabschiedete ich immer wieder Kollegen in den frühen Ruhestand. Manche konnten mit der Schuld auch nach langer Therapie nicht leben. 25 Jahre lang war mir so etwas nie passiert, immer hatte ich Glück gehabt. Die Tür der Fahrerkabine ging schwerer auf als sonst, meine Hand fühlte sich wie taub an. Als würde sie nicht mir gehören. Neben mir auf dem Bordstein lag ein blaues Omamori, das Band des Knotens bewegte sich leicht im Wind. Mit zitternden Beinen ging ich langsam um das Fahrerhaus herum. Kapitel 33: Entscheidungen -------------------------- Vollkommen starr sah ich auf den kühlen Stein, las die Lebensdaten, die mir viel zu kurz vorkamen. Eigentlich hatte ich geglaubt, jetzt ein neues Leben zu beginnen. Und, dass du Teil davon sein würdest. Wir hatten uns gerade erst gefunden, und schon bist du wieder fort. Der Schmerz saß tief und nur mit Mühe gelang es mir, einen Laut zu unterdrücken, während ich langsam in die Knie sank und eine weiße Lilie vor den Stein legte. Ich hatte nicht schon so früh wieder hier stehen wollen. Die Kirschblüten der umstehenden Bäume rieselten wie rosafarbener Schnee auf die Erde, legten sich sanft auf das Grab vor mir. Warme Tränen liefen über meine Wangen. Als ich hinter mir Schritte hörte, drehte ich meinen Kopf nicht weg, starrte auf den in Stein gemeißelten Namen, der hier noch nicht stehen sollte. Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und ich ergriff sie. Sie führte mich weg von dir, durch die große Zahl an schwarzgekleideten Menschen, die Abschied nehmen wollten. Ich blickte nicht auf, sah einfach stur auf den Weg vor mir. Das Leid der anderen, die dich verloren hatten, wollte ich nicht auch noch sehen. Ich atmete tief durch und versuchte mich wieder zu beruhigen. Etwas abseits blieben wir stehen und warteten, dass auch die Anderen Abschied nehmen konnten. Mein Herz wollte sich nicht beruhigen. Ich versuchte das Schluchzen zu ersticken, zwang mich die Tränen aufzuhalten. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Der Druck auf meiner Schulter verstärkte sich und ich sah auf. Sah in die kastanienbraunen Augen meines Gegenübers, die mich voller Mitleid ansahen. Jaden legte tröstend seine Arme um mich. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit verschwand, machte Platz für die Trauer und allmählig gab ich es auf, die Tränen zu verstecken. ~*~ Der laue Frühlingswind wehte durch die Bäume, brachte sie zum rascheln und wirbelte einige der Kirschblüten am Flussufer durch die Luft. Ein leichter Duft von frittierten Speisen wehte von den nahegelegenen Imbissständen zu mir. Mein Magen knurrte. Eine Woche hatte ich nach der Beerdigung in Tokio verbracht und jetzt war ich hier. Osaka. Meine alte Heimat. Ich beobachtete die Menschen, die fröhlich am Kirschblütenfest teilnahmen. Freunde, junge Paare, Familien. Sie wirkten so glücklich. Mein Blick fiel auf einen Mann, der sein Kind auf die Schultern genommen hatte. Das Mädchen kicherte vergnügt und bot ihrem Vater etwas von ihrer Eiscreme an, die ihr Ziel jedoch verfehlte und das Gesicht des Mannes rosa färbte. Ich schmunzelte. Plötzlich schob sich direkt vor meiner Nase ein Onigiri in mein Blickfeld und ich neigte meinen Kopf. Jaden sah mich fröhlich an. „Hier, du hast bestimmt Hunger!“ sagte er vergnügt und bot mir das Reisbällchen an. Wieder meldete sich mein Magen. „Danke“ sagte ich überrascht und nahm es an mich. „Ich dachte, du wolltest nur auf die Toilette gehen.“ Er zuckte mit den Schultern, während wir uns in Bewegung setzten um uns das Fest anzusehen. „Auf dem Rückweg musste ich sowieso an den Imbissständen vorbei. Und so wie ich dich kenne, hast du in den letzten Tagen bestimmt nichts gegessen.“ Ich sah ihn ertappt an und erntete ein Lächeln. „Dachte ich mir. Du hattest sicher viel zu tun in den letzten Tagen... Wie geht’s dir?“ Für einen Moment wandte ich den Blick ab und starrte auf das Onigiri in meiner Hand, ohne es eigentlich wahrzunehmen. „Besser“ sagte ich schließlich und sah auf. „Sicher, dass du das willst?“ fragte er besorgt. Ich sah ihn fragend an. „Naja, das Kirschblütenfest meine ich“ fügte er hinzu. „Wenn du willst, können wir auch einfach woanders hingehen.“ „Nein“ sagte ich schmunzelnd. „Ich bin gern hier mit dir. Außerdem habe ich dir damals in Osaka versprochen, dass wir zusammen zum Kirschblütenfest gehen.“ Außerdem tut mir ein wenig Ablenkung bestimmt ganz gut. Während wir aßen, beobachteten wir schweigend das bunte Treiben um uns herum. Nach einer kleinen Weile sah mich Jaden unsicher an. „Tut… mir echt leid, dass sie gestorben ist“ sagte er. „Lässt sich nicht ändern“ antwortete ich nur. Auch wenn ich gern mehr Zeit mit meiner Großmutter verbracht hätte, war ich dankbar für die, die ihr verblieben war. „Ich wünschte nur, sie hätte irgendjemandem von ihrer Krankheit erzählt.“ „Es hätte nichts daran geändert, dass sie gestorben wäre“ sagte Jaden und sah mich prüfend an. „Krebs ist scheiße, aber zumindest hatte sie dich in den letzten Monaten bei ihr. Das hat ihr bestimmt viel bedeutet.“ Ich nickte stumm. Natürlich hatte er Recht, aber hätte sie es mir gesagt, hätte ich mich zumindest darauf vorbereiten können. So kam ihr Tod für mich ganz plötzlich. Oder ob es so besser war? Ich atmete hörbar aus. Es bringt nichts, jetzt noch darüber nachzudenken. Es ist wie es ist und ich muss mich damit abfinden. Ändern kann ich es so oder so nicht mehr. „Kam eigentlich dieser Devlin-Typ wieder auf dich zu?“ riss mich Jadens Stimme wieder aus meinen Gedanken. Ich hob meinen Blick und sah in sein besorgtes Gesicht. Langsam nickte ich. „Bei der Beerdigung sah er selbst völlig fertig aus, aber gestern kurz vor meiner Abreise hat er mich wieder darauf angesprochen.“ Ich senkte den Blick. „Aber ich habe immernoch keine Ahnung, ob ich zustimme oder nicht.“ „Hm“ kam es nur von ihm und er sah auf den Weg vor uns, während wir die belebten Wege entlangliefen. Wieder sah ich zu Jaden. Sein Blick war gesenkt und irgendwie traurig. „Alles in Ordnung?“ fragte ich besorgt. Er sah überrascht auf. „Ja, klar. Wieso?“ „Du bist so still“ sagte ich irritiert über seine Reaktion. „Ich… bin nur nicht sicher was es bedeutet, wenn du zusagst. Versteh mich nicht falsch, ich will es dir nicht ausreden, aber deine Oma sah immer so fertig aus. Ich glaube nicht, dass ihr die Arbeit in der Firma Spaß gemacht hat.“ Ich schmunzelte. „Ich glaube kaum, dass sie der spaßige Typ war. Aber die Firma war ihr wichtig und es war ihr letzter Wunsch, dass ich ihren Platz übernehme.“ Auf dem Sterbebett sagte sie mir, dass die Firma in der Familie bleiben sollte. Duke Devlin, ihre rechte Hand, kam bereits zwei Mal auf mich zu und wollte eine Entscheidung von mir. „Ich weiß, aber…“ Er seufzte und musterte mich ernst. „Ich mach mir nur Sorgen, dass du es nur machst, um ihr einen Gefallen zu tun, und dabei nicht daran denkst was du willst.“ Ich sah ihn überrascht an. Was ich will… Ich weiß es nicht. Damals an Neujahr hatten mein Vater und meine Großmutter ein Gespräch geführt, als ich in meinem Zimmer telefoniert hatte. Nach ihrem Tod hatte mein Vater mir erzählt, dass sie sich über diese ganze Erbsache unterhalten hatten. Sie wollte unbedingt, dass die Firma in der Familie blieb. Ihm war nicht wohl bei ihrem letzten Wunsch. Und ich? Ich hatte keine Ahnung, ob ich das alles wollte. Will ich meiner Großmutter nur einen letzten Gefallen damit tun? Ich will diese wichtige Entscheidung nicht nur treffen müssen, weil ich mich ihr verpflichtet fühle. Weil ich sie vermisse und dadurch ein Teil von ihr bei mir wäre. Soll ich ihr diesen Gefallen tun oder weiter meine Träume verfolgen? „Denk die ganze Sache nicht so tot“ holte mich Jadens Stimme wieder in die Realität. Ich sah auf und er schenkte mir ein fröhliches Lächeln. „Hör einfach mal auf deinen Bauch.“ Ich musste unweigerlich schmunzeln. Manchmal wäre ich gern mehr wie Jaden. Zumindest in solchen Situationen. Für ihn schien immer alles ganz klar. Er machte sich nie große Gedanken über die Zukunft. Diese Unbeschwertheit bewunderte ich an ihm. „Was würdest du tun?“ fragte ich interessiert. Ich hatte etwas Hoffnung, dass mir seine Antwort vielleicht helfen könnte. Er schien ernsthaft zu überlegen. „Keine Ahnung“ antwortete er schließlich. „Ich glaube, ich würde ablehnen. Mir wäre das zu viel Verantwortung und ich hätte ehrlich gesagt keine Lust so wenig Freizeit zu haben. Ich weiß ja nicht wie das abläuft in so einer Firma. Aber du bist da ja anders als ich“ fügte er hinzu und sah mich belustigt an. „Mit der Schule, den Prüfungen und dem Nebenjob hast du ohnehin viel weniger Freizeit als ich. Und dir macht das Ganze nicht wirklich was aus. Wenn du etwas zu tun hast, wirkst du glücklicher.“ „Naja, so viel Arbeit würde es glaube ich gar nicht bedeuten“ sagte ich. „Dadurch, dass es einige Mitarbeiter gibt, würde sich die Arbeit verteilen. Im Prinzip würde ich nur ihre Anteile erben und nach dem Studium Vorsitzender des Vorstands werden.“ „Aber hat ihr die ganze Firma nicht gehört?“ fragte er verwundert. Ich nickte. „Zum Großteil ja, aber das heißt nicht, dass sie alles allein gemacht hat. Nimm Mister Devlin zum Beispiel. Er hat ihr ziemlich viele Arbeiten abgenommen und mir vorgeschlagen, dass er sie weiterhin macht. Dadurch müsste ich nur an den großen Besprechungen teilnehmen.“ „Aber…“ setzte er an und schien zu überlegen. „Wenn es gar nicht so viel Arbeit ist, warum machst du dann nicht beides?“ Ich sah ihn überrascht an. „Ich mein ja nur“ fügte er hinzu und zuckte mit den Schultern. „Studier doch was immer du willst und tauch ab und zu dort auf, dann kannst du doch beides machen. Die Firma und das, was du eigentlich machen willst.“ Ich blinzelte ihn überrascht an. Im Prinzip hatte er recht. Da fiel mir etwas viel hinderlicheres ein. „Und was ist mit dir?“ fragte ich. Er hob verwirrt eine Augenbraue. „Was soll mit mir sein?“ „Was ist, wenn ich zu beschäftigt mit Allem bin? Klar mag ich Herrausforderungen, aber deswegen will ich nicht weniger Zeit mit dir verbringen. Es ist mir egal, wie meine Zukunft aussieht. Ob ich die Firma nun übernehme oder nicht. Ich will, dass du ein Teil meines Lebens bleibst.“ Einen Augenblick sah er mich überrascht an. Schließlich schenkte er mir ein fröhliches Lächeln. „Wie oft soll ich es eigentlich noch sagen? Mich wirst du so schnell nicht los, ganz egal wie du dich entscheidest. Du hast mich am Hals“ sagte er mit einem Zwinkern. Ich musste schmunzeln. „Danke“ sagte ich schlicht und drückte seine Hand fester. Gab ihm einen kurzen, sanften Kuss. Letzten Endes ist es wohl egal wie ich mich entscheiden und wie meine Zukunft aussehen würde. Die Hauptsache war, dass er ein Teil davon blieb. Aber ich wollte es nicht riskieren, Jaden durch diese Aufgaben zu vernachlässigen und irgendwann vielleicht keine Zeit mehr für ihn zu haben. „Schau mal, das Ufer!“ riss mich Jadens begeisterte Stimme wieder aus meinen Gedanken und ich landete wieder in der Realität. Er zog mich schnellen Schrittes zum Fluss, dessen Ufer selbst wie ein Meer aus rosafarbenen Blüten aussah. Jaden drehte seinen Kopf zu mir, während er eilig weiterlief. „Jetzt komm schon, du Schlafmütze!“ Ein helles Klingeln ertönte und ich fuhr meinen Kopf schnell zur Seite. Im nächsten Moment zog ich Jaden wieder zurück und ein Radfahrer rauschte an uns vorbei, während er unverständlich irgendetwas fluchte, das sich nach ‚Trottel‘ anhörte. Ich warf Jaden einen ernsten Blick zu. Mein Griff um seine Hand wurde fester. Die Bilder vom Neujahrstag schwirrten wieder durch meinen Kopf. Das blaue Omamori, das durch die Luft segelte. Jaden, der schnell danach greifen wollte und plötzlich auf der Straße war. Der Truck, der auf einmal quer auf der Straße stand, während ich und Jaden am Straßenrand saßen. Die panischen Schreie unserer Eltern, die auf uns zuliefen. Mein Herzschlag pochte in meinen Ohren. Hätte ich ihn nicht instiktiv zurückgezogen und hätte der Fahrer des LKWs nicht so schnell reagiert, wäre ich innerhalb weniger Wochen auf zwei Beerdigungen gewesen. Ich atmete hörbar aus um die Bilder zu vertreiben. Er sah mich beschämt an. „Tut mir echt leid“ sagte er kleinlaut und rieb sich den Hinterkopf. Ich seufzte und ging mit ihm weiter Richtung Flussufer. Die Anspannung blieb. „Du hast nicht nur mir verprochen, dass du in Zukunft aufpasst“ sagte ich leise und blieb stehen. Wir waren nur wenige Meter vom Fluss entfernt. Wir betrachteten den Anblick der Kirschblüten, die wie Schnee von den Bäumen fielen auf der sanften Strömung des Flusses einen rosafarbenen Teppich bildeten. Ich wollte ihm keinen Vorwurf machen, aber der Schreck von diesem Tag saß tief. Einen Augenblick hatte ich gedacht, ich würde ihn verlieren. Ich hatte schreckliche Angst gehabt. Für einen Moment schloss ich meine Augen, um mich wieder zu beruhigen. Ich spürte warme Lippen auf meinen und seine Hand in meinem Nacken. Langsam entspannte ich mich wieder. Das samtige Gefühl seiner Lippen verschwand und ich öffnete meine Augen. Er lehnte seine Stirn an meine und schenkte mir ein liebevolles Lächeln. „Entschuldige.“ Ein leises Seufzen kam über mich. „Ich will nur nicht, dass dir was passiert“ flüsterte ich. „Ich wollte dir keine Angst machen. Sowas wie damals passiert nicht nochmal, okay?“ Ganz überzeugt sah ich wohl nicht aus. „Ich mach das echt nicht mit Absicht“ fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu. „Ich weiß“ antwortete ich schlicht. Doch das machte die ganze Sache nicht weniger unkontrollierbar. Oder weniger angsteinflößend. Er schüttelte belustigt den Kopf und ging einen Schritt zurück. Dabei zog er etwas aus seiner Hosentasche. Mit einem breiten Lächeln sah er mich an und streckte mir den kleinen Glücksbringer entgegen, den ich ihm geschenkt hatte. „Mit dem hier passiert mir nichts“ sagte er. „Er hat mich schonmal beschützt, und das wird er auch weiterhin, okay?“ Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich in das weiche Gras plumpsen und lächelte zufrieden. Ich setzte mich zu ihm und schmunzelte. Er musterte mich. „Was ist denn los?“ Mein Lächeln wurde breiter und ich schüttelte den Kopf. Legte meine Lippen sanft auf seine. Wieder erklang die Melodie, die mir in den letzten Monaten so viel Freude bereitete. Sein schönes Lachen hallte in meinen Ohren. Es schenkte mir in den letzten Monaten immer wieder Kraft und gab mir Halt. Ja, diese Melodie hatte mich vermutlich gerettet. ~*~ Der Schlüssel glitt langsam ins Schloss und ich öffnete die Tür. Schmunzelnd betrachtete ich den getigerten Kater, der träge auf mich zukam. Zuhause. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es nur knapp zwei Wochen. „Hallo, Pharao“ begrüßte ich unseren kleinen Stubentiger und kraulte ihn hinter seinem Ohr, was mir ein zufriedenes Schnurren einbrachte. Ich seufzte lautlos. Der Kater hatte in den letzten zehn Jahren deutlich an Gewicht zugelegt und ich hatte das Gefühl, dass er immer dann dicker wurde, wenn ich eine Weile verreist war. So auch heute. „Klar, warum denn?“ hörte ich Jadens gedämpfte Stimme aus dem Arbeitszimmer. Ob er telefoniert? Ich ging leise in das Zimmer, um ihn nicht zu stören und blieb im Türrahmen stehen. „Nein, in zwei Stunden ist kein Problem“ bestätigte er seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Breit grinsend ging er auf und ab, bis er mich bemerkte und auf mich zukam. Er legte mir seine Hand auf die Brust und gab mir zur Begrüßung einen sanften Kuss. „Was?“ fragte er belustigt als er sich von mir löste. „Nein, mein Mann ist nur gerade angekommen.“ Ich musste schmunzeln. Mein Mann. Er sagte es so… stolz. So glücklich. Diese beiden Worte lösten ein ungeheures Glücksgefühl in mir aus. Ich werde wohl noch eine Weile brauchen, um mich daran zu gewöhnen. Aber will ich mich überhaupt daran gewöhnen? Jaden schnappte sich den kleinen Kalender vom Schreibtisch und telefonierte weiter. Ich nutzte die Zeit um meine Tasche abzustellen und mich frisch zu machen. Der Heimweg war lang und ich war erschöpft. Als ich fertig war, ging ich ins Wohnzimmer, wo mich Jaden schon erwartete. „Also, wie lief das Konzert?“ fragte er und drückte mir eine Tasse in die Hand während ich mich zu ihm setzte. Der Duft des frischen Kaffees stieg mir in die Nase und ich schloss für einen kleinen Moment meine Augen. „Wirklich gut“ sagte ich und rieb mir meinen verspannten Nacken. „Anscheinend kam das neue Stück gut an.“ Er grinste breit und lehnte sich an mich. „Hab ich dir doch gleich gesagt!“ Ich gab einen belustigten Laut von mir und schlang einen Arm um ihn. Nippte an dem heißen Kaffee. Endlich etwas Entspannung. „Mit wem hast du eigentlich telefoniert?“ fragte ich. „Mit Ayumi. Sie wollte nachher kurz vorbeikommen.“ „Hat sie gesagt warum?“ Jaden zuckte nur mit den Schultern und nippte an seinem Tee, bis ihm anscheinend etwas einfiel und er mich vielsagend ansah. „Meinst du...“ setzte er an und stellte seine Tasse ab. „Glaubst du es hat schon geklappt?“ „Hm. Ganz auszuschließen ist es nicht, aber die Ärzte haben ihr doch gesagt, dass es eine Weile dauern kann.“ „Ja, aber es könnte doch.“ Ich schmunzelte und legte meinen Arm um ihn. Jaden lehnte sich ganz automatisch an mich und legte seinen Arm um meine Taille. „Für die Antwort wirst du dich wohl gedulden müssen.“ „Weil ich so ein geduldiger Mensch bin“ sagte er sarkastisch, was mir ein kleines Lachen entlockte. ~*~ „Sag mal. Ihr habt mir nie erzählt wer von euch beiden eigentlich den Antrag gemacht hat“ sagte die brünette Frau und stellte ihre Tasse ab. „Dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen ist doch erst seit Anfang des Jahres erlaubt, oder?“ Jaden lachte kurz auf. „Ja, aber ich hab ihm vor ein paar Jahren mal einen symbolischen Antrag gemacht. Als ich dann den Artikel gelesen habe, dass es endlich erlaubt ist, hab ich ihn gleich Yusei gezeigt.“ Ayumi richtete ihren Blick auf mich und lächelte. „Und was hast du dann gemacht?“ Ehe ich antworten konnte, übernahm das Jaden für mich, was mich nur schmunzeln ließ. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft er diese Geschichte bereits erzählt hatte. Und jedes Mal hatte er dabei dieses glückliche Funkeln in seinen Augen. Dass Ayumi sie nicht kannte, wunderte mich ehrlich gesagt. „Er hat mich nur angegrinst und gefragt: ‚Steht dein Antrag noch?‘. Die Woche darauf waren wir schon voll in der Hochzeitsplanung drin. Wir haben es geschafft alles innerhalb von zwei Monaten vorzubereiten und im Mai dann endlich geheiratet.“ Sie kicherte. „Schade, dass ich die Hochzeit verpasst habe. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich mir Urlaub nehmen können.“ „Ja, das ist der Nachteil an kurzfristigen Planungen“ sagte ich. „Jadens Onkel hat es leider auch nicht zur Hochzeit geschafft.“ „Bei Alexis stand es ja auch auf der Kippe“ bemerkte Jaden. „Sie kam Hochschwanger auf der Hochzeit an und nicht mal eine Woche später war das Baby schon da.“ Ich lachte leise. „So wie sie aussah, hatten wir schon gedacht, sie bekommt das Kind noch auf der Hochzeit.“ „Apropos“ bemerkte sie mit einem Lächeln. „Ihr wollt doch auch Kinder. Warum habt ihr bisher noch nicht adoptiert?“ „Hör mir auf“ sagte Jaden genervt. Ich legte meine Hand beruhigend auf seine. Ayumi sah ihn verwundert an. „Ist ein sensibles Thema“ beantwortete ich ihre unausgesprochene Frage. „Wir haben es versucht“ sagte Jaden zerknirscht. „Vor knapp zwei Jahren hatte ich ein fünfjähriges Kind auf der Station, das mit unzähligen Blessuren und einem gebrochenen Arm eingeliefert wurde. Sie wurde vom Jugendamt in Obhut genommen. Drei mal darfst du raten, was passiert war.“ Ayumi sah ihn erschrocken an und wanderte mit ihrem Blick zwischen mir und Jaden, der stur auf die Tischplatte starrte. „Sie hatte schreckliche Angst“ fuhr er weiter aus. „Wenn die Leute vom Jugendamt mit ihr reden wollten, hatte sie immer darauf bestanden, dass ich dabei war. Sie wollte niemand anderem mehr vertrauen. Ich hab mit Yusei geredet und wir wollten sie zu uns nehmen.“ „Und… warum hat das nicht geklappt?“ fragte Ayumi unsicher. Ich sah zu Jaden. Seine Hände waren so sehr zu Fäusten geballt, dass die Fingerknöchel sich weiß färbten. „Es ist sowieso schon schwierig als Mann ein Kind zu adoptieren“ antwortete ich für ihn. „Aber wenn die Familie sich auch noch quer stellt, haben wir keine Chance mehr. Zu dem Zeitpunkt waren wir auch noch nicht verheiratet und er hätte nur als Alleinstehender gezählt. Das senkt die Chance nochmal mehr. Dass wir finanziell abgesichert sind, zählt dabei weniger, als eine klassische Familienkonstellation.“ „Das ist ja echt die Höhe!“ rief sie empört aus. „Und da lassen sie sie lieber im Heim?“ Ich schüttelte den Kopf. „Seitdem wandert sie von einer Pflegefamilie zur nächsten.“ „Und das soll jetzt besser für sie sein?“ fragte sie verständnislos. „Ich fasse es nicht! Das tut mir echt leid für euch beide. Und vor allem für das Mädchen. Wie ist eigentlich ihr Name?“ „Himari“ sagte Jaden und seufzte. „Wir können im Moment absolut nichts machen. Naja... Genug von dem Thema. Was wolltest du uns eigentlich erzählen?“ Ayumi sah ihn überrascht an. Ich hielt seine Hand noch immer fest und strich mit dem Daumen sanft darüber, in der Hoffnung, ihn etwas zu beruhigen. Mich wunderte der Themenwechsel nicht. Langsam hatte ich das Gefühl, dass er die Hoffnung schon aufgegeben hatte. Es passte eigentlich nicht zu ihm, aber vielleicht lag es einfach daran, dass ihm dieses Thema bis heute viel Kraft geraubt hatte. Die vielen Gerichtstermine, die wir schon hatten. Die endlosen Streitereien mit den leiblichen Eltern von Himari. Seine Nerven lagen einfach blank. Plötzlich sprang Pharao auf das Sofa und rollte sich auf Jadens Schoß zusammen. Man konnte förmlich zusehen, wie sich Jaden langsam beruhigte. Der Kater war erstaunlich sensibel, was negative Stimmungen anging. „Vielleicht wollte ich euch auch einfach einen Besuch abstatten?“ bemerkte Ayumi scherzhaft, um die Stimmung etwas aufzulockern. „Du kannst genauso schlecht lügen wie Yusei“ sagte Jaden mit einem kleinen Lächeln. „Ist das so?“ fragte sie und warf mir einen amüsierten Blick zu. „Na schön. Ich habe wirklich ein paar Neuigkeiten.“ Ihr Gesicht wirkte auf einen Schlag viel fröhlicher als vorher, während sie in ihrer Handtasche herumkramte und fand, wonach sie suchte. Sie zog einen Briefumschlag heraus und legte ihn auf den Tisch. Dann sah sie auf und grinste breit. „Seht es als nachträgliches Hochzeitsgeschenk.“ Neugierig nahm ich den Umschlag an mich und zog den Inhalt heraus. „Was?!“ Jadens Stimme überschlug sich fast. Ehe ich realisierte was ich in den Händen hielt, riss er den Inhalt förmich an sich und starrte das beigefügte Foto einen Moment an. „Das ist nicht dein Ernst!“ rief er ungläubig. Als er aufsah, strahlte er über das ganze Gesicht. Ich musste schmunzeln. Gleichzeitig fragte ich mich, was seine Stimmung auf einen Schlag so aufhellen konnte. Sie kicherte vergnügt. Während sie ihm ihre Antwort gab, nahm ich das Foto wieder an mich und betrachtete es genauer. „Glaub es ruhig. Die Ärztin war selbst überrascht, dass es gleich beim ersten Mal geklappt hat.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus, ehe es in einem wilden Tempo gegen meine Brust hämmerte. In meinen Händen hielt ich ein Ultraschallfoto. Ungläubig sah ich erst zu Jaden, dem die Freude noch immer im Gesicht stand, dann zu Ayumi. „Ist das dein Ernst?“ fragte ich leise. Ich konnte es nicht fassen. Sie nickte und ihr Lächeln wurde breiter. „Herzlichen Glückwunsch, ihr werdet Eltern.“ Jaden sprang auf und redete aufgeregt auf Ayumi ein, doch ich nahm es nur als Rauschen wahr, betrachtete noch einmal die Aufnahme von dem, was bereits einem kleinen Menschen ähnelte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ayumi bot uns vor einigen Monaten an, dass sie die Leihmutterschaft für uns übernehmen würde. Im Gegensatz zur Adoption, war eine Leihmutterschaft eine Grauzone, und somit die einzige Möglichkeit als männliches Paar ein Kind zu bekommen. Aber so schnell? Mein Blick wanderte zum Datum der Aufnahme, es war von heute. Dann zu den Abmessungen des Fötus. Ich stutzte. Plötzlich zog mich Jaden in eine stürmische Umarmung und ich landete wieder in der Realität. Ich musste mich an der Lehne des Sofas abstützen um nicht auf dem Boden zu landen. „Ist das nicht klasse?“ rief er aufgeregt. Nachdem sich der Schreck gelegt hatte, stellte sich auch bei mir ein Glücksgefühl ein. „Ja“ sagte ich lächelnd und sah wieder zu Ayumi. „Aber es scheint mir schon ziemlich groß. In welcher Woche bist du denn?“ „Hast du gar nicht zugehört?“ fragte Jaden ungläubig und löste sich von mir. „Das hab ich sie doch eben schon gefragt!“ „Schon gut“ sagte sie amüsiert. „Ich bin nur froh, dass er nicht mehr so blass ist. Ich bin in der Zwölften. Ich wollte abwarten, falls vielleicht irgentetwas passiert. Am Anfang kann es bei einer Schwangerschaft schnell mal zu Komplikationen und Abbrüchen kommen. Aber das Gröbste ist vorbei.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Es ist absolut gesund und entwickelt sich normal. Ich kenne allerdings das Geschlecht noch nicht. Es lag heute ungünstig.“ „Mir egal ob Junge oder Mädchen“ sagte Jaden und sah mich glücklich an. „Wir werden wirklich Eltern.“ „Ihr habt es verdient“ sagte Ayumi und sah mich belustigt an. „Aber ich glaube du brauchst noch etwas, um das zu realisieren, oder?“ „Ja“ sagte ich ihr mit einem schiefen Lächeln. Wir werden tatsächlich Eltern. Ich werde tatsächlich Vater. In sechs Monaten. Und wir hatten noch nichts vorbereitet. „Na schön“ sagte sie, während sie aufstand. „Ich gebe euch mal ein bisschen Zeit. Außerdem habe ich heute noch etwas zu erledigen. In zwei Wochen ist die nächste Untersuchung, falls ihr dabei sein wollt.“ „Na klar!“ bestätigte ihr Jaden sofort. Wir begleiteten Ayumi bis zur Tür. Jaden hatte sie zum Abschied so fest umarmt, dass ich Angst hatte, sie würde zerquetscht werden. Ich steuerte das Arbeitszimmer an, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Tigerte auf und ab. Sechs Monate. Wir haben noch sechs Monate Zeit. Was muss noch alles erledigt werden? Das Gästezimmer müssten wir zum Kinderzimmer umfunktionieren. Das bedeutet eine Menge Arbeit, aber das Baby kommt ohnehin erst in einem halben Jahr, also machbar. Was noch? Die Wohnung Kindersicher machen. Obwohl, bis es irgendetwas eigenständig erreicht, zieht nochmal einige Zeit ins Land. Ich stützte mich am Schreibtisch ab und starrte auf die Tischplatte. Was brauchen wir noch? Einen Kinderartzt. Aber welchen? Plötzlich legten sich zwei Arme um mich und ich hörte Jadens belustigtes Schnaufen. „Dreh bitte nicht jetzt schon durch, dafür bin ich zuständig.“ Ich spürte, wie ein großer Teil der Anspannung aus meinem Körper wich und lachte leise. „Entschuldige, aber ich war nicht darauf vorbereitet.“ Auch er lachte und löste sich ein Stück von mir. Ich drehte mich in seinen Armen zu ihm. „Glaubst du ich war es?“ sagte er belustigt. „Aber zerbrich dir bitte nicht jetzt schon den Kopf. Wir bekommen das alles hin, okay?“ Ich nickte und legte meine Lippen sanft auf seine. Er hatte recht. Meine Sorge war unbegründet. Wir hatten noch jede Menge Zeit. Er löste sich von mir und sah mich zufrieden an. „Na schön. Wir sollten es den anderen erzählen! Ich rufe Alexis an. Sie und Crow werden bestimmt platzen vor Freude!“ Ehe ich etwas erwiedern konnte, lief er aus dem Arbeitszimmer. Wie ich ihn kenne, wird er sicher ewig mit ihr telefonieren. Mein Blick wanderte zu einem kleinen Stapel von Briefen auf dem Tisch. Ohne darüber nachzudenken nahm ich ihn an mich und sah sie durch. Ich musste irgendwie meine Gedanken sortieren. Neben zwei Rechnungen und zu viel Werbung entdeckte ich einen Großbrief von meinem Anwalt. Verwundert öffnete ich ihn. Unterlagen landeten normalerweise immer in mein Büro. Als ich die ersten Zeilen überflog, musste ich mich am Stuhl abstützen. Meine Beine drohten mir den Dienst zu versagen. Das kann nicht… Schnell zog ich mein Telefon aus der Tasche, ließ es dabei fast fallen und wählte mit zitternder Hand seine Nummer. *Die Sicht von Jaden* „Was?!“ schallte die Stimme meiner Schwester viel zu laut aus dem Lautsprecher meines Handys und brachte damit meine Ohren zum klingeln. Ich hielt es etwas weg, auch wenn es nichts mehr brachte. „Ja!“ antwortete ich glücklich, während sich Pharao zu mir gesellte und auf meinem Schoß Platz nahm. „Wir haben es gerade erfahren.“ „Wow! Ich meine… Jaden, das ist großartig! Weiß Mama schon bescheid?“ „Nein, du bist die Erste.“ „Ich fühle mich geeht“ lachte sie. Im Hintergrund hörte ich Crows Stimme. Alexis erzählte ihm die große Neuigkeit und wieder schallte es so laut durch den Höhrer, dass ich mein Handy ein Stück weghalten musste. „Ist das dein Ernst? Seit wann weißt du das schon?!“ Wieder musste ich lachen. „Seit heute. Ayumi war vorhin da und hat es uns erzählt.“ „Klasse, Alter! Das muss gefeiert werden!“ „Gibst du mir bitte das Handy wieder?“ hörte ich die Stimme von Alexis leise in strengem Tonfall. „Warte, ich stell dich auf Lautsprecher. Jack ist auch gerade da.“ „Herzlichen Glückwunsch“ sagte er unbeeindruckt. Crow seufzte. „Nur nicht zu viel Freude.“ „Schon gut“ sagte ich grinsend. Er war ohnehin nie der Typ für große Emotionen. „Nächste Woche habe ich drei Tage frei, dann wollten Yusei und ich euch mal besuchen kommen. Dann stoßen wir drauf an.“ „Abgemacht!“ sagte Crow. Im Augenwinkel sah ich Yusei, der langsam ins Wohnzimmer kam. Er stand im Türrahmen und sah mich überrumpelt an. Langsam ließ ich mein Handy sinken. Er war sogar noch blasser als vorhin. „Alles Okay?“ fragte ich unsicher. Ich konnte nicht verstehen, warum er wie vom Donner gerührt vor mir stand. „Was soll denn nicht Okay sein?“ fragte Alexis. Für einen kleinen Moment hatte ich ganz vergessen, dass ich mit ihr telefonierte. „Nein, nicht du“ stellte ich klar. „Ich ruf später wieder an, okay?“ „Was? Du kannst doch ni-“ Ich brach den Anruf ab. Nachher würde ich dafür sicher Ärger bekommen, aber ich machte mir Sorgen um Yusei. „Was ist denn los?“ fragte ich und wollte aufstehen. Dabei sprang der Kater von meinem Schoß und verschwand. Yusei schüttelte den Kopf und kam langsam auf mich zu, ehe er sich neben mich setzte. „Yusei, was ist?“ fragte ich nachdrücklich. Langsam machte er mir Angst. Erst da fiel mir der kleine Stapel Papier in seiner Hand auf. Doch bevor ich ihn darauf ansprechen konnte, redete er endlich mit mir. „Ich habe gerade mit meinem Anwalt telefoniert.“ Anwalt? Warum ruft er ausgerechnet jetzt seinen Anwalt an? Er sah aus, als würde er irgendwie versuchen seine Gedanken zu sammeln. „Und was hat er gesagt?“ versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen. Plötzlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Es war eine seltsame Mischung aus Freude und Verwirrung. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. „Er… Ich wollte wissen, ob es wirklich wahr ist. Oder ob uns noch irgendjemand einen Strich durch die Rechnung machen kann.“ „Wovon redest du?“ fragte ich irritiert. Im Normalfall drückte er sich klarer aus. „Himari.“ „Was?“ wisperte ich ungläubig. Mein Herz begann zu rasen. Was hat Himari mit der ganzen Sache zu tun? Die Verwirrung verschwand allmäglich aus seinem Gesicht und er sah mich fröhlich an. Reichte mir den Stapel Papiere. Ich nahm ihn mechanisch an mich, sah aber weiterhin gebannt zu Yusei, um zu verstehen, was er mir sagen wollte. „Ich wollte sichergehen, dass die Papiere wirklich korrekt sind. Jaden, es gab endlich eine Entscheidung. Wir haben gewonnen.“ Ich schüttelte den Kopf ganz leicht. „Was meinst du mit gewonnen? Und was hat Himari damit zu tun?“ Er schnaufte belustigt. „Es geht um sie. Verstehst du nicht? Die Eltern haben kleinbei gegeben und das Gericht hat entschieden, dass sie bei uns besser aufgehoben ist als in den Pflegefamilien. Jaden, wir haben den Fall gewonnen!“ Warte… Was? Langsam wanderte mein Blick zu den Papieren in meiner Hand. Ein Brief von Yuseis Anwalt, der bestätigte, dass der Fall abgeschlossen war. Einige Formulare. Langsam realisierte ich, was Yusei mir sagen wollte. „Wir haben es geschafft?“ versuchte ich mich zu vergewissern. Sein Lächeln wurde breiter und er nickte. „Wir müssen noch eine Art Probezeit abwarten, bevor wir die Adoptionspapiere unterzeichnen können, aber-“ Mitten im Satz fiel ich ihm um den Hals. Es war mir vollkommen egal, was wir alles machen müssen, damit Himari bei uns blieb. All die Anspannung der letzten zwei Jahre fiel mit einem Schlag von meinen Schultern. Ich versuchte gar nicht erst die Tränen aufzuhalten. Ich war so glücklich. Endlich hatten wir es geschafft, und das obwohl mir das Jugendamt immer und immer wieder klar machen wollte, dass es unmöglich war. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben. Seine Arme legten sich fest um mich und er strich mir durchs Haar. „Du… bist dir ganz sicher?“ versuchte ich halbwegs verständlich zu fragen. Ich spürte sein Nicken und verstärkte den Griff in seiner Kleidung. Wir haben gewonnen. Es ist vorbei. Diese beiden Sätze wiederholten sich wie ein Mantra in meinem Kopf. Langsam beruhigte ich mich wieder und löste mich von Yusei. „Wieso jetzt?“ fragte ich mit brüchiger Stimme. Doch er schüttelte nur den Kopf und strich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Das ist eine lange Geschichte. Die Hauptsache ist, dass sie zu uns darf.“ Ich nickte zaghaft. „Und wann ist es soweit? Weiß sie schon bescheid? Wo ist sie gerade?“ Sein Lächeln wurde breiter. „Wenn der Papierkram erledigt ist, noch eine Woche. Aktuell ist sie wieder im Kinderheim und weiß noch nichts davon. Wir können sie nächste Woche besuchen und zu uns nehmen.“ Nächste Woche schon? „Oh man“ sagte ich und sah mich um. Wir hatten weder ein Zimmer vorbereitet, noch Spielzeug oder Kleidung da. „Ich weiß“ sagte Yusei und ich sah wieder zu ihm. „Wir haben noch einen Berg Arbeit vor uns, aber ich habe die Termine in nächster Zeit absagen lassen, damit wir alles schaffen. Und in der ersten Zeit bekommen wir Hilfe von der Adoptionsvermittlung. Wie du schon gesagt hast: wir schaffen das.“ Er legte seine Hand an meine Wange und strich mit dem Daumen sanft darüber. Gab mir einen sanften Kuss. Ich lächelte in den Kuss hinein. Er hatte recht. Wie wir allerdings gleich mit zwei Kindern klarkommen sollten, war eine ganz andere Geschichte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)