Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 32: Neujahr ------------------- „Aufwachen, Schlafmütze!“ Grummelnd zog ich die Decke über meinen Kopf um wenigstens noch zehn Minuten liegen zu bleiben. Unter der Decke konnte ich erkennen, dass sie das Licht einschaltete. Selbst gedämpft war es mir zu hell. Wie kann man nur nach so wenig Schlaf so fröhlich klingen? Manchmal denke ich wirklich, wir wären gar nicht verwandt. „Jetzt komm schon, Jaden! Du hast es versprochen!“ „Ist ja gut“ murmelte ich und schlug die Decke genervt zur Seite. Öffnete schlaftrunken meine Augen und versuchte sie an die Helligkeit zu gewöhnen. Alexis grinste breit und verließ mein Zimmer, während sie leise irgendetwas summte. Langsam sah ich zur Uhr und stöhnte genervt auf. Es war erst kurz nach vier! Morgenmenschen. Die sind doch alle verrückt. Ich hasse es, so früh aufzustehen. Und das auch noch in meinen Ferien! Das ist doch unmenschlich! Blöde Tradition. Aber sie hatte ja recht. Ich hab es versprochen. Als ich im Bad mit allem fertig war, ging ich nach unten in die Küche, wo schon der Rest meiner Familie am Frühstückstisch wartete. Mein Vater gähnte herzhaft und begrüßte mich. Zumindest war ich wohl nicht der Einzige, der nicht genug Schlaf abbekommen hatte. Meine Mutter hingegen war genauso fröhlich drauf wie Alexis. Eigentlich logisch. Sie war es wegen der Schichtarbeit gewohnt um diese Zeit wach zu sein. „Schade, dass dein Bruder nicht mitkommen wollte“ sagte sie an meinen Vater gerichtet, während ich mich setzte. Der Glückliche. „Ja, aber du kennst ihn ja“ antwortete mein Vater mit einem kleinen Lächeln. „Er macht sich eben Sorgen um unsere Mutter.“ „Aber Oma war doch nur ein bisschen erkältet“ mischte sich Alexis ein. „Übertreibt er es nicht?“ „Du musst versuchen ihn zu verstehen, Schätzchen“ sagte mein Vater. „Wir hätten sie vor ein paar Jahren fast verloren. Seitdem ist er besorgt um sie.“ Stimmt ja. Vor einigen Jahren war Oma ziemlich krank. Ich hatte damals nicht verstanden was eigentlich los war, aber meine Eltern, mein Onkel und Opa waren über Monate hinweg ständig bei ihr im Krankenhaus. Allerdings hatte sie sich irgendwann erholt und war wieder so fit wie vorher. Meine Mutter stellte ein Glas Saft vor mir ab und wandte sich wieder an meinen Vater. „Eigentlich hat Alexis recht, Liebling. Sie ist längst wieder gesund. Ihr dürft nicht bei jedem kleinen Husten so überreagieren. Ich habe gestern mit ihr geredet. Das macht sie noch wahnsinnig und ganz ehrlich: mir würde es auch so gehen. Sie ist doch kein rohes Ei.“ Ohje, das Gespräch hatten wir schon öfter. Ich sollte schnell das Thema wechseln. „Wo treffen wir uns eigentlich mit Yusei und seinem Vater?“ Gut, der Themenwechsel war vielleicht nicht elegant, aber meine Mutter stieg darauf ein. „Am Tempel. Ich habe Hakase vorgeschlagen, dass wir auf dem Rückweg dort einkehren könnten. Dann hätten wir endlich alles gleich am ersten Tag des Jahres erledigt.“ „Aber ist das am ersten Tag nicht super voll dort?“ fragte ich. „Ja!“ ging Alexis dazwischen. „Und ich wollte eigentlich wie jedes Jahr im Kimono dahin. Den kann ich doch nicht bei der Wanderung schon anziehen.“ Meine Mutter seufzte. „Dann zieh dich um, wenn wir wieder zurück sind. Jaden hat recht. Wir werden ohnehin eine Weile warten müssen. Du kommst einfach dazu, einverstanden?“ Na toll. Ich hatte keine Ausrede nicht ewig in der Schlange stehen zu müssen. Aber zumindest hätte ich dieses Mal Yusei dabei. Und meine Eltern kamen ziemlich gut mit seinem Vater aus. Da fiel mir etwas ein. „Hat Yuseis Vater eigentlich gesagt, ob seine Oma auch mitkommt?“ Ich wusste, dass sie gestern den Tag zusammen verbracht hatten, aber Yusei meinte sie könnte nicht lange bleiben. Gut möglich, dass sie gar nicht mitkommt. „Nein, das hat er nicht gesagt“ überlegte meine Mutter laut. „Wir werden uns einfach überraschen lassen“ meinte mein Vater mit einem Lächeln. „Aber wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät.“ Stimmt. Wenn ich schon um so eine Uhrzeit aufstehen musste, wollte ich wenigstens nicht den Sonnenaufgang verpassen. Dann wäre das alles umsonst gewesen und ich hätte einfach liegen bleiben können. „Holst du noch deinen Rucksack, Spätzchen?“ fragte meine Mutter. „Die Bentos sind schon fertig, du musst deins nur noch einpacken.“ Ich nickte und ging in mein Zimmer. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Am sternklaren Himmel stand der Mond hoch über uns und spendete der Umgebung sein schwaches Licht. Während wir durch den Schnee stapften, sah ich mich um. Die Straßen waren nahezu menschenleer. Wir liefen nur wenigen, kleinen Gruppen über den Weg, die vermutlich ein ähnliches Ziel hatten wie wir. Als wir zur Tempelanlage abbogen, sah ich am Eingangstor einige Personen, die nur durch den schwachen Lichtschein der Laternen beleuchtet wurden. Als wir näherkamen, erkannte ich sie. Yusei unterhielt sich gerade mit seinem Vater, daneben stand tatsächlich seine Oma. „Hey“ sagte ich, als wir bei ihnen ankamen und gab Yusei einen flüchtigen Kuss. Im Augenwinkel erkannte ich seine Oma, die mich irgendwie missbilligend betrachtete. Zumindest hatte ich das Gefühl. Ich musste schlucken. So ganz hatte sie es wohl doch nicht akzeptiert. Yusei folgte meinem Blick und was auch immer ich eben noch in ihrem Gesicht erkannt hatte, jetzt war es wieder verschwunden. Oder hab ich mir das nur eingebildet? „Wartet ihr schon lang?“ fragte meine Mutter. Yuseis Vater schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind erst vor ein paar Minuten angekommen. Allerdings müsstet ihr jetzt die Führung übernehmen. Ich habe keine Ahnung wohin es zur Küste geht.“ An der Spitze unserer kleinen Gruppe liefen meine Eltern und Yuseis Vater, die sich angeregt unterhielten. Dahinter Yuseis Oma, dann Yusei, ich und meine Schwester. Yuseis Oma lief ein paar Schritte hinter den anderen Ewachsenen. Nah genug, damit sie sie verstehen konnte, aber trotzdem distanziert. Ihre Körperhaltung war angespannt, aber ich konnte absolut nicht deuten wie sie sich wohl fühlte. Irgendwie tat sie mir leid, so ganz allein. Eine Berührung an meiner Hand holte mich aus meinen Gedanken. Yusei umschloss sie und lächelte mich an. „Wie war es bei deinen Großeltern?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, wie immer eigentlich. Bei manchen aus der Familie bin ich ganz froh, dass ich sie nur einmal im Jahr sehe.“ „Dein Cousin?“ fragte er nach. Ich sah ihn überrascht an und nickte. Dass er sich das tatsächlich gemerkt hat. Wir hatten uns nur ein einziges Mal kurz über ihn unterhalten und ich hatte nur angedeutet, dass ich keine Lust auf ihn hatte. „Du musst aber zugeben, dass er sich dieses Mal mit seinen Streichen zurückgehalten hat“ sagte Alexis. „Außerdem ist er erst elf Jahre alt. Du warst damals genauso anstrengend.“ „Vergleichst du mich ernsthaft mit dieser Knalltüte?“ Alexis lächelte breit. „Und wenn es so ist? Du musst zugeben, dass du auch nicht viel besser warst.“ „Blödsinn.“ Yusei lachte leise, während Alexis weitersprach. „Aber er war immernoch besser als Opa. Nächstes Jahr sollten wir den Sake verstecken.“ „So schlimm?“ fragte Yusei amüsiert. Alexis seufzte. „Er wird immer oberpeinlich, wenn er was getrunken hat.“ „Also ich finde ihn lustig, wenn er betrunken ist“ sagte ich. „Er erzählt dann immer die besten Geschichten.“ „Wer war denn noch dabei?“ fragte Yusei. „Mal sehen“ überlegte Alexis laut und zählte die Gäste an den Händen ab. „Natürlich unsere Großeltern, wir, unser Onkel mit seiner Frau und unserem Cousin, unsere zwei Tanten, unser anderer Opa mit seiner neuen Frau und unsere Großcousine mit ihren zwei Kindern.“ „Wow, die haben alle an einen Tisch gepasst?“ fragte Yusei erstaunt. „Naja, war ganz schön knapp“ sagte ich und Alexis schloss zu meinem Vater auf, um sich mit ihm zu unterhalten. „Wie war es denn bei dir?“ Er überlegte kurz und schien seine Worte abzuwägen. „Eigentlich ganz gut, würde ich sagen. Zumindest besser, als ich befürchtet hatte.“ „Klingt ja sehr lustig“ sagte ich sarkastisch. Er schmunzelte. Seine Stimme war bei seinen folgenden Worten jedoch gedämpfter, sodass seine Oma uns vermutlich nicht hören würde. Das Gespräch unserer Eltern war zumindest lauter. „Naja, es fing gar nicht so schlecht an. Die beiden haben sogar so etwas wie eine ungwezwungene Unterhaltung zustande gebracht.“ „Und was ist dann passiert?“ fragte ich ebenso leise. Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben uns über mein Studium unterhalten, als Kalin mich plötzlich anrief. Ich bin zum telefonieren in mein Zimmer gegangen. Ich war vielleicht 15 Minuten weg und als ich wieder nach unten ging, herrschte eine eisige Stille. Keine Ahnung was passiert ist. Der Rest des Abends war dann ziemlich verkrampft.“ Na toll. Dabei hatte sich Yusei so sehr auf den Abend gefreut. Immerhin waren wir beide überrascht gewesen, dass sein Vater tatsächlich zugestimmt hatte Neujahr mit seiner Oma zu verbringen. Ich hatte mir für ihn gewünscht, dass es besser laufen würde. „Tut mir leid für dich“ sagte ich deshalb. Er schüttelte nur den Kopf. „Muss es nicht. Den Versuch war es wert. Sie hat trotzdem gesagt, dass sie es schön fand Neujahr mit der Familie zu verbringen. Auch wenn sie so klein ist.“ „Aber“ setzte ich an und flüsterte meine nächste Frage schon fast. „Wenn es nicht so gut gelaufen ist, warum kommt sie dann heute mit?“ An ihrer Stelle wäre mir die Situation verdammt unangenehm. Ich wäre sicher einfach nach Hause gefahren. Andererseits weiß ich nicht wer Zuhause auf sie warten sollte. Ihr Mann war tot und andere Kinder hatte sie nicht. Vielleicht ist ihr eine unangenehme Situation lieber, als allein und einsam Zuhause zu sein. „Ich weiß es nicht“ sagte Yusei. „Aber ich bin froh, dass sie trotzdem mitkommt. Sie kann zwar sehr stur sein, und wird sich vermutlich nie so ganz mit meinem Vater verstehen, aber ich habe sie gern.“ Er schmunzelte. „Und ich glaube, ihr geht es ähnlich.“ Ich drückte Yuseis Hand fester und lächelte. Eigentlich dachte ich, er wäre traurig über die Situation. Aber wenn es ihn glücklich machte, dass sie bei ihm war, dann war das doch alles was zählte. Nach zwei Stunden waren wir endlich angekommen. Der Weg zur Küste war eigentlich nicht sonderlich anstrengend, aber im Dunkeln, streckenweise nur im Schein einiger Taschenlampen, war er recht tückisch. Dazu kam, dass mein Vater und Yuseis Oma nachtblind waren, und wir einige Pausen einlegen mussten, also waren wir langsamer als geplant. Der Himmel wurde allmählich heller, als wir das Rauschen des Meeres hörten. Weit war es also nicht mehr. „Da hinten!“ rief Alexis aus und schnappte sich das Handgelenk meines Vaters um schon vorzulaufen. „Langsamer, Alexis!“ kam es nur gequält von meinem Vater, was meine Mutter allerdings zum Lachen brachte. „Sie hat das Meer schon als kleines Kind geliebt“ erklärte meine Mutter. „Manches ändert sich hoffentlich nie.“ Die beiden kamen noch in Sichtweite zum Stehen und Alexis winkte uns zu sich. „Vorsicht, Wurzel“ hörte ich die Stimme von Yusei und drehte mich zu ihm um. Er hatte seinen Arm zu seiner Oma gehalten, um sie zu stützen, falls nötig. „Danke“ sagte sie und ergriff seine helfende Hand. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein so großer Teil des Weges unbeleuchtet ist.“ „Aber die Aussicht lohnt sich“ sagte ich mit einem Grinsen. Sie ließ das unkommentiert und wir liefen zu Alexis und meinem Vater. Mein Blick schweifte über die heller werdende Landschaft. Früher war ich oft mit meiner Familie hier, aber je älter wir wurden, desto seltener wurden unsere Ausflüge ans Meer. Ich liebte das Geräusch der Wellen, die an der felsigen Küste brachen. Den Geschmack der salzigen Seeluft. Die Spiegelung des Lichts auf dem sich ständig bewegendem Wasser. Ich sollte wirklich wieder öfter hierherkommen. „Es ist schon fast so weit“ sagte Yuseis Vater, der plötzlich neben mir stand. Yusei gesellte sich zwischen uns und sah auf das Meer. Nur Augenblicke später färbte sich der Himmel langsam orange und ließ die wenigen Wolken in warmen Tönen erstrahlen. Die einzigen Geräusche waren das Rauschen der Wellen und der Gesang der Vögel, während die Sonne langsam am Horizont erschien. Es war ein wunderschöner Anblick. „Ich war noch nie am Meer“ hörte ich Yuseis leise Stimme und sah zu ihm. Er sah vollkommen fasziniert aus. „Osaka liegt zwar an einer Bucht… aber das hier ist volkommen anders.“ Sein Vater lächelte nur und legte ihm eine Hand auf die Schulter, während er auf das Meer blickte. Auch ich musste schmunzeln und nahm seine Hand. Er löste sich von dem Anblick und sah zu mir. „Frohes neues Jahr“ sagte ich und gab ihm einen kurzen, sanften Kuss. Dann löste er sich von mir und ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen. „Dir auch“ sagte er und sah vollkommen zufrieden und friedlich aus. Plötzlich umschlossen mich zwei Arme von hinten und ich wurde fast umgeworfen. „Frohes neues Jahr, Brüderchen!“ sagte Alexis fröhlich. Oh man, was ist denn mit der heute los? Sie löste sich von mir und lächelte breit. „Danke, dass du doch mitgekommen bist“ sagte sie und ging zu unseren Eltern. Ich sah noch einmal kurz zu Yusei, der mir glücklich zunickte und lief Alexis nach. „Frohes neues Jahr, Spätzchen“ sagte meine Mutter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Mama!“ beschwerte ich mich und wischte mir über die Stirn. Aber ich erntete nur ihr Lachen. „Wollen wir über den Strand zurück gehen?“ schlug Alexis vor. „Das ist zwar ein kleiner Umweg, aber wo wir schonmal hier sind?“ „Gute Idee, mein Schatz“ sagte mein Vater. „Das sollten wir wirklich ausnutzen.“ Ich wollte meiner Familie schon folgen, doch im Augenwinkel sah ich Yuseis Oma, die etwas abseits aufs Meer hinausblickte. Sie stand schon wieder ganz allein da, während Yusei mit seinem Vater redete. Ob ich kurz mit ihr reden sollte? Zumindest kann ich sie ja wegen des Rückwegs in Kenntnis setzen. Ich dachte nicht länger darüber nach und gesellte mich zu ihr. „Hey, wir wollen über den Strand zurück“ sagte ich, doch ihr Blick war weiterhin aufs Meer gerichtet. Einzig ein leichtes Kopfnicken sagte mir, dass sie mich wohl verstanden hatte. „Okay“ sagte ich unschlüssig und sah zu Yusei, der einige Meter weiter weg stand. „Dann bis gleich“ fügte ich hinzu und wandte mich von ihr ab. Ich war in ihrer Nähe immer so unsicher. Leiden konnte sie mich wohl wirklich nicht, das konnte nicht nur meine Einbildung sein. Ich hatte ja wirklich versucht, mich mit ihr gutzustellen, aber wenn sie mich immer nur abwies, konnte ich auch nichts machen. ~*~ Als wir am Stadtrand von Neo Domino ankamen, bog Alexis in eine Seitenstraße ab um nach Hause zu gehen. „Aber beeil dich bitte“ rief meine Mutter ihr nach. Sie hob nur eine Hand und war hinter einem Haus verschwunden. Ich sah mich um. Hier standen mehrere kleinere Häuser und die Gegend wirkte absolut ausgestorben. Während wir durch die schmalen Straßen liefen, begegneten wir keiner Menschenseele. Nicht mal Autos waren in Sicht. Wahrscheinlich hatten die Familien, die hier wohnten, das gleiche Ziel wie wir. „Wir werden bestimmt ewig anstehen“ meinte ich zu Yusei, der nur abwinkte. „Länger als eine Stunde bei Sensei Misawa kann es nicht werden.“ Ich musste unweigerlich lachen. „Stimmt. Der Kerl schafft es, dass sich eine Stunde wie zehn anfühlt.“ „Vor allem, wenn man die letzte Stunde vor den Ferien bei ihm hat“ fügte Yusei hinzu. Da fiel mir etwas ganz anderes ein und ich sah zu Yusei. „Hast du eigentlich daran gedacht?“ fragte ich. Er brauchte nicht lange überlegen, nickte und zog ein kleines, blaues Omamori* hervor, das mit silbernen Schriftzeichen verziert war. „Wow, hast du das echt selbst gemacht?“ „Natürlich“ erwiderte er. „Der Knoten war etwas knifflig, aber er sollte halten.“ Ich grinste. „Der ist perfekt, danke!“ „Ich war ziemlich überrascht“ gestand er und sah mich amüsiert an. „Ich hätte nicht gedacht, dass du der Typ für Glücksbringer bist.“ „Du nicht?“ fragte ich scherzhaft. Eigentlich brauchte ich darauf keine Antwort. Er war eher der pragmatische Typ und ich hatte ihn nicht wirklich als jemanden eingeschätzt, der an Glücksbringer glaubte. „Aber ja, ich glaube sie bringen wirklich was“ fügte ich hinzu. „Vor allem, wenn sie selbst gemacht sind.“ Ich kramte in meiner Jackentasche und hielt ihm ebenfalls ein Omamori hin. Es war rot mit goldenen Schriftzeichen. „Und ganz besonders, wenn man sich gegenseitig eins macht“ fügte ich mit einem Grinsen hinzu. Ein erschrockener Schrei ließ uns aufsehen und wir drehten uns um. Mein Vater stützte meine Mutter, damit sie nicht vornüberkippte. „Alles okay?“ fragte Yusei besorgt. „Ja, schon gut. Ich bin nur ausgerutscht“ sagte meine Mutter, während sie sich wieder aufrichtete. „Heute ist es wirklich glatt.“ Sie hatte recht. Ich war auch schon zwei mal kurz davor auszurutschen. Gestern gab es den ganzen Tag Schneeregen und letzte Nacht hatten wir fast minus zehn Grad. Kein Wunder, dass die Wege und Straßen so rutschig waren. „Hier“ holte mich Yuseis Stimme wieder in die Realität und ich sah zu ihm. Er hielt mir das blaue Omamori entgegen. Ich wollte es an mich nehmen, doch plötzlich zog ein frischer Wind auf und riss den kleinen Glücksbringer aus Stoff mit sich. Oh Nein! Das darf doch nicht wahr sein! * Die Sicht von Katsuya * Immerhin war das Ausladen der Waren schnell gegangen. Etwa eine Stunde früher als geplant war ich wieder auf der Straße und hatte etwas Hoffnung, dass ich doch noch mit meiner Familie unseren örtlichen Tempel besuchen konnte. Mal sehen, ob mein Sohn dieses Jahr überhaupt noch mitkommt. Er ist ja jetzt ‚erwachsen‘ und glaubt eh nicht an solche ‚Spinnerein‘. Immerhin konnte meine Tochter die Magie der kleinen Glücksbringer noch genießen. Für mich und meine Frau gehörte diese alte Tradition einfach dazu. Der Regen gestern und die Minusgrade in der Nacht hatten die Straßen in Eis verwandelt und es war spiegelglatt. Wäre heute mehr Verkehr gewesen, hätte es sicherlich unzählige Staus und Unfälle gegeben. Ich fuhr entsprechend langsam, so ein LKW soll nun wirklich nicht ins Schleudern kommen. Auf den Straßen hier spielten sich Szenen einer Pilgerreise ab. Viele Familien, mit kleinen und größeren Kindern, Großeltern und Enkeln, Gruppen von Freunden, junge Paare. Alle schlugen in etwa dieselbe Richtung ein. Irgendwo rechts die Straße runter musste wohl ein Tempel sein. Ich bog nach links ab, der beste Weg auf die Schnellstraße führte durch ein kleines Wohngebiet mit hübschen Einfamilienhäusern und schmalen Straßen. An einem anderen Tag hätte ich den langen Weg durch die Stadt genommen, aber heute sorgte ich mich nicht um den Verkehr. Alle waren zu Fuß unterwegs. Ein Mädchen hatte es besonders eilig. Sie flitzte den Fußweg entlang und rutschte fast aus, als eine alte Dame aus ihrer Haustür heraus auf den Weg trat. Je näher ich dem Stadtrand kam, umso weniger Leute waren unterwegs, schon bald waren die kleinen Straßen wie ausgestorben. In einiger Entfernung kam mir eine Gruppe entgegen. Vier Erwachsene liefen vorne weg, unterhielten sich. Mit etwas Abstand liefen dahinter zwei Jungs, etwas älter als mein Großer, vermutlich alt genug um nicht ‚zu erwachsen für so eine Spinnerein‘ zu sein. Ich musste schmunzeln. Die beiden hielten an, einer überreichte dem anderen etwas Kleines. Ein Omamori? Was auch immer es war, eine Windböe riss es dem Jungen aus der Hand, es segelte auf die Straße, der andere machte einen Satz. Reflexartig schlug ich aufs Lenkrad, trat die Bremse voll durch und riss das Lenkrad rum. Mein Truck stand quer auf der Straße, ich hörte panische Schreie von draußen, mein Herzschlag pochte mir in den Ohren. Mein Albtraum war also wahr geworden. 25 Jahre LKW fahren und immer hatte ich diese Horrorbilder im Kopf. Radfahrer in Kurven, Kinder im toten Winkel. 25 Jahre verabschiedete ich immer wieder Kollegen in den frühen Ruhestand. Manche konnten mit der Schuld auch nach langer Therapie nicht leben. 25 Jahre lang war mir so etwas nie passiert, immer hatte ich Glück gehabt. Die Tür der Fahrerkabine ging schwerer auf als sonst, meine Hand fühlte sich wie taub an. Als würde sie nicht mir gehören. Neben mir auf dem Bordstein lag ein blaues Omamori, das Band des Knotens bewegte sich leicht im Wind. Mit zitternden Beinen ging ich langsam um das Fahrerhaus herum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)