Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 16: Diagnose -------------------- In den Unterrichtsstunden konnte ich mich einfach nicht konzentrieren. Meine Gedanken kreisten ständig um Yusei und seine Worte von gestern Abend. So wie es aussieht, hat er wirklich keine Erinnerungen mehr an die Gerichtsverhandlung oder die Nacht danach. Aber wie viel hat er eigentlich von den Geschehnissen vergessen? Als Crow ihn vor einigen Tagen fragte was er an dem Wochenende gemacht hat, da hat er geantwortet, er hätte ein paar alte Freunde besucht. Also war wohl nicht alles weg. Ob er sich an den Abend vor der Verhandlung erinnern kann? An den Kuss? Ich könnte diesen Moment nicht vergessen, aber wie sah es bei ihm aus? Und kommen diese Erinnerungen wieder zurück? Sollte ich deswegen mit ihm sprechen oder ihn lieber damit in Ruhe lassen? Gestern hatten wir beide in stiller Übereinkunft beschlossen, das Thema erstmal auf sich beruhen zu lassen. Meine Mutter meinte, sie könnten erst heute mit ihm ins Krankenhaus fahren, nicht schon gestern Abend. Er wäre einfach kein Notfall. Ich sah das etwas anders. Ich stöhnte genervt auf. Das war doch zum Haare raufen! „Yuki-kun würdest du uns mitteilen, was du daran nicht verstanden hast?“ riss mich die Stimme von Sensei Flannigan aus meinen Gedanken. Ich bemerkte die Blicke meiner Mitschüler, die mich neugierig musterten. „Äh…“ Ich hatte nicht zugehört. Worum ging es denn? Hilfesuchend starrte ich an die Tafel aber das nutzte mir auch nicht viel. Meine Rettung war die Schulklingel, die laut zur Mittagspause läutete. Glück gehabt! „Mann, Jaden, was ist denn mit dir los?“ fragte Jim neben mir. „Nichts“ log ich, während ich meine Sachen zusammenpackte. „Ich hab einfach nicht zugehört. Worum ging es denn?“ Er musterte mich ungläubig. „Alter, wir haben die ganze Stunde nur ein Thema behandelt. Stochastik.“ „Aha.“ Keine Ahnung. Hatten wir schon wieder ein neues Thema angefangen? „Sicher, dass es dir gut geht?“ „Ja doch! Ich war mit den Gedanken einfach nur woanders.“ „Bei Yusei?“ Mir stieg blitzartig die Hitze in den Kopf. „W-Was?“ Wie hat er das denn erraten? Er lachte. „Mann, ihr verbringt doch die ganze Zeit zusammen. Deine Eltern holen euch sogar zusammen ab. Glaubst du, ich hätte das nicht mitbekommen? Außerdem verhält er sich in letzter Zeit ziemlich seltsam, das haben auch die anderen aus dem Team längst bemerkt. Wir machen uns doch alle Sorgen.“ „Ich weiß“ sagte ich betrübt. „Und irgendwann erzählt er euch vielleicht auch was los ist, aber bohrt nicht weiter nach, okay?“ Er nickte und ich nahm mir meine Tasche um schon in den Chemieraum zu gehen. Doch nur wenige Meter nachdem ich mein Klassenzimmer verlassen hatte, hielt mich Carly auf und bat mich, ihr ein Stück zu folgen. Was will sie denn? „Jaden, ich habe einen Fehler gemacht“ sagte sie betrübt, als wir aus der Sichtweite der anderen Schüler waren. „Was meinst du?“ „Ich habe mir eingeredet, dass ich Yusei nur helfen will…“ Als ich seinen Namen hörte, gingen bei mir alle Alarmglocken an. Was hat sie gemacht? „Ich habe mich gefragt, warum er so schlecht drauf ist. Ich dachte es wäre vielleicht etwas passiert und deswegen habe ich mir Sorgen gemacht. So wie unsere Freunde auch. Ich wollte ihm helfen, aber ich bin zu weit gegangen. Schon wieder.“ „Carly, sag schon was los ist!“ Langsam verlor ich die Geduld. Sie schreckte zurück. „Ich… ich habe nachgeforscht. Das mit dem Termin an seiner alten Schule hat für mich einfach keinen Sinn ergeben. Dann habe ich mich an den Artikel erinnert. Den über seine Mutter und den Unfall.“ Sie schluckte. „Also habe ich weitergegraben und dabei bin ich auf das hier gestoßen…“ Sie hielt mir zwei ausgedruckte Blätter hin, die ich gleich annahm und anfing zu lesen. Es war anscheinend ein Artikel über die Gerichtsverhandlung. Natürlich. Genug Reporter waren ja da. Bei der Überschrift kam mir schon das kalte Kotzen. Drama vor Gericht: Die Verhandlung zum Unfall der Pianistin Miako Fudo Am Montag fand die Gerichtsverhandlung zum Fall von Miako Fudo (verstorben im Alter von 40 Jahren) statt. Die Pianistin verstarb nur wenige Wochen zuvor bei einem Autounfall. Berichten zufolge war sie zu diesem Zeitpunkt im achten Monat schwanger. Ihr Mann Hakase Fudo (42) hatte nach dem Unfall Klage eingereicht, tauchte aber zum Gerichtstermin nicht auf. Stattdessen übernahm sein Sohn Yusei Fudo (18) an der Seite eines Mitarbeiters des Jugendamtes seinen Platz. Anonymen Quellen zufolge liegt Herr Hakase Fudo seit mehreren Wochen aufgrund eines Suizidversuchs in einem Krankenhaus in Neo Domino, seinem derzeitigen Wohnort. […] Meine Hände krallten sich so fest in das Blatt, dass es fast zerriss. Ich zitterte vor Wut. Woher wissen diese Aasgeier davon?! Der Sohn der Pianistin ist ebenfalls in die Fußstapfen seiner Mutter getreten. Er gewann bereits mehrere Preise und genießt hohes Ansehen bei einigen hohen Tieren der japanischen Musikwelt, darunter auch Herrn Haruto Kazuki, dem Leiter der Konzerthalle in Osaka und früherem Arbeitgeber der Verstorbenen. […] Unseren Quellen zufolge wird Yusei Fudo im zweiten Semester des neuen Jahres durch ein großzügiges Stipendium an der renommierten Musikschule Tokio klassische Musik studieren. Aufgrund dieser Verbindung zu seiner Mutter verwunderte es auch niemanden im Gerichtssaal, dass er bei der Verhandlung allem Anschein nach an einem Nervenzusammenbruch litt. Während der gesamten Zeit der Verhandlung wirkte der 18-jährige nervös, teilweise verstört. Auch seine eigene Zeugenaussage musste er mehrmals abbrechen, da er sich allem Anschein nach nicht in der Lage dazu fühlte seine Sätze zu vollenden. Während der Beweisaufnahme wurden die Verletzungen, die Miako Fudo während des Unfalls erlitt, aufgelistet. […] Während der Ausführungen des behandelnden Arztes rührte sich der junge Mann nicht und wirkte nach der Verhandlung sichtlich verstört. Fragen wehrten sowohl er, als auch der Mitarbeiter des Jugendamtes ab. Zur Urteilssprechung war er nicht mehr anwesend. Der Unfallverursacher Kyo Tanaba (22) wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, sowie einer Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 1,5 Mio. Yen* verurteilt. Die Freiheitsstrafe kann nach einem Jahr zur Bewährung ausgesetzt werden. […] Ich presste meine Zähne aufeinander und knurrte leise. Das kann doch nicht wahr sein. Was ist das denn für ein dämlicher Artikel?! „Hat das noch irgendjemand anders gelesen?“ fragte ich aufgebracht. Sie schüttelte nur mit dem Kopf. „Das war aber nicht der einzige Artikel, den ich dazu gefunden habe. Aber es war der, der mich am meisten wütend gemacht hat. Auf dem einen Foto bist du auch drauf, deswegen wollte ich dir den Artikel zeigen. Ich will gar nicht wissen, was in Yusei vorgehen mag, aber ich bin da, falls ihr mich braucht. Ich werde auch niemandem davon erzählen, das schwöre ich! Ich bin die Einzige, die davon weiß.“ Es gab noch mehr Artikel wie diesen? Wütend stopfte ich die Blätter in meine Tasche und sah zu Carly. „Hör mal, du musst endlich aufhören in der Sache rumzuschnüffeln. Es geht dich nichts an, solange er nicht darüber reden will, verstanden?“ Sie sah betreten zu Boden und nickte. „Ich weiß, und es tut mir leid. Ich bin zu weit gegangen, das sehe ich ein. Aber…“ Sie sah wieder auf und musterte mich. „Wie geht’s ihm mittlerweile? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.“ Ich mied ihren Blick. Die Erinnerungen an unser letztes Gespräch kamen wieder hoch. „Schon gut“ sagte Carly plötzlich und ich sah sie wieder an. „Du musst mir nichts sagen, aber wenn ich helfen kann, sag Bescheid, ja?“ Ich nickte und machte mich auf den Weg zum Chemieraum. ~*~ Nach der Schule wurden wir wieder von unserem Vater abgeholt. Als wir einstiegen, fragte ich gleich, ob er etwas von Yusei wüsste. Er seufzte. „Ja, ich war fast den ganzen Tag mit ihm im Krankenhaus. Wenn ich euch abgesetzt habe, fahre ich wieder zu ihm“ sagte er und musterte mich kurz. „Aber warum bist du denn bei ihm, und nicht Mama?“ fragte Alexis. „Bis sein Vater entlassen wird bin ich immer noch sein Vormund. Ich musste für einige Tests mein Einverständnis geben. Außerdem muss eure Mutter bis heute Abend arbeiten und für mich zählt das quasi als Arbeitszeit.“ „Welche Tests?“ fragte ich ungeduldig. „Und warum kann ich nicht einfach mitkommen?“ „Ich will, dass ihr zu Hause bleibt“ antwortete er bestimmt. Okay, wenn er in diesem Ton spricht, habe ich eigentlich schon verloren. Also ließ ich mich grummelnd in meinen Sitz sinken und schwieg den Rest der Fahrt. Als wir zu Hause waren, ging ich in mein Zimmer, setzte mich eine Weile lang auf das Fensterbrett und beobachtete die Straße. Der Regen prasselte nach wie vor gegen die Scheibe und es wurde langsam dunkel. Im Schein der Laternen sah ich einige Fußgänger, doch ich wartete auf das Auto meines Vaters. Ich wollte endlich Antworten. Schließlich parkte er am Straßenrand und ich rannte die Treppen nach unten. Ich wollte endlich mit Yusei und meinem Vater sprechen. Unten angekommen, wurde gerade die Haustür aufgeschlossen. Mein Vater betrat den Flur und schloss die Tür hinter sich. „Wo ist Yusei?“ fragte ich. Langsam wurde ich nervös. Ich war mir sicher, er würde zusammen mit meinem Vater nach Hause kommen. Ein leises Seufzen war zu hören und er drehte sich zu mir. Dieser mitfühlende Blick. Was kommt denn jetzt? „Er ist noch im Krankenhaus. Die Ärzte wollen ihn noch eine Nacht zur Beobachtung dabehalten, bis die Testergebnisse alle da sind. Dann sehen wir weiter.“ Mit geweiteten Augen sah ich ihn an. „Aber… Aber Mama sagte doch, er müsste nicht dortbleiben. Sie sagte, die Ärzte wollen nur mit ihm sprechen. Sie hat gesagt…“ „Ich weiß, und du musst dir auch keine Sorgen machen. Er soll nur im Krankenhaus bleiben, bis die Untersuchungsergebnisse da sind.“ „Aber welche Untersuchungsergebnisse denn?!“ fragte ich verzweifelt. „Bei einer Amnesie werden erst einmal einige Tests gemacht. Zum Beispiel ein MRT und ein CT. Es gab aber noch viele andere Untersuchungen, unter anderem ein Bluttest, der erst morgen ausgewertet werden kann“ sagte er ruhig. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Erkrankungen wie Epilepsie oder ein Tumor wurden schon ausgeschlossen. Bei dem, was er erlebt hat, wird es eine psychische Ursache haben. Ich habe heute schon mit einer Therapeutin gesprochen, bei der er sich morgen vorstellen wird. Dann werden wir weitersehen.“ Keine Sorgen. Keine Sorgen?! Natürlich mache ich mir welche! „Aber was, wenn er noch mehr vergisst?“ fragte ich leise. Was, wenn er irgendwann mich vergisst? * Die Sicht von Yusei * Ich saß mit verschränkten Armen und angezogenen Beinen auf dem Bett meines Krankenzimmers, lehnte den Kopf an die Wand und starrte frustriert an die hellblaue Decke. Auch die Wände waren in einem Hellblau gehalten und über mir wurden kitschige Wolken gemalt. Weil ich noch minderjährig war, hat man mich auf der Kinderstation eingeliefert. Großartig. Ich schloss die Augen. Warum zur Hölle bin ich hier? Durch diese zahllosen Untersuchungen haben sie ja doch nichts rausgefunden. Was sollten sie auch? Mir geht es gut, verdammt. Ich hatte das Gefühl, ich war im falschen Film. Jaden und seine Eltern sprachen von irgendeiner Gerichtsverhandlung, aber ich habe noch immer keine Ahnung was das Ganze soll. Ja, meine Mutter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und ja, es soll eine Verhandlung geben, aber mein Vater hat gesagt, er würde sich darum kümmern. Und was meinten alle mit ‚Ich hätte mich verändert‘? Ich verhielt mich doch wie sonst auch. Ich verstehe das alles nicht. Oder vielleicht wurde ich jetzt einfach verrückt? Wenn die anderen alle Recht hatten und ich habe wirklich alles vergessen? Ich habe versucht mich zu erinnern, was ich an diesen Tagen gemacht habe, aber keine dieser Erinnerungen hatte mit irgendeiner Gerichtsverhandlung zu tun. Oder mit dem Grab meiner Mutter, an dem ich stundenlang allein gewesen sein soll, was nicht mal zu mir passt. Nie würde ich irgendjemandem Sorgen bereiten wollen, indem ich mich einfach wegschleichen würde. Und schon gar nicht allein, mitten in der Nacht. Das ist einfach absurd! „Wie geht’s dir?“ fragte eine Stimme neben mir. Ich öffnete die Augen und sah Frau Yuki an meinem Bett sitzen, die mich besorgt musterte. „Gut“ antwortete ich schlicht. Ich hatte keinen Grund hier zu sein. „Yusei, verstehst du warum du hier bist?“ Einen kurzen Augenblick sah ich sie einfach nur an und schloss dann wieder meine Augen. „Ja, alle denken ich hätte einen Dachschaden“ sagte ich schließlich bitter. „Das stimmt nicht“ sagte sie ruhig. Ich wollte jetzt nicht mit ihr darüber reden. „Wir machen uns nur-“ „Sorgen“ unterbrach ich sie und sah sie wieder an. „Ich weiß, aber mir geht es gut. Keine Ahnung, warum alle glauben, sie wüssten mehr über mein Handeln als ich.“ Sie seufzte und sah mich wieder mitleidig an. Wie ich diesen Blick hasste. „Warum willst du uns nicht glauben?“ fragte sie schließlich. Wieso eigentlich? Gute Frage. Keiner von ihnen hat mich je belogen, sie waren immer ehrlich zu mir. Warum also wollte ich niemandem glauben, obwohl alle das Gleiche erzählten? Vielleicht… Vielleicht… Ich spürte Tränen aufsteigen und hatte einen Kloß im Hals. „Wenn ihr recht habt, dann bedeutet das, ich verliere meinen Verstand“ flüsterte ich. Ich konnte sie nicht länger ansehen und wandte den Blick ab. Plötzlich spürte ich, wie sie ihre Arme um mich legte und mich in eine Umarmung zog. Ich erwiderte sie nicht, aber ich fühlte mich ganz plötzlich so geborgen. Als hätte sie mir einen kleinen Teil dieser Verzweiflung genommen. „Du wirst nicht verrückt, Yusei. Glaub mir bitte. Du hast nur in letzter Zeit so viel Leid erfahren, da reagiert eben jeder anders. Deine Psyche will sich nur schützen, also verdrängt sie die Erinnerungen. Das ist nicht so selten wie du glaubst* und auch nicht so dramatisch. Irgendwann werden sie wieder zurückkommen, und bis dahin sind wir für dich da, hörst du?“ Ich schwieg. Ihre Worte trösteten mich etwas aber mir war als würde ich zusammenbrechen, wenn ich jetzt anfinge zu sprechen. Aber was ist passiert, dass ich mich jetzt nicht daran erinnern kann? Nicht erinnern will? Was ist mit mir los? Ihre Arme legten sich fester um mich. Zittere ich schon die ganze Zeit so? Und wann habe ich angefangen zu weinen? ~*~ Einige Zeit später verließ ich das Zimmer. Ich fühlte mich einfach unwohl dort drin und ich konnte mich nicht beschäftigen. Ich brauchte Ablenkung. Allerdings hatte ich auch nicht sonderlich viel Auswahl, denn es gab nur noch einen Aufenthaltsraum und die Station verlassen durfte ich nicht. Der Gemeinschaftsraum sah aus wie ein großer Raum in einem Kindergarten. Überall war Spielzeug, und die meisten Stühle waren so klein, dass sie mir samt Lehne nicht mal bis zur Hüfte gingen. Und überall verteilt spielten und malten einige Kinder. Naja, was will man auf einer Kinderstation schon anderes erwarten? Ich schlenderte zum Bücherregal und hoffte einfach, dass ich dort nicht nur Bilderbücher fand. Die untersten drei Reihen waren voll davon. Darüber war eine Reihe mit einigen Fantasy-Romanen, nicht wirklich mein Fall, eine Reihe weiter oben standen einige Mangas und eine Sci-Fi-Reihe. Im obersten Fach waren Sachbücher bis zur zehnten Klasse. Ich seufzte. Hier war wirklich nichts dabei. Plötzlich zog irgendjemand an meinem Hosenbein. Ich sah runter zu einem kleinen Mädchen mit einem Verband über dem rechten Auge. Sie war wirklich ziemlich klein, ging bestimmt noch in die Vorschule und reichte mir ein Buch. „Liest du mir das vor?“ fragte sie. Ich nahm das Buch an mich und sah mir den Einband an. Es war ein Märchenbuch. Hm, zumindest hätte ich dann etwas zu tun. Ich nickte zur Bestätigung und erntete dafür ein fröhliches Lächeln. Kurz darauf wurde ich an die Hand genommen und von dem Mädchen zu einem Sessel geführt. Ich nahm Platz und sie krabbelte ohne zu zögern auf meinen Schoß. Dann nahm sie das Buch und blätterte durch die Seiten, bis sie anscheinend gefunden hatte, wonach sie suchte. „Das da!“ sagte sie und hielt mir das offene Buch wieder hin. „Rotkäppchen?“ fragte ich und erhielt als Antwort ein begeistertes Nicken. „Das ist meine aaaaallerliebste Geschichte!“ Ich schmunzelte leicht. „Na, wenn das so ist.“ Ehe ich anfing vorzulesen, machte sie es sich in meinem Schoß bequem und lehnte sich an meine Brust. Meine Güte, fasst die schnell Vertrauen. Ich nahm das Buch etwas höher und begann zu lesen. „Es war einmal ein kleines süßes Mädchen das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber-“ „Du musst lauter reden“ unterbrach sie mich. „Konno versteht dich nicht, er hört ganz schlecht.“ „Wer?“ „Na Konno. Da sitzt er!“ Sie zeigte mit dem Finger links neben mich zu einem kleinen Sofa. Dort lag tatsächlich ein Junge auf dem Bauch, der seine Arme auf der Lehne abgestützt hatte und mich beobachtete. Wo kommt der denn her? „Na schön“ sagte ich und las die Geschichte noch einmal von vorn, dieses Mal etwas lauter. Das stellte sie anscheinend zufrieden, denn sie unterbrach mich eine Weile lang nicht mehr. Zumindest bis zu der Stelle, an der der Wolf mit der alten Frau sprach. „Du musst die Stimme verstellen“ forderte sie. Ich blinzelte sie irritiert an. Was soll ich machen? „Der Wolf verstellt die Stimme, also musst du das auch machen! Ungefähr so:“ Sie sprach mit einer übertrieben hohen Stimme weiter, um den Wolf als Rotkäppchen nachzuahmen. „Ich bring dir Kuchen und Wein, mach auf!“ „Aiko hat recht“ sagte der Junge auf dem Sofa. „Das ist viiiel spannender!“ Irgendwie kam mir das lächerlich vor, aber die beiden klopften mich einfach mit einem Hundeblick weich. Ich seufzte, sprang noch einmal zurück zu dem Gespräch und las es mit verstellter Stimme vor. Ich kam mir wirklich albern dabei vor, aber die beiden freuten sich und kicherten vergnügt. Ich gebe zu, auch ich fand es ein wenig lustig. Als ich die Geschichte beendet hatte, schienen die zwei zufrieden. Aber über Märchen darf man wirklich nicht zu viel nachdenken. Ein vermenschlichter Wolf frisst eine Erwachsene und ein Kind im Ganzen und im Schlaf wird dann sein Bauch aufgeschnitten und die beiden springen unverletzt aus seinem Magen. „Liest du noch was vor?“ fragte eine Stimme, die zu keinem der beiden Kinder gehörte. Ich ließ das Buch sinken und blickte in vier weitere Augenpaare, die mich erwartungsvoll anfunkelten. Wie lang saßen die eigentlich schon vor mir auf dem Boden und hörten zu? Mit etwas Abstand beobachtete mich auch Frau Yuki amüsiert. Dann kam sie auf uns zu und wandte sich mit einem sanften Lächeln an die Kinder. „Tut mir wirklich leid, aber die Märchenstunde ist vorbei. Es ist schon Schlafenszeit. Ab ins Bett mit euch, ihr kleinen Geister.“ Die Kinder murrten und versuchten noch etwas Zeit rauszuschlagen, aber Frau Yuki war unnachgiebig. Also trotteten sie langsam wieder auf ihre Zimmer. Das Mädchen auf meinem Schoß umarmte mich fest. „Danke!“ sagte sie fröhlich und sah mich dann wieder an. „Liest du morgen noch was vor?“ Irgendwie brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich am nächsten Tag hoffentlich nicht da bin. Das letzte, was ich wollte, war hierbleiben zu müssen. „Na komm, Aiko. Er ist sicher auch ganz müde“ rettete mich Frau Yuki. Die Kleine sprang von meinem Schoß und lief aus dem Zimmer. „Das war wirklich nett von dir“ sagte Jadens Mutter und lächelte mich an. Ich sah wieder auf das Buch in meiner Hand. „Weißt du…“ setzte sie wieder an. „Wir haben im Arbeitsalltag selten die Zeit oder die Gelegenheit für solche Augenblicke. Da freuen sich die kleinen Patienten umso mehr, wenn sich jemand mit ihnen beschäftigt. Hier kann es ziemlich schnell langweilig werden. Aber du hast ihnen damit wirklich eine Freude gemacht.“ Ich schmunzelte ein wenig. Zumindest sie hatten etwas Spaß heute. ~*~ Am nächsten Tag waren die Ergebnisse des Bluttests endlich da. Der Arzt war erfreut zu sehen, dass ich anscheinend keine Drogen nahm. Wow, welche Überraschung. Das hätte ich ihm gleich sagen können. „Wenn du mich begleiten würdest, dann würde ich dir gern Doktor Arisawa vorstellen“ sagte er noch und führte mich aus der Pädiatrie. Wir gingen einen langen Gang entlang in ein verbundenes Nebengebäude. Über dem Eingang las ich ein Schild, das mich schlucken ließ. Psychiatrie. Sie waren anscheinend wirklich der Auffassung, ich hätte meinen Verstand verloren. „Ich bin nicht verrückt“ murmelte ich leise. Ich dachte der Arzt würde mich nicht hören, aber er neigte seinen Kopf zu mir und antwortete: „Ja, ich weiß. Mit dir ist alles in Ordnung, keine Sorge. Aber deine Amnesie hat keine organische Ursache, also bleibt nur ein psychisches Problem. Aber das ist gut, denn in den meisten Fällen erlangen die Patienten ihre Erinnerungen zurück. Ich meine, es ist zumindest besser als ein Hirntumor, findest du nicht?“ Okay, aufbauen kann der Typ nicht. Wir kamen vor einem Behandlungsraum zum Stehen und er klopfte. Dann öffnete sich die Tür und vor uns stand eine Frau mit brünettem, gelocktem Haar, hellblauen Augen und einer Brille. „Das ist Yusei Fudo“ sagte der Mann, mit dem ich hierhergekommen bin. Sie sah mich an und lächelte. „Hallo, mein Name ist Mariko Arisawa. Ich habe schon auf dich gewartet, komm doch rein.“ Ich betrat den Raum und sah mich etwas um, während die beiden sich noch unterhielten. Ich hatte mir ehrlich gesagt jede Menge Bücherregale und Aktenschränke an den Wänden vorgestellt. Irgendeine Seelenklempnerbank und einen großen Sessel daneben. Alles in tristem Grau oder ausgewaschenem Braun. Aber das war das komplette Gegenteil. Es sah mehr aus wie ein normales Wohnzimmer. Der Raum war in blassen Gelb- und Orangetönen gehalten und in der Mitte stand ein niedriger Tisch zwischen einem Sofa und einem gepolsterten Stuhl. Die Fenster waren groß, daran waren bodenlange Vorhänge angebracht, und an den Wänden hingen viele Fotos. Erst jetzt sah ich wirklich einige Regale mit Büchern, dazwischen etwas Deko. Im ganzen Raum verteilt standen viele unterschiedliche Pflanzen. Um ehrlich zu sein, sah es hier ganz nett aus. „Setz dich doch“ sagte die Frau, die plötzlich neben mir stand, freundlich und deutete auf das Sofa. Ich nahm Platz und wartete ab. Ich hatte nicht sonderlich viel Lust auf dieses Gespräch. „Willst du was trinken?“ fragte sie. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf. Könnte ich dieses Gespräch nicht einfach hinter mich bringen? Sie setzte sich auf den Stuhl und musterte mich eine kleine Weile schweigend. „Auf welche Schule gehst du?“ fragte sie plötzlich. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet, also brauchte ich etwas, ehe ich antwortete: „Auf die Crimson-Oberschule.“ Sie kicherte amüsiert. „Ist Sensei Ushio immer noch der Sportlehrer? Ich hatte mich damals ständig mit ihm in der Wolle gehabt.“ Etwas verwirrt musterte ich sie. „Ja, er ist mein Sportlehrer.“ Sie nickte und stellte mir weitere Fragen zu meiner Klasse, dem Unterricht und meinen Freunden. Ab und zu schrieb sie etwas auf. Der eigentliche Grund meiner Anwesenheit rückte in meinem Kopf immer weiter in den Hintergrund. Das Gespräch ging weiter mit Fragen über Hobbys, meinen Nebenjob in der Werkstatt und dem Klavier spielen. Auch über die Pause davon, die ich eingelegt hatte. Darüber kamen wir schließlich zu meiner Mutter und ich sollte über meine Kindheit reden. Die meisten Erinnerungen daran waren wirklich schön. Doch dann kamen wir zu einem Thema, über das ich bisher nur mit Jaden geredet habe: dem Unfall. Sie schaffte es wirklich, dass ich ihr alles erzählte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich ihr. „Wie ist es dir danach ergangen?“ fragte sie. Ich hatte den Blick gesenkt und spielte in meinem Schoß nervös mit den Fingern. Wo sollte ich denn anfangen? „Ich meine vor dem Umzug“ fügte sie hinzu. Ich seufzte. „Ich ging nicht mehr zur Schule“ begann ich und biss mir auf die Unterlippe. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich nie von meiner alten Klasse verabschiedet hatte. „Mein Vater flüchtete sich in die Arbeit und schottete sich immer mehr ab. Ich konnte einfach nicht richtig mit ihm reden. Und Kalin war mit der Situation überfordert. Ich hatte das Gefühl, als würde er mich meiden. Ich habe mich einfach im Stich gelassen gefühlt.“ Ich schwieg. Sehr viel mehr hatte ich nicht zu sagen. „Und die Beerdigung?“ Ich sah langsam aus dem Fenster. „Die war wirklich schön. Herr Kazuki hat eine Rede gehalten und einer der Kollegen meiner Mutter hat ‚Tears in Heaven‘ auf einem Klavier gespielt. Ein anderer hat gesungen. Das war etwas kitschig, aber es passte.“ Ich lächelte traurig. Ich glaube, ihr hätte das gefallen. „Das klingt wirklich schön“ sagte sie. Ich drehte meinen Kopf wieder in ihre Richtung und sah ihr Lächeln. Das meinte sie ernst. „Wie ging dein Vater mit der Beerdigung um?“ Ich musste etwas überlegen, aber mir fiel nur eine Sache ein, die ich nie vergessen werde. „Er hat nicht geweint.“ Sie schrieb etwas und stellte währenddessen eine weitere Frage. „Hast du eine Vermutung, woran das gelegen haben könnte?“ Wie oft hatte ich mir diese Frage schon gestellt, aber kam doch zu keinem Ergebnis? „Nein.“ „Verstehe. Und nachdem ihr aus Osaka hierhergezogen seid, wie ging es dir damit?“ Das war nicht schwer zu beantworten. „Ich war sauer.“ „Auf wen?“ Was war das denn für eine Frage? „Auf meinen Vater. Er hat mich nicht mal gefragt, sondern einfach beschlossen, dass wir wegziehen.“ „Hat er dir einen Grund genannt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und senkte wieder den Blick. „Aber wie es aussieht, hast du dich ganz gut eingelebt. Hast du schnell Anschluss gefunden?“ Ich musste schmunzeln, als ich mich an die Anfänge in der Schule erinnerte. „Nein, die Jungs aus der Klasse konnten mich nicht leiden. Jaden hat mich mehr oder weniger in die Gruppe geschupst.“ „Wie hast du ihn denn kennengelernt?“ Diese Antwort war mir etwas peinlich. „Ein Mädchen aus der Klasse hat mich gefragt, warum wir umgezogen sind. Ich habe Panik bekommen, und bin dann auf die Toilette geflüchtet, um mich abzureagieren. Da traf ich ihn zum ersten Mal und er hat mich ohne Vorwarnung einfach zur Krankenstation geschleppt und dort abgesetzt. Am gleichen Tag hat er durch Zufall gesehen, dass ich ganz gut mit dem Fußball umgehen kann, also hat er mich in die Mannschaft aufgenommen. Ich war nicht sehr begeistert, aber schließlich hat er mich weichgeklopft. Nach und nach bin ich dann auch mit den anderen warm geworden.“ „Diese Panik. Hattest du die öfter?“ „Ja, manchmal. Aber es ist besser geworden.“ „Und in welchen Situationen hast du diese Panik gespürt?“ Ich überlegte, ob es irgendeinen Zusammenhang geben könnte. „Es ging eigentlich immer um meine Eltern“ überlegte ich laut und sah sie wieder an. „Entweder dachte ich an den Unfall, oder jemand hat mich auf meinen Vater angesprochen, der im Krankenhaus liegt.“ Sie nickte und krizelte wieder etwas in ihren Block. „Hast du noch andere unangenehme Reaktionen auf den Unfall gezeigt? Also damit meine ich zum Beispiel diese Panik, aber hattest du Alpträume oder ebenfalls Gedanken dir etwas anzutun?“ Bei dem Wort ‚Alpträume‘ zuckte ich kaum merklich zusammen. „Nein, ich hänge an meinem Leben“ sagte ich ausweichend und mied ihren prüfenden Blick. „Aber du hast Alpträume“ stellte sie fest. Verdammt. Ich nickte, aber sagte nichts. Eine kleine Weile schwiegen wir und ich sah vorsichtig zu ihr. Sie musterte mich noch immer. Ich seufzte und erzählte schließlich doch noch davon. „Aber…“ fügte ich hinzu, als mir etwas klar geworden war. „Seit einigen Tagen schlafe ich wieder normal.“ „Seit wann genau?“ Wieder überlegte ich. So ganz genau konnte ich es nicht sagen. „Ich weiß nicht, ein paar Tage.“ „Kannst du dich an das letzte Mal erinnern?“ „Hm… Ich glaube, an dem Wochenende als wir nach Osaka gefahren sind.“ „Und was hast du an dem Wochenende gemacht?“ „Am Samstag war ich arbeiten und dann…“ Ich musste kurz lächeln. „Dann habe ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder vor einer anderen Person Klavier gespielt.“ Auch sie lächelte. „Und vor wem?“ „Jaden.“ „Er bedeutet dir viel, nicht wahr?“ stellte sie fest. Wieder wich ich ihrem Blick aus, nickte aber. Ich spürte eine angenehme Wärme, die sich in meinem Körper ausbreitete. Ich schmunzelte wieder und dachte an den Abend zurück. Ich hätte ihn fast geküsst. „Und am Sonntag?“ fragte sie nach einer kurzen Stille. „Wir sind zu Herr Kazuki gefahren und dann habe ich Jaden die Stadt gezeigt. Ich glaube, er hat sich wirklich wahnsinnig darüber gefreut. Nachmittags haben wir Kalin und Sherry getroffen und ich habe mich ziemlich mit ihm gezofft. Ich könnte Ihnen den Grund nicht mal mehr sagen, es war einfach zu lächerlich. Danach sind wir wieder zum Anwesen zurückgefahren.“ „Hast du danach nochmal mit Kalin gesprochen?“ Hm… „Ich glaub nicht“ antwortete ich leise. Oder doch? Nein, ich hatte Kalin danach nicht mehr gesehen. „Ist an dem Tag noch etwas passiert?“ Wieder überlegte ich. Wie war das noch? Wir sind zum Anwesen zurückgefahren und ich bin kurze Zeit später in den Garten zum Brunnen gegangen, und dann… Ich riss die Augen auf und spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss. Schnell senkte ich den Blick, ehe sie etwas mitbekam und versuchte mich wieder zu beruhigen. Das war der Abend, an dem mir Jaden sagte, dass er in mich verliebt ist. Als ich glaubte, meine Gesichtsfarbe hätte sich wieder normalisiert, sah ich wieder auf. Sie lächelte mir sanft entgegen und ich wurde gleich wieder rot. Es bringt nichts, sie hat es vorhin wahrscheinlich schon gesehen. „I-Ich…“ setzte ich an, doch wusste nicht, wie ich weitersprechen sollte. Aber sie wartete geduldig. Wieder mied ich ihren Blick, bevor ich weitersprach. „Er… hat mir gesagt, er ist in mich verliebt“ sagte ich leise. Und dann hat er seine Lippen plötzlich auf meine gelegt. Ihr Lächeln wurde breiter. „Und was hast du gesagt?“ Meine Gesichtsfarbe wurde vermutlich wieder ein Stück dunkler. „Nichts… Ich habe ihn einfach geküsst.“ Ich fand, damit war die Sache klar. Er wusste doch, was ich damit aussagen wollte. Denke ich. „Und der nächste Tag?“ fragte sie wieder. „Was hast du am Montag gemacht?“ Diese Frage habe ich mir seit gestern ständig gestellt, aber ich kam nur auf eine Situation, die an diesem Tag passiert ist. Ich war mit Saki im Musikzimmer auf dem Anwesen. Der Rest ist nur eine vage Erinnerung im Nebel. Ehrlich gesagt sah es die Tage darauf nicht besser aus. Ich war auf Arbeit, in der Schule und bin irgendwie bei Jaden eingezogen. Es wird erst ab letzten Samstag wieder klarer. Ich kann es nicht länger leugnen… Sie hatten alle recht. Die ganze Zeit habe ich mir eingeredet, ich wüsste, was an diesen Tagen passiert ist, doch in Wahrheit habe ich keine Ahnung. „Ich weiß es nicht“ murmelte ich. Diese Worte auszusprechen war schwer für mich. Wie sollte ich das nur akzeptieren? „Schon gut“ sagte sie beruhigend. „Du wirst dich schon wieder daran erinnern. Ich helfe dir dabei.“ Ich sah sie ungläubig an. Wieso war sie sich da so sicher? „Naomi hat mir erzählt, du hättest in den letzten Tagen manchmal aus heiterem Himmel Kopfschmerzen bekommen.“ Stimmt, jetzt wo sie es sagt. Das ist ein paar Mal passiert. „Ich glaube, das sind Erinnerungen, die durch irgendeinen Auslöser hochkommen wollten. Wenn so etwas wieder passiert, versuch dich nicht dagegen zu wehren. Solltest du dich dann an etwas erinnern können, sprich mit jemandem darüber. Du kannst auch mich jederzeit erreichen.“ Sie legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Bedeutet das…“ setzte ich an. „Heißt das, dass ich nicht hierbleiben muss?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte. „Nein, keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass du heute entlassen wirst.“ Ich atmete erleichtert auf. Anscheinend dachten nicht alle, ich hätte den Verstand verloren. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich folgenden Vorschlag machen“ sprach sie weiter. „Wir werden in einigen Sitzungen versuchen, diese Erinnerungen wieder hervorzuholen. Eine bewährte Methode dafür ist zum Beispiel Hypnose.“ Ich musterte sie skeptisch. „Jetzt schau nicht so“ lachte sie. „Ich weiß, das klingt ziemlich esoterisch, aber glaub mir, es funktioniert.“ Ich sah auf den niedrigen Tisch. „Aber… es muss doch einen Grund geben, warum ich mich nicht erinnern kann… Was, wenn ich… Keine Ahnung. Wenn ich es nicht ertrage, dass diese Erinnerungen wiederkommen?“ Ich sah wieder zu ihr und sie lächelte. „Dann werde ich dir helfen, sie zu bewältigen. Ich weiß, das hört sich furchteinflößend an, aber du bist stärker als du vielleicht denkst.“ Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. „Na schön, Yusei. Ich finde, wir sind heute schon ziemlich weit gekommen. Ich begleite dich wieder auf das Krankenzimmer und mache dann ein paar Unterlagen fertig, einverstanden?“ Ich nickte. Das Gespräch verlief weitaus weniger schlimm als ich anfangs dachte. Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert. * Die Sicht von Naomi * Auf dem Weg ins Haus F wurde ich immer nervöser. Doktor Arisawa klang am Telefon nicht besorgt und sagte auch, dass Yusei heute wieder entlassen werden könne, aber ich wusste dennoch nicht, was ihm fehlte. An ihrem Büro angekommen, atmete ich noch einmal tief durch und klopfte. Einen Augenblick später bat sie mich herein. „Naomi, schön, dass du so schnell kommen konntest“ begrüßte sie mich. Ich lächelte. „Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet. Die Sitzung hat ziemlich lange gedauert, ist alles gut gegangen?“ „Ich war selbst überrascht. Nach dem was dein Mann mir erzählt hat, dachte ich, er würde kaum etwas Preis geben“ sagte sie schmunzelnd. „Aber er war wirklich gesprächig.“ „Yusei war gesprächig?“ fragte ich skeptisch. Sie lachte. „Naja, anfangs nicht, aber mit der Zeit wurde es besser. Gerade bei den sensibleren Themen war er erst ziemlich schweigsam. Aber setz dich doch erstmal.“ Ich folgte ihrer Einladung, nahm auf dem Sofa Platz und sah sie abwartend an. „Jetzt zum eigentlichen Grund, warum du hier bist. Ich habe genug erfahren, um eine Diagnose erstellen zu können. Gestern habe ich schon ein langes Gespräch mit deinem Mann über die ganze Sache geführt. Apropos, hast du die Vollmacht mit?“ Ach stimmt, diese überkorrekte Krankenhausbürokratie. Ich holte das Dokument aus meiner Tasche und reichte es ihr. „Sehr gut, Danke“ sagte sie und legte es in die Akte, die auf dem Tisch lag. „Na schön…“ Sie blätterte in der Akte herum. „Meines Erachtens nach, hat er seit dem Unfall eindeutige Symptome einer PTBS*. Die Panikattacken, die Alpträume, die er seitdem hatte, oder die aktive Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. In seinem Fall war das diese Pause vom Klavier spielen und die anfängliche Verweigerung, Fotos oder Erinnerungsstücke in der Wohnung zu platzieren. Allerdings war er schon, dank der Unterstützung einiger seiner Mitmenschen, dabei, das Trauma als einen Teil seiner Lebensgeschichte zu integrieren, was schon ein großer Schritt bei einer Therapie ist. Ich bin mir sicher, wäre diese Gerichtsverhandlung nicht gewesen, hätte er es erstaunlich schnell verarbeiten können. Aber irgendetwas muss an diesem Tag ausschlaggebend gewesen sein, dass er eine weitere psychische Störung entwickelt hat.“ Ich seufzte. „Ja, ich weiß. Mein Mann vermutet, es wären die Arztberichte gewesen. Von diesem Zeitpunkt an hat Yusei nicht mehr auf ihn reagiert. Und du willst jetzt andeuten, dass die PTBS eine weitere Erkrankung begünstigt hat?“ Sie nickte. „Kurz gesagt: Eine dissoziative Amnesie nach einem psychischen Trauma.“ „Bist du sicher?“ „Ja, aber diese Krankheit ist reversibel und ich begleite den Prozess in der Traumatherapie. Du wirst sehen, er ist bald wieder der Alte. Die Amnesie stellt eine Art Schutzfunktion dar, indem sie Yusei davor bewahrt, sich erneut mit den belastenden Erlebnissen auseinandersetzen zu müssen. Aber er wird lernen, damit umzugehen.“ „Das hoffe ich. Aber was ist mit seinem nächtlichen Ausflug?“ gab ich zu bedenken. „Ist das auch eines der Symptome?“ „Nein, nicht ganz, aber dazu habe ich auch eine Vermutung“ fuhr sie fort. „Es gibt da ein ungewöhnliches Phänomen, das manchmal bei dissoziativer Amnesie auftritt. Die dissoziative Fugue. Sie manifestiert sich oft als plötzliches, unerwartetes, zielgerichtetes Weggehen von zu Hause. Die Betroffenen erinnern sich nicht an ihr Verschwinden. Das würde zumindest auch seine veränderte Persönlichkeit in letzter Zeit erklären.“ Schlüssige Theorie, das muss ich sagen. „Und was können wir machen, um ihn zu unterstützen?“ Wieder lächelte sie. „Ihr könnt nicht mehr für ihn tun, als ihr schon die ganze Zeit über gemacht habt. Glaub mir Naomi, du tust instinktiv das Richtige. Ich glaube wirklich, er fühlt sich wohl bei euch.“ Ich erwiderte ihr Lächeln. Ich war wirklich erleichtert über ihre Worte, aber eines wollte ich dazu noch wissen. Nur, um sicherzugehen. „Ist es ratsam, ihn weiterhin bei uns wohnen zu lassen, oder sollte er in sein gewohntes Umfeld zurückkehren?“ Ich hatte ihn gern bei uns, aber wenn es besser war, ihn wieder im Haus seines Vaters wohnen zu lassen, dann wollte ich dem nicht im Weg stehen. „Überlass ihm die Entscheidung“ antwortete sie. „Natürlich ist das gewohnte Umfeld optimaler, aber er wohnt zurzeit allein. Er muss zwar nicht ständig unter Beobachtung gestellt werden, aber es wäre dennoch gut, wenn jemand ein Auge auf ihn hat.“ „Ich danke dir, Mariko. Ach, bevor ich es vergesse: Weißt du, was mit seinem Vater ist?“ „Du weißt genau, dass ich dir darüber nichts erzählen darf.“ „Ja, schon gut. Ich will nur wissen, ob er nächste Woche wieder entlassen werden kann. Das wäre auch für Yusei wichtig zu wissen.“ Sie seufzte. „Nein, vermutlich nicht. Versteh das nicht falsch, er macht große Fortschritte, aber mein Kollege will auf Nummer sicher gehen. Sein Aufenthalt wird wahrscheinlich um vier Wochen verlängert.“ Ich sah sie etwas geknickt an. „Verstehe.“ ~*~ Auf der Pädiatrie angekommen sah ich auf seinem Zimmer nach, aber überraschenderweise war er nicht da. „Hey, weißt du wo Yusei ist?“ fragte ich meine Kollegin. Sie kicherte. „Aiko hat ihn schon wieder in Beschlag genommen. Die Kleine hat wohl einen Narren an ihm gefressen. Sie sind im Aufenthaltsraum.“ Ich bedankte mich und ging in das große Spielzimmer. Dort stand ich noch einen Augenblick in der Tür und schmunzelte. Es war ein ähnliches Bild wie gestern Abend. Yusei saß mit einem Buch auf dem Sessel, Aiko auf seinem Schoß und drei weitere Kinder hatten sich ein Kissen geschnappt und sich vor ihm auf den Boden gesetzt. Die kleine Gruppe hörte ihm gebannt zu. Er sah zufrieden aus. Ich hatte das Gefühl, ganz unfreiwillig machte er das nicht. Es war ein schöner Anblick und ich seufzte zufrieden. Er klappte das Buch zu und war anscheinend fertig mit der Geschichte. „Noch eine!“ forderte eines der Kinder und mein Lächeln wurde breiter. Ich ging auf sie zu als Yusei sich an das Kind wandte. „Tut mir leid, aber ich muss gleich gehen.“ „Nein“ sagte eines der Kinder traurig und Aiko sah ihn hoffnungsvoll an. „Aber morgen kommst du wieder, ja?“ Yusei sah sie etwas zerknirscht an und ich schritt ein. „Aiko, Liebes, es ist Zeit für deinen Verbandswechsel. Kommst du kurz mit?“ „Aber er soll morgen wiederkommen!“ beharrte sie. Ich beugte mich zu ihr herunter. „Aber freust du dich nicht für ihn, dass er nach Hause darf?“ Sie sah betreten zu Boden. „Doch…“ „Schon gut“ sagte Yusei plötzlich und wir sahen ihn an. Er lächelte. Das war in den letzten Tagen ein eher seltener Anblick. „Ich komme dich in den nächsten Tagen mal besuchen, einverstanden?“ Aikos Gesicht erhellte sich und sie umarmte ihn noch kurz, ehe sie aufstand und in ihr Zimmer lief. „Bist du sicher, Yusei?“ fragte ich, als er das Buch wieder im Regal verstaute. Er drehte sich zu mir und sah mich verwundert an. „Klar, ich bin in nächster Zeit sowieso oft hier. Da kann ich danach auch hierherkommen.“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er sich seit gestern etwas verändert hatte. Er wirkte offener. Und diesen Vorschlag hätte er in den letzten Tagen wohl auch nicht gemacht. „Doktor Arisawa hat eben deine Entlassungspapiere unterzeichnet. Wenn du willst, können wir gleich losfahren.“ Er nickte und gemeinsam verließen wir die Pädiatrie. Auf dem Weg zum Auto überlegte ich, wie ich das nächste Thema ansprechen konnte. Ob ich ihn bei ihm absetzen sollte, oder ob er wieder zu uns kommen wollte. Ich hielt es definitiv für besser, wenn er noch eine Zeit bei uns verbringen würde, statt allein in diesem einsamen Haus zu sein, aber Mariko sagte, ich sollte die Entscheidung ihm überlassen. „Yusei?“ setzte ich an und er blickte neugierig zu mir. „Willst du erstmal bei uns bleiben?“ Seine Augen wurden größer und er senkte den Blick. Mein Herzschlag erhöhte sich. Ich wartete geduldig auf seine Antwort. „Ist es… wirklich in Ordnung, wenn ich noch eine Weile bei euch bleibe? Ich will niemandem zur Last fallen“ sagte er schließlich und blickte mich aus traurigen Augen an. Erleichterung breitete sich in mir aus und ich lächelte sanft. Er wollte nicht allein sein. Ich blieb stehen, strich ihm durchs Haar und antwortete: „Mach dir keine Gedanken. Du fällst uns nicht zur Last und wir haben dich gern bei uns.“ Er lächelte erleichtert. ~*~ Kurz bevor ich mit Yusei zu Hause angekommen war, blickte ich noch einmal auf die Uhr. Es war schon kurz vor sechs und die Kinder sind mittlerweile auch da. Doch noch bevor ich die Haustür öffnen konnte, wurde sie aufgerissen und Jaden stand vor mir. Ich sah ihn überrascht an. Ob er schon wieder am Fenster gewartet hat? Er blickte an mir vorbei und lief auf Yusei zu, um ihn zu umarmen. Einen kleinen Moment lang wirkte Yusei etwas überfordert, aber schließlich lächelte er sanft und erwiderte die Umarmung meines Sohnes. Ich lachte leise und ging schon ins Haus. Die beiden waren wirklich süß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)