Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 13: Verschwunden ------------------------ Ich wusste nicht, wie lange ich ihn in meinen Armen hielt. Ich strich noch immer sanft durch sein Haar. Es war hypnotisch. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Raum in ein leichtes Orange. Es klopfte. Langsam und vorsichtig erhob ich mich, um Yusei nicht zu wecken. Zu meiner Überraschung hatte er seine Augen noch immer halb geöffnet. Sie sahen so leer aus und starrten ins Nichts. Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion. Seufzend ging ich zur Tür und öffnete sie. Mein Vater stand vor mir und musterte mich. „Wie geht es ihm?“ fragte er leise. Ich sah kurz zu Yusei, dann blickte ich meinen Vater traurig an und schüttelte langsam den Kopf. Auch er seufzte und bat mich aus dem Zimmer. Als wir auf dem Gang standen, schloss mein Vater die Tür hinter sich. „Und, wie ist es ausgegangen?“ fragte ich ihn. „Es ist so, wie der Staatsanwalt erwartet hatte. Der Mann ist natürlich schuldig gesprochen worden und hat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten erhalten. Nach einem Jahr kann er einen Antrag auf Bewährung stellen.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wut stieg in mir hoch. Das ist doch lächerlich! „Das ist unfair! Er hat komplett volltrunken ein Fahrzeug gerammt und eine schwangere Frau dabei getötet. Wieso bekommt er dafür keine längere Strafe?!“ fragte ich aufgebracht. Mein Vater sah zu der Tür, die zu Yuseis Zimmer führte, dann wieder zu mir. Meine Wut wich aus meinem Körper. Verdammt, ich war zu laut. „Lass uns nach unten gehen“ schlug er vor. Zögerlich stimmte ich zu. Eigentlich wollte ich Yusei nicht allein lassen. Wir saßen in dem Hauptzimmer von Herr Kazuki und redeten noch eine Zeit lang über die Verhandlung und das Urteil. Der Richter wies wohl auf die ‚herausragend schweren Folgen der Tat für die Familie‘ hin, aber der Mann hat trotzdem mildernde Umstände bekommen, weil er vorher noch nie straf- oder verkehrsrechtlich aufgefallen ist. Und wohl auch, weil er Reue gezeigt hat. Ich verstand es einfach nicht. Der Mann hat durch seine eigene Schuld zwei Menschenleben beendet und wäre in einem Jahr auf Bewährung wieder draußen. Das ist so ungerecht! „Sieh es mal so, mein Junge“ sagte Herr Kazuki plötzlich. „Er hat eine weitaus grausamere Strafe bekommen, als nur die Freiheitsstrafe.“ Verwirrt sah ich ihn an. „Wie meinen Sie das?“ Er bedachte mich mit einem traurigen Lächeln. „Der junge Mann ist erst 22 Jahre alt, und wird sein gesamtes restliches Leben mit der Schuld leben müssen, diese wundervolle Frau und ihr ungeborenes Kind getötet zu haben. Und nur, weil er den Fehler machte, unter Einfluss von Alkohol zu fahren. Die wenigsten Menschen können so ein Erlebnis ganz aufarbeiten.“ „Hm…“ Wenn man es von der Seite betrachtete. „Aber was ist jetzt mit Yusei?“ fragte ich wieder und sah die beiden Männer vor mir an. Mein Vater erwiderte meinen Blick traurig. „Er wird Zeit brauchen. Und vor allem muss er lernen, darüber zu sprechen. Es ist ganz normal, wenn er sich jetzt eine Zeit verschließt. Das ist reiner Selbstschutz. Wir müssen jetzt nur darauf achten, dass es sich nicht verschlimmert. Wir müssen einfach nur für ihn da sein.“ Ich nickte. Das wollte ich sowieso. Das werde ich sowieso. Plötzlich stand Herr Kazuki auf. „Nun denn, ich würde vorschlagen, ihr nehmt noch eine Kleinigkeit zu euch. Ihr werdet eure Kräfte noch brauchen. Yusei brauch erst einmal Ruhe, daher würde ich ihn schlafen lassen. Ich werde ihn morgen zum Frühstück rufen lassen, bis dahin geht es ihm sicher besser. Ihr wolltet gleich nach dem Essen abreisen?“ Mein Vater nickte. „Ja, ich habe meiner Frau versprochen, zum Mittag wieder zu Hause zu sein.“ Nach dem Abendessen ging ich in mein Gästezimmer. Alle sagten mir, Yusei bräuchte jetzt eine kleine Weile Zeit für sich. Ich hatte da eher ein schlechtes Gefühl. Diese leeren Augen… So habe ich ihn noch nie gesehen. Nicht mal an dem Abend, an dem er mir von seiner Mutter erzählt hatte. Er wirkte danach so befreit. Aber jetzt… Jetzt wirkt er eher, als hätte er seine Seele verloren. Ich hoffe es geht ihm bald besser. Am nächsten Morgen weckte mich mein Vater zum Frühstück. Wir wollten eher essen, damit wir früher fahren konnten. Ich gähnte herzhaft. „Hast du Yusei schon Bescheid gesagt?“ fragte ich ihn. Er lächelte mir entgegen. „Nein, er ist wohl schon aufgestanden. Ich war eben in seinem Zimmer, aber es war leer.“ Ich konnte mir nicht helfen, aber ich hatte da ein ganz mieses Gefühl. Ich machte mich fertig und folgte meinem Vater runter ins Esszimmer. Mein Blick wanderte durch den Raum. Er ist nicht hier. Saki stand am Tisch und stellte in diesem Moment gerade ein Körbchen mit frisch gebackenem Brot ab. „Hey, hast du Yusei gesehen?“ fragte ich sie gespannt. Sie schaute mich verdutzt an. „Nein, schläft er nicht noch?“ Ich schüttelte den Kopf. Dieses ungute Gefühl wurde stärker. Sie sah wohl mein angespanntes Gesicht und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Hey, mach dir keine Sorgen. Ich gehe los und suche ihn. Wie ich ihn kenne, ist er wieder super früh wach geworden und entweder im Musikzimmer oder im Garten. Du kannst schonmal anfangen zu essen. Ich komme gleich mit ihm nach“ sagte sie mit einem Zwinkern und verschwand. „Fräulein Ishida hat recht, mein Junge“ sagte Herr Kazuki plötzlich, der mit einer Zeitung am Tisch saß, eine Tasse Tee vor sich stehend. „Er hat sicher die Zeit vergessen. Das passiert nun einmal.“ Dann lächelte er mir zu und las wieder in seiner Zeitung. „Setz dich, Jaden“ fügte mein Vater hinzu. Irgendwie war ich der Einzige, der sich Sorgen machte. Vermutlich haben sie Recht. Ich mache mir einfach zu viele Gedanken. Er kennt dieses Haus in- und auswendig. Genau wie Saki. Sie wird ihn schon finden. Nach 20 Minuten war sie noch immer nicht zurück. Der Garten ist zwar groß, aber so lange brauch man doch auch wieder nicht, um ihn abzusuchen. Ich wurde von Minute zu Minute nervöser. Mit einem Ruck stand ich auf. Mein Stuhl kippte fast dabei um. „Ich ruf ihn mal an“ sagte ich bestimmt und ging die Treppen nach oben, ohne eine Antwort abzuwarten. So ist er einfach nicht. Das passt nicht zu ihm. Irgendetwas stimmt hier nicht. Oben angekommen, schnappte ich mir mein Handy und wählte seine Nummer. Freizeichenton. Komm schon, komm schon! Während ich wartete, ging ich auf den Gang, um meine Nervosität etwas loszuwerden. Da hörte ich ein Geräusch. Wo kommt das denn her? Ich sah mich um. Es kam aus Yuseis Zimmer. Ich öffnete die Tür und sah sein Handy auf dem Boden liegen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich war wirklich unzuverlässig, was mein Handy anging, aber Yusei hatte es immer bei sich. Ich drückte den roten Hörer und hob sein Telefon auf. Irgendwie ist das alles merkwürdig. Ich beschloss, wieder in den Speiseraum zu gehen, und meinem Vater davon zu erzählen. Unten angekommen, stellte ich überrascht fest, dass Saki wieder da war und betreten zu Boden blickte. Mein Vater ging nervös in einer Ecke des Raumes und auf und ab. Mit irgendjemandem telefonierte er. Herr Kazuki war verschwunden. „Was ist denn hier los?“ fragte ich verwundert. Saki sah mich aus traurigen Augen an. Mein Puls erhöhte sich schlagartig, ich vergaß fast zu Atmen, als sie mir ihre Antwort gab. „Er ist weg. Sowohl ich, als auch die anderen Angestellten haben das ganze Anwesen abgesucht.“ Herr Kazuki kam mit einem Tablet wieder, mein Vater legte auf. „Ich habe auf meinen Überwachungskameras nachgesehen. Er hat mitten in der Nacht das Anwesen verlassen. Ich habe keine Idee, wo er stecken könnte.“ Meine Beine wurden weich. Ich wusste doch, irgendwas stimmt hier nicht! „Jaden, hast du ihn erreicht?“ fragte mein Vater. Ich schluckte schwer. „Nein, sein Handy lag auf dem Boden“ antwortete ich leise. Die drei redeten durcheinander, wo er denn stecken könnte. Warum ist er verschwunden? Und wohin? Ob es ihm gut geht? Sein Vater hat ja auch versucht… Ich schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das würde er nicht machen. Da kam mir eine Idee. Während die Erwachsenen weiter diskutierten, nahm ich Yuseis Handy aus meiner Tasche. Es war zum Glück nicht gesperrt. Ich suchte eine Nummer und drückte auf den grünen Hörer. Ein Freizeichenton. Nach dem dritten Klingeln ging er ran. „Yusei?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung verwirrt. „Nein, hier ist Jaden. Yusei ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er sein könnte“ antwortete ich aufgeregt. Eine kurze Stille folgte. Ich hatte schon Sorge, Kalin hätte einfach aufgelegt. „Wo steckst du?“ fragte er dann. „Kennst du Herrn Kazukis Anwesen?“ „Gib mir zehn Minuten“ sagte er und legte auf. Erstaunt betrachtete ich das Handy. Ich hatte mit überflüssigen Fragen gerechnet, aber er reagierte sofort. Obwohl sie sich vor zwei Tagen so gestritten hatten. „Mit wem hast du denn telefoniert?“ fragte mein Vater und riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich zu ihm. „Mit Kalin, einem Freund von Yusei. Ich geh ihn suchen“ sagte ich entschlossen. Wie es aussah, hatte er keine Gegenargumente. Er seufzte. „Na schön, aber bleib erreichbar. Herr Kazuki will bei der Konzerthalle suchen. Ich bleibe hier, falls er zurückkommt. Wenn du ihn findest, sagst du mir sofort bescheid und ich hole euch ab, verstanden?“ „Klar!“ Ich grinste und umarmte ihn kurz, ehe ich in Richtung der Eingangshalle lief. Einmal mehr dankte ich ihm still dafür, dass er mir so vertraut. Vor dem großen Tor wartete ich auf Kalin und wippte nervös mit meinem Fuß auf und ab. Ein kalter Luftzug ließ mich frösteln und ich schloss meine Jacke. Heute ist es echt verdammt kalt! Dann hörte ich das Geräusch eines sich nähernden Motorrads. Kalin kam neben mir zum stehen und warf mir einen Ersatzhelm zu. „Ich hab Sherry Bescheid gesagt. Wir klappern getrennt ein paar Orte ab, an denen er stecken könnte.“ Ich nickte, setzte den Helm auf und stieg hinter ihm auf sein Motorrad. Der erste Ort, an dem wir Halt machten, war sein altes Haus. Wir stiegen ab und liefen auf die Eingangstür zu. „Was wollen wir denn hier? Das ist doch schon verkauft“ fragte ich verwirrt. „Nein, es steht zum Verkauf. Wie ich seine Familie kenne, haben sie…“ Er hob einen kleinen Stein neben der Tür an und darunter kam ein Schlüssel zum Vorschein. „Ha! Ich wusste es. Sie haben ihn so selten benutzt, dass sie es vergessen haben.“ Erstaunt betrachtete ich den kleinen Schlüssel in seiner Hand. Ohne ihn wäre ich nie auf so eine Idee gekommen. „Du suchst oben, ich unten, einverstanden?“ Ich nickte zustimmend und wir betraten das Haus. Da alle Zimmer leer waren, war es nicht schwer, ihn zu suchen. Leider war er hier nicht. Ich folgte Kalin, der ihn ebenfalls nicht gefunden hatte, in den Garten, wo ein kleiner Schuppen stand. „Was ist eigentlich passiert?“ fragte er mich auf dem Weg. Ich sah geknickt zu Boden. „Naja… seit der Gerichtsverhandlung hat er mit Niemandem mehr gesprochen. Und er hat die ganze Zeit nur ins Leere gestarrt. Das war echt unheimlich. Irgendwann in der Nacht hat er dann das Anwesen verlassen, ohne einem von uns Bescheid zu geben.“ Kalin öffnete den Schuppen, aber auch hier war er nicht, also gingen wir wieder zurück in Richtung Motorrad. „Und er ist einfach abgehauen?“ fragte er. „Normalerweise ist das nicht seine Art. Nach dem Tod seiner Mutter hat er sich zwar zurückgezogen, aber er hat sich nie davongemacht. War die Gerichtsverhandlung so hart?“ Ich sah ihn traurig an und nickte. Wenn er wüsste. Als nächstes fuhren wir zu seinem alten Trainingsplatz. Fehlanzeige. Mein Vater rief mich zwischenzeitlich an, und ich hatte schon die Hoffnung, Yusei wäre wieder am Anwesen, aber er wollte sich nur erkundigen, ob wir schon Erfolg hatten. Herr Kazuki hat ihn in der Konzerthalle auch nicht gefunden. Mein Vater beschloss die Polizei einzuschalten. Danach suchten wir im Kema Sakuranomiya Park. Dort gab es ein paar Stellen, an denen sie sich oft ihre Zeit vertrieben hatten. Als wir ihn dort auch nicht gefunden hatten, liefen wir wieder in die Richtung, in der Kalins Motorrad stand. Ohne ihn hätte ich wirklich keine Ahnung gehabt, wo ich überhaupt suchen sollte. „Danke übrigens, dass du mir hilfst“ sagte ich deshalb. „Hm? Warum sollte ich nicht?“ „Na, ihr hattet doch vorgestern diesen Streit“ „Ach so, das. Ich hab ihm damit ja nicht gleich die Freundschaft gekündigt. Der Grund für den Streit war eigentlich ziemlich dämlich. Zumindest von meiner Seite aus. Er hatte guten Grund dazu, wütend zu sein.“ „Ich weiß.“ Er sah mich verwirrt an. „Was?“ „Er hat gesagt er wüsste nicht, warum du sauer warst. Und, dass er sich auch falsch verhalten hat.“ Kalin sah betreten zu Boden. „Ich war weniger sauer auf ihn, als auf mich.“ Ich musterte ihn verwundert. „Wie meinst du das?“ „Alles, was er mir an den Kopf geworfen hat, stimmte. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, also hab ich mich von ihm distanziert, ohne es zu merken. Das ist mir erst viel zu spät aufgefallen. Ich war nicht für ihn da. Ich schämte mich und wimmelte ihn bei seinen Anrufen oft ab. Außerdem hab ich ihm das mit Sherry eigentlich schon lange sagen wollen, aber dann hatte seine Mutter den Unfall. Da konnte ich ihm schlecht auch noch das sagen. Ich freu mich doch für ihn, dass er Anschluss an der Schule, und neue Freunde gefunden hat. Keine Ahnung, warum ich so ausgetickt bin.“ Er zuckte mit den Schultern. Ich überlegte kurz, ehe ich Antwortete. Kalin sah wirklich am Boden zerstört aus. „Ich glaube, er verzeiht dir das schnell wieder.“ Er lachte bitter. „Ehrlich? Ich verzeih mir ja selbst nicht.“ „Yusei wirkt auf mich nicht wie ein nachtragender Mensch. Entschuldige dich einfach bei ihm, das wird schon“ sagte ich zuversichtlich grinsend. Er lächelte mich an. Wir waren wieder an seinem Motorrad angekommen. Als nächstes klapperten wir ein paar Orte in der Innenstadt ab, an denen die Beiden früher oft Zeit verbracht hatten. Wir konnten ihn einfach nicht finden. Meine Sorge wuchs mit jedem Fehlschlag. Ich hoffe es geht ihm gut. Kalin erkundigte sich über sein Handy bei Sherry, aber auch sie hatte keinen Erfolg. Wo könnte er nur stecken? Wir suchen mittlerweile seit fast drei Stunden nach ihm. Als wir ihn in der Werkstatt, in der er gearbeitet hatte, auch nicht gefunden hatten, war Kalin mit seinem Latein am Ende. „Das war der letzte Ort, der mir einfallen würde. Wenn er bis zum Mino Park gekommen ist, haben wir echt ein Problem. Das ist ein riesiger Wald, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Es kann doch nicht sein, dass er einfach abgehauen ist. Normalerweise würde er den Teufel tun, Irgendjemandem einfach Sorgen zu bereiten!“ Ich seufzte. „Du hast ihn nicht gesehen. Er war ein ganz anderer Mensch. Mein Vater hat gesagt, er hätte wahrscheinlich einen psychischen Schock erlitten als sie während der Verhandlung über-“ Ich riss die Augen auf und blieb stehen. Natürlich! Warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen? „Hattest du ne Eingebung?“ „Wo ist seine Mutter begraben?“ fragte ich schnell. Kalin blinzelte mich verdutzt an. „Keine dumme Idee, aber seit der Beerdigung hat er sich nicht mehr dahin getraut. Ich bezweifle, dass er dort ist. Aber ja, wieso nicht? Versuchen wir‘s.“ Der Weg zum Friedhof war ziemlich lang, da er am Stadtrand war. Es dauerte einige Zeit, ehe wir dort waren. Als wir ankamen, mussten wir den Grabstein seiner Mutter erst suchen. Kalin war auch nur ein Mal zur Beerdigung hier gewesen, und erinnerte sich nicht mehr genau an den Standort. „Ist er das nicht?“ fragte Kalin unsicher. Was?! Ich folgte seinem Blick und sah in einiger Entfernung jemanden vor einem Grabstein sitzen. Keine Ahnung ob er das war, dafür war er zu weit weg, aber meine Beine bewegten mich automatisch auf ihn zu. Ich wurde immer schneller. Ich konnte ihn erkennen, rannte schon fast zu ihm. Er war es. Es ging ihm gut! Er saß auf dem Boden und hatte seine Beine angewinkelt. Die Arme lagen auf seinen Knien und sein Blick war auf den Grabstein gerichtet. Über seine Schultern lag eine Decke. „Yusei!“ rief ich, doch er reagierte nicht. Ich stolperte über einen Stein, konnte mich aber abfangen und rannte weiter. „Yusei!“ wieder keine Reaktion. Ich war endlich bei ihm angekommen, ging vor ihm auf die Knie und umarmte ihn schwungvoll. „Gott sei Dank, dir geht’s gut!“ sagte ich erleichtert. Ich kniff die Augen zusammen. Er war in Sicherheit. All meine Sorge fiel mit einem Schlag von meinen Schultern. Ich spürte nur reine Erleichterung. Er ist wieder da. Er ist wieder bei mir! Ein paar Tränen liefen mir die Wange hinab und wurden von der Decke über seinen Schultern abgefangen. Ihm ist nichts passiert. „Hey, Alter… Wir haben uns echt Sorgen gemacht… Warum bist du plötzlich abgehauen?“ sagte Kalin, der jetzt ziemlich außer Atem neben uns stand. Yusei reagierte nicht. Ich löste mich wieder von ihm und sah ihm in die Augen. Es war derselbe Gesichtsausdruck, wie gestern Abend. Leer. Absolut emotionslos. Ich ergriff seine Hand. Sie war eiskalt. „Hey, Yusei. Was ist denn mit dir los?“ sagte ich. Meine Stimme zitterte. Er sah einfach durch mich hindurch. Es schien, als würde er uns gar nicht bemerken. „Gehört er zu euch?“ fragte eine tiefe Stimme. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Frage kam. Ein älterer Mann mit einer Harke in der Hand kam auf uns zu und musterte uns neugierig. „Ja“ antwortete Kalin. „Wir haben schon eine Weile nach ihm gesucht.“ Der Mann kam vor uns zum Stehen. „Na zum Glück. Ich habe mich schon gefragt, wen ich jetzt am besten informieren könnte. Der Junge sitzt hier sicher schon seit Stunden regungslos da, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Ich kenne Trauernde, schließlich arbeite ich auf einem Friedhof, aber er hat wirklich auf nichts reagiert. Ich dachte ihm wäre vielleicht kalt, deswegen habe ich ihm eine Decke umgelegt, aber er sollte schnell ins Warme.“ Ich nickte. „Danke.“ Er schenkte uns ein warmes Lächeln und ging etwas abseits, um sich dann wieder seiner Arbeit zu widmen. Ich wählte die Nummer meines Vaters und reichte Kalin das Handy. Er sah mich verdutzt an. „Kannst du mit meinem Vater telefonieren? Er holt uns gleich ab, aber ich habe keine Ahnung wo wir sind. Ich versuche in der Zwischenzeit mit Yusei zu reden.“ „Sicher“ sagte er, nahm sich das Handy und drückte den grünen Hörer, während er etwas abseits ging. Ich drückte Yuseis Hand, die noch immer in meiner lag. Wischte mir die Tränen mit der Anderen aus dem Gesicht und sah ihn an. „Yusei, wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Ich wäre doch mit dir mitgegangen, hättest du gesagt, wo du hinwillst.“ Wieder keine Reaktion. Wieso redet er nicht mit mir? Wieso sieht er mich nicht an? Langsam machte mir sein Zustand Angst. Ich schüttelte ihn leicht an den Schultern. „Yusei, bitte sag doch irgendwas!“ Seine Augenlider zuckten kurz. In mir keimte Hoffnung. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn mich anzusehen. „Bitte“ sagte ich flehend. Er blinzelte mehrmals und sah mich dann direkt an. Langsam kehrte wieder Leben in seine Augen zurück. Ich atmete erleichtert aus. Ist der Spuk jetzt vorbei? „Jaden?“ murmelte er leise. Mein Herz klopfte schneller vor Glück. Das war das erste Mal, seit der Gerichtsverhandlung, dass er wieder gesprochen hatte. Ich schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Ja, ich bin hier. Willst du nicht mit mir zurück gehen? Mein Vater macht sich große Sorgen.“ Langsam entfernte ich meine Hände von seinen Wangen und nahm seine Hand. Er nickte zaghaft. „Okay, dein Vater wird bald hier sein“ sagte Kalin, der wieder zu uns kam. „Ich hab auch Sherry Bescheid gesagt, sie war ganz schön erleichtert. Sobald dein alter Herr hier auftaucht, muss ich aber los, sonst rasten meine Lehrer vollends aus.“ Ach du Schreck! Das hatte ich ganz vergessen! Heute ist doch Dienstag, er muss in die Schule! Er lachte über meinen erschrockenen Gesichtsausdruck. „Hey, keine Panik. Ich war nie ein Musterschüler, und die Sache hier war wichtiger. Hauptsache Yusei ist wieder aufgetaucht und es geht ihm gut.“ Wir sahen beide zu Yusei, aber sein Blick war immer noch auf mich gerichtet. „Hm. Okay, Hauptsache er ist wieder da“ verbesserte sich Kalin etwas niedergeschlagen. Irgendwann hatten wir ihn endlich dazu gebracht, aufzustehen. Als wir am Eingang zum Friedhof angekommen waren, sah ich schon den Wagen meines Vaters vorfahren. Er hielt direkt vor uns und stieg aus. „Dem Himmel sei Dank, habt ihr ihn gefunden“ sagte er erleichtert. „Yusei geht es dir gut? Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht, warum bist du denn verschwunden?“ Yusei sah ihn nicht an, sondern stand einfach nur da. Er hatte sich wieder in sich zurückgezogen. Sein Blick war leer. Mein Vater seufzte. „Na schön, kommt. Steigt erstmal ein, dann fahren wir nach Hause. Eure Sachen sind schon im Auto.“ Ich nickte, aber ehe ich mich in Bewegung setzen konnte, sah ich überrascht zur Seite. Yusei lief auf das Auto zu und stieg hinten ein. Ich dachte eigentlich, wir müssten ihm dafür wieder gut zureden, aber er stieg einfach ein. Ich konnte sein Verhalten wirklich nicht ganz zuordnen. Mein Vater bedankte sich noch vielmals bei Kalin für seine Hilfe und nahm dann ebenfalls im Auto Platz. Ich folgte ihm. Kalin hielt mich auf, ehe ich eingestiegen war und fixierte mich mit einem ernsten Blick. „Versprichst du mir was?“ fragte er. Ich sah ihn überrascht an. „Ja, klar. Was ist denn?“ „Sagst du mir Bescheid, wenn es ihm besser geht? Meine Nummer hast du ja jetzt.“ Ich lächelte ihm entgegen. Er kann sich noch so oft das Gegenteil einreden, aber er war ein guter Freund. „Mach ich, versprochen“ sagte ich und drehte mich wieder zur Autotür. „Er vertraut dir“ sagte er plötzlich. Ich war etwas überrumpelt und drehte mich wieder ein wenig zu ihm, aber er schien noch nicht fertig zu sein. „Und ich vertraue darauf, dass du dich gut um ihn kümmerst. Nicht so wie ich.“ Ich nickte ernst und stieg ein. „Keine Sorge, Kalin“ sagte ich noch mit einem aufmunternden Lächeln, ehe ich die Autotür schloss und mein Vater losfuhr. Was für ein aufregender Vormittag. Ich sah zu Yusei, der seinen Blick aus dem Fenster gerichtet hatte. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Mich würde wirklich interessieren, warum er sich so komisch verhält. Klar, das hat ihn gestern alles ziemlich mitgenommen, aber er verhält sich trotzdem merkwürdig. Behutsam legte ich ihm meine Hand auf seine, und wir fuhren schweigend zurück nach Neo Domino. Zurück nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)