Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 20: Offenbarung ----------------------- Gedankenverloren sah ich aus dem großen Schulfenster und überlegte, wann wir es unseren Freunden sagen sollten. Weil Crow seit Sonntag wegen der Sache mit Alexis so deprimiert war, wollte ich ihm mein Glück irgendwie nicht unter die Nase reiben, aber irgendwann musste es ja raus. Ich steckte in einer Zwickmühle. Yusei meinte nur, dass er es mir überlassen wollte, wann ich es den anderen erzählen würde. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Morgen ist das Stadtfest. Ich freute mich wahnsinnig, endlich wieder Zeit mit ihm zu verbringen. Dass wir uns seit Tagen nur in der Schule sahen nervte mich. In der Mittagspause lief ich schnell in sein Klassenzimmer. Wenn wir schon nur die Pause zusammen verbringen konnten, wollte ich diese seltene gemeinsame Zeit auch nutzen. Dort angekommen, hielt ich nach ihm Ausschau, aber ich musste enttäuscht feststellen, dass er nicht da war. Ob er auf die gleiche Idee gekommen ist? „Hey, Jaden!“ Ich sah in die Richtung aus der der Ruf kam. Ein überraschend gut gelaunter Crow winkte mich zu den anderen. „Hey, warum so gute Laune?“ fragte ich, als ich bei den anderen angekommen war. Crow grinste breit, nahm die Hand meiner Schwester und zog sie etwas näher an sich heran. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriffen hatte was er damit sagen wollte. „Was?!“ entfuhr es mir ungläubig. So wie die beiden in letzter Zeit drauf waren, hatte ich das wirklich nicht kommen sehen. „Seit wann denn?“ „Ich bin vor der Freistunde auf ihn zugegangen“ meinte Alexis. „Der Idiot hat dann anschließend den Werkunterricht sausen lassen.“ Obwohl sie ihn beleidigt hatte, lächelte sie ihn liebevoll an. Ich war baff. Natürlich freute ich mich für die beiden, aber das hatte ich wirklich nicht kommen sehen. Trotzdem musste ich breit grinsen. „Glückwunsch!“ Als mein Blick zu dem leeren Platz meines Freundes wanderte, fiel mir der eigentliche Grund ein, warum ich hier war. „Wo ist eigentlich Yusei?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Hab ihn heute noch nicht gesehen.“ Ich sah ihn überrascht an. Heute Morgen in der Eingangshalle hatte ich noch mit ihm über das Training am Nachmittag geredet. „In Musik war er zumindest noch da“ sagte Alexis. „Sensei Fontaine wollte noch irgendwas für die Aufführung mit ihm durchgehen. Seitdem habe ich ihn auch nicht mehr gesehen.“ Crow legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, und ans Handy geht er auch nicht.“ Merkwürdig. Fühlte er sich vielleicht nicht gut? Aber heute Morgen war noch alles in Ordnung. Warum erschien er dann nicht zum Unterricht? Das passt eigentlich nicht zu ihm. Hey, Alexis meinte, du wärst nach Musik einfach verschwunden. Ist alles Okay? Wo bist du denn? Ich hoffe, er antwortet schnell. „Ich hoffe, er kommt bis zum Training wieder. Wir haben bis zum letzten Spiel dieses Jahr kaum noch Zeit.“ Ich sah von meinem Handy auf. Es war Jack. Aber wenn es Yusei nicht gut geht, wird er sich doch mal ausruhen dürfen, oder nicht? „Wenn er nicht kommt, dann übernehme ich einfach das Training. So wie vorher auch schon!“ „Jaden hat recht“ meinte Crow plötzlich. „Aber langsam könnte Yusei uns auch erzählen was los ist. Immerhin fehlt er nicht das erste Mal. Mir kann keiner erzählen, dass das nur Migräne ist.“ Damit warf er einen kurzen Seitenblick zu mir, ehe er sich wieder an Jack wandte. „Aber wolltest du heute nicht dieses Projekt mit ihm machen?“ Jack nickte. „Bis dahin wird er sich schon melden“ sagte Alexis und lächelte. ~*~ Sein Motorrad stand noch immer auf dem Parkplatz. War er vielleicht doch irgendwo in der Schule? „Hey, pass hier rüber!“ riss mich Daichis Stimme wieder aus meinen Gedanken. Den Pass hatte ich verhauen. Verdammt! „Was ist denn mit dir los, Jaden?“ fragte Jim. Er bekam immer mit, wenn ich so drauf war. „Ach, nichts! Alles gut“ versuchte ich mich herauszureden und spielte weiter. Ob ich mich nochmal auf die Toilette stehlen kann um auf mein Handy zu sehen? Aber ein drittes Mal fällt es sicher auf. Ich hatte noch immer keine Antwort von ihm. Ach, verdammt, es geht ihm gut! Jetzt konzentrier dich doch endlich, Jaden! Ich versuchte die aufkommende Sorge zu ignorieren. Es geht ihm gut. Nach einer letzten Runde um den Sportplatz beendete ich das Training und mein erster Weg war der zu meinem Spind, in dem mein Handy lag. Das kleine Lämpchen blinkte. Aufgeregt entsperrte ich mein Telefon und schaute in meine Nachrichten. Mit schnell klopfendem Herzen sah ich Yuseis Namen auf dem Display aufleuchten. Ungeschickt vor Aufregung öffnete ich die SMS und las sie durch. Entschuldige bitte, dass ich so spät reagiert habe. Mir geht’s gut, ich bin gerade im Krankenhaus bei Doktor Arisawa. Mach dir keine Sorgen. Wir telefonieren heute Abend, ja? Verwirrt starrte ich noch immer auf das Display. Warum ist er denn bei seiner Therapeutin? Er hat doch heute gar keinen Termin. Und dann auch noch während des Unterrichts. Und wie ist er ohne sein Motorrad dahin gekommen? „Mit wem schreibst du denn?“ Ich sah auf. Crow hatte nicht mich gemeint, sondern redete mit Jack. „Yusei hat nur geschrieben, dass wir uns erst etwas später treffen.“ „Dann macht ihr das Projekt heute doch noch? Was war denn mit ihm?“ „Steht hier nicht. Nur, dass wir es um eine Stunde verlegen müssen.“ Crow seufzte. „War ja klar, dass er nichts erzählt… Sag mal… Meinst du, er vertraut uns nicht?“ „Natürlich!“ platzte es aus mir heraus und die beiden sahen überrascht zu mir. Crow verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber warum erzählt er uns dann nicht, was bei ihm seit Wochen abgeht?“ Ich warf Jack einen kurzen Seitenblick zu. Er wusste zumindest von einem Teil der Geschichte, wenn auch unfreiwillig. Er seufzte. „Ich rede mal mit ihm.“ Crow schnaubte. „Warum sollte er ausgerechnet heute reden?“ „Lass mich nur machen.“ Damit schloss er seinen Spind, schnappte seine Tasche und verließ die Umkleide. „Was der wohl wieder vorhat?“ Ich sah ihm nach und zuckte mit den Schultern. Jack hielt sich aus solchen Angelegenheiten eigentlich immer raus. * Die Sicht von Yusei * „Fudo-kun, kann ich kurz mit dir reden?“ Ich sah von meinen Noten auf, die ich gerade zusammengeschoben hatte und musterte Sensei Fontaine neugierig. Was wollte sie denn nach der Stunde noch von mir? „Ich bin beeindruckt, dass du die Noten so schnell verinnerlicht hast. Aber ehrlich gesagt hatte ich nichts anderes erwartet“ sagte sie mit einem Lächeln. Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Danke?“ Kichernd fuhr sie fort. „Nein im Ernst, danke, dass du mich am Klavier vertrittst. Ich wollte aber eigentlich mit dir über das Lied reden, von dem du mir die Noten gegeben hast. Ich habe jetzt endlich eine Inszenierungsidee.“ Inszenierungsidee? Ich dachte, das Lied könnte für sich stehen. Ich bin mir allerdings noch immer nicht sicher, warum ich zugestimmt habe es zu spielen. In letzter Zeit bekam ich davon ständig Kopfschmerzen und im Normalfall spielte ich es nicht in der Öffentlichkeit. „Was hältst du von Ausdruckstanz?“ Ich sah sie erschrocken an. Bitte was? Ich tanze nicht! Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lachte sie. „Nein, nicht du. Einige Schüler unseres Musikprojekts sind auch im Tanzclub. Ich habe mit ihrer Lehrerin, Sensei Tredwell, gesprochen und ihr das Lied vorgespielt. Sie hat schon einige Ideen, aber ich hielt es für angemessen das mit dir zu besprechen. Schließlich ist es deines.“ Hm. Das war eigentlich keine schlechte Idee. Ich stimmte zu und sie strahlte mit der Sonne um die Wette. „Sehr schön! Würdest du uns einen Teil deiner Freistunde dafür opfern?“ „Uns?“ In diesem Moment ging die Tür zum Musikraum auf und eine verdammt hübsche Frau betrat den Raum. Sensei Fontaine begrüßte sie. „Da bist du ja, Misty.“ „Entschuldige, ich komme etwas spät. Ich habe keinen Parkplatz gefunden.“ Grazil kam die Frau auf uns zu. Das musste wohl die Tanzlehrerin sein. „Du bist sicher Yusei Fudo. Mein Name ist Misty Tredwell und ich habe schon einige Ideen zu diesem Lied. Wer ist eigentlich der Interpret? Ich kannte es vorher gar nicht, dabei bin ich in der Klassik recht bewandert.“ Ich lächelte verlegen. „Meine Mutter.“ Sie schien nicht überrascht über meine Antwort und bat mich einige kurze Passagen aus dem Lied zu spielen, während sie Sensei Fontaine und mir ihre Ideen vorstellte. Während ich spielte und sie sich dazu bewegte, konnte ich meine Augen nicht von ihr abwenden. Ihre fließenden Bewegungen waren wirklich anmutig und passten perfekt zu der Melodie. Ich war einfach fasziniert. Sensei Fontaine kam aus ihren Belobigungen kaum noch heraus. Sie bat mich längere Passagen zu spielen und ich kam ihrer Bitte nach. Allerdings fing mein Kopf nach einiger Zeit wieder ziemlich an zu schmerzen. „Brauchst du eine kurze Pause? Du bist ganz blass.“ Ich sah auf und Sensei Fontaine musterte mich besorgt. „Nein, schon gut. Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.“ Sensei Tredwell kam auf uns zu. „Dann machen wir nach der letzten Sequenz Schluss für heute. Hättest du donnerstags nach der Schule Zeit um Klavier zu spielen? Dann zeige ich die Schritte den Schülern, die bei der Aufführung mitmachen!“ „Ja, kein Problem.“ „Ach Misty, das wird wundervoll! Würdest du es mir noch einmal komplett zeigen?“ Sie zwinkerte ihr zu. „Nichts lieber als das.“ Dann machte sie sich bereit und gab mir das Zeichen zu spielen. Dieses Mal konzentrierte ich mich nur auf das Klavier. Auch wenn ich von ihren Bewegungen fasziniert war, war es mir doch etwas unangenehm, sie die ganze Zeit anzustarren. Das unaufhörliche Pochen in meinem Kopf wurde mit jeder Note schlimmer. Ich konnte mein Blut in meinen Ohren rauschen hören, doch ich spielte weiter. Meinte Doktor Arisawa nicht, das wären unterdrückte Erinnerungen? Ich wusste zwar nicht, warum der Auslöser dieses Lied war, aber sie sagte, dass ich mich nicht dagegen wehren sollte. Ich spielte weiter. Ich hatte die Hälfte geschafft. Mein Kopf fühlte sich an, als würde mir jemand ein Messer reinrammen und langsam nach unten ziehen. Das war doch nicht normal! Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Schmerz zu ertragen. Plötzlich zogen vor meinem Auge merkwürdige Bilder vorbei. Stimmen, die ich nicht kannte, schwirrten in meinem Kopf herum. „…einseitige Beckenringsprengung mit Schambein- Sitzbein- und Darmbeinfraktur…“ Ich saß an einem Tisch und schüttelte verzweifelt den Kopf. Tränen rannen stumm über meine Wangen und tropften auf die Tischplatte. Ich dachte an dieses Lied. „…schwere innere Blutungen durch eine Ruptur der Beckenarterie…“ Ein blonder Mann saß zusammengesunken hinter einem Tisch und sah mich traurig an. „Zum Aufruf kommt die Sache Kyo Tanaba“ sagte eine tiefe Stimme. Sie gehörte nicht zu dem Blonden. Herr Yuki saß neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Ein Knall. Wirre Stimmen riefen durcheinander und verschmolzen zu einem lauten Sturm. Ich zitterte. Plötzlich saß ich hinter einem kleinen Tisch und sah zu einer Menschenmenge. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Die einzige Person die ich erkannte, war Jaden. Die tiefe Stimme bat mich von dem Unfall zu erzählen. Jaden nickte mir aufmunternd zu. „Du schaffst das!“ rief er. Ich redete. Was, das weiß ich nicht. Ich glaube, ich habe von dem Unfall erzählt. Dass ich meine Mutter anrief als all das passierte. Plötzlich fragte mich eine andere Stimme: „Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie Ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls mit diesem Anruf von ihrer Tätigkeit, also dem Fahren eines Kraftfahrzeugs, abgelenkt haben?“ Ich zitterte. Er gab mir die Schuld an dem Unfall. Hatte er Recht? Jaden schüttelte energisch seinen Kopf und sah wütend aus. Herr Yuki war sauer. Blitzgewitter. Ich setzte mich wieder neben Jadens Vater. Schloss die Augen. Wollte nur noch weg. Mein Zittern wurde stärker. Ich legte die Hände an meine Ohren, um den Stimmen zu entkommen. „…der Fötus starb nur kurz nach dem Opfer…“ Verzweiflung breitete sich in mir aus. Plötzlich wurde alles schwarz. Die Kälte kroch in jeden Winkel meines Körpers. Die Tränen versiegten. Ich fühlte eine unsagbare Leere, die mich zu verschlucken drohte. Und dann sah ich nur noch ihn. Erst verschwommen, doch das Bild klarte zunehmend auf. Jaden hatte seine Hände auf meine Wangen gelegt und sah mich flehend an. „Bitte!“ Warum war er so traurig? So verzweifelt? Im Hintergrund waren Grabsteine zu sehen. War ich… War ich wirklich auf dem Friedhof? Wie lange? Entfernt hörte ich die Stimme von Kalin. Mir war so kalt. Jaden nahm mich in den Arm und wärmte mich. Allmählich verschwanden die Bilder und ich erkannte verschwommen die Tasten des Klaviers. Mir war schwindlig und übel. Meine Arme waren um meinen Körper geschlungen und versuchten irgendwo Halt zu finden. Ich zitterte. Mein Herz klopfte so laut, so schnell, dass meine Brust schmerzte, doch die Kopfschmerzen ließen allmählich nach. Ich atmete schnell und flach, irgendwie gibt es in diesem Raum nicht genügend Sauerstoff um richtig zu atmen. Mein Hals war zugeschnürt und meine Lungen wollten sich einfach nicht mit Luft füllen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, kniff die Augen zusammen und hoffte, dass es bald vorbei war. Ich krallte mich in die Ärmel meiner Jacke fest. Spürte einen Schmerz an meinen Oberarmen, doch er beruhigte mich. Gab mir irgendwie das Gefühl wirklich wach zu sein. In diesem Moment begriff ich, warum ich nur verschwommen sehen konnte. Warme Tränen liefen meine Wangen hinab und landeten auf den Tasten des Klaviers. Langsam bekam ich wieder Luft. Mein Herz beruhigte sich. Was war das eben? „Alles wieder in Ordnung?“ Ich schreckte hoch und sah in die eisblauen Augen von Sensei Tredwell. Sie sah besorgt, fast schon verängstigt aus. Zögerlich nickte ich und sah mich im Raum um. Sensei Fontaine war verschwunden. Ich senkte den Kopf und wischte mir mit den Ärmeln meiner Jacke die restlichen Tränen aus meinem Gesicht. „Was ist passiert?“ flüsterte ich. „Ich bin mir nicht sicher. Kurz vor Ende des Liedes hast du dich plötzlich gekrümmt und Geräusche von dir gegeben als hättest du Schmerzen. Du warst nicht mehr ansprechbar. Fonda ist gerade rausgegangen um deine Eltern und einen Krankenwagen zu rufen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen Krankenwagen.“ Meine Stimme war kratzig. Ich hob den Kopf ein wenig um sie anzusehen und schaute in ein ziemlich verwirrtes Gesicht. Im Hintergrund sah ich, wie die Tür sich öffnete und Sensei Fontaine wieder den Raum betrat, die Augen auf ein Blatt Papier gerichtet. „Ich habe seinen Vater nicht erreicht und bei der anderen Notfallnummer geht gerade niemand ran.“ Andere Notfallnummer? Wenn sie da mein Datenblatt hatte, sollte eigentlich nur die Nummer meines Vaters draufstehen. Ihr Blick hob sich wieder und sie sah mich überrascht an, ehe ihr ein erleichterter Seufzer entfuhr. „Dem Himmel sei Dank, ich wusste wirklich nicht, was ich jetzt noch hätte tun sollen.“ „Hast du den Krankenwagen gerufen?“ „Nein, das wollte ich gerade machen, aber vorher wollte ich nach ihm sehen.“ „Ich brauche keinen Krankenwagen!“ Meine Stimme war wieder fester und die beiden Frauen sahen mich fragend an. „Ich… muss nur telefonieren.“ Ich musste mit Doktor Arisawa darüber reden. Ich war mir nicht ganz sicher, was das alles bedeutete. Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und rausgegangen, doch ich traute meinen Beinen nicht recht. ~*~ Sensei Fontaine und Sensei Tredwell hatten mich letztendlich dazu überredet zumindest auf die Krankenstation zu gehen, bis es mir ein wenig besser gehen würde. Wie sich herausstellte, war die andere Notfallnummer die von Frau Yuki. Sie hatte darauf bestanden mich abzuholen und selbst ins Krankenhaus zu fahren. Niemand wollte mich auf mein Motorrad lassen und wirklich durchsetzen konnte ich mich gegen die ganzen Proteste nicht, also musste ich nachgeben. Im Krankenhaus erzählte ich Doktor Arisawa von dem Vorfall. Ihre Theorie war, dass das Lied der Auslöser für die Erinnerungen war, weil ich mich während der Verhandlung so darauf konzentriert hatte. Zumindest während der schier unerträglichen Aussage des Arztes. Mir war nicht wichtig, warum ich meine Erinnerungen wieder hatte. Ich war nur froh, dass es so war. Auch wenn sie unendlich schmerzten, so war ich mir doch sicher, sie irgendwann verarbeiten zu können. Ich wusste selbst nicht, woher diese Zuversicht plötzlich stammte. Das Einzige, an das ich mich nicht erinnern konnte, war die Zeit auf dem Friedhof. Ich wusste nur, dass Jaden mich fand und wir dann nach Hause gefahren sind. Jetzt hatte ich ihm noch mehr zu verdanken als ohnehin schon. Ich hatte geahnt, dass er an meiner Seite gewesen war. Aber mich jetzt wieder daran erinnern zu können, war etwas ganz anderes. Ich war dankbar für seine Nähe. Dankbar und glücklich. Nach der Therapie wollte ich eigentlich meinem Vater davon erzählen, aber er hatte einen Termin, also ging ich wieder zu den Kindern. Es gehörte mittlerweile irgendwie dazu. Sie taten mir gut. Ich hatte das Gefühl, als würden sie mich wieder runterbringen. Aiko erzählte mir, dass sie morgen wieder nach Hause darf, also forderte sie eine wirklich lange Geschichte und ich kam ihrer Bitte gern nach. Ob es sich so anfühlt eine kleine Schwester zu haben? Der Gedanke ließ mich schmunzeln. ~*~ Jack und ich saßen im Wohnzimmer und arbeiteten schon eine ganze Weile an dem Projekt. Er kam mir allerdings stiller vor als sonst schon. Im Raum war nur das Klicken der Tasten auf der Tastatur zu hören. Außerdem sah er ständig zur Uhr. „Hast du heute noch was vor?“ fragte ich deshalb irgendwann in die Stille, während ich weiter Datensätze in die Tastatur hämmerte. „Nein, ich frage mich nur, wann dein Vater nach Hause kommt.“ Überrascht sah ich auf. Warum wollte er das denn wissen? „Der… ist noch eine Weile weg“ sagte ich ausweichend und widmete mich wieder meinem Laptop. Gelogen war es nicht. In drei Wochen wäre er wieder hier. „Ich habe ihn nur noch nie gesehen.“ „Warum interessierst du dich plötzlich dafür? Ich kenne deine Eltern auch nicht.“ Vielleicht war das schnippisch, aber ich wollte das Thema damit beenden. Obwohl… Vielleicht sollte ich ihnen langsam davon erzählen. Diese Geheimniskrämerei wurde mit der Zeit anstrengend, und Jaden log auch ständig für mich. „Nein, aber du warst auch noch nie bei mir.“ Ich hörte auf zu tippen und seufzte. „Was willst du wissen?“ Auf irgendwas wollte er hinaus. „Traust du uns?“ „Was?“ Ich sah ihn verwirrt an. Wie kam er denn jetzt darauf? „Ob du uns traust.“ Er sah mich eindringlich an. Das war eine ernste Frage, aber ich wusste trotzdem nicht, was er damit bezwecken wollte. Ich nickte. Natürlich traute ich ihnen. Jack wusste seit Wochen von dem Unfall und hatte es für sich behalten. Auch Carly hatte dichtgehalten. Und Crow war, im Vergleich zur Anfangszeit, ziemlich diskret geworden. „Warum willst du uns dann immer noch nicht sagen was los ist?“ Ich begriff, worauf er hinauswollte. Ganz bereit dazu fühlte ich mich nicht, aber vielleicht kann ich es Jack anvertrauen. Irgendwann musste ich es meinen Freunden erzählen. Sie hatten sich bis heute geduldig zurückgehalten, nachdem sie mitbekommen hatten, dass ich nicht reden wollte. Ich wollte nur kein Mitleid haben. „Crow zumindest denkt, du traust ihm nicht“ sagte er plötzlich. Ich starrte auf den Bildschirm meines Laptops, ohne ihn wirklich zu sehen. Irgendwo konnte ich ihn verstehen. Er war mein Freund und selbst als es anfing mir besser zu gehen, hatte ich nichts gesagt. Mir vertrauten sie doch auch ihre Anliegen an. Ich schloss die Augen, um mich einen Moment zu sammeln, dann sah ich ihn ernst an. „Na schön, ich mache dir einen Vorschlag. Ich schreibe Crow, dass er herkommen kann und dann erzähle ich euch von der Sache, einverstanden? Ich will es nicht unbedingt mehrmals erzählen. Aber lass uns das hier zumindest noch fertigbekommen.“ Jack schien zufrieden mit meinem Vorschlag. ~*~ Das Klingeln an der Tür ließ mich hochschrecken. Seit ich Crow geschrieben hatte, dachte ich die ganze Zeit darüber nach wie und was ich ihnen erzählen sollte. Wie weit konnte ich gehen? Wie weit wollte ich gehen? Langsam ging ich zur Tür und Crow strahlte mir entgegen. Sofort verkrampfte sich mein Magen. So wie er guckt, gibt es kein Zurück mehr. „Hey, ich war echt überrascht als ich deine Nachricht bekommen hab!“ sagte er und ging zu Jack ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür und folgte ihm. Kein Wunder, dass er überrascht war. Geplant war die ganze Sache nicht. Ich nahm mir einen Stuhl aus der Küche und setzte mich mit verschränkten Armen ihnen Gegenüber. „Na schön, was wollt ihr genau wissen?“ Jack blieb still. „Eigentlich nur, warum du so drauf warst. Im Kino hast du ja gesagt, du würdest es irgendwann erzählen.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Um ihm das zu erklären, müsste ich weiter ausholen. „Das… ist eine längere Geschichte.“ Crow grinste. „Ich hab heute nichts mehr vor, wie sieht’s bei dir aus, Jack?“ Seine Mundwinkel zuckten etwas nach oben. „Nein, ich habe Zeit.“ Ein leises Seufzen kam über mich. Natürlich. Ich atmete noch einmal tief durch und sammelte meine Gedanken. Wo fange ich eigentlich an? „Wir sind eigentlich nicht vorrangig wegen eines Jobwechsels umgezogen“ begann ich und sah die beiden an. Jack kannte den ersten Teil der Geschichte bereits, also ahnte er, was der eigentliche Grund war. Crow hingegen schaute etwas verwirrt. „Meine Mutter ist… sie hatte etwa drei Wochen davor einen Autounfall.“ Ich senkte den Blick. „Sie ist an dem Tag gestorben, zusammen mit meiner ungeborenen Schwester…“ Ich hörte wie einer der beiden, vermutlich Crow, schnell die Luft einzog, aber ich sah stur auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa. „In dem Augenblick, als sie den Unfall hatte, habe ich mit ihr telefoniert. Eine ganze Weile lang hatte ich Alpträume davon, deswegen war ich in der Schule so oft müde.“ Ein Schauer lief mir beim Gedanken an diesen Anruf über meinen Rücken. „Mein Vater…“ Ich wollte nicht zu sehr ins Detail gehen. Allerdings konnte ich es nicht ewig verheimlichen. Noch einmal holte ich tief Luft. „Er hat das alles anscheinend nicht mehr ausgehalten und kurz nach dem Umzug versucht, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wurde er gefunden und versorgt, aber seitdem ist er im Krankenhaus. Das ist jetzt etwas mehr als sechs Wochen her. Seit diesem Tag wohne ich allein, deswegen habt ihr meine Eltern nie gesehen.“ Ich traute mich nicht aufzusehen. Meine Haltung wurde immer verkrampfter, aber sie ließen mich ausreden. Dafür war ich ihnen dankbar. „Vor ein paar Wochen, als ich in Osaka war, musste ich deshalb auch selbst zu der Gerichtsverhandlung wegen des Unfalls. Mein Vater konnte ja nicht. Jaden war an den beiden Tagen nicht krank, sondern hat mich zusammen mit seinem Vater begleitet. Er ist Sozialarbeiter und war mein Vormund bei der Verhandlung, weil ich noch minderjährig bin.“ Meine Hände krallten sich in meine Oberarme. Ob sie mich für verrückt halten werden, wenn ich ihnen von dem Gedächtnisverlust erzähle? „Ich… war danach so seltsam, weil…“ Ich schluckte. „Weil ich mich eine Weile nicht an alles erinnern konnte. Eigentlich an nichts davon. Eine Zeit lang war ich einfach nicht mehr ich selbst, aber ich habe es nicht wirklich mitbekommen.“ Ich sah sie immer noch nicht an, stattdessen wanderte mein Blick aus dem Fenster. „Jaden war in dieser Zeit für mich da und ich bin eine Weile lang bei seiner Familie untergekommen.“ Ein kurzes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Er hatte so viel für mich getan. Das könnte ich ihm nie wieder zurückgeben. „Letzte Woche haben mich seine Eltern zu einer Therapeutin geschickt, bei dem ich jetzt mehrmals in der Woche nach der Schule bin. Deswegen habe ich auch so selten Zeit. Ich begann mich zu erinnern. Seitdem kommt jeden Tag ein bisschen mehr wieder. Allerdings…“ In meinem Kopf schwirrten die Erinnerungen von heute Morgen und mein Herz begann wieder schneller gegen meine Rippen zu hämmern. „Heute Morgen war alles ein bisschen viel. Ich habe mich daran erinnert, wie der Arzt vor Gericht die Verletzungen meiner Mutter aufgezählt hat und bei meiner Aussage hat der Verteidiger versucht mir eine Teilschuld unterzuschieben, weil ich während des Unfalls mit ihr telefoniert habe. Deswegen habe ich in der Freistunde eine Panikattacke bekommen und wurde ins Krankenhaus gebracht.“ „Du warst im Krankenhaus?“ Jacks Stimme ließ mich kurz zusammenzucken und wieder zu ihnen sehen. Ich hatte mich so an meinen Monolog gewöhnt, dass ich mit einer Antwort nicht mehr gerechnet hatte. Jack sah überrascht aus, Crow hingegen komplett entsetzt. Beide hatten sich ein wenig nach vorne gelehnt und sahen ziemlich verspannt aus. „Ähm… Ja, war ich… Jedenfalls wisst ihr jetzt alles.“ Eine Weile lang sagte niemand etwas. Vielleicht brauchten die beiden ja ein bisschen, um das zu verdauen, aber ich wurde mit jeder Sekunde nervöser. Was sie jetzt wohl von mir halten? „Hm.“ Crow lehnte sich in die Sofalehne zurück und musterte mich. Er hatte sich wieder beruhigt, sah aber immer noch überfordert aus. „Mit der Geschichte im Hinterkopf hast du dir echt wenig anmerken lassen.“ Ich gab meine verkrampfte Körperhaltung etwas auf und sah ihn überrascht an. „Was?“ „Naja, ich mein ja nur. Ich glaube, mich könntest du nach so einer Geschichte in die Tonne treten.“ „Crow hat Recht. Sowohl mit der Tatsache, dass man ihn in die Tonne treten könnte, als auch damit, dass du vergleichsweise locker damit umgegangen bist.“ „Ey!“ „Was denn? Das waren deine Worte.“ „Ja, aber das hab ich anders gemeint!“ Jack grinste. „Wie denn?“ „Bedeutet das…“ Die zwei ließen von ihrer Streiterei ab und sahen mich überrascht an. „Ihr findet mich nicht seltsam? Crow entgleiste fast das Gesicht. „Hä?! Wie kommst du darauf?“ „Zum Beispiel, weil ich mein Gedächtnis verloren habe.“ „Alter, ist das dein Ernst? Da kannst du doch nichts dafür!“ „Wolltest du uns deswegen nichts sagen?“ Jack sah mich eindringlich an. Ich nickte zögerlich. Das war zumindest einer der Gründe. Crow verzog das Gesicht. „Du hast doch echt nen Knall.“ „Ganz unrecht hat die kleine Krähe nicht. Du hättest uns doch gleich alles sagen können, statt es ewig in dich rein zu fressen.“ Ich seufzte. „Ich weiß, aber ich kenne euch noch gar nicht so lange. Mein bester Freund hatte mich damals wegen der Sache mit meiner Mutter schon gemieden. Ich wollte einfach nicht, dass sich das wiederholt.“ Crow verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber Jaden hast du doch anscheinend auch alles gesagt!“ Ich sah ihn kurz erschrocken an, mied dann aber schnell wieder seinen Blick. Mein Gesicht wurde ganz warm. „Das… Ist was anderes.“ „Wieso?“ Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören. Verdammt, ich hatte es Jaden überlassen, wann wir unseren Freunden davon erzählen würden! Natürlich wollte ich, dass die anderen davon wussten. Ich schämte mich nicht für meine Beziehung. Aber ich wollte warten, bis Jaden so weit ist. Ich konnte das nicht einfach vorwegnehmen. „Wahrscheinlich wegen der Sache vor Gericht, oder?“ Ich sah auf. Jack sah mich abwartend an. Das war bei Weitem nicht die schlechteste Ausrede, also nickte ich einfach und hoffte, Crow würde es auch schlucken. „Hä?“ Jack verdrehte die Augen. „Jadens Vater ist doch mit nach Osaka gefahren. Und unser Kapitän ist noch neugieriger als du!“ „Hm… Okay, ergibt Sinn.“ Ich atmete erleichtert auf. Zum Glück hatte mich Jack aus der Erklärungsnot herausgeholt. Ob er wirklich davon überzeugt war? Vielleicht ahnte er ja auch etwas und wollte mir helfen. Egal, darüber konnte ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen. Der restliche Abend war weitaus ungezwungener. Wir unterhielten uns noch eine Weile, ehe die beiden sich verabschiedeten. Am Tag darauf wollten wir uns zusammen mit Jaden, Alexis, Aki und Carly treffen und zum Straßenfest gehen. Jaden rief mich, kurz nachdem ich wieder allein war, an, damit ich ihm alles erzählen konnte. Er war überrascht von meiner Entscheidung, den beiden alles zu sagen, aber irgendwie schien er glücklich darüber. Im Nachhinein war meine Sorge darüber wirklich unbegründet. Sie behandelten mich wie vorher auch. Ich war wirklich erleichtert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)