Centuries von yamimaru ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Die untergehende Sonne tauchte das Schlachtfeld zu seinen Füßen in unwirkliches Licht, so satt und rot wie das Blut, welches den Boden der Talsohle tränkte. Hier oben auf dem Hügel blieb ihm der Übelkeit erregende Gestank von Gewalt und Tod weitestgehend erspart, obwohl die auffrischende Brise bereits einen Hauch davon erahnen ließ. Seine Augen hingen unverwandt an der Form der alten Eiche, die wie ein Mahnmal inmitten des Kampfplatzes stand und der Zerstörung ringsum trotzte. Ein Mahnmal? Nein, vielmehr ein Grabstein für den einzigen Grund seiner Existenz, der ihm heute erneut durch die Finger geronnen war. Manchmal fragte er sich, wie es selbst nach all den Jahrhunderten noch immer so schmerzen konnte. Ein langer Atemzug glitt über seine zerschlagenen Lippen, sein Mund ein einziger, pochender Schmerz, aber das war nicht von Bedeutung. Nichts war von Bedeutung in einer Welt, die den letzten Herzschlag seiner Liebe gesehen hatte. Seine schweren Lider sanken herab, ein jämmerlicher und sinnloser Versuch, der Realität zu entfliehen.   Denn nun konnte er sie wieder hören; ihre Klingen, die aufeinanderprallten, konnte die Schwere seiner Arme fühlen, je länger ihr Kampf angedauert hatte. Er hatte gewusst, dass er ihn wiedersehen würde, hatte sich so lange nach diesem Tag gesehnt und gleichzeitig eine unergründliche Angst in seinem Herzen getragen. Es war seine Bestimmung, ihn in jedem Leben wiederzufinden, aber selbst dieses Wissen hatte ihn nicht darauf vorbereiten können, ihm in dieser Schlacht entgegentreten zu müssen. Der Anführer der Rebellen und er selbst General der kaiserlichen Armee. Sie waren einander ebenbürtige Gegner gewesen, obwohl er allein schon durch seine Erfahrung im Feld einen Vorteil hätte haben müssen. Aber … wie hätte er noch siegen können, wenn das Wissen, dass er seiner Vorhersehung gegenüberstand, wie eine Flutwelle über ihn hereingebrochen war? Ein Blick in diese seelenvollen Augen hatte genügt, ihm jeden Funke Kampfeswillen zu rauben, als ihn die Erinnerungen früherer Leben zu überwältigen drohten. Er war verloren gewesen, auch wenn ihm das erst später bewusst geworden war. Er glaubte, erneut den Aufprall spüren zu können, als ihnen ihre zu schwer gewordenen Waffen aus den Fingern geglitten und sie am Ende ihrer Kräfte auf den Boden gesunken waren. Für keine Sekunde hatten sie sich aus den Augen gelassen, als würde die Schlacht selbst in der Stille ihrer Gedanken kein Ende finden. Aber er war des Kämpfens so müde gewesen und bevor er sich hätte zurückhalten können, hatte er die Hand ausgestreckt und seinen Kontrahenten von dem Tuch befreit, das die Hälfte seines Gesichts unkenntlich gemacht hatte. Ein Stich war durch sein Herz gegangen, als seine Augen endlich wieder die vertrauten Züge hatten schauen und seine Finger den Menschen berühren dürfen, der auf ewig an ihn gebunden war.   „Ich habe dich gefunden.“   „Wer bist du?“   Kaum hörbare Worte, in vollkommenem Gleichklang gesprochen, die sein gesamtes Sein auf diesen einen Moment reduziert hatten. Ein Lächeln hatte seine Lippen geteilt, die Erleichterung ein beinahe greifbares Gut, das ihn hatte schwindeln lassen. Für einen Herzschlag war er glücklich gewesen, hatte sich vollständig gefühlt, und hatte doch nie eine Chance gehabt. Laute Rufe waren mit einem Mal über den Schlachtenlärm zu hören gewesen, das Donnern schwerer Hufe auf dem lehmigen Boden, und noch bevor er hatte reagieren können, war das Leben aus den geliebten Augen verschwunden. Er hatte nicht begreifen können, was geschehen war, hatte nur auf die weißen Federn starren können, die den Pfeilschaft schmückten, der sich tief in die Brust des Rebellenfürsten gebohrt hatte. Alles, was danach passierte, war ein verschwommenes Chaos aus dem Surren seiner Klinge, den Schreien seiner Kameraden und der alles überschattenden Agonie des Verlusts gewesen, die ihn in den Wahnsinn zu treiben gedroht hatte. Fünf seiner besten Soldaten waren seiner Raserei zum Opfer gefallen, bevor er mit brutaler Gewalt überwältigt worden war. Er hatte geschworen diese Männer zu beschützen und hatte ihnen doch nichts als den Tod gebracht. Seine Brüder in der Schlacht hatten mit ihrem Leben bezahlt, weil sie ihrem General zur Hilfe geeilt waren. Aber wie hätte er sie verschonen können, wenn ihre Tat sein Schicksal auf so grausame Weise besiegelt hatte?   Er öffnete die Augen, betrachtete ein letztes Mal die Eiche, die Zeuge seines ewigen Versagens geworden war, bevor er den Blick auf das Schwert senkte, das zu seinen Füßen auf einem weißen Tuch lag. Er kniete sich davor, fragte sich für einen Moment, wer seiner Leute es gereinigt und geschärft haben mochte. Wer war ihm noch immer so loyal verbunden, dass er über einen Kameradenmord hinwegsehen konnte? Es war lediglich seiner hohen militärischen Stellung zu verdanken, dass er nicht unverzüglich hingerichtet worden war und man ihm die Gnade eines ehrenvollen Selbstmords schenkte. Er konnte die Blicke in seinem Rücken spüren, die sicherstellen sollten, dass er seinem Schicksal nicht entfliehen würde. Er lächelte zynisch, als er das Schwert anhob und der Spiegelung seiner gepeinigten Augen im polierten Metall entgegensah. Als wäre das hier ein Schicksal, dass er nicht würde tragen können. Wüsste er nicht, dass die Vorsehung viel grausamer war, als sich alle hier Versammelten vorstellen konnten, würde er die Endgültigkeit eines schnellen Tods herbeisehnen. Aber als er sein Schwert umklammerte und es ohne weiteres Zögern durch seine Mitte stach, wusste er, dass sein Leid lediglich von Neuem beginnen würde.   „Verzeih mir.“   ~*~ Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Zeros Augen waren weit geöffnet, suchten zwischen den Schatten, die sich über die Zimmerdecke zogen, einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. Die Bettdecke lag irgendwo zu seinen Füßen, kalter Schweiß klebte an seinem Körper und ließ ihn frösteln. Die Paralyse, die ihn nach jedem dieser Träume packte, war altbekannt und brachte trotzdem immer eine kaum zu ertragende Panik mit sich. Nur quälend langsam begannen ihm seine Glieder wieder zu gehorchen, was von unangenehmem Kribbeln begleitet wurde. Er ächzte unterdrückt, ließ die Prozedur ansonsten jedoch stumm über sich ergehen, bis er sich endlich aufsetzen und seine verschwitzten Rasterzöpfe aus dem Gesicht wischen konnte.   „Fuck“, nuschelte er, die Beine nah an die Brust gezogen und mit einer Hand wie automatisch die Zigarettenschachtel umklammert, die neben seinem Futon auf dem Boden lag. Mit fest aufeinandergepressten Zähnen rappelte er sich hoch, die Knochen schmerzend, als wäre er bereits ein alter Mann. Für einen Sekundenbruchteil huschte ein bitteres Lächeln über sein Gesicht, während sich eine berechtigte Frage in seine Hirnwindungen schlich. Woher wollte ausgerechnet er wissen, wie sich ein alter Mensch fühlte? Seine Leben endeten immer zu früh, als dass er diese Erfahrung schon einmal hätte machen können.   Mit schlurfenden Schritten suchte er sich seinen Weg durch das dunkle Zimmer, erneut fröstelnd, als seine bloßen Füße die isolierenden Tatamimatten hinter sich ließen und auf die kalten Fliesen traten, mit denen die Kochnische ausgelegt war. Der kupferne Geruch von Blut hing noch immer in seiner Nase, genau wie der Schlachtenlärm in seinen Ohren nachhallte. Die Erinnerungen waren so frisch und roh, als wären sie eben erst entstanden; kein Schleier des Vergessens, der sich dämpfend über sie legte. In Nächten wie dieser wünschte er sich, nicht länger in diesem winzigen Rattenloch hausen zu müssen oder wenigstens einen Balkon zu besitzen, auf den er sich nun würde flüchten können. Derartiger Luxus war ihm jedoch noch nicht vergönnt, auch wenn er mit Hochdruck daran arbeitete. Also blieb ihm wie so oft nichts anderes übrig, als das klemmende Fenster über dem hüfthohen Kühlschrank aufzustemmen, sich ungelenk auf das Gerät zu ziehen und sich halb in die Fensteröffnung zu setzen, um so ein wenig der kühlen Nachtluft abzubekommen. Ein Gutes, das dieser alte, heruntergekommene Wohnblock für sich hatte, waren die Fenster, die man bis in sein Stockwerk problemlos öffnen konnte. Wer beschlossen hatte, dass ein Sturz aus Stockwerk vier und darunter ungefährlicher war als aus denen darüber, war ihm zwar ein komplettes Rätsel, aber beschweren würde er sich sicherlich nicht. Das Ratschen seines Feuerzeugs war über den Straßenlärm kaum zu hören, der in dieser Gegend nicht einmal in den frühen Morgenstunden nachließ, und auch die Luft war deutlich weniger sauber und angenehm, als er es sich gerne vormachen würde. Aber wenigstens der Rauch seiner Zigarette brannte auf wohltuende Weise in seinem Hals und bereits der erste Zug brachte eine gewisse Ruhe mit sich, die er gerade mehr als nötig hatte.   Er versuchte, nicht weiter über diese Erinnerung nachzudenken, sich mit nichtigen Überlegungen abzulenken, aber wirklich gelingen wollte es ihm nicht. Also richtete er seinen Blick weg von den nächtlichen Lichtern der Stadt ins dunkle Innere seines Zimmers. In der Spüle stapelte sich noch immer schmutziges Geschirr, das er heute Abend endlich hätte spülen sollen, bevor er die nächsten Tage unterwegs sein würde. Und auch der Wasserhahn war schon wieder undicht, tropfte munter vor sich hin und würde seine Wasserrechnung bis Ende des Monats gehörig in die Höhe treiben. Er seufzte lang gezogen und schloss für einen Moment die Augen. Immer diese mondänen Aufgaben, um die er sich schon längst hätte kümmern sollen. Man mochte meinen, dass einen Klempner anzurufen und Geschirr abzuwaschen keine unlösbaren Herausforderungen sein konnten, aber natürlich hatte er nichts dergleichen getan. Wie so oft. Doch sich nun darüber zu ärgern, war ebenso sinnlos wie so vieles in diesem Leben.   „Shit.“ Zero schnalzte unwillig mit der Zunge und presste energisch Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider, bis bunte Punkte vor seinen Augen tanzten. Er musste aufhören, diese selbstzerstörerischen Gedanken zuzulassen. Er hatte ein Ziel, einen Sinn in diesem Leben und nur das zählte. Noch hatte er eine Chance, alles richtig zu machen. Er durfte es nicht vermasseln. Nicht schon wieder, verdammt.   ~*~   Die Mittagssonne versteckte sich hinter tief hängenden Regenwolken, als Zero vollkommen übermüdet im Schneckentempo den Gehsteig entlangschlurfte, obwohl er schon viel zu spät dran war. Die Nacht hatte keinen Schlaf mehr für ihn bereitgehalten und ihm fehlte jeglicher Elan, sich zu beeilen. Ob sie nun fünf Minuten früher oder später aufbrechen würden, würde auch keinen Unterschied machen. Karyu bestand ohnehin immer darauf, sich so zeitig zu treffen, dass sie meist überpünktlich zu ihren Terminen erschienen. Die Reisetasche über seiner Schulter wurde mit jedem Schritt schwerer, sodass er sie am liebsten einfach abgestellt und vergessen hätte. Ach, was sagte er da? Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich nach der Frühschicht im kleinen Gemüseladen unweit seines Wohnblocks gar nicht erst auf den Weg in die Stadt gemacht, sondern sich stattdessen wieder in seinem Zimmer verkrochen. Aber wie so oft ging es auch heute nicht danach, was er wollte, sondern was ihr Management für sie vorgesehen hatte, und das würde diesmal eben eine Tour sein.   Ja, richtig gehört. D’espairs Ray würden nach über einem Jahr erneut auf Tour gehen. Drei Konzerte in einer Woche und das Tourfinale in Tokyo würde sogar aufgezeichnet werden. Und noch einen signifikanten Unterschied gab es zu ihren bisherigen Auftritten – sie würden eigene Roadies und Techniker gestellt bekommen, die ihnen zur Hand gehen würden. Prinzipiell ja eine gute Sache und etwas, worüber er sich wirklich freuen sollte, wäre er nicht so unendlich müde. Seine notorische Schlaflosigkeit schien in den letzten Monaten immer schlimmer zu werden, diese elenden Träume suchten ihn fast jede Nacht heim und er befürchtete, dass ihm irgendwann einfach die Kraft fehlen würde, weiterzumachen. Der Wind frischte auf, als er die nächste Hausecke hinter sich ließ und brachte neben dem würzigen Duft des sich bereits verfärbenden Laubs auch die Stimmen seiner Bandkollegen mit sich. Für eine lange Sekunde blieb er wie angewurzelt stehen, als sein erster Blick nur ihm galt. Sein Herz krampfte, wie immer wenn er ihn sah, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlug.   „Reiß dich zusammen“, knurrte er, verärgert über diese automatische Reaktion seines Körpers, gegen die er sich nie wehren konnte. Energisch drückte er die Tür im hohen Metallzaun auf, der das Gelände von Sweet Child Records umschloss und hinter dem Hizumi, Karyu und Tsukasa rauchend beisammenstanden. Ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können, sackten seine Schultern noch mehr herab, als sein Blick auf den weißen Minivan mit dem Logo des Labels an den Seiten fiel, der unweit des Grüppchens mit offenstehenden Seitentüren nur darauf wartete, beladen zu werden. „Wir können uns den Shinkansen also abschminken“, motzte er, kaum hatte er seine Kollegen erreicht und seufzte unhörbar. Achtlos ließ er seine Tasche fallen, zog sich die Mütze seines Hoodys tiefer ins Gesicht und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch war noch nicht einmal in seinen Lungen angekommen, da verpuffte die Verärgerung, die er eben noch empfunden hatte, und machte einer knochentiefen Erschöpfung Platz. Er hätte zu Hause bleiben sollen, das wäre für alle das Beste gewesen, was ihm die Worte ihres Sängers auch deutlich genug bestätigten.   „Himmel, Zero, hör auf dreinzuschauen, als wärest du kurz vor einem Massenmord. Karyu hat alles versucht, aber das Label hat uns nur die Wahl zwischen Zugtickets oder Einzelzimmern gegeben.“ Hizumis rechte Braue wanderte nach oben und Zero hatte keinerlei Mühe, an seinen Augen ablesen zu können, was er nicht aussprach. Der andere wusste haargenau, dass er seine Privatsphäre brauchte, denn allein bei dem Gedanken, einen dieser Träume im selben Zimmer wie einer seiner Bandkollegen durchleben zu müssen, wurde ihm übel. Unter diesen Umständen hatte er demnach froh zu sein, dass eine ruhige Zugfahrt alles war, worauf er verzichten musste.   ‚Danke, Hizumi, ich hab den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden‘, murrte er innerlich und öffnete den Mund, um das Thema zu wechseln, kam jedoch erst gar nicht dazu.   „Karyu kann auch für sich selbst sprechen“, meldete sich der Leader zu Wort und lenkte damit nicht nur Zeros Aufmerksamkeit auf sich. Karyu zog eine Grimasse, gerichtet an ihren Sänger, was dieser wiederum nur mit einem herzhaften Augenrollen kommentierte. Eine Geste, die Zero dem Kleinsten ihrer Runde am liebsten gleichgetan hätte, würde ihn das nicht auf dieselbe Entwicklungsstufe wie seine Kind gebliebenen Bandkollegen stellen. „Das Problem waren nämlich nicht nur die Einzelzimmer …“, redete der Gitarrist weiter, „sondern auch irgendwas, was das Label noch geplant hat. Sie wollten mir nicht mehr sagen, weil sie abwarten wollen, wie die Konzerte laufen, aber es scheint kostspielig zu sein. Zumindest war das ihre Begründung …“ Er zuckte mit den Schultern und meinte in einem Tonfall, der nun fast schmerzhaft fröhlich zu sein versuchte: „Wie dem auch sei … erst einmal hallo, Zero.“ Das Lächeln, welches ihm Karyu daraufhin schenkte, machte es ihm nicht gerade leicht, seine neutrale Miene beizubehalten.   „Ja, ja, hallo zusammen“, nuschelte er also nur betont desinteressiert und ging gar nicht weiter auf Karyu und seine Erklärungen ein. Zero war bewusst, wie schäbig er sich ihrem Leader gegenüber verhielt und genauso fühlte er sich auch, aber was sein musste, musste eben sein. Daran konnte er nichts ändern. Unhörbar seufzend widmete er sich seiner Kippe, bevor er sich noch zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ. Prima. Fünf Stunden auf engstem Raum mit seinen Kollegen, die alle drei einen viel zu hyperaktiven Eindruck auf ihn machten, das konnte ja was werden.   „He, nun sei nicht schon wieder mies drauf.“ Tsukasa legte den Arm um seine Schultern und zog ihn mit erstaunlicher Kraft an seinen schlaksigen Körper. Der Nächste, der ihn aufzumuntern versuchte – prima.   „Ich bin nicht mies drauf, ich bin nur müde und hatte auf eine Mütze Schlaf im Zug gehofft, das ist alles.“   „Schlechte Nacht gehabt?“, wollte Karyu wissen, woraufhin er lediglich knapp nickte.   „Ach, im Van kannst du doch genauso schlafen. Hizumi nervt sowieso schon die ganze Zeit herum, dass er fahren will, da kannst du dich entspannt zurücklehnen. Und wenn alles gut geht, sind wir gegen fünf bereits in Osaka und können uns in Ruhe auf die Show vorbereiten, weil wir jetzt Leute haben, die für uns arbeiten!“ Die letzten Worte hatten den Mund des Drummers mit einem derart breiten Grinsen verlassen, dass man befürchten musste, Tsukasas Gesicht könnte jeden Moment in zwei Hälften zerbrechen.   „Erhoff dir da mal nicht zu viel“, nuschelte Zero, doch bevor dem tadelnden Blick des anderen auch ebensolche Worte folgen konnten, die ihn nur wieder daran erinnern sollten, dass gerade niemand seinen Pessimismus hören wollte, knurrte es unheilvoll neben ihnen.   „Wer nervt hier herum? Tsukatchi, du spielst mit deinem Leben.“   Im nächsten Moment verschwand Tsukasas Arm von seinen Schultern, als er vor ihrem Sänger die Flucht ergriff, der ihn lauthals gackernd über den Parkplatz jagte.   „Als würde ich schlafen können, wenn ausgerechnet Hizumi hinterm Steuer sitzt“, nuschelte Zero abwesend und hatte ganz verdrängt, dass Karyu noch neben ihm stand. Dementsprechend verspannten sich auch seine Schultern, als er ihn ansprach.   „Ich kann auch fahren, wenn …“   „Na, lass gut sein“, unterbrach er ihn forsch, warf seine nur halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus, bevor er seine Reisetasche anhob.   „Bist du sauer? Ich hab wirklich versucht, denen da oben das Geld für die Tickets aus den Rippen zu leiern, aber …“   „Karyu?“   „Ja?“   „Halt einfach die Klappe.“ Er hob den Kopf und blickte dem anderen heute zum ersten Mal direkt in die Augen, in denen ein derart zerknirschter Schimmer lag, dass das schlechte Gewissen einschlug wie eine Bombe. Statt sich jedoch für seine harschen Worte zu entschuldigen, hob er lediglich den rechten Mundwinkel in der Andeutung eines Lächelns und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sauer, nur wirklich verdammt müde, okay? Und jetzt solltest du lieber mal die Kindsköpfe einsammeln, damit wir loskönnen. Manchmal bezweifle ich wirklich, dass die beiden älter sind als wir.“   „Ehm … okay.“ Karyus leises Lachen, das seinen gestotterten Worten folgte, klang wie immer eigenartig befangen in seiner Gegenwart, aber Zero würde den Teufel tun und mehr in diesen Umstand hineininterpretieren. Er musste aufhören, seine Wünsche und Hoffnungen auf den Gitarristen zu projizieren. Gefühle hatten ihnen noch nie geholfen, ganz im Gegenteil, sie waren es, weshalb er sich Leben um Leben in dieser Misere wiederfand.   Er konnte die Blicke ihres Leaders förmlich spüren, wie sie ein Loch in seinen Hinterkopf zu brennen versuchten, als er zum Van hinüberging. Aber er weigerte sich, sich etwas anmerken zu lassen, verstaute stattdessen seine Tasche im Inneren des Wagens und setzte sich auf die hinterste Sitzreihe ans Fenster, das nicht zum Innenhof zeigte. Das einzig Gute, was er diesem unfreiwilligen Road-Trip abgewinnen konnte, war die   Tatsache, dass sie den Van wenigstens nicht wie früher bis unters Dach mit ihren Instrumenten und Equipment vollpacken mussten und tatsächlich so etwas wie Beinfreiheit herrschte. Das war ebenso wie ihre Roadies und die Techniker ein Vorteil, seit sie bei Sweet Child unter Vertrag standen, wenn auch einer der wenigen.   ~*~   „Ich muss pissen wie ‘n Elch!“, meinte Hizumi mit viel zu lauter Stimme, um auch ja über die Musik im Van zu hören zu sein, bog von der Schnellstraße ab und folgte den Schildern, die ihnen den Weg zu einem kleinen Rastplatz wiesen.   „Und wieder informiert uns Doktor Yoshida über Vorgänge seines Körpers, die die Welt nicht wissen muss.“ Zero kaute augenrollend auf seinem faden Kaugummi herum und verkniff sich das Schmunzeln, welches sich bei Karyus heiterem Gelächter auf seine Lippen schleichen wollte. Immer, wenn seine trockenen Kommentare nicht an den Gitarristen gerichtet waren, wussten diese ihn köstlich zu amüsieren. Er hätte es zwar nie vor sich selbst zugeben können, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass dieser Umstand nicht unerheblich dafür verantwortlich war, dass er sich mit seinem Sarkasmus nur sehr selten zurückhielt. Er liebte Karyus Lachen und wenn der andere glücklich war, musste er sich zurückhalten, sich nicht von dieser Freude mitreißen zu lassen.   „Im Gegensatz zu dir spreche ich wenigstens mit meiner Umwelt.“ Der Sänger drehte sich zu ihm herum und schenkte ihm ein höhnisches Lächeln, kaum war der Minibus zum Stehen gekommen.   „Dann sprichst du ja genug für uns beide.“ Er erwiderte den Blick des anderen scharf, schnappte sich seine Zigaretten und folgte Karyu nach draußen, der fast fluchtartig den Wagen verlassen hatte. Zu verdenken war es ihm nicht. Hizumi murmelte noch irgendetwas vor sich hin, aber er beachtete ihn nicht weiter und stellte sich zu den beiden anderen, die bereits an ihren Kippen hingen. Tsukasa war noch immer so aufgekratzt wie vor über drei Stunden und langsam aber sicher erkannte er auch in ihrem Gitarristen die ersten Anzeichen von Nervosität. Karyus lange Finger spielten mit dem Zipper seines Parkas und gleichzeitig drehte er seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand, wenn er nicht gerade an ihr zog. Mit dem Absatz seines Stiefels tippte er einen unruhigen Takt auf dem Asphalt, hielt inne und trat von einem Fuß auf den anderen, bevor das Spielchen von Neuem begann. Zero musste sich abwenden, um den Größten nicht wahlweise anzumotzen, dass er endlich stillhalten sollte oder ihn in eine Umarmung zu ziehen, um denselben Effekt zu erzielen. Er blickte sich auf dem Parkplatz um und beschloss, das Innere des Rasthofs näher in Augenschein zu nehmen. Ihm war noch immer übel von der Fahrt und vielleicht würde eine Cola seinen Magen beruhigen.   „Hey, wo gehst du hin?“, rief Tsukasa, kaum hatte er sich drei Schritte von den beiden entfernt.   „Ich hol was zu trinken.“ Ohne sich umzudrehen und vor allem, ohne anzubieten, den beiden etwas mitzubringen, ging er weiter. Soziale Interaktionen fielen ihm schon unter normalen Umständen nicht leicht, aber wenn er wie heute übermüdet war, waren sie ein Ding der Unmöglichkeit.   Als sich die automatischen Türen des Rasthofs für ihn öffneten, schlug ihm nach Kaffee duftende, aber vor allem warme Luft entgegen, die ihm erst bewusst machte, wie kalt es heute war. Obwohl sich die Sonne in den letzten Stunden durch die Wolken gekämpft hatte und es erst Ende September war, war das Thermometer schon seit Tagen beharrlich im einstelligen Bereich geblieben. Eigentlich viel zu kalt für diese Jahreszeit und doch irgendwie zu seiner miesen Stimmung passend. Trotz allem schienen seine sozialen Fähigkeiten nicht so eingerostet zu sein, wie er angenommen hatte, denn statt nur eine Cola für sich zu kaufen, fand er sich Minuten später mit einer Zweiliterflasche der Brause und einer weiteren Kleinigkeit vor dem Kassier stehend wieder. Für einen Moment zögerte er, blickte auf die bunte Tüte in seiner Hand herab, bevor er sie nachdrücklich über die Theke schob und bezahlte.   „Wenn du schon entscheidest, euch beide leiden zu lassen, dann sende ihm wenigstens nicht immer gemischte Signale.“ Zero fuhr zusammen, als Hizumis Stimme plötzlich hinter ihm erklang und ihn aus seinen Gedanken riss.   „Ich sende niemandem gemischte Signale“, konterte er, schob seinen Geldbeutel zurück in die Hosentasche, klemmte sich die Cola unter den Arm und machte Anstalten, den Sänger erneut einfach stehenzulassen. Aber noch bevor er wieder ins Freie treten konnte, hatte ihn der andere eingeholt und hinderte ihn daran.   „Ach, nein?“ Hizumis Blick senkte sich vielsagend auf die Tüte mit sauren Gummitierchen, die Zero in der Hand hielt und von der sie beide wussten, dass er sie sicherlich nicht für sich selbst gekauft hatte. „In der einen Sekunde bist du kalt wie ein Fisch zu ihm, beachtest ihn kaum, nur um ihm im nächsten Moment Süßkram zu kaufen.“   „Du weißt, wie Karyu werden kann, wenn er nervös ist.“   „Und da dachte ich immer, Zucker verstärkt das nur.“   „Bei normalen Leuten vielleicht. Willst du behaupten, dass unser Großer normal ist?“ Diesmal ließ Zero das Lächeln zu, das an seinen Mundwinkeln zupfte und schaffte es damit, dass die Miene des anderen wieder etwas versöhnlicher wurde. Die Tüte mit den Gummitierchen verstaute er in der Bauchtasche seines Hoodys und zog sich die Kapuze über.   „Warum quälst du euch so?“ Hizumi seufzte kopfschüttelnd, nahm ihm die Flasche ab, um sich bei ihm unterzuhaken, und dirigierte ihn in Richtung ihres Vans. Tsukasa und Karyu mussten sich wieder ins Innere des Wagens zurückgezogen haben oder waren ebenso dem Ruf der Natur gefolgt wie der Sänger vorhin, denn von den beiden war weit und breit nichts zu sehen.   „Denkst du etwa, ich mach das, weil’s mir so viel Spaß macht?“ Hizumi erwiderte seinen giftigen Blick nur mit einer hochgezogenen Augenbraue und beobachtete ihn dabei, wie er sich eine Zigarette ansteckte. „Ich kann nicht riskieren, ihn wieder zu verlieren. Nicht noch einmal.“ Zero sog den Rauch tief in seine Lungen, hielt den Atem an, bis es brannte und entließ ihn nur langsam wieder. „Heute Nacht hab ich ihn erneut sterben sehen. Ich hatte ihn eben erst wiedergefunden und musste mitansehen, wie ein Pfeil sein Herz durchbohrt.“ Er presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel, die Verzweiflung so nah an der Oberfläche seines Bewusstseins, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte. „Verstehst du nicht? Es gab unzählige Leben, in denen ich nicht den Hauch einer Chance hatte und selbst, wenn die Zeit einmal nicht gegen uns war, habe ich versagt. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen, nur weil ich blind vor Liebe unvorsichtig werde.“   „Ich versteh dich doch, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dein Verhalten ihn früher oder später zerstören wird. Verdammt, Zero, er hat keine Ahnung, warum er sich so bedingungslos zu dir hingezogen fühlt, warum ihn die Sehnsucht nach dir schier auffrisst. Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.“ Zero blieb stumm, denn was hätte er darauf auch sagen sollen? Nichts von dem, was Hizumi ihm gerade an den Kopf geworfen hatte, war neu. Sie waren aneinander gebunden, Karyu und er, mit unsichtbaren Fesseln, die unzerstörbar die Jahrhunderte überdauerten, und es war seine Schuld. Alles war seine Schuld. Er zuckte zusammen, als er eine vorsichtige Berührung an seiner Schulter spürte. Den Kopf zur Seite drehend sah er genau in Hizumis durchdringende Augen, die nicht nur metaphorisch gesprochen bis auf den Grund seiner Seele blicken konnten.   „Es ist egal, was ich fühle, Hizumi, und sein angebliches Interesse an mir ist nichts weiter als eine seiner typisch substanzlosen Schwärmereien.“   „Du machst dir was vor und du weißt es.“   Zero hätte am liebsten laut aufgelacht, als Hizumi genau das aussprach, was ihm auch gerade durch den Kopf gegangen war. Aber er musste sich einfach einreden, dass Karyus Verhalten ihm gegenüber nichts zu bedeuten hatte. Dass ihr Gitarrist noch immer der oberflächliche Mensch war, der kein Interesse an ernsthaften Gefühlen hatte, so wie er ihn kennengelernt hatte. Würde er die positive Veränderung des Jüngsten in den letzten Jahren anerkennen, könnte er es noch weniger ertragen, seine Distanz wahren zu müssen. Er schüttelte den Kopf und meinte mit einem resignierten Seufzen auf den Lippen: „Und wenn schon. Er muss leben, das ist das Einzige, was zählt.“   „Du vergisst dabei nur, dass du dieses Mal nicht allein bist.“ Aus weiter Ferne hörte Zero ein Rauschen wie von zahllosen Flügelschlägen und hinter Hizumis lang gezogenem Schatten, den die tief stehende Nachmittagssonne auf den Asphalt warf, schienen Schwingen aus seinem Rücken zu brechen. Aber als er den Blick wieder auf seinen Freund richtete, hatte sich an seinem Äußeren nichts verändert.   „Angeber.“   „Ich hab keine Ahnung, was du meinst.“ Hizumi lächelte ein durch und durch selbstzufriedenes Lächeln und drückte die Schultern durch. Die geflügelte Schattengestalt zu seinen Füßen tat es ihm gleich, mit dem geringfügigen Unterschied, dass sie die Bewegung weitaus imposanter aussehen ließ.   „Ich hätte einfach verschwinden sollen, als die Erinnerungen zurückkamen.“   „Du weißt besser als ich, dass das keine Entscheidung war, die du treffen konntest. Du hättest Karyu nie alleinlassen können, hast es nie gekonnt.“   „Ich weiß.“ Zeros Schultern sackten herab und für einen Moment schloss er geschlagen die Lider. Ja, zum Teufel, ihm war bewusst, dass er in der Sekunde, als er in Karyus Augen geblickt hatte, sein Schicksal besiegelt hatte. „Aber wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich es wenigstens versucht.“   ~*~   In dieser verhängnisvollen Nacht vor über fünf Jahren war ein wahrer Gewittersturm über die Stadt hereingebrochen. Zero glaubte fast, das Donnergrollen erneut hören und den Regen spüren zu können, der sein knappes Bühnenoutfit binnen Sekunden durchnässt hatte. Bis zu dem Moment, als der große Kerl und seine beiden Anhängsel an ihren Tisch gekommen waren, war der Abend prima verlaufen. Na ja, zumindest so gut wie Abende in der Gesellschaft seiner damaligen Band eben sein konnten. Ihr Minikonzert in der hiesigen Musikkneipe hatten sie reibungslos über die Bühne gebracht und obwohl nicht viele der Anwesenden ihre Demo-Tapes gekauft hatten, war er sich sicher gewesen, dass sie bei dem ein oder anderen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Von daher hatte er sich auch nicht viel dabei gedacht, als ihnen die drei Gestalten zu ihrer Show gratuliert und ihm einen Drink hatten spendieren wollen. Aus dem ersten Bier waren schnell weitere geworden und, bis er sich versehen hatte, hatte sich der Rest seiner Band nach und nach verabschiedet, bis er nur noch mit Hizumi, Tsukasa und Karyu, seinen drei neuen Alkoholbekanntschaften, am Tisch gesessen war. Mit einem Mal hatte sich die Stimmung verändert, als Karyu seine lockere und zeitweise etwas stumpfsinnige Art abgeschüttelt hatte, als wäre sie ein schlecht sitzendes Kostüm, und ernst geworden war. Zero hatte seinen Ohren nicht getraut, als er ihm nahezu feierlich eröffnet hatte, dass sie ihn als Bassisten für ihre Band wollten. Vermutlich wäre er damals aufgestanden und gegangen, hätte er nicht schon so viel getrunken gehabt, denn obwohl er sich in seiner Band schon lange nicht mehr wohlgefühlt hatte, hätte er sich rein schon aus Prinzip niemals von diesen komischen Gestalten abwerben lassen. Doch der Alkohol hatte seine Neugierde geschürt und das, was ihm die drei berichtet hatten, hatte ihn in ihren Bann geschlagen. Je mehr Karyu erzählt hatte, desto faszinierter war er von seiner Vision und, ja, auch von ihm als Person gewesen. Er hatte förmlich an seinen Lippen gehangen, hatte die anderen beiden ebenso wie die laute Musik und das Stimmengewirr um sie herum längst verdrängt, bis er den Fehler gemacht und direkt in diese ausdrucksstarken Augen gesehen hatte. Ihr Blickkontakt war wie ein Blitzschlag gewesen, der ihn beinahe von seinem Stuhl gerissen hatte, hätte sich nicht ein Arm stützend um seine Mitte gelegt. Bilder hatten seinen Geist geflutet, begleitet von rohen, so unendlich schmerzvollen Emotionen, dass er nicht mehr hatte atmen können.   Er wusste auch jetzt Jahre später nicht, wie er auf dem Flachdach des Klubs gelandet war, nur, dass ihn der peitschende Regen wie aus einer Trance geholt hatte. Wie ein Ertrinkender hatte er nach Atem gerungen, war über den Kies gewankt, bis ihn nur noch eine Fußbreite vom Rand des Daches getrennt hatte. Das Fehlen eines Sicherheitszauns war wie ein Omen gewesen, eine Chance, diesem Irrsinn zu entfliehen, der sich wie ein Krebsgeschwür in seinem Geist ausgebreitet hatte.   „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Wir sind hier nur im sechsten Stock, wenn du Pech hast, fühlst du den Aufprall noch, bevor du stirbst.“   „Was?“ Er war so schnell herumgewirbelt, dass er sich auf die Knie hatte fallen lassen müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein zynischer Teil in ihm hatte später, viel später festgestellt, dass selbst in diesem Moment der grenzenlosen Verzweiflung und Verwirrung auf seinen Überlebensinstinkt Verlass gewesen war. Eine Gestalt war auf ihn zugekommen, war jedoch stets in den Schatten verborgen geblieben, sodass er lediglich Umrisse hatte erkennen können.   „Du solltest wieder mit rein kommen, bevor du dir hier noch den Tod holst.“   „Wer?“ Er war noch immer so schrecklich verwirrt gewesen, die Angst wie eine stählerne Faust um sein Herz, dass sein Hirn sich geweigert hatte, vollständige Sätze zu bilden.   „Und da dachte ich, ich hätte mich eben schon vorgestellt. Hizumi, zu deinen Diensten.“ Die Gestalt hatte sich in einer fließenden Bewegung vor ihm verbeugt und obwohl er seine Gesichtszüge noch immer nicht hatte erkennen können, war er sich sicher gewesen, das zynische Lächeln aus der tiefen Stimme heraushören zu können. Doch schon im nächsten Moment war ein Blitz gleißend hell über den Nachthimmel gezuckt und hatte beleuchtet, was die Schatten bis dahin versteckt gehalten hatten. Ein schlanker Körper, schwarzes Haar, das in nassen Strähnen das schmale Gesicht mit den unnatürlich blauen Augen umrahmt hatte, und strahlend weiße Flügel, die hinter Hizumi schier endlos in die Höhe zu ragen schienen. Ein hohes Pfeifen hatte mit einem Mal nicht nur das tosende Unwetter, sondern auch den Lärm in Zeros Kopf übertönt, als er zu begreifen versucht hatte, was er zu sehen glaubte.   „Was bist du?“, formten seine Lippen eine Frage, von der er nicht gewusst hatte, ob er sie tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Aber sein Gegenüber schien ihn verstanden zu haben, war weiter auf ihn zugekommen, bis er direkt vor ihm auf die Knie gegangen war. Die Hände, die sich in einer schützenden Geste an seine Wangen gelegt hatten, waren erstaunlich warm gewesen und schienen das Einzige zu sein, das ihn noch in dieser Welt hatte halten können.   „Ich bin, was immer du brauchst. Ein Schutzengel, ein Wächter, ein … Dämon?“ Das Grinsen, das Hizumi ihm daraufhin geschenkt hatte, war gleichermaßen beruhigend wie erschreckend gewesen. „Vielleicht kann ich aber auch einfach nur ein Freund sein, der dir zur Seite steht.“   „Was geschieht mit mir?“   „Du hast in den Abgrund deines Schicksals geblickt … und er hat zurückgesehen.“   ~*~   „Zero? Zero!“ Wie aus weiter Ferne drang Hizumis Stimme an seine Ohren und holte ihn aus Erinnerungen, die für einmal nicht mit unerträglichen Schmerzen und Trauer verbunden waren.   „Mh?“ Hizumi war erneut ernst geworden und als Zero seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete, erkannte er eine steile Sorgenfalte zwischen seinen Brauen.   „Du musst das hier nicht allein durchstehen, wann begreifst du das endlich?“   „Mh, lass mich überlegen, vielleicht, wenn du mir versicherst, dass du eingreifen wirst, bevor …“   „Du weißt, dass mir das verboten ist.“   „Ja, verdammt, das weiß ich. Also was nutzt es mir schon, dass du hier bist? Wenn es darauf ankommt, bin ich doch wieder auf mich alleingestellt.“ Für einen Sekundenbruchteil glaubte Zero, einen verletzten Zug um Hizumis Mund erkennen zu können, aber im nächsten Moment blickte er ihm wieder mit vollkommen neutraler Miene entgegen.   „Dein Kampf über die Jahrhunderte und deine Beharrlichkeit haben, wenn schon nicht ihr Mitgefühl, dann aber zumindest das Interesse höherer Mächte geweckt, zählt das denn nicht?“   „Ich will weder ihr Mitleid, noch bin ich eine Zirkusattraktion, die sie bestaunen können. Alles, was ich will, ist Karyus Sicherheit. Er soll sein Leben endlich leben dürfen.“ Zero machte sich los, schnippte den Stummel seiner größtenteils verdampften Zigarette auf den Boden und gab ihr mit dem Absatz seines Schuhs den Todesstoß. „Friede, Hizumi, ist alles, was ich jemals von ihnen annehmen würde.“   Gerade wollte er sich in Bewegung setzen, als Tsukasa und Karyu hinter dem Gebäude des Rasthofs auftauchten und in einiger Entfernung an ihnen vorbeigingen. Die beiden bemerkten sie nicht einmal, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Der Gitarrist hatte den Arm um die Schultern des kleineren Mannes gelegt und redete mit der anderen Hand wild gestikulierend auf ihn ein, bis Tsukasa plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach. Auch Karyu lachte, klopfte seinem hustenden und prustenden Freund auf den Rücken, bevor sie sich, einander wie die kleinen Jungs schubsend, wieder auf den Weg in Richtung Van machten.   „Das könntest du an Tsukasas Stelle sein.“ Wieder riss ihn Hizumis Stimme aus seinen Gedanken und erst jetzt bemerkte er, wie intensiv er die beiden gemustert hatte.   „Ja, in einer perfekten Welt vielleicht.“ Er ließ den Sänger stehen und ging ebenfalls auf den Minibus zu, Hizumis gemurmeltes „Sturer Esel“ nach außen hin ignorierend. Innerlich brodelte es jedoch in ihm, schienen sich die Worte des Sängers wieder und wieder im Kreis zu drehen, bis sie drohten, ihn einem Strudel gleich mit sich in die Tiefe zu ziehen.   ‚Das könntest du an Tsukasas Stelle sein.‘ ‚Warum quälst du euch so?‘ ‚Sturer Esel.‘ ‚Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.‘ ‚Du vergisst dabei nur, dass du dieses Mal nicht allein bist.‘   Himmel, wie sehr er Hizumis Worten Glauben schenken wollte. Wie sehr er sich wünschte, diese Last nicht allein tragen zu müssen und endlich diesem unbändigen Verlangen in ihm nachgeben zu können. Seine Augen klebten förmlich an der hochgewachsenen Gestalt ihres Jüngsten, der gerade im Begriff war, einzusteigen. Aber beinahe so, als hätte Karyu seine Blicke bemerkt, hielt er in jeder Bewegung inne und drehte sich herum.   „Hey, Zero, da bist du ja.“   Statt etwas auf diese überschwängliche Begrüßung zu erwidern, zog er die Tüte aus der Bauchtasche seines Hoodys und hielt sie seinem Kollegen unter die Nase.   „Hab dir Nervennahrung mitgebracht, du sahst vorhin so aus, als hättest du die dringend nötig.“   „Uh, sogar die Sauren, die mag ich am liebsten. Danke, lieb von dir.“   Zero versuchte, das strahlende Lächeln und die ehrliche Freude, mit der Karyu diese banale Kleinigkeit entgegennahm, zu ignorieren, was ihm diesmal sogar einigermaßen gelang, da sich Tsukasa entrüstet zu Wort meldete.   „Und was krieg ich?“   „Mach das mit Karyu aus, vielleicht teilt er ja.“ Zero drehte sich herum und richtete seine Aufmerksamkeit auf Hizumi, der gerade zu ihnen aufgeholt hatte. Der Drummer versuchte derweilen, Karyu mit Engelszungen einige der Gummitiere abspenstig zu machen, der sich jedoch unnachgiebig weigerte. ‚Wie die Kinder‘, dachte er nicht zum ersten Mal und streckte auffordernd die Hand aus. „Gib mir mal die Schlüssel, ich fahre.“   „Du?“ Hizumis Stirn legte sich in Falten, während er ihn ungläubig musterte.   „Ja, ich. Mir ist übel und ihr wollt sicherlich nicht, dass ein Unglück geschieht, oder? Also, die Schlüssel, bitte.“   „Wenn du auch nur halb so übermüdet bist, wie du aussiehst, kommen wir eher am nächsten Straßenschild als in Osaka an.“ Trotz seiner Worte hielt er ihm den Wagenschlüssel entgegen, aber noch bevor Zero danach greifen konnte, schob sich ein langer Arm in sein Blickfeld und schnappte ihm den Bund vor der Nase weg.   „Dann fahre eben ich und du setzt dich nach vorn, dann sollte das mit der Übelkeit auch besser werden, okay?“   „Von mir aus“, brummte er, zog Hizumi die Cola aus der Hand und stapfte auf die Beifahrerseite.   „Hört, hört, der Leader hat gesprochen.“   „Halt die Klappe, Tsukatchi.“   „Selber. Krieg ich jetzt was von dem Gummizeug?“   „Na~hain!“   „Bitte!“   „Nö.“   Zero rollte mit den Augen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich ein feines Lächeln auf seine Lippen legte, kaum hatte er sich weggedreht und war zur Beifahrerseite hinübergegangen. Sie waren schon ein seltsamer Haufen und manchmal, so wie jetzt, konnte er für einen Augenblick alles vergessen, was so schwer auf seiner Seele lag und einfach nur diesen Umstand genießen.   „So, alle da?“, fragte Karyu einige Momente später und startete den Motor.   „Alle da“, antwortete Tsukasa pflichtbewusst für den Rest ihrer Truppe und kaute zufrieden auf einem Gummitier herum, das er Karyu doch noch hatte aus den Rippen leiern können. Karyu grinste, fuhr an und lenkte den Van langsam vom Parkplatz.   „Stört es dich?“, erkundigte er sich, nachdem er das Fenster auf seiner Seite einen kleinen Spalt nach unten gekurbelt hatte, um die kühle Herbstluft ins Innere des Fahrzeugs zu lassen.   „Nein, nein, mach nur.“   Zero lehnte sich gegen die Kopfstütze und blickte nach draußen, während die Welt immer schneller an ihnen vorbeizog. Vielleicht hatte Hizumi recht damit, wenn er sagte, dass er mit seinem Verhalten Karyu mehr schadete, als dass er ihm half. Aber verdammt, er hatte solche Angst. Wieder schob sich das Bild des Rebellenfürsten vor seine Augen, zog der Moment, als das Leben seinen Körper verließ, wie eine Nebelschwade an ihm vorbei. Er durfte ihn nicht noch einmal verlieren.   ~*~   Zero schreckte hoch und starrte mit weit geöffneten Augen aus der Windschutzscheibe. Sein Herz raste, obwohl er nicht hätte sagen können, was ihn so erschreckt hatte.   „Na, wieder wach?“   Wach? Er? Wieso? Er schüttelte sacht den Kopf und rieb sich über die verkrusteten Augen, bevor er sich zur Seite drehte, um Karyu neben ihm anzusehen.   „Bin ich echt eingeschlafen?“, fragte er überflüssigerweise, was sein Gegenüber zu einem breiten Lächeln veranlasste.   „Sieht fast so aus. Geht es dir besser?“ Er nickte automatisch und stellte erstaunt fest, dass seine Antwort tatsächlich der Wahrheit entsprach. Was ein wenig Schlaf nicht alles ausmachen konnte. Träge blinzelte er, lehnte sich in seinem Sitz zurück und schaute wieder nach draußen. Von hinter ihm konnte er das Murmeln eines Gesprächs hören, aber Hizumi und Tsukasa redeten zu leise, als das er hätte verstehen können, was sie sagten. Im Radio lief gerade Endless Rain von X und wie immer, wenn er dieses Lied hörte, zog sich eine feine Gänsehaut über seine Unterarme. „Wir sind auch gleich da“, sprach Karyu weiter und fuhr an, als die Ampel, an der sie bis jetzt gewartet hatten, auf Grün umsprang.   „Zeit wirds, ich fühl mich schon richtig zusammengestaucht vom langen Sitzen.“ Gerade, als er sich so drehte, dass er an die Cola herankommen würde, die er in die Mittelkonsole gestellt hatte, erkannte er aus dem Augenwinkel etwas, was ihm jegliches Blut aus den Wangen trieb. „Brems!“, hörte er sich rufen, während grenzenlose Panik seinen Körper erstarren ließ, als der Lkw von rechts auf ihren Van zugeschossen kam.   ~*~ They say we are what we are But we don't have to be I'm bad behavior but I do it in the best way I'll be the watcher Of the eternal flame I'll be the guard dog of all your fever dreams   I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass I try to picture me without you but I can't   'Cause we could be immortals, immortals Just not for long, for long Live with me forever now Pull the blackout curtains down Just not for long, for long   We could be immortals, immortals ~*~ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Die Stimmung in der Halle glich einem Hexenkessel, dem niemand entkommen konnte. Mit spielerisch anmutender Leichtigkeit kontrollierte Hizumi die Fans, die seiner atemraubenden Bühnenpräsenz von Anfang an verfallen waren. Sie funktionierten alle wie perfekt aufeinander abgestimmte Zahnrädchen eines Uhrwerks, es gab keine technischen Schwierigkeiten, die ihnen in der Vergangenheit schon so oft das Leben schwer gemacht hatten, und doch konnte Zero das alles hier nicht genießen. Es war lediglich jahrelanger Übung zu verdanken, dass sein Körper tat, was von ihm erwartet wurde. Seine Finger huschten über die Saiten seines Basses, seine Hüften wiegten sich im Rhythmus von Tsukasas Trommelschlägen und ein beherzter Kopfschwung ließ seine langen Rasterzöpfe durch die Luft fliegen. Sein Geist jedoch war meilenweit weg. Wieder und wieder huschten seine Augen nach links, suchten die hochgewachsene Gestalt Karyus, während alles in ihm danach schrie, zu ihm zu gehen und sicherzustellen, dass er wirklich in Ordnung war. Doch bis auf eine anhaltende Blässe war ihrem Leader der Schrecken kaum noch anzumerken, dem sie Stunden zuvor nur knapp entronnen waren, und dennoch konnte Zero die anhaltende Sorge nicht abschütteln.   Hätte Karyu nicht schon gebremst, weit bevor sein panischer Ausruf im Wageninneren verklungen gewesen war, würden sie nun nicht auf der Bühne stehen. Der Lastwagen hatte riesig ausgesehen, als er nur Zentimeter an ihrem kleinen Van vorbeigerauscht war, sodass sie sogar die verdrängte Luft hatten spüren können, die ihr Fahrzeug kurz hatte ruckeln lassen. Als die Erkenntnis zäh wie Teer in sein Bewusstsein gesickert war, dass sie soeben dem sicheren Tod nur um Haaresbreite entkommen waren, hätte er Karyu am liebsten in seine Arme gezogen und nie wieder losgelassen. Selbst jetzt noch wurden seine Augen feucht, wenn er sich an diesen Moment zurückerinnerte, und er musste sich wegdrehen, bevor die Fans noch etwas bemerken würden.   Als sein Herz nach ihrem Beinahe-Zusammenstoß endlich wieder in einem normalen Rhythmus geschlagen hatte, hatte er die Hand auf die Karyus gelegt, die das Lenkrad so fest umklammert hatte, dass der Körper des Gitarristen unkontrolliert zu beben begonnen hatte. Der Schock war dem anderen nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen und Zero hätte später nicht sagen können, wie lange sie mitten auf der Kreuzung stehen geblieben waren, ohne dass einer von ihnen in der Lage gewesen wäre, diesen Umstand zu ändern oder auch nur ein Wort zu sagen. Irgendwann, als die Autos hinter ihnen mehr und mehr zu hupen begonnen hatten und ein älterer Herr mit besorgter Miene an das Seitenfenster auf der Fahrerseite geklopft hatte, um sich zu erkundigen, ob mit ihnen alles in Ordnung sei, war wieder Leben in sie gekommen. Karyu hatte den Van im Schneckentempo an den Seitenstreifen gefahren, bevor er ausgestiegen war und sich übergeben hatte. Der arme Kerl war minutenlang zu nichts anderem fähig gewesen, als gepresst ein und wieder auszuatmen. Zero war an seiner Seite geblieben, während Hizumi sich um ihren Drummer gekümmert hatte. Tsukasa hatte sich während der Vollbremsung auf die Unterlippe gebissen und obwohl die Verletzung harmlos war, hatte sie stark geblutet und hatte später backstage von einem Sanitäter behandelt werden müssen. Dennoch hatten sie alles in allem unverschämtes Glück gehabt, was Zero auch jetzt noch immer nicht wirklich fassen konnte.   Er verzog das Gesicht, als bei der nächsten Drehung der Gurt seines Basses verrutschte und nun genau auf die Stelle drückte, die durch den Sicherheitsgurt in Mitleidenschaft gezogen worden war. Als er sich vorhin für die Show fertiggemacht hatte, hatte er schon bemerkt, dass sein Schlüsselbein hübsch blau angelaufen war, aber er hatte es nicht für nötig empfunden, deswegen ein Fass aufzumachen. So eine kleine Prellung war schließlich nichts, was eine Mütze Schlaf und Ruhe nicht wieder geraderücken konnten. Eine seiner typischen Fehleinschätzungen, wie er nun schmerzhaft feststellen musste. Gut nur, dass sie ihr Set für den Abend schon beinahe abgearbeitet hatten und im Prinzip nur noch die finale Zugabe fehlte. Doch bevor sie sich für eine kurze Pause zurückziehen würden, heizte Hizumi den Fans noch einmal so richtig ein und selbst Karyu verließ zum ersten Mal an diesem Abend seine angestammte Bühnenseite, um sich genau mittig vor den singenden und jubelnden Massen aufzubauen. Spätestens jetzt hielt es auch ihn nicht mehr an seinem Platz. Mit wenigen ausladenden Schritten kam er an Karyus Seite an und gönnte es sich, unter dem lauter werdenden Kreischen der Fans, sich ein wenig gegen die Schulter des Gitarristen zu lehnen. Er musste aufpassen, dass er dem anderen nicht im Weg war, aber Karyu spielte mit und drehte sich so, dass sie für einige lange Minuten Rücken an Rücken spielen konnten. Seine nackten Schultern pressten sich gegen den durch Karyus Körperwärme aufgeheizten Stoff seines Oberteils und ließen ihn für einen Augenblick erschauern. Himmel, es tat so gut, ihn fühlen zu können – lebendig. Zero schloss die Augen und gab sich voll und ganz ihrer Musik und seinen Emotionen hin, bevor das Lied endete und er wieder auf Abstand gehen musste.   ~*~   Waren Konzerte schon immer so anstrengend gewesen? Vollkommen erschöpft saß er auf dem Bett in seinem Hotelzimmer und hatte den Kopf in beide Hände gestützt, während der Fernseher für leise Hintergrundgeräusche sorgte. Hizumi, Tsukasa und Karyu waren zwar enttäuscht gewesen, als er nach ihrer Show deutlich gemacht hatte, dass er kein Interesse daran hatte, noch irgendeinen Klub oder eine Bar unsicher zu machen, aber er hatte nur noch ins Hotel gewollt, um endlich seine Ruhe zu haben. Und nun war er hier, frisch geduscht und bettfertig und konnte sich nicht überwinden, sich endlich hinzulegen. Ihm spukte so vieles im Kopf herum – ihr Beinahe-Unfall, der Moment, als er sich an Karyus Rücken gelehnt und das Leben in ihm hatte fühlen können, dieser noch immer viel zu lebendige Traum. Letzterer war es auch, der die Furcht in ihm schürte, seiner Übermüdung nachzugeben und sich endlich schlafenzulegen. Was wäre, wenn er wieder träumte? Was, wenn er Karyu erneut sterben sah?   Er schreckte hoch, als es unverhofft an seiner Tür klopfte. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich totzustellen, allerdings sorgten sein angeborenes Pflichtbewusstsein oder schlichtweg simple Neugierde dafür, dass er schon zur Tür gegangen war und sie geöffnet hatte, noch bevor sein Hirn registrieren konnte, dass das eine blöde Idee war. Blöde Idee deswegen, weil niemand anderer als Karyu höchst selbst vor seinem Zimmer stand und ihn nun aus großen Augen anschaute.   ‚Beinahe so, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm aufmache‘, ging es Zero durch den Kopf und ein feines Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Soll ich die Tür wieder zumachen und dich ignorieren, damit ich deinen Erwartungen gerecht werde?“   „Ehm … was?“   „Ach, schon gut.“ Er winkte ab und verbat es sich, den überforderten Ausdruck auf Karyus Gesicht in welcher Form auch immer niedlich zu finden. „Was machst du hier? Ich dachte, du wolltest mit den beiden anderen um die Häuser ziehen?“   „Mh, wollte ich auch. Aber in der Bar gabs nicht wirklich was Anständiges zu essen und normalerweise kann ich mein Essen auch trinken, aber heute …“ Karyu zuckte mit den Schultern. „Seit vorhin ist mir nicht gerade wohl und ich dachte mir, vielleicht sollte ich doch lieber was essen gehen, statt es mit dem ein oder anderen Bier noch schlimmer zu machen.“   „Aha.“ Zero gab sich unbeeindruckt von der ausschweifenden Erklärung seines Leaders, obwohl es in seinem Inneren ganz anders aussah. Sie wussten beide, was Karyu mit vorhin meinte und als er erwähnte, dass es ihm nicht gut ging, war der Drang, sich um ihn kümmern zu wollen, so groß, dass er sich kaum zurückhalten konnte. Er hatte es noch nie ertragen, ihn leiden zu sehen. Stattdessen lehnte er sich an den Türrahmen und erschauderte leicht, als ihm das kühle Holz eine Gänsehaut bescherte. „Und was genau machst du jetzt hier?“, wiederholte er also seine Frage, auch wenn er schon eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte, warum Karyu nun vor seiner Tür stand. Das einzige Ziel seines Lebens war es zwar, auf den Großen achtzugeben, aber das hieß nicht, dass er ihn nicht ab und an ein bisschen ärgern durfte. Ganz besonders, wenn Karyu, so wie jetzt, eine feine Röte über die Wangen huschte und er nervös die langen Finger ineinander zu verknoten begann.   „Na ja, ich bin also zurück um mir was Bequemeres anzuziehen und hab auf dem Weg hierher doch tatsächlich gesehen, dass genau gegenüber vom Hotel ein Coco Ichibanya Curry House ist.“ Stille folgte, während derer Karyus Blicke wie gebannt auf ihm ruhten. Alle in der Band wussten, wie sehr er das Curry eben jener Kette liebte, und allein bei dem Gedanken an einen Teller davon lief ihm das Wasser im Mund zusammen, aber das musste er sich ja nicht zwingend anmerken lassen.   „Ja …. Und weiter?“   „Ehm …“, war vorerst alles, was von Karyu kam, und wer ihren extrovertierten Gitarristen jemals auf der Bühne gesehen hatte, hätte diese Version hier sicherlich nicht mit ihm in Verbindung gebracht. Sein Gegenüber hatte den Kopf gesenkt, blickte unter seinen langen Wimpern hindurch zu ihm auf, obwohl er es war, der Zero um mindestens eine Handbreite überragte.   ‚Das soll ihm echt mal jemand nachmachen‘, dachte er neidlos und das anhaltende Schmunzeln hob seine Mundwinkel noch ein Stück weiter nach oben.   „Ich wollte fragen … ob du mitkommen magst?“   Zero öffnete den Mund im festen Vorhaben zu verneinen, aber eine leise Stimme in seinem Kopf, die verdächtig nach Hizumi klang, ließ ihn innehalten. ‚… dass dein Verhalten ihn früher oder später zerstören wird.‘ ‚… er hat keine Ahnung, warum er sich so bedingungslos zu dir hingezogen fühlt, warum ihn die Sehnsucht nach dir schier auffrisst.‘ ‚Er begreift nicht, kann nicht begreifen, dass er dir ebenso wenig entfliehen kann wie du ihm.‘ Wieder hatte er den Lastwagen vor Augen und eine Welle der Furcht drohte über ihm zusammenzubrechen. Himmel, er hätte Karyu heute verlieren können und doch stand er nun vor ihm, lebendig, unverletzt. Für einen langen Moment schloss er die Augen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Zeit mit Karyu zu verbringen und der panischen Angst, nachlässig zu werden. Er verabscheute diesen Zwiespalt in sich, hasste die Tiefe seiner Emotionen. Warum konnte er nicht damit zufrieden sein, Karyu ein Freund und für ihn da zu sein, ihn zu beschützen? Warum musste er immer um so vieles mehr wollen? Ach, was sollte es schon. Er konnte ohnehin an nichts und niemand anderen denken als an den Mann, der nun vor ihm stand, da konnte er genauso gut Zeit mit ihm verbringen. Eine fast kindliche Sturheit schlich sich in seine Gedanken und wie automatisch ballten sich seine Hände zu Fäusten, als würde er seinen halbgaren Entschluss auch körperlich gegen jeden verteidigen wollen, der ihn infrage stellte – auch gegen sich selbst.   „Zero?“ Eine sachte Berührung an seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken. Blinzelnd erwiderte er Karyus besorgten Blick, schüttelte jedoch den Kopf, als der Größere erneut zum Sprechen ansetzte.   „Ich komm mit.“ Er zuckte die Schultern im Versuch, nonchalant zu wirken, und verzog das Gesicht, als sich sein Schlüsselbein erneut zu Wort meldete. Dummes Ding. Karyu hatte noch irgendwas sagen wollen, vermutlich ein Ausdruck der Verwunderung, dass er nun doch zugesagt hatte, aber bei dem kleinen Schmerzenslaut, den er nicht hatte unterdrücken können, hielt er inne.   „Was hast du gemacht?“, fragte er und noch bevor Zero ihn daran hätte hindern können, hatten sich kühle Finger kaum spürbar auf die blau verfärbte Stelle seines Schlüsselbeins gelegt, welche sein verrutschtes Tanktop gerade preisgegeben hatte.   „Nichts weiter. Das war nur der Sicherheitsgurt“, murmelte er und ging einen Schritt zurück, um den sanften Fingern zu entfliehen. Für einen Sekundenbruchteil wirkte der andere beinahe verletzt von seinem Rückzug, aber diese Regung war so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Stattdessen hatte sich auf das Gesicht des Gitarristen ein tadelnder Ausdruck gelegt und noch bevor er hätte protestieren können, hatte Karyu befohlen, dass er sich nicht vom Fleck rühren solle, er wäre gleich wieder da. Zero verkniff sich ein Seufzen, ging zurück ins Zimmer und zog sich Socken und Hose an. Gerade, als er sich auch seinen Hoody überstreifen wollte, erklang Karyus Stimme so nah hinter ihm, dass sich die feinen Härchen in seinem Nacken prickelnd aufrichteten.   „Hatte ich nicht gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren?“   „Doch, hast du, aber ich hab nicht gesagt, dass ich das auch tun werde.“ Mit hochgezogener Augenbraue drehte er sich herum und schaute Karyu ins Gesicht, den innerlichen Drang unterdrückend, schützend die Arme vor der Brust verschränken zu wollen. Der andere hielt seinem Starren nur kurz stand und hielt ihm, ohne seine Niederlage einzuräumen, eine weiße Tube entgegen.   „Hier. Eigentlich sollte sich das ja ein Arzt ansehen, aber da ich nicht glaube, dass ich dich dazubekomme, jetzt noch mit mir ins Krankenhaus zu fahren, solltest du dich wenigstens hiermit einreiben.“   „Will ich wissen, warum du eine Salbe gegen Prellungen dabeihast?“ Kopfschüttelnd nahm Zero die Tube entgegen, schraubte sie auf und begann damit, etwas der scharf riechenden Salbe auf seiner Haut zu verteilen. Karyu sparte sich einen Kommentar, auch wenn er die ganze Zeit über seine Blicke auf sich ruhen fühlen konnte. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn verunsicherte, so gemustert zu werden, schraubte stattdessen die Tube wieder zu und gab sie zurück.   „Ich bin ja ehrlich erstaunt, dass du mitkommst“, meinte Karyu, nachdem Zero sich fertig angezogen und sein Hotelzimmer abgesperrt hatte. „Du hast vorhin ja nicht wirklich den Eindruck gemacht, als wärest du scharf auf Gesellschaft.“ Der Leader hielt vor seinem eigenen Zimmer noch einmal kurz inne, warf die Salbe in Richtung Bett – nach dem dumpfen Schlag, der zu hören war, hatte er heute jedoch eindeutig zu wenig Zielwasser getrunken –und ging voran in Richtung der Aufzüge.   „Ich komm ja auch nicht deiner Gesellschaft wegen mit, sondern weil mir der Magen in den Kniekehlen hängt und ich so ohnehin nicht schlafen könnte. Von daher war es schon ganz gut, dass du vorbeigekommen bist.“ Karyus Miene, die eben noch enttäuscht gewirkt hatte, hellte sich binnen Sekunden auf und Zero fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er der Einzige war, der im Gesicht ihres Gitarristen lesen konnte wie in einem Buch.   „Hey, das freut mich. Ich hatte schon befürchtet, dir auf die Nerven zu gehen.“   „Karyu?“ Er wartete, bis der andere sich ihm zuwandte, bevor er ihm schmunzelnd gegen den Oberarm boxte. „Du nervst mich immer, das weißt du doch.“ Er betrat den Aufzug, der mit einem hellen Läuten auf sich aufmerksam gemacht hatte, und drückte den Knopf für das Erdgeschoss.   „Du bist immer so gemein zu mir.“ Schmollend verschränkte der Größere die Arme vor der Brust, aber Zero konnte nur zu genau sehen, dass er sich ein Lächeln verkneifen musste. Wenn es nur immer so zwischen ihnen sein könnte. Locker, ungezwungen, keine Last der Vergangenheit, die sich erstickend über sie legte. Natürlich war ihm klar, dass er an ihrem angespannten Verhältnis die Hauptschuld trug. Er war es schließlich, der Karyu immer auf Abstand hielt, der ihn mit Worten und Taten verletzte, nur um ihn bloß nicht zu nah an sich heranzulassen. Er lehnte sich gegen den Spiegel, der die rechte Seite der Aufzugwand vereinnahmte und senkte den Kopf, sodass sein Gegenüber nicht erkennen konnte, wie intensiv er ihn musterte. Dennoch fing Karyu an, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten, ganz so, als würde er seine Blicke fühlen können. „Ich mag Aufzüge nicht“, stellte er schließlich fest, als ihm die Stille zwischen ihnen wohl zu viel geworden war. „Ich weiß immer nie, ob es okay ist, zu reden oder nicht.“   „Es ist wirklich erstaunlich, worüber du dir immer alles Gedanken machst.“ Zero schüttelte ehrlich verblüfft den Kopf und sah seinem Leader nun wieder direkt ins Gesicht. „Ist ja nicht so, als würde man ewig viel Zeit in einem Aufzug verbringen.“   „Schon, aber findest du nicht auch, dass es immer eine ganz seltsame Stimmung ist? Wenn man so nichts tuend beisammensteht und darauf wartet, von A nach B gebracht zu werden.“   „Nein, nicht wirklich.“ Zero zuckte mit den Schultern und gerade, als er den Blick auf die rot leuchtende Anzeige über dem Bedienungspanel richtete, um Karyu mitteilen zu können, dass sie ohnehin gleich im Erdgeschoss ankommen würden, gingen sämtliche Lichter aus und der Fahrstuhl kam mit einem abrupten Rucken zum Stehen. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, aber ein beherzter Griff an den Handlauf verhinderte Schlimmeres. „Na, super“, seufzte er und tastete sich nach vorn, um auf dem Bedienpult den SOS-Knopf zu suchen. Es klickte leise, als er den Knopf mehrere Male hintereinander drückte, aber weiter geschah nichts. „Okay“, murmelte er, „wie es scheint, ist das ein kompletter Stromausfall, da geht ja mal gleich gar nichts mehr.“ Erst als er sich wieder an die gegenüberliegende Wand zurückgezogen und sich gegen den kühlen Spiegel gelehnt hatte, fiel ihm auf, dass von Karyu noch keinerlei Reaktion gekommen war. Stirnrunzelnd drehte er den Kopf in die Richtung, wo der andere noch vor Sekunden gestanden hatte, aber im Inneren des Aufzuges herrschte derart vollkommene Dunkelheit, dass er nicht einmal seine Umrisse erkennen konnte. „Karyu?“, flüsterte er und hätte sich für diese automatische Reaktion am liebsten geohrfeigt. „Alles gut bei dir?“, setzte er daher in normalem Tonfall nach, erhielt aber auch jetzt keine Antwort. Wüsste er es nicht besser, würde er behaupten, dass sich der andere in Luft aufgelöst haben musste und er nun vollkommen allein hier festsaß. Aber was er eben noch für vollkommene Stille gehalten hatte, wurde nun durch zittrige Atemgeräusche unterbrochen, die von Mal zu Mal gepresster klangen. „Was ist mit dir?“ Furcht schlich sich in seine Gedanken, hatte Karyu sich, in welcher Form auch immer, verletzt? War etwas anderes geschehen, das er nicht mitbekommen hatte, weil er zu sehr auf den Stromausfall fixiert gewesen war? Oh Gott, was, wenn Karyu … Energisch schüttelte er den Kopf, als sein Hirn mit immer dramatischeren und unrealistischeren Horrorszenarien aufzuwarten begann. Langsam schob er sich in die Richtung an der Wand entlang, in der er den anderen vermutete, immer darauf bedacht, ihm nicht auf die Füße zu treten. Aber als er an der gegenüberliegenden Seite des geräumigen Aufzugs angekommen war, war da kein Karyu mehr. „Hey, Großer, wo hast du dich verkrochen?“ Er versuchte, seiner Stimme einen leicht neckenden Unterton zu verleihen, um Karyu nicht mit seiner steigenden Panik anzustecken. Denn wenn er sein Atmen richtig deutete, war Panik gerade genau das, was den Gitarristen daran hinderte, endlich mit ihm zu sprechen. Vorsichtig tastete er sich weiter vor, suchte mit ausgestreckten Armen nach ihm, bis er endlich auf etwas Weiches stieß. Stoff, wie ihm seine Fingerspitzen mitteilten, und ein gekrümmter Rücken. Karyu musste sich auf dem Boden zusammengekauert haben und zitterte wie Espenlaub. „Hey“, wisperte er und konnte nicht verhindern, dass seiner Stimme eine gewisse Sanftheit anhaftete, die er sich unter anderen Umständen tunlichst verkniffen hätte. „Erträgst du es, wenn ich mich zu dir setze?“ Wieder kam keine verbale Antwort, aber er glaubte, zu spüren, dass Karyu nickte. Also setzte er sich nah an seine Seite, zog jedoch seine Hand zurück, um so wenigstens einen gewissen Abstand zu wahren, obwohl alles in ihm danach schrie, Karyu zu halten. „Willst du mir sagen, was dir solche Angst macht?“   „Ich mag keine Aufzüge. Generell nicht. Nicht nur, weil ich nie weiß, ob ich reden soll oder lieber nicht. Ich mag sie einfach nicht. Weil sie stecken bleiben können. Weil sie abstürzen können. Und … und …“   „Schsch.“ Seine Finger zuckten, aber noch bevor sie Karyu erreichen konnten, verschränkte er sie ineinander. „Hier stürzt niemand ab, hörst du? Die Aufzüge sind doppelt und dreifach abgesichert, allein schon der vielen Erdbeben wegen. Das ist nur ein Stromausfall, der sicherlich schnell wieder behoben ist.“   „Und warum ist dann nicht schon lange das Notstromaggregat angesprungen? Ich dachte, große Hotels wie dieses hier müssen so was haben.“   Ja, die Frage hatte er sich auch schon gestellt, war aber noch zu keinem Schluss gekommen, den er Karyu in ihrer Lage guten Gewissens unterbreiten konnte.   „Weiß nicht. Aber ich weiß, dass wir hier sicher sind.“   „Und woher willst du das wissen?“   „Na, weil ich bei dir bin und ich keinen Bock darauf habe, jetzt hops zu gehen.“ Seine selbstsicheren Worte hatten den gewünschten Erfolg, als ein holpriges Auflachen die drückende Stille durchbrach.   „Ich will einmal in meinem Leben so von mir überzeugt sein, wie du es bist.“   „Ich bin nur gut darin, anderen etwas vorzumachen.“ Zero biss sich, kaum hatten diese Worte seinen Mund verlassen, auf die Unterlippe. Verdammt, das hatte er so nicht sagen wollen. Sein gesamter Körper spannte sich an, während er sich krampfhaft eine Antwort auf die Fragen überlegte, die sicherlich gleich kommen würden. Aber auch nach mehreren bewusst ruhigen Atemzügen seinerseits blieb es still im Aufzug … bis von außen plötzlich ein lautes, metallisches Scheppern zu hören war. Ein Rucken ging durch ihre Kabine, die wenige Zentimeter nach unten sackte, bevor sie wieder erstarrte.   „Scheiße!“   Karyus Aufschrei hallte von den Wänden wieder, während zeitgleich die Wärme seines Körpers verschwand. „Ich will hier raus!“ Zero war für den Augenblick wie erstarrt, die Angst so präsent in ihm, dass sie ihm schier den Atem raubte. Seine tauben Lippen formten den Namen seiner Liebe, doch die Laute blieben ihm im Hals stecken. Verflucht, er durfte Karyu nicht verlieren, nicht schon wieder und auf diese Weise. Nicht, wenn er noch gar keine Chance bekommen hatte, sein vergangenes Versagen wieder gut zu machen. Als Fäuste begannen, gegen die metallenen Türen des Aufzugs zu hämmern, und die panischen Rufe mehr und mehr einem Kreischen glichen, kam endlich wieder Bewegung in ihn. Er rappelte sich hoch und war bereits nach wenigen Schritten hinter Karyu angekommen. Ohne zu versuchen, Worte zu finden, schlang er seine Arme um den zitternden Leib und presste seine Stirn zwischen die angespannten Schulterblätter. Karyus frenetisches Klopfen stoppte ebenso wie seine Rufe verstummten, nur das Beben blieb. „Ich will hier raus“, wiederholte er irgendwann nach zähen Momenten der Stille mit so leiser, verzweifelter Stimme, dass Zeros Herz in Mitgefühl schmerzte.   „Beruhig dich. Wir sind bestimmt bald wieder draußen“, beteuerte er, obwohl seine Zuversicht in den letzten Minuten einen gehörigen Dämpfer erlitten hatte. Wenn er nur wüsste, was da so gekracht und warum sich ihre Kabine bewegt hatte. Würden die Bremsen doch versagen? Aber was war mit den zusätzlichen Sicherheitsvorrichtungen, die jeder Fahrstuhl haben musste? Waren sie es, die gerade das Schlimmste verhindert hatten und wenn ja, würden sie auch so lange halten, bis Rettung in der Nähe war? Die vielen Fragen ließen seinen Kopf schmerzen und gleichzeitig spürte er, wie die bloße, körperliche Nähe zu Karyu eine lang vermisste Ruhe in ihm aufkommen ließ. „Was hältst du davon, wenn wir uns setzen?“   „J… ja, ich glaub, das ist eine gute Idee.“ Karyus Stimme war nicht minder fragil, als sich der Größere in seinen Armen anfühlte. Ohne über seine Handlungen auch nur im Ansatz nachzudenken, dirigierte er ihn auf den Boden, hockte sich neben ihn und zog ihn nah an sich, die Arme fest um die zitternden Schultern gelegt.   „Alles gut“, murmelte er und ließ seine Finger durch die kurzen Haare im Nacken des Größeren gleiten. Verdammt, er sollte seine Distanz wahren und nicht auf Tuchfühlung gehen, aber wie hätte er den anderen in seiner Panik alleinlassen können? „Versuch, mit mir zu atmen, okay?“ Zero bemühte sich, bewusst gleichmäßig ein- und wieder auszuatmen, und stellte erleichtert fest, dass Karyu ihn fast augenblicklich zu spiegeln begann. „Gut so“, lobte er, „Dir passiert hier nichts, ich versprech‘s dir.“   „Ist … ist das so okay für dich?“, murmelte Karyu kleinlaut, nachdem er etwas umständlich seinen Kopf gegen Zeros Schulter gelehnt und ebenfalls die Arme um ihn geschlungen hatte.   „Ja, alles gut.“   Wieder und wieder jagten Schauer durch den dünnen Körper und unbewusst hatte er damit begonnen, mit den Fingern der linken Hand beruhigend über Karyus Nacken zu kosen. Die Rechte lag auf seiner Schulter, glitt auch hier auf und ab, und während Zero langsam das Gefühl bekam, der Größere würde sich etwas beruhigen, fragte er sich gleichzeitig, ob diese Haltung für Karyu nicht unglaublich unbequem sein musste. Er konnte sich gerade ehrlich nicht vorstellen, dass so zusammengekauert wie der andere war, ihm seine Glieder nicht binnen Sekunden schmerzen mussten. Schließlich war Karyu um einiges größer als er selbst und ein wahrer Sitzriese noch dazu, sodass seine Kuschelaktion von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Auf Zeros Lippen schlich sich ein liebevolles Lächeln, was in der vorherrschenden Dunkelheit jedoch glücklicherweise nicht zu sehen war.   „Ich glaub, so wird das nichts. Wenn du länger so krumm dasitzt, bist du morgen für die Show nicht zu gebrauchen. Willst du dich hinlegen?“   „Ehm …“, machte Karyu und dieser kurze Laut allein genügte, um die ganze Bandbreite an Verlegenheit auszudrücken, zu der der Gitarrist fähig war. „Wenn es dir nichts ausmacht?“   „Ich hätte es dir nicht angeboten, würde es mir was ausmachen. Und jetzt hingelegt und ruhig geatmet, bevor du mir hier doch noch hyperventilierst.“ Seine Worte klangen harscher als er beabsichtigt hatte, hatten aber zumindest den erhofften Erfolg, denn keine halbe Minute später lag der Kopf des anderen in seinem Schoß. „Siehst du, geht doch.“ Mit einem sachten Lächeln auf den Lippen begann er erneut über Karyus Haare zu streicheln und mit vereinzelten Strähnen zu spielen.   „Glaubst du, wir stecken hier noch viel länger fest?“   „Nein“, behauptete er, obwohl er keine Ahnung hatte, wodurch der Stromausfall verursacht worden war oder welche Priorität das Retten von Hotelgästen aus steckengebliebenen Fahrstühlen hatte. „Spätestens wenn sich die erste Verwirrung gelegt hat und klar ist, warum der Strom weg ist, klappern die mit Sicherheit alle Aufzüge ab. Das kann so lange ja nicht dauern.“ Er versuchte, seiner Stimme einen eher ungeduldigen Klang zu verleihen, der seine eigene Besorgnis überdecken sollte.   „Hoffentlich … ich will hier raus“, jammerte Karyu und verspannte sich gleich noch mehr.   „Versuch, an etwas anderes zu denken.“   „Ich kann gerade an gar nichts denken, nur daran, dass …“ Karyu unterbrach sich selbst und der Druck auf Zeros Schoß wurde mit einem Mal stärker, als würde der andere krampfhaft die Augen zusammenkneifen und dadurch seinen Kopf fester nach unten drücken.   „Hey, alles gut, ich sagte doch, es passiert dir nichts.“ ‚Ich pass auf dich auf. Diesmal werde ich nicht versagen und dich beschützen, das verspreche ich dir.‘ In Zeros Gedanken hörten sich seine Schwüre in jedem Leben so einfach an und doch hatte er wieder und wieder versagt. Warum sollte es diesmal anders sein? Was könnte er schon unternehmen, sollten die Sicherheitsvorkehrungen des Aufzuges plötzlich beschließen, versagen zu wollen? Nichts würde er tun können, rein gar nichts. Nun war er es, der die Lider fest aufeinanderpresste, um die Flut an Bildern zurückzudrängen, die ihn zu übermannen drohten. „Soll …“, begann er viel zu laut in der Stille des kleinen Raums und räusperte sich. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Vielleicht lenkt sie dich ein wenig ab.“   „Eine Geschichte? So nach dem Motto: es war einmal …?“ Trotz der anhaltend schlechten Verfassung, in der Karyu sich mental befand, schlich sich eine gewisse Skepsis in seine Stimme. Statt sich jedoch gekränkt zu fühlen, verbuchte Zero diesen Umstand lieber als kleinen Teilerfolg und ließ sich nicht beirren.   „Ja, ganz genau so eine Geschichte meine ich.“   „Lass hören.“   „Es war einmal …“ Zero versuchte, ernst zu bleiben, aber spätestens, als Karyu schnaubte, konnte er sich ein leises Lachen nicht mehr verkneifen. „Denk dran, du bist nicht in der Position, wählerisch zu sein. Gerade bin ich der einzige Geschichtenerzähler hier.“   „Okay, okay, ich bin schon still.“   Kurz verschwand Karyus Gewicht von seinen Beinen, als er sich zur Seite drehte, das Gesicht von ihm fortgedreht, und nach seiner Hand tastete. Kaum hatte er sie gefunden, legte er sich seinen Arm um die Mitte und verschränkte ihre Finger miteinander. Lächelnd ließ sich Zero so drapieren, wie sein Leader ihn haben wollte, bevor er Luft holte, um mit seiner Erzählung zu beginnen.   „Meine Geschichte spielt vor vielen Hundert Jahren, zu einer Zeit, in der Hunger und Armut in nahezu jeder Familie Opfer forderten…“ Obwohl ihm durchaus bewusst war, dass es eine dumme Idee war, Karyu ausgerechnet davon zu erzählen, versuchte er, diese Bedenken ebenso zu ignorieren, wie die anhaltende Furcht, sie könnten doch noch abstürzen. Jede Geschichte war besser, als noch einmal das Entsetzen in Karyus Stimme hören zu müssen – außerdem fiel ihm gerade tatsächlich nichts anderes ein. ‚Ganz so, als würdest du ihm davon erzählen wollen, was?‘ Wieder klang die leicht gehässige Stimme in seinem Kopf verdächtig nach Hizumi, aber statt ihn dazu zu bringen, sein Vorhaben doch noch zu überdenken, schürte sie lediglich seine Sturheit. „Fürsten hatten das Land unter sich aufgeteilt, unterdrückten ihr Volk, beuteten es aus und zwangen die jungen Männer, auf den Schlachtfeldern für sie Krieg zu führen, was die Not der Menschen nur noch vergrößerte.“   „Mh, nicht gerade das Setting, das ich mir erhofft habe“, murmelte Karyu, „das wird aber keine deiner Gruselgeschichten, oder?“   „Alter Hasenfuß“, stellte er fest und tätschelte neckend Karyus Kopf, „es wird kein Märchen mit eitel Sonnenschein, aber auch keine Gruselgeschichte, versprochen.“   „Na gut …“ Der andere seufzte leise, was Zero als Aufforderung ansah, mit seiner Erzählung fortzufahren.   „Also …“     ~*~ Sometimes the only payoff for having any faith Is when it's tested again and again everyday I'm still comparing your past to my future It might be your wound but they're my sutures   I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass I try to picture me without you but I can't   'Cause we could be immortals, immortals Just not for long, for long Live with me forever now Pull the blackout curtains down Just not for long, for long   We could be immortals Immortals ~*~ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- „Also …“ Zwei Herzschläge lang zögerte Zero, schob die Zweifel dann aber endgültig beiseite. Jetzt hatte er schon angefangen, da konnte er es auch durchziehen. Leise räusperte er sich, damit seine Stimme nicht verraten würde, wie trocken sein Hals geworden war, bevor er zu erzählen begann. „Zu dieser Zeit der Entbehrungen lebte ein Dieb, ein Meister seiner Zunft, der nicht nur dem Hunger, sondern auch den Kriegseintreibern seines Fürsten ein ums andere Mal ein Schnippchen schlug. Er war frei und blind in seiner arroganten Annahme, dass er sich immer und überall all das nehmen konnte, was sein Herz begehrte. Essen, Juwelen, kostbare Tuche – es gab nichts, was seinem scharfen Verstand und seinen geschickten Fingern lange verborgen blieb. Bis er eines Tages das Wundervollste sah, das seine Augen je erblickt hatten. Eine Frau so schön wie fallender Schnee, doch ebenso vergänglich. Sie war die Geliebte des Fürsten, unerreichbar für jedermann und zu kostbar, um von seinen gierigen Fingern berührt zu werden. Diese Wahrheit jedoch wurde ihm erst viel zu spät bewusst. So sah er nur die Herausforderung, das Abenteuer und den Ruhm vor sich und dachte nicht an Konsequenzen. Er fasste den Entschluss, ihr den Hof zu machen, und schlich sich im Mantel der Dunkelheit in den Palast, ohne dass er von ihr oder einer der Wachen bemerkt wurde. Als Zeichen seiner Huldigung brachte er ihr einen zarten Kamm aus Jade, aber als er in der folgenden Nacht wiederkam, lag dieser unberührt auf der Kommode, auf der er ihn zurückgelassen hatte. Sein nächstes Geschenk war ein Gewand aus feinster Seide, so rot wie das Herbstlaub, aber auch dieses schien sie nicht einmal angesehen zu haben. Also brachte er ihr Schuhe aus gesponnenem Gold, strahlend wie die Sonne, doch, als er sich in der nächsten Nacht wieder Zutritt in den Palast verschaffte, war sein Geschenk ein weiteres Mal unangetastet geblieben. Als er dieses Mal für immer gehen wollte, gekränkt von ihrer Abweisung, wurde er aufgehalten. Zunächst erkannte er nur den Dolch, dessen Spitze knapp vor seiner Kehle innegehalten hatte, dann brach das Mondlicht durch die Wolken und offenbarte seinen Angreifer. Doch es war keine Wache, die ihn nun für sein dreistes Eindringen richten würde … ‚Wenn ihr denkt, mich mit Euren Geschenken kaufen zu können, muss ich Euch enttäuschen. Diesen Preis hat bereits der Fürst gezahlt, als er mich mit sich fortnahm. Welchen Grund sollte es also für mich geben, Euch nicht hier und jetzt an die Wachen zu verraten?‘, sprach eine liebliche Stimme und kluge Augen musterten ihn scharf.“   „Die Gute hat Pfeffer und weiß, was sie will, das gefällt mir.“   „Warum wundert mich das nicht.“   „Mh? Wie meinst du das?“   „Ach, nichts. Darf ich jetzt weitererzählen?“   „Ja.“   „Der Dieb tat also das Einzige, was in dieser Situation richtig war …“   „Er hat eingesehen, dass er ein Stalker ist und die Beine in die Hand genommen, bevor die Wachen ihn einen Kopf kürzer machen konnten?“   „Nicht ganz.“ Zero schmunzelte. „Er bat sie um Verzeihung und versprach ihr, ihr ein Geschenk zu machen, das kein Reichtum der Welt würde kaufen können, wenn er sie nur noch einmal sehen durfte.“   „Hartnäckig ist er, das muss man ihm lassen.“ Karyu bewegte sich leicht auf seinem Schoß, schien die Beine auszustrecken, nur um sie doch wieder anzuziehen.   „Unbequem?“   „Nein, das ist es nicht.“   „Rückenschmerzen?“   „N… nein, das auch nicht.“   „Karyu, mach deinen Mund auf, ich kann nicht hellsehen.“   „Ist es in Ordnung, wenn ich mich doch wieder an dich lehne? So wie vorhin?“   Für einen langen Moment haderte Zero mit sich, denn während in seinem Inneren alles danach verlangte, Karyu wieder in den Armen halten zu dürfen, fühlte sich sein Geist schon seit Minuten zum Zerreißen gespannt an. Er ertrug die Nähe des anderen kaum und gleichzeitig fühlte er sich wie ein Verdurstender, der endlich Wasser vor sich sah. Karyus Körper verkrampfte sich, vermutlich in Erwartung einer Ablehnung, und diese Regung war es, die seinen Widerstand wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen ließ.   „Na, dann mach. Ich will morgen aber kein Gejammer hören, wenn dir deine Knochen wehtun“, merkte er etwas ruppiger als geplant an, öffnete jedoch ohne weiteres Zögern die Arme, als sich Karyu aufrappelte und wieder gegen seine Brust lehnte.   „Keinen Mucks.“   „Gut.“   „Erzählst du weiter?“   „Sag bloß nicht, mein Märchen interessiert dich plötzlich doch?“   „Tut es … und außerdem lenkt es mich ab.“   „Gut.“ Zero räusperte sich, drückte Karyus Hand, die sich im Stoff seines Oberteils verkrallt hatte kurz, bevor er sie wieder losließ. Er musste um den Kloß herumschlucken, den die anhaltende Furcht seines Freundes in ihm auslöste und sich räuspern, bevor er weitererzählen konnte. „Neugierig darauf, was dieses außergewöhnliche Geschenk wohl sein mochte, sah sie also davon ab, die Wachen zu rufen, und ließ ihn ziehen. Sie glaubte zwar nicht daran, ihn noch einmal zu sehen, hielt sein vollmundiges Versprechen für nichts als eine List, die ihn mit silberner Zunge vor der Strafe des Fürsten hatte bewahren sollen, doch im Geiste hatte sie ihm längst dafür vergeben. Sie war sogar froh, ihn in Freiheit zu wissen, und dennoch blieb die Hoffnung in ihrem Herz bestehen, er möge sie nur noch ein einziges Mal mit seiner Anwesenheit aus der Tristes ihres Lebens reißen. Tag um Tag zog ins Land, der Sommer verstrich und als der Herbst die ersten Blätter rot färbte, stand der Dieb eines Nachts erneut in ihren Gemächern. Seine Reise war gefahrvoll gewesen, hatte ihn durchs ganze Land geführt, aber war von Erfolg gekrönt. Ein Gefäß aus gebrannter Erde mit einer einzigen, blauen Blume gebettet in dunklem Mutterboden überreichte er ihr, doch in ihrem Blick lag keine Freude, während sie sein Geschenk betrachtete. ‚Eine Blume? Was lässt Euch glauben, dass ich nicht jede Blume haben könnte, die mein Herz begehrt?‘, sprach sie, doch der Dieb lächelte nur und streckte ihr die Hände entgegen. ‚Vergebt mir, meine Schöne, denn obgleich die Suche nach dieser besonderen Blume mich vieles gekostet hat, ist sie nicht mein Geschenk an Euch.‘ Ihre Augen waren voll Verwunderung, als sie nach den Händen des Diebs griff und sich ans Fenster ziehen ließ, wo der anbrechende Morgen den Horizont in warme Farben tauchte. ‚Mein wahres Geschenk werden meine Erlebnisse sein, von denen ich Euch erzählen will. Ich will Euch mit in die entferntesten Winkel unseres schönen Landes nehmen, werde Euch von Wundern berichten, die Eurer Vorstellung trotzen. Wollt Ihr Euch mit mir auf diese Reise begeben?‘ Geschickt sprang der Dieb auf den Fenstersims, die rechte Hand seiner Schönen noch immer haltend und abwartend nahe an seine Lippen gezogen. Während seiner langen Reise war ihm bewusst geworden, dass es kein materielles Gut auf dieser Welt geben würde, welches ihr Herz erobern konnte. Für sie, die gefangen hinter Mauern aus Reichtum war, würde es nur eines geben, was er ihr zum Geschenk machen konnte – Freiheit. Und selbst, wenn diese Freiheit nur in ihrem Geist existieren konnte. ‚Ich will Euch begleiten‘, sprach sie schließlich und der Dieb besiegelte sein Versprechen mit einem Kuss auf ihren Handrücken. ‚Dann wartet morgen Nacht auf mich.‘ Mit diesen Worten ließ er sich aus dem Fenster fallen, sprang leichtfüßig über die Dächer des Palasts und verschwand in den langen Schatten des heraufziehenden Morgens. So kam es, dass sie jeden Abend ein Licht in ihr Fenster stellte, sobald der Fürst ihr überdrüssig und es somit sicher war. Nacht um Nacht besuchte sie der Dieb, brachte ihr kostbare Worte, knüpfte unbezahlbare Fantasien und spann Geschichten, deren Abenteuer ihr Herz in Aufregung versetzten und ihren Geist mit sich in die Ferne nahmen.“   Zero spürte, wie er sich mehr und mehr in seiner Erzählung verlor, wie die Erinnerungen an sein erstes Leben immer bunter, lebendiger in seinem Geist wurden. Er sah ihre schönen Augen, die feinen Gesichtszüge vor sich – optische Merkmale, die auch Karyu in sich vereinte. Fast glaubte er, wieder ihr Parfum riechen zu können, die Weichheit ihres Haars fühlen, durch das er so oft seine Finger hatte gleiten lassen. Unbewusst spiegelten eben jene Finger seine Erinnerungen, fuhren durch Karyus Strähnen, bis er den anderen noch ein Stück näher an sich zog. Er senkte den Kopf, lehnte ihn sacht gegen den seines Freundes und fuhr mit rauer gewordener Stimme fort: „Aus Herbst wurde Winter, doch selbst das dickste Eis musste tauen und dem Frühling weichen. Als das erste Grün die Schneedecke durchbrach, reichte er ihr erneut die Hand. ‚Kommt mit mir‘, bat er sie. ‚Geht mit mir fort, weg von diesem Ort, der Euch gefangen hält.‘ Nichts lieber würde sie tun, nichts Sehnlicheres hatte sie sich während der zahllosen Stunden gewünscht, in denen Sie den Worten ihres Diebes lauschen durfte. Längst hatte er ihr Herz gestohlen und dennoch haderte sie nun. Sie wusste, dass der Fürst sie jagen würde, sie würden ihm nie entkommen können. Doch der Dieb hatte keine Furcht, denn noch nie war er gefasst worden. ‚Ich bin ihnen bislang noch allen entkommen‘, sprach er überzeugt von sich und seinem Können. ‚Komm mit mir, ich werde immer auf dich achten, dich beschützen und dich ehren, wie es einer Königin gebührt … meine Königin.‘ Zum allerersten Mal küsste er ihre Lippen und eine ungekannte Wärme in ihrem Herz vertrieb die Zweifel aus ihrem Geist. So floh sie mit ihrem Dieb durch die Nacht, reiste mit ihm bis an die Grenzen des Landes, weit entfernt genug, um in Sicherheit zu sein …“   „Warum glaube ich, dass diese Geschichte kein Happy End haben wird?“ Karyus Frage war so leise gesprochen, dass er sie beinahe überhört hätte. Der Leib des Größeren zitterte nun nicht mehr, doch noch immer hielten sich seine Finger krampfhaft an Zero fest, ganz so, als würde er in der endlos scheinenden Dunkelheit des Aufzugs verschwinden, sobald er den Kontakt verlor.   „Vielleicht, weil meine Geschichten nie ein Happy End haben?“ Auch Zeros Stimme war leise geworden, brüchig beinahe, während Karyu den Kopf gehoben hatte und ihn nun wohl ansehen würde, wäre ihm das möglich. Himmel, sie waren sich so nah, dass er den Atem des anderen an seiner Wange fühlen konnte …   „Warum …“ begann Karyu eine Frage, die Zero gar nicht erst hören wollte. Rasch drehte er sich etwas zur Seite, weg von der Versuchung, die der andere in diesem Augenblick für ihn darstellte. Karyus Finger auf seiner Brust zuckten und er konnte seine stockenden Atemzüge an seinem gestreckten Hals fühlen, spürte jeden Einzelnen wie eine hauchzarte Liebkosung.   „Soll … soll ich weitererzählen?“, fragte er, um Karyu – von was auch immer er sich gerade in den Kopf gesetzt hatte – abzulenken, ohne ihn ruppig wieder auf Abstand halten zu müssen.   „Ehm …“ Der Größere räusperte sich und mit einer Mischung aus Erleichterung und einem unbestimmten Gefühl des Verlusts spürte er, wie Karyu wieder etwas auf Abstand ging. „Natürlich musst du weitererzählen. Jetzt wo du mich neugierig gemacht hast, kannst du ja wohl nicht einfach aufhören, Happy End hin oder her.“   ‚Gut, dass sich manche Dinge nie ändern.‘, dachte Zero und entspannte sich, als er Karyus Kopf wieder gegen seine Schulter gelehnt fühlen konnte. Die Hand des Gitarristen lag nun flach und warm auf seiner Brust und vermutlich entging ihm nicht, wie schnell sein Herz schlug, aber sagen tat er nichts.   „Ihre Flucht war ein Kinderspiel gewesen, niemand hatte sie bemerkt und als der Fürst am nächsten Morgen nach seiner Geliebten schicken ließ, waren sie bereits Kilometer vom Palast entfernt. Sie lebten ein glückliches Leben, waren nie für lang an einem Ort, gab es doch so vieles, was seine Schöne noch nie gesehen hatte. Das Meer, die Berge, dunkle Wälder voller Leben. Obwohl sie nichts besaßen, aßen, was sie auf ihren Wanderungen fanden oder der Dieb durch Arbeit oder seine geschickten Finger aufbringen konnte, schwelgten sie in einem nie gekannten Luxus. Er hatte seinen Anker, seinen Mittelpunkt gefunden und trieb nun nicht mehr wie ein Blatt im Wind umher, und seine geliebte Frau war endlich frei. Viele Monate verstrichen und als in ihrem Leib neues Leben heranwuchs, unterbrachen sie ihre Reisen, um sich in einer kleinen Hütte am Waldesrand niederzulassen. Ihre Vergangenheit hatte sie längst hinter sich gelassen, keinen Gedanken mehr an den Mann verschwendet, dem sie noch immer gehörte. Doch der Fürst hatte sie nie vergessen, ließ wie ein Besessener nach ihr suchen und eines Tages war er erfolgreich. Seine Schergen spürten sie auf, nahmen sie gefangen und brachten sie zurück in den Palast. Der Dieb war machtlos gewesen, war selbst gefangen genommen worden und …“   Zeros Stimme versagte, als die Erinnerungen drohten wie eine Welle über ihn hereinzubrechen. Wie hatte er so dumm sein und glauben können, dass er es durchstehen würde, Karyu von seiner Vergangenheit zu erzählen? Um fair zu sein, hatte er nie vorgehabt, mit seiner Geschichte so weit zu kommen, aber dieser dumme Fahrstuhl machte noch immer keinerlei Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen.   „Was ist mit ihnen passiert?“, fragte Karyu flüsternd und riss ihn damit aus seinen Gedanken.   „Sie …“ Er schluckte und presste für lange Sekunden fest die Lider aufeinander, um sich zu sammeln. „Der Dieb wehrte sich mit Leibeskräften, schrie sich die Lunge wund, als seine Schöne, seine Frau dem Fürsten vor die Füße geworfen wurde. Das Messer in der Hand des Edelmanns glänzte heller, als die vielen Juwelen, die seine Kleidung schmückten – bis er es ihr in den Leib stach. Hilflos musste er mitansehen, wie das ungeborene Leben in ihr vernichtet wurde, aber noch schlimmer waren das Entsetzen und die Furcht, die in ihren Augen standen. Wieder und wieder rief er ihren Namen, versuchte, zu ihr zu gelangen, doch die Wachen des Fürsten hielten ihn mit eiserner Entschlossenheit zurück. ‚Erinnere dich an mich‘, bat sie mit vor Schmerz verzerrter Stimme. „Erinnere dich über die Jahrhunderte hinweg.‘ Unter Tränen versprach er ihr, sie niemals zu vergessen …“ Zero spürte ein allzu vertrautes Brennen hinter seinen noch immer fest geschlossenen Lidern und die Nässe, die sich einen Weg seine Wangen entlang suchte. Er legte den Kopf etwas in den Nacken, fühlte das Kitzeln nun an seinen Schläfen, bis die ungewollten Tränen in seinem Haar versickerten. „Der Dieb versprach, sie in jedem Leben wiederzufinden …“ Er war erstaunt, wie fest seine Stimme klang, wie wenig ihr der Schmerz anzuhören war, der sein Herz zu zerreißen drohte. „Unter dem grausamen Gelächter des Fürsten versprach er ihr, nie wieder zuzulassen, dass sie verletzt wurde, leiden musste, aber sie starb, bevor er zu Ende gesprochen hatte.“   Stille legte sich über sie, so vollkommen und erdrückend, dass er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ein feines Zittern hatte von seinem Körper Besitz ergriffen und obwohl Karyu es spüren musste, so nahe, wie sie sich noch immer waren, schien sein Freund für lange Sekunden nicht einmal zu atmen. Dann jedoch zuckten die langen Finger auf seiner Brust und Karyu verbarg sein Gesicht gegen seine Schulter.   „Grausam“, flüsterte er, „warum erzählst du immer nur Geschichten, die mir entweder Angst machen oder … oder …“ Ein leichter Schlag folgte, der mehr ein Ausdruck der Empörung war als ein tatsächlicher Angriff und diese Reaktion war es, die Zero aus dem Käfig seiner Erinnerungen riss. Er lachte leise, kratzig auf und verstärkte für einen Moment seine Umarmung.   „Du bist wirklich zu sensibel für diese Welt.“   „He, kann doch ich nichts dafür, wenn du so traurige Sachen erzählst.“   „Tja …“ Zero wusste nicht, was er darauf sagen sollte, also schwieg er und rieb sich über die brennenden Augen, um die letzten Spuren seiner Trauer zu verwischen.   „Eigentlich will ich nicht fragen, weil ich es mir beinahe denken kann, aber was … was ist mit dem Dieb geschehen?“   „Der Fürst sperrte ihn ein, ließ ihn hungern und foltern, bis er dem Tod näher war als dem Leben, nur um ihn heilen zu lassen, damit seine Qualen von vorn beginnen konnten. Doch irgendwann, Jahre nachdem seine Geliebte getötet worden war, hatte der Fürst es endlich übertrieben …“   „Er ist also gestorben?“   „Ja.“   „Und … hat er seine Geliebte in späteren Leben wiedergefunden?“   „Es ist ein Märchen, Karyu, was denkst du?“   Bevor der Gitarrist antworten konnte, ging ein erneuter Ruck durch die Kabine, der diesmal jedoch vom Surren und dem flackernden Aufleuchten der Halogenstrahler begleitet wurde. Karyus erschrockener Aufschrei war auf halbem Weg verstummt, stattdessen kam ihm nun ein fast schon gestöhntes „Oh, Gott sei Dank!“ über die Lippen. Während sich der Gitarrist also etwas ungelenk zum Stehen aufrappelte und so nah an die Aufzugtür herantrat, als könnte er sich durch den schmalen Spalt zwängen, blinzelte Zero überfordert die bunten Punkte vor seinen Augen fort. Deutlich langsamer als sein Freund rappelte auch er sich hoch und kam mit wenigen, etwas wackligen Schritten an Karyus Seite an. Der andere war blass, seine Augen gerötet und in den Sekunden, die der Aufzug brauchte, um endlich an seinem Zielort anzukommen, fuhren erneute Schauer durch den dünnen Leib. Zero war versucht, ihn zu berühren, ihn schützend in die Arme zu nehmen, aber das melodische Leuten, welches ankündigte, dass sie das Erdgeschoss erreicht hatten, nahm ihm diese Entscheidung ab. Die Türen öffneten sich und gaben die Sicht auf das hell erleuchtete Foyer preis, aber anders als Zero erwartet hatte, stand nicht schon ein besorgter Hotelmanager parat, der sich tausend Mal für die Unannehmlichkeiten entschuldigte. Mit zwei großen, jedoch unsicher wirkenden Schritten ließ Karyu die Kabine hinter sich und selbst über das laute Stimmengewirr einer Reisegruppe, die gerade im Hotel eingetroffen sein musste, hinweg hörte er das erleichterte Ausatmen, das seinen Lungen in einem einzigen Luftstoß entkam.   „Alles wieder in Ordnung?“ Er war Karyus Beispiel gefolgt und hatte den Fahrstuhl verlassen, nur um irritiert einige Zentimeter hinter ihm stehen zu bleiben und sich umzusehen. Es machte tatsächlich den Anschein, als wäre es niemandem aufgefallen, dass sie eine halbe Ewigkeit im Aufzug gefangen gewesen waren. Verunsichert warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und stutzte. „Was?“, murmelte er fassungslos und klopfte mit dem Fingernagel gegen das Uhrglas. „Ich glaub, meine Uhr ist stehen geblieben.“   „In Ordnung würde ich das nicht nennen“, entgegnete Karyu und rieb sich über die Schläfen, als hätten sich dort Kopfschmerzen eingenistet, die er zu vertreiben suchte  „Wie …?“ Blutunterlaufene Augen blinzelten Zero an, nachdem ihm wohl mit einiger Verspätung aufgefallen war, dass er noch mehr gesagt hatte. „Deine Uhr?“ Fast traumwandlerisch blickte sich sein Freund in der Lobby um, und wären sie allein gewesen, hätte Zero dem Drang, ihn zu berühren und ihm Halt geben zu wollen, vermutlich nachgegeben, so verloren wirkte er gerade. „Also, wenn deine Uhr stehen geblieben ist, dann spinnt die dort drüben genauso.“ Er deutete auf eine große Bahnhofsuhr, die hinter der Rezeption an der Wand hing. „Wir waren angeblich nur zehn Minuten im Aufzug.“ Karyu rieb sich über die Unterarme, als wäre ihm plötzlich kalt geworden und Zero konnte diese Reaktion nur allzu gut nachvollziehen  „Und einen Stromausfall scheint es auch nicht gegeben zu haben.“ Er fuhr sich durch die Haare und begann, in einer unbewusst wirkenden Geste an seinen hellbraunen Strähnen zu ziehen.   „Lass das“, murmelte Zero und streckte die Hand aus, legte sie beruhigend auf Karyus Schulter. Große Augen suchten seinen Blick, schienen in seinem Gesicht krampfhaft nach etwas zu suchen, was ihre verschobene Realität wieder geraderücken würde.   „Ich spinn doch nicht, oder? Wie können nur zehn Minuten vergangen sein und wie kann niemand bemerkt haben, dass dieser beschissene Aufzug eine Fehlfunktion hatte?“   „Ich hab keine Ahnung“, war das Einzige, was Zero daraufhin sagen konnte, als ihm plötzlich wieder Hizumis Worte in den Sinn kamen. ‚Dein Kampf über die Jahrhunderte und deine Beharrlichkeit haben, wenn schon nicht ihr Mitgefühl, dann aber zumindest das Interesse höherer Mächte geweckt, zählt das denn nicht?‘ Ein Schauer rann ihm über den Rücken und sogleich spürte er Karyus besorgten Blick auf sich, der ihn daran hinderte, zusätzlich noch seine Hände zu Fäusten zu ballen. Verdammt, er musste mit Hizumi sprechen. Wenn das wahr war, was er glaubte, dann …   „Geht es dir gut?“   Zero blinzelte aus seinen Überlegungen gerissen und erwiderte wenig überzeugend: „Ja, nur übermüdet und hungrig.“ Er versuchte sich an einem halben Lächeln und als dieses seinen Freund nicht zu beruhigen schien, machte er energisch einen Schritt in Richtung Ausgang. „Komm … ich will was essen. Vielleicht haben wir beide ja nur falsch auf die Uhr gesehen und die Rezeptionistin war einfach zu beschäftigt, um irgendwas zu bemerken.“   „Das wären aber viele Zufälle auf einmal, findest du nicht? Außerdem erklärt das nicht, warum wir stecken geblieben sind.“   „Ich bin kein Techniker, Karyu.“ Zero zuckte mit den Schultern. „Wer weiß schon, was bei so viel Elektronik alles schiefgehen kann.“   „Schon, aber …“ Karyu wirkte verunsichert, als er seinen Blick über die Menschen gleiten ließ, die in Grüppchen zusammenstanden und sich lebhaft unterhielten. Ob sein Freund sich gerade ebenso fehl am Platz fühlte, wie Zero selbst es tat? Als hätte der Aufzug sie in einer Parallelwelt ausgespuckt, in der auf den ersten Blick alles richtig zu sein schien, doch die sich an den Rändern ihres Bewusstseins grotesk verzerrte, sobald sie sich zu stark auf Details konzentrierten. „Wir sollten wenigstens Bescheid sagen, dass der Fahrstuhl überprüft werden muss, nicht das noch jemand stecken bleibt.“   Karyus Stimme klang weit entfernt, als wäre der Größere unter Wasser gefangen, bis die Umgebungsgeräusche wie das Rauschen dutzender Flügelschläge plötzlich wieder in sein Bewusstsein drangen. Zero blinzelte, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht und musste sein Gegenüber wohl genauso konfus angesehen haben, wie er sich gerade fühlte, denn nun waren es Karyus Finger, die sich locker um sein Handgelenk schlossen und ihn in Richtung der Rezeption dirigierten. Sein verträumter Blick fixierte sich auf die Stelle ihres Körperkontakts, der unter den grellen Lichtern des Foyers schmerzhaft real wirkte. Kein Vergleich zu der diffusen Nähe, die in der Finsternis der Aufzugskabine zwischen ihnen geherrscht hatte. Zero schloss die Augen etwas länger als ein Blinzeln und ließ Karyus Stimme wie warmen Frühlingsregen über sich waschen. Obwohl er sicher war, dass bei einer Überprüfung des Aufzuges kein Fehler gefunden werden würde, hielt er den Leader nicht zurück, als er der verwunderten Rezeptionistin erklärte, dass der Lift eine Fehlfunktion hatte und sie kurz vor dem Erdgeschoss stecken geblieben waren. Ebenso wenig interessierten ihn die Erklärungen der jungen Frau, dass es keine Fehlermeldung gab und sie sich den Vorfall nicht erklären konnte. Erst, als ihm ihre Entschuldigungen zu viel wurden, schlug er höflich die angebotene Entschädigung in Form eines Cocktails an der Hotelbar aus und bedeutete Karyu, ihm nach draußen zu folgen.   „Den Cocktail hätten wir ruhig annehmen können“, murrte der Große ein wenig enttäuscht wirkend und stopfte seine Hände in die Hosentaschen.   „Jammer nicht rum, so ein bisschen Saft mit billigem Alkohol wirst du dir gerade so noch selbst leisten können“, brummte Zero vor sich hin, aber als sich ihre Blicke trafen, schenkte er dem Größeren ein verschmitztes Lächeln. „Aber ich kann dir ein Bier spendieren, wenn du magst.“   „Na, dazu sag ich bestimmt nicht nein.“ Im gelblichen Licht der Lampen, die den Eingangsbereich des Hotels beleuchteten, wirkte Karyus Gesicht endlich nicht mehr so ungesund fahl und mit diesem schiefen Grinsen auf den Lippen hätte Zero sich beinahe einreden können, dass wieder alles in Ordnung war. Aber die langen Finger zitterten, als sie das Feuerzeug an die Spitze der Zigarette hielten und der Zug, den Karyu nahm, hatte etwas angestrengt Triviales an sich. „Lass uns gehen, ich bin froh, wenn ich jetzt erst einmal etwas anderes als dieses Hotel sehen kann.“   „Du sprichst mir aus der Seele“, stimmte Zero ohne Umschweife zu, steckte sich ebenfalls eine Zigarette an und ging langsam an Karyus Seite über die Straße. Er konnte den würzigen Duft des Currys bereits riechen, als er den ersten Fuß auf den Gehweg setzte, obwohl die Türen des Ladens fest geschlossen waren. Sein Magen schlug einen Übelkeit erregenden Purzelbaum und das bisschen Hunger, das die letzten angespannten Minuten mit Karyu im Aufzug gefangen überstanden hatte, verpuffte und ließ nichts weiter als ein flaues Gefühl zurück. Die Zigarette schmeckte plötzlich bitter und alt, also schnippte er sie zur Seite, obwohl noch über die Hälfte des Tabaks übrig war. Karyu warf ihm einen fragenden Seitenblick zu, doch er zuckte nur mit den Schultern und widerstand dem automatischen Impuls, seine Arme vor der Brust verschränken zu wollen.   „Wollen wir reingehen?“ Der Gitarrist hatte sich noch zwei lange Züge seiner Kippe gegönnt, tat es ihm jetzt jedoch gleich und vernichtete den Rest unter seiner Schuhspitze.   „Kann ich ehrlich sein?“   „Immer.“   „Wenn ich jetzt nur an Essen denke, wird mir übel.“   „Aber, gerade eben …“ Nun war es an Karyu, nonchalant die Schultern zu zucken, als hätte er soeben verstanden, was Zero nicht aussprach. „Willst du zurückgehen? Du siehst noch immer so müde aus.“   „Nein, ich würde ohnehin nicht schlafen können. Könnten wir nicht einfach …“ Zero biss sich auf die Unterlippe, fühlte sich mit einem Mal schrecklich jung und nervös und konnte nicht begreifen, wo dieses unangebrachte Gefühl so plötzlich herkam. Irritiert schüttelte er den Kopf. „Ich lauf besser noch ein bisschen herum, ich brauch frische Luft.“   „Na, dann komm ich mit, nicht, dass du mir verloren gehst.“   „Es gibt Menschen, die haben so etwas wie Orientierungssinn“, stellte er trocken fest und setzte sich in Bewegung.   „Ehrlich?“ Karyus große Augen schauten ihn gespielt überrascht von der Seite her an und das freche Grinsen, das seine Lippen zierte, ließ ihn wie einen zu groß geratenen Schuljungen wirken. „Ich kann aus Erfahrung sagen, dass du eindeutig nicht zu diesen Menschen gehörst.“   „Ein einziges Mal hab ich mich verlaufen und das darf ich mir jetzt auf ewig anhören.“ Kopfschüttelnd fasste Zero seine langen Rasterzöpfe zusammen und zog sich den Haargummi vom Handgelenk, um sie im Nacken zu fixieren. Ein angenehm kühler Windstoß trocknete den dünnen Schweißfilm dort und bescherte ihm eine nicht unangenehme Gänsehaut. Karyu neben ihm lachte und stieß ihn mit der Schulter an.   „Wer sich im Backstagebereich eines Klubs verläuft, der kaum größer als eine Schuhschachtel war, muss damit rechnen, dass man ihm in Sachen Orientierung nicht mehr wirklich viel zutraut.“   „Uhg“, stöhnte Zero übertrieben auf und fasste sich an die Brust. „Das trifft mich jetzt.“   Karyu sagte nichts darauf, nur sein Grinsen blieb unverändert und sein rechter Arm zuckte, ganz so, als hätte er ihn am liebsten um Zeros Schultern gelegt. Stattdessen fanden seine großen Hände erneut den Weg in seine Hosentaschen und seine Schultern rundeten sich leicht, als wäre ihm plötzlich kalt geworden. Zero verbat sich einen Kommentar, stellte jedoch in der Heimlichkeit seiner Gedanken fest, dass er nichts dagegen gehabt hätte, hätte Karyu ihn an sich gezogen.   Ohne ein Ziel vor Augen gingen sie die Gassen entlang und ließen die hell erleuchteten Bereiche schnell hinter sich. Die Gegend konnte nicht gerade als sonderlich schön bezeichnet werden. Dunkle Hofeinfahrten tauchten wie gähnende Münder vor ihnen auf, schlanke Fabrikschornsteine schraubten sich meterhoch in den Nachthimmel und über allem lag ein Hauch der Vernachlässigung. Dennoch genoss Zero es, einfach nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, seine Gedanken schweifen zu lassen und gleichzeitig nicht allein zu sein. Er hatte das Gefühl, als hätte die Zeit im Fahrstuhl seine innerlichen Barrieren aufgeweicht wie Wasser, das sich langsam aber stetig selbst durch den härtesten Stein fraß. Es kostete ihm ehrliche Anstrengung, sich daran zu erinnern, warum es nicht richtig war, nach der Hand seines Freundes zu greifen, ihre Finger miteinander zu verschränken und sich endlich die Nähe zu nehmen, auf die er nun schon so lange verzichten musste. Er blickte zur Seite, direkt in Karyus Gesicht und ließ das Lächeln, welches er ihm schenkte wie einen warmen Sommerwind über sich wehen.   Eine Straßenecke weiter tat sich eine Allee aus Bäumen auf, die Zero in dem vorherrschenden Zwielicht nicht identifizieren konnte. Nur der würzige Duft des Laubs stieg ihm in die Nase und war so unerwartet angenehm, dass er innehielt. Karyu neben ihm hatte es ihm gleichgetan, lehnte an einer hüfthohen Mauer, auf die er sich nun geschickt zog, sich setzte und seine langen Beine baumeln ließ. Zero trat näher, lehnte sich ebenfalls gegen die Wand aus grauem Beton und stützte die Ellenbogen nach hinten ab. Leise seufzend legte er den Kopf in den Nacken und suchte im dunklen Himmel nach vereinzelten Sternen, die trotz der Lichter der Stadt hier und da zu erkennen waren.   „Danke“, durchbrach Karyus leise Stimme die eingetretene Stille zwischen ihnen und als Zero den Kopf drehte, um ihn anzusehen, wirkte der Große mit einem Mal eigenartig verlegen. „Dafür, was du vorhin für mich getan hast. Du weißt schon, im Aufzug. Das … das war wirklich nett von dir.“   „Dafür musst du dich nun wirklich nicht bedanken“, murmelte Zero und folgte dem dünnen Rauchfaden der Zigarette, die sich der Gitarrist soeben angesteckt hatte. Der Wind hatte nachgelassen und so kräuselte sich der Rauch träge nach oben, zeichnete wirre Linien im Schein der Straßenlaterne, bis er irgendwann im Nichts verschwand. Noch immer fühlte er sich wie in einem Traum, eigenartig der Welt entrückt, und so dauerte es einige Herzschläge, in denen Karyu erneut zu sprechen begonnen hatte, bis er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenken konnte.   „… bin als Kind schon einmal in einem Aufzug stecken geblieben, deswegen … na ja, ich schätze, deswegen hab ich vorhin so überreagiert.“   „Es ist okay, Karyu, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“   „Ich will damit nur sagen …“, fuhr er fort, als hätte er Zeros Worte nicht gehört oder würde unbedingt noch etwas sagen wollen, bevor ihn der Mut verließ. „Na ja, du hast mir wirklich geholfen, obwohl du das nicht hättest tun müssen und … Ich meine, ich hab gemerkt, dass es dir nahe gegangen ist, als du mir diese Geschichte erzählt hast, aber ich … vermutlich bin ich mal wieder nur zu dumm, um alles zu begreifen, aber ich hatte den Eindruck, dass du mir damit mehr sagen wolltest, als nur ein Märchen zu erzählen, das mich ablenken sollte.“   Karyu verstummte ebenso abrupt, wie Zeros Herz zu schlagen aufhörte. Ein, zwei quälende Sekunden verstrichen, bevor dieser dumme Muskel in seiner Brust die Arbeit wieder aufnahm und diesmal so hart gegen seine Rippen hämmerte, als würde er ausbrechen wollen. Er blinzelte und spürte, wie taub seine Lippen, sein gesamter Körper geworden waren. Hatte Karyu gerade wirklich das gesagt, was er gehört hatte oder hatten ihm seine Ohren nur einen Streich gespielt?   „Ich meine …“ Der Gitarrist räusperte sich, fuhr sich durch die Haare und lachte verlegen. „Solche Geschichten haben doch meist eine Moral, oder? Ich komm nur nicht drauf, welche es sein könnte.“   „Ich bin gerade echt erstaunt darüber, dass dir das so nachhängt“, sagte Zero, auch wenn seine Gedanken wie wild durcheinander stoben und er keine Ahnung hatte, wie es ihm gelang, Wörter logisch aneinanderzureihen. Wieder blinzelte er träge wie eine Katze, doch die Panik, mit der er fest gerechnet hatte, blieb aus. Vielmehr breitete sich eine ungekannte Ruhe in ihm aus, als er den Blick hob, um Karyu genau in die Augen sehen zu können. „Ich denke, wenn diese Geschichte wirklich eine Moral hat, dann vermutlich die, dass du dir immer genau überlegen solltest, was du versprichst. Schließlich könnte es sein, dass deine Worte ernst genommen werden.“   „Wäre das denn so schlimm?“, fragte Karyu, ließ sich von der Mauer gleiten und stand innerhalb eines Wimpernschlags so nah vor ihm, dass er selbst im schummrigen Licht der Straßenlampe die goldenen Flecken in seiner Iris erkennen konnte, die das Braun seiner Augen immer viel wärmer als sein eigenes wirken ließen. „Du kannst mich gern für einen hoffnungslosen Romantiker halten, aber die Vorstellung, meine Liebe in jedem Leben wiederzufinden, ist …“ Karyus Schultern hoben und senkten sich und erst jetzt bemerkte Zero, wie schnell der Atem des anderen ging. „Tröstlich. Findest du nicht auch?“   „Und was, wenn du in jedem Leben hilflos dabei zusehen musst, wie sie dir wieder entrissen wird?“ Zero fühlte sich wie ein Beobachter in seinem eigenen Körper, als er die Hand hob und sie kaum spürbar auf Karyus Brust legte. Genau über der Stelle, unter der das Herz des anderen mindestens so schnell schlug wie sein eigenes. Verträumt betrachtete er seine Finger, die kurzen, schwarz lackierten Nägel, die Schwielen an seinen Fingerspitzen, und hob nur langsam den Blick erneut. War Karyu ihm eben auch schon so nah gewesen?   „Dann weiß ich wenigstens, dass es immer eine Chance geben wird, alles zu verändern.“   „Du bist ein hoffnungsloser Optimist.“ Zeros Fersen hoben sich, bis er auf den Zehenspitzen balancierte und so Karyu noch näher war.   „Ich weiß …“   Karyu senkte den Kopf. Er reckte sein Kinn nach oben. Ihr Atem mischte sich, streichelte warm über seine Wangen, seine Lippen. Seine Lider fielen wie von selbst zu …   „Zero? Karyu! Dem Himmel sei Dank, da seid ihr ja!“   Erschrocken fuhren sie auseinander, Karyu die Hand auf sein Herz gepresst, Zero beide Arme schützend vor der Brust verschränkt und schauten in die Richtung, aus der Hizumi und Tsukasa mit schnellen Schritten auf sie zugeeilt kamen. In Hizumis dunklen Augen loderte ein selbstgerechtes Feuer, als sich seine Finger um Zeros Oberarm schlossen und er ihn mit wenigen großen Schritten auf Abstand von ihren Freunden zog. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, ein blaues Aufleuchten zu sehen, ausgehend vom Punkt ihres Körperkontakts und im selben Moment lüftete sich der Schleier, der seinen Geist bislang wie in Watte gepackt gehalten hatte. Seine Gedanken waren mit einem Mal wieder so schmerzhaft klar, dass er gepeinigt die Lippen verzog und sich am liebsten losgemacht hätte. Aber der andere hielt ihn unnachgiebig fest und verspätet bemerkte er, wie angestrengt Hizumis Atem kam und wie stark sein gesamter Körper bebte.   „Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich der Sänger leise und warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Doch seine Vorsicht war unnötig, denn Tsukasas enthusiastische Beschwerde darüber, wie unfair er es fand, dass Hizumi plötzlich den Klub, in dem sie die bisherige Nacht verbracht hatten, verlassen hatte, nur um ihre knochigen Ärsche nun irgendwo im Nirgendwo aufzugabeln, hielt Karyus vollkommene Aufmerksamkeit.   „Was war das gerade?“ Zero befreite seinen Arm aus Hizumis Klammergriff und rieb sich darüber. Sein Gegenüber erwiderte seinen fragenden Blick nur grimmig und presste die Lippen aufeinander. „Seit wann leuchte ich wie eine Reklametafel, wenn du mich berührst? Und was macht ihr überhaupt hier?“ Zero begann, seine Schläfen zu massieren, hinter denen es zu pochen begonnen hatte. Er wollte wütend sein. Wütend darauf, dass Hizumi ausgerechnet jetzt aufgetaucht war, aber nun, wo er wieder klar denken konnte, fühlte er nichts als eine knochentiefe Müdigkeit. „Was zum Teufel geht hier vor sich, Hizumi?“   „Wir sollten das nicht hier besprechen.“   „Oh, doch, wir sollten das genau hier und genau jetzt besprechen.“ Zero verzog den Mund zu einer verärgerten Grimasse, als ihm bewusst wurde, weshalb er sich die ganze Zeit über so seltsam gefühlt hatte, weshalb er Karyu beinahe … Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Wenn du und deinesgleichen schon in meinem Kopf herumspielt, hab ich ja wohl ein Recht darauf zu erfahren, was die Scheiße soll.“ Seine Stimme war leise, obwohl er den anderen am liebsten angeschrien hätte.   „Meinesgleichen“, echote Hizumi, einen verletzten Zug um den Mund. „Ich hab nichts weiter getan, als zu verhindern, dass Karyu und du ein unschöner roter Fleck am Boden des Aufzugschachts werdet.“ Hizumi fauchte wie ein wütender Drache und es hätte ihn nicht gewundert, würden seine Schwingen aus seinem Rücken brechen. Doch die Gestalt vor ihm blieb unverändert und langsam sickerte auch das Gesagte durch den roten Nebel der Wut, der von seinem Geist Besitz ergriffen hatte.   „Was?“ Er schüttelte den Kopf und schaute sich um, aber ihre Freunde waren noch immer in einer hitzigen Debatte gefangen. „Ich versteh nicht, was ist aus ‚ich darf mich nicht einmischen‘ geworden?“   „Wenn die Gegenseite unfair spielt, muss auch ich mich nicht an die Regeln halten.“ Nur langsam entspannte Hizumi seine Haltung, wurden die durchdringenden Augen sanfter, mitfühlend. „Es tut mir leid. Über die Distanz hinweg konnte ich nicht verhindern, dass sie in deinen Geist eindringen und du warst zu empfänglich für ihre Suggestionen, als dass du dich wie sonst dagegen hättest wehren können.“   „Wer sind sie?“, presste Zero zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und versuchte vergebens, seinen Zorn im Zaum zu halten.   „Schachmeister“, murmelte Hizumi, doch er blickte ihn nur weiterhin fragend an. „Zwei Parteien, Gegner, schwarz und weiß und Karyu und du seid nichts weiter als Figuren auf ihrem Spielbrett.“   „Wenn das das Interesse höherer Mächte ist, das ich angeblich geweckt habe, dann kann ich gut und gerne darauf verzichten. Sag deinem Verein, dass ich keinen Bock darauf habe, ihm beizutreten.“   „Zero, ich …“   „Nein“, zischte er und ging einen Schritt zurück, als Hizumi nach ihm greifen wollte. „Ich bin müde, lass mich einfach in Ruhe, okay?“   Ohne einen Blick zurück und ohne Tsukasa und Karyu Aufmerksamkeit zu schenken, stapfte er davon. Kaum hatte er die geschützten Häuserschluchten hinter sich gelassen, wehte ihm ein beißender Wind um die Ohren, der mit Nachdruck deutlich machte, dass der Spätsommer schon alt und die Nächte deutlich zu kalt dafür waren, ohne Jacke draußen zu sein. Aber selbst, als sein ausgelaugter Körper ungehalten zu zittern begann, störte ihn das nicht. Das Einzige, woran er denken konnte, war das Gefühl des Verrats, der Manipulation und … Karyus Atem, der über sein Gesicht wisperte wie die zarte Berührung eines Geliebten. Energisch schüttelte er den Kopf, rieb sich über die Augen, die verdächtig zu brennen begonnen hatten, und stieg im Hotel angekommen die vielen Stufen nach oben bis in das Stockwerk, in dem sich sein Zimmer befand.   Und als es einige Zeit später zaghaft an seiner Tür klopfte und Karyus verunsicherte Stimme leise seinen Namen rief, zog er sich lediglich die Decke über den Kopf und tat so, als hätte er nichts gehört.     ~*~ Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me, for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~       -_-_-_-_-_ Ich bin betrunken und hab keine Ahnung, ob das, was ich hier geschrieben habe, überhaupt Sinn macht. Aber hey, es ist noch Oktober und ich hab wie geplant das nächste Kapitel für euch. Falls es euch gefällt, wäre Feedback echt ein Träumchen. Joa, das war‘s. ;) Bye und … Happy Halloween! Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Karyu war ihm so nah, dass er jeden seiner hektischen Atemstöße als zarten Windhauch auf seiner Wange fühlen konnte. Der gelbliche Schein einer Straßenlaterne ließ die hellen Sprenkel, die sich durch seine Iris zogen, golden schimmern und verlieh dem Braun seiner Augen einen warmen Unterton. Zero hätte sich in diesem Blick verlieren können, der so viel Sanftheit und Zuneigung ausstrahlte. Seine Hand lag auf Karyus Brust, die Finger weit gefächert, und er konnte den schnellen Herzschlag spüren, der dem seinen nicht unähnlich war. Sein Körper zitterte, seine Nerven flatterten, und die Spannung zwischen ihnen war kaum noch zu ertragen. Als sich ihre Lippen trafen, fühlte er sich, als würde der Boden unter seinen Füßen nachgeben, als würde er fliegen und fallen zugleich. Tränen stiegen ihm in die Augen, rannen in einem warmen Rinnsal über seine Wangen und nahmen all die Sehnsucht, all den Schmerz und die Verzweiflung mit sich. Als er eine kleine Ewigkeit später die Lider hob, war es nicht mehr Karyu, dem er ins Gesicht sah, und gleichzeitig war er es doch. Die sanften Züge einer jungen Frau lächelten ihn an, das dunkle Blond war zu einem natürlichen Schwarz zurückgekehrt und umrahmte in einer komplizierten Knotenfrisur ein herzförmiges Gesicht. Ein Häubchen saß auf ihrem Kopf, passend zum Weiß ihrer veraltet anmutenden Schwesterntracht. Die Augen waren noch immer dieselben, der Schwung der vollen Lippen so vertraut, dass er sie noch einmal geküsst hätte, hätten sie sich in diesem Moment nicht geteilt. „Du wirst mich nicht verlieren, Liebste. Wir stehen das gemeinsam durch. Egal, was mit unseren Ehemännern ist, wir finden einen Weg, zusammen zu sein.“ Er spürte, wie ein erleichtertes Lächeln seine Mundwinkel hob, obwohl es nicht sein heutiges Selbst war, dem sie ihre Zuversicht schenkte. Ihre Worte waren nur ein Echo, eine Erinnerung an ein Leben, das in weiter Ferne lag. Dennoch atmete er tief ein, roch die Süße reifer Früchte und nahm seine Umgebung mit allen Sinnen war. Er hörte das Schrillen der Zikaden, fühlte die warme Sommersonne und die Schwüle, die seine weiße Schwesternuniform unangenehm an seiner Haut kleben ließ. Und obgleich ihm bewusst war, was im nächsten Augenblick geschehen würde, kam das durchdringende Heulen der Sirenen wie ein Schock. Die Hand seiner Liebe schloss sich um die seine, als sie zu rennen begannen. Die Klinik war nur noch einen knappen Kilometer entfernt, sie konnten das rettende Gebäude bereits in der Ferne sehen, doch sie waren zu langsam. Der ohrenbetäubend laute Knall einer Explosion ließ die Luft um sie herum erbeben. Er wurde in eine feste Umarmung gezogen, die Ausdruck purer Verzweiflung war. Genau wie der Kuss, den sie teilten, als ein gleißend helles Licht, Hitze und Schmerz sie von den Beinen riss, sie einhüllte, bevor alles im endlosen Nichts versank.   Zero erwachte, ein trauriges Lächeln auf den Lippen und die Spuren seiner Tränen auf seinen Wangen trocknend. „Akemi“, flüsterte er in die Stille des Raums den einzigen Namen, der das Vergessen nach dem Tod überdauert hatte. Dieser Umstand hatte ihn bislang nie irritiert, doch jetzt fragte er sich, ob er sich erinnern konnte, weil es ihr beider letztes Leben vor diesem hier gewesen war. Akemi, ein so schöner Name, dass er sich das ein oder andere Mal dabei ertappt hatte, wie er Karyu beinahe so genannt hätte. Er richtete sich auf und rieb sich übers Gesicht, bevor sein Blick auf das Fenster seines spartanisch eingerichteten Hotelzimmers fiel, hinter dem die Welt gerade aufzuwachen begann. Die Sonne schob sich träge über den Horizont und versprach mit ihrer schwachen Helligkeit, dass er noch genügend Zeit zum Dösen hätte. Allerdings kannte er sich nur zu gut und wusste, dass er nach einem Traum wie diesem ohnehin nicht mehr zur Ruhe kommen würde. Es verwunderte ihn eher noch, dass er überhaupt hatte schlafen können, nach all dem, was gestern vorgefallen war. Vermutlich war sein Körper nach mehreren ruhelosen Nächten so ausgelaugt, dass er sich eine dringend benötigte Auszeit genommen hatte, ohne mit seinem Gehirn Rücksprache zu halten. Wenn es nach ihm ginge, könnten die beiden das gern öfter so handhaben. Behäbig schob er die Beine über die Bettkante und erhob sich. Eine warme Dusche würde ihm guttun und gegen ein Frühstück ohne die Gegenwart seiner Bandkollegen sprach definitiv nichts. Im Gegenteil, er war froh, wenn er Karyu noch nicht sehen musste. Bei dem Gedanken an den Gitarristen stieg erneut das schlechte Gewissen in ihm hoch. Es war ungerecht von ihm gewesen, den anderen gestern einfach so stehenzulassen, aber er hatte nicht aus seiner Haut gekonnt. Und solange ihm Hizumi nicht erklärte, was genau im Aufzug und danach mit ihnen geschehen war, würde er sein Bestes tun, seinem zu groß geratenen Kollegen weiterhin aus dem Weg zu gehen. Karyu hatte die unpraktische Angewohnheit, dass er sich in seiner Gegenwart viel zu schnell viel zu wohl fühlte, und die gestrigen Ereignisse hatten deutlich gezeigt, was passierte, wenn er nur für einen Augenblick unaufmerksam war.   ~*~   Bis auf zwei Geschäftsmänner und ein älteres Ehepaar war der Frühstücksraum ihres Hotels leer, als sich Zero nach einer ausgiebigen Dusche an einen der Tische setzte. Sein Hunger hielt sich in Grenzen und die überschaubare Auswahl der Speisen hatte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen können. So hielt er sich vielmehr an seiner Tasse Kaffee fest und stocherte lustlos in der Schale gefüllt mit Reis, etwas Gemüse und gegrilltem Lachs herum. Von seinem Sitzplatz aus hatte er die Lobby im Blick, aber auch dort gab es nichts Interessantes zu sehen. Die meisten Gäste schienen noch zu schlafen – verdenken konnte er es ihnen nicht.   Er lehnte sich etwas zur Seite, um an sein Portemonnaie heranzukommen, das in seiner hinteren, rechten Hosentasche steckte. Unschlüssig drehte er es in den Händen, legte es beiseite, nur um es keine Sekunde später wieder an sich zu nehmen. Seufzend trank er einen großen Schluck seines Kaffees und schloss für einen langen Moment die Augen. Wollte er das nun wirklich tun? Er hörte, wie sich die Aufzugtüren öffneten und sich ihm nur allzu vertraute Schritte näherten. Ein Lächeln, das sich nicht entscheiden konnte, ob es besiegt oder triumphierend sein wollte, legte sich auf seine Lippen. Die Frage hatte sich soeben von selbst beantwortet, wem wollte er also noch etwas vormachen? Sein Verlangen war ohnehin stärker als seine Vernunft – wie so oft. Langsam klappte er das Leder auf, zog ein gräulich braunes Quadrat aus einem versteckten Reißverschlussfach und entfaltete es vorsichtig. Die Kanten waren bereits derart dünn, dass sich an einigen Stellen Risse im Papier zeigten, und auf den ersten Blick war lediglich das etwas unscharfe, körnige Foto einer jungen Frau zu erkennen. Die Bildunterschrift war verblasst, aber Zero musste sie nicht lesen können, um zu wissen, was dort geschrieben stand. «Oberschwester Shiroda Akemi bei der feierlichen Einweihung der neuen intensivmedizinischen Abteilung» Er lächelte und strich mit dem Zeigefinger vorsichtig über das Gesicht der Frau, als würde ihr Bildnis zu Staub zerfallen, würde er zu viel Druck ausüben.   „Wer ist sie?“ Zero sagte nichts, war nicht einmal zusammengezuckt, als sich Hizumi ihm gegenüber hingesetzt und ihn angesprochen hatte. Seine Augen lagen unverwandt auf dem Foto, während mehr und mehr Details seines Traums aus der tiefe seiner Erinnerungen aufstiegen. Wenn er sich anstrengte, konnte er beinahe wieder das Kamelienöl riechen, nachdem Akemis Haare immer geduftet hatten. Ein winziger Luxus inmitten des Krieges, den sie sich nie hatte nehmen lassen. Er hob den Blick, sah Hizumi für einen langen Moment in die Augen, bevor er wortlos den Zeitungsausschnitt herumdrehte und ihm zuschob. „Ist das …?“, wisperte sein Gegenüber und er hätte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen müssen, um den Unglauben zu hören, der in seiner Stimme mitschwang.   „Karyus früheres Ich, ja. Die Ähnlichkeit ist unglaublich, nicht wahr?“   „Ja.“   Unter anderen Umständen hätte er Hizumis Einsilbigkeit und die Verblüffung, die ihm noch immer ins Gesicht geschrieben stand, unterhaltsam gefunden. Gerade zauberten sie ihm jedoch nur ein müdes Lächeln auf die Lippen, bevor er sich wieder seinem Kaffee widmete.   „Akemi war meine Vorgesetzte. Wir waren OP Schwestern, kannst du dir das vorstellen?“ Nun schlich sich ein ehrliches Lächeln auf Zeros Züge.   „Ihr wart beide …?“ Hizumis Augen weiteten sich und seine Mundwinkel zuckten, als könnten sie das anzügliche Grinsen kaum noch zurückhalten.   „Was? Krankenschwestern? Frauen?“ Zeros Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er mahnend den Zeigefinger hob. „Ich weiß, was in deinem nicht jugendfreien Hirn gerade vor sich geht, und ich rate dir, solche Gedanken zu unterlassen.“   „Leichter gesagt als getan“, nuschelte der Sänger, verzichtete jedoch auf weitere, unpassende Einwürfe. „Erzählst du mir mehr?“   „Was willst du wissen?“   „Alles.“   Zero versteckte ein Schmunzeln hinter dem Rand seiner Tasse. Im Regelfall war ihm Hizumis notorische Neugierde unangenehm und brachte ihn schneller aus der Fassung, als ihm lieb war, aber gerade spielte sie ihm prima in die Hände. Wer wäre er also, dem Sänger diesen kleinen Wunsch nicht zu erfüllen?   „Unsere Männer waren im Krieg, wie so viele zu dieser Zeit, und Akemi und ich versorgten neben den regulären Patienten hauptsächlich Opfer der unzähligen Fliegerbomben oder Verwundete, die direkt von der Front zu uns geschickt wurden. Zugegeben, für uns war es weniger schlimm, als für die vielen Lazarettschwestern, aber dennoch. Wenn du so viel menschengemachtes Leid siehst, macht das etwas mit dir.“ Zero schüttelte den Kopf, bevor er sich noch gänzlich in seinen Erinnerungen verlor. „Aber so herausfordernd die Zeit in der Klinik auch war, ich erinnere mich daran, dass ich mich nie zuvor lebendiger gefühlt habe.“   „Wie seid ihr gestorben?“   Bei jedem anderen hätte ihn die Direktheit dieser Frage überrascht, ja, womöglich auch verärgert, aber er kannte Hizumi und seine Eigenarten mittlerweile gut genug, dass er nichts anderes von ihm erwartet hatte.   „Wir arbeiteten in der Daiichi-Klinik in – Nagasaki.“ Es dauerte einige Sekunden, bis Hizumi begriff, was er ihm gerade erzählt hatte, und das fassungslose Entsetzen in seinem Blick, als er die Fakten zusammenzählte, schmerzte tief in Zeros Brust. „Ja, die Atombombe“, er lächelte schwach, „Es war der 09 August 1945, ein Donnerstag. Ich hatte tags zuvor die Nachricht erhalten, dass mein Mann schwer verwundet worden war und in Kürze in ein Krankenhaus in der Nähe von Tokyo verlegt werden würde, um dort weiterbehandelt zu werden. Ich weiß noch, wie aufgewühlt ich war. Einerseits war ich froh gewesen, nach all den Monaten der Ungewissheit endlich ein Lebenszeichen von ihm erhalten zu haben, aber andererseits war da Akemi, die ich um nichts in der Welt verlieren wollte. Denn wie hätten wir noch zusammen sein können, wenn mein Mann erst wieder hier sein würde? Es hatte so lange gedauert, bis wir zu unserer Liebe stehen konnten, weil wir uns unseren Männern verpflichtet fühlten, Gefühle für sie hatten. Ihr Einsatz an der Front war wie unser Befreiungsschlag gewesen, so schrecklich sich das anhören mag. Doch diese Nachricht hatte alles ins Wanken gebracht, was Akemi und ich uns aufgebaut hatten. Wir waren auf dem Weg in die Klinik gewesen, als ich ihr von dem Telegramm erzählt hatte. Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als Akemi mir Mut zugesprochen hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass wir auch diese Herausforderung überstehen würden, würden wir nur zusammenhalten … Dann detonierte die Bombe über unseren Köpfen.“ Zero verstummte, hatte während seiner kurzen Erzählung das Foto wieder an sich genommen und lächelte traurig auf die junge Frau herab. „Sie war immer so zuversichtlich gewesen, ganz anders als ich.“   „Manche Dinge ändern sich wohl nie.“ Hizumi lächelte ihn an, als er den Kopf hob, und ohne sein bewusstes Zutun begann er, diese Geste zu erwidern.   „Scheint so.“ Zeros Lächeln verblasste, als er aussprach, was ihn nach jeder Erinnerung an ein früheres Leben quälte. „In jedem Leben fühlt es sich so an, als würde ich dafür bestraft werden, Glück zu empfinden. Kaum finde ich meine Liebe, wird sie mir wieder genommen, und falls uns doch einmal mehr Zeit vergönnt ist, verliere ich sie, sobald ich ihr zu nahekomme.“ „Ist das der Grund, weshalb du Karyu und dich in diesem Leben so quälst?“ Zero sagte nichts, doch der Schmerz in seinem Herzen musste ihm ins Gesicht geschrieben stehen, denn Hizumis leises Seufzen klang weniger frustriert, als er in dieser Situation erwartet hätte. „Ich verstehe.“ Er musste den Blick abwenden, um sich zu sammeln. Für einen langen Moment kehrte Stille zwischen ihnen ein, bis Zero sich soweit wieder unter Kontrolle hatte, dass er sein Gegenüber ansehen konnte. „Wo kommt dieser skeptische Ausdruck auf deinem Gesicht so plötzlich her?“   „Es wundert mich nur …“ Hizumi summte überlegend und rieb sich übers Kinn. „Ich war bislang davon ausgegangen, dass zwischen euren Leben deutlich mehr Zeit liegen würde, aber das sind gerade einmal …“   „Vierunddreißig Jahre, wenn man von meinem Geburtstag ausgeht.“   „Ist das nicht eigenartig?“   „Was fragst du mich das? Ich habe nie behauptet, ein Experte zu sein.“   „Wie bist du zu dem Zeitungsfoto gekommen?“   „Normalerweise erinnere ich mich nie an spezifische Details aus meinen früheren Leben. Ich weiß nie, wo wir gelebt haben oder wie unsere Namen waren. Aber die Erinnerung an Akemi … Ich wusste, dass wir in Nagasaki lebten, wie sie hieß, selbst in welchem Viertel wir gewohnt haben. Die Erinnerungen waren so lebendig, dass sie mir keine Ruhe ließen, also hab ich recherchiert. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich tatsächlich fündig geworden bin.“   „Nein, um ehrlich zu sein, kann ich das nicht.“ Hizumi legte den Kopf schief, beinahe wie ein Vogel, der versuchte, den seltsamen Menschen ihm gegenüber zu verstehen, und musterte ihn. In Momenten wie diesen fiel Zero verstärkt auf, wie übernatürlich sein Freund wirken konnte, ohne es darauf anzulegen. Er war zu still, der Blick zu intensiv – ein Raubtier, das seine Beute fixierte. Ein Schauer rann ihm über den Rücken und die feinen Härchen auf seinen Unterarmen richteten sich auf, als hätte sich die Luft zwischen ihnen elektrostatisch aufgeladen.   „Das – habe ich auch nicht wirklich erwartet“, murmelte er und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, seine Augen eingeschüchtert abzuwenden. Doch so schnell dieser unangenehme Moment gekommen war, so schnell war er wieder vorbei, als Hizumi die Hände aneinander rieb und aufstand.   „Ich hol mir was vom Buffet, Geschichten machen mich immer so hungrig.“   Zero wusste nicht, ob er gekränkt oder froh über die mangelnde Empathie des anderen sein sollte, entschloss sich schließlich dafür, diese Tatsache ohne Wertung hinzunehmen. Hizumi war nun mal, wie er war, und ausschweifende Gefühlsbekundungen lagen nicht in seiner Natur. Außerdem war es weder Mitgefühl noch Empathie, die er von ihm brauchte.   Als der Sänger beladen mit einem vollgepackten Teller und einem Kännchen Tee an ihren Tisch zurückkehrte, sah er sich mit einem forschenden Blick konfrontiert. „Ja?“, fragte er interessierter als er sich fühlte und kaute mit wenig Elan auf einem Stückchen Lachs herum.   „Es gibt einen Grund, weshalb du dich diesmal nicht geziert hast, mir mehr über dich zu erzählen, stimmt’s?“   „Du warst auch schon mal schneller.“ Ein berechnendes Lächeln hatte sich auf Zeros Lippen geschlichen, während er langsam die Stäbchen beiseitelegte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte nickend die Arme vor der Brust. „Aber ja, ich hab dir nicht aus Spaß an der Freude von Akemi erzählt. Ich will Antworten, Hizumi, und ich will dir nicht wieder alles aus der Nase ziehen müssen.“ Sein Gegenüber presste die Lippen aufeinander und es war eindeutig, dass er mit dem Verlauf ihres Gesprächs alles andere als zufrieden war. „Schau nicht so. Du warst es doch, der mir beigebracht hat, dass in dieser Welt nichts umsonst ist. Auge um Auge, Zahn um Zahn oder in diesem Fall – meine Vergangenheit gegen dein Wissen.“   „Du hast mich reingelegt.“   „Nein, so würde ich das nicht nennen.“ Zeros Augen funkelten, während er Akemis Foto behutsam zusammenfaltete und in seinem Portemonnaie verstaute. „Ich bin nur ein guter Zuhörer.“   „Ich bin nicht verpflichtet, dir zu antworten.“   „Das stimmt wohl, aber dein Stolz lässt es nicht zu, in meiner Schuld zu stehen, hab ich nicht recht?“   Hizumi knurrte und für den Bruchteil einer Sekunde flackerte ein blaues Glühen bedrohlich hinter dem Braun seiner Iris. „Ich kann dir nicht alles sagen.“   „Dann sag mir das, was du kannst. Was ist gestern mit Karyu und mir geschehen? Wer hat den Fahrstuhl manipuliert und warum hat niemand im Hotel etwas davon bemerkt? Es war kaum Zeit vergangen, obwohl wir ewig in diesem Aufzug festsaßen, wie ist das möglich? Und was war dieses Leuchten, als du mich berührt hast?“   „Stopp, Zero, eines nach dem anderen.“ Hizumi fuhr sich durchs Haar und zog die Stirn kraus. „Wo fang ich an?“   „Am Anfang, würde ich sagen, das ist meist das beste“, brummte er genervt über die Hinhaltetaktik, die sein Freund zur Schau stellte.   „Würde ich das tun, wäre dein Leben vorbei, bevor ich überhaupt zum Interessanten gekommen wäre.“ Hizumi grinste, verschränkte die Finger auf der Tischplatte und lehnte sich etwas vor. „Wie lange geht dieser ganze Zirkus nun schon?“   „Bitte?“ Zero runzelte die Stirn. „Was meinst du?“   „Dieser Wiedergeburtshokuspokus. Das wievielte Leben ist das hier?“   „Ich …“ Er zuckte mit den Schultern und versuchte angestrengt, die oftmals verwirrenden Erinnerungen in eine zeitliche Abfolge zu bringen. „Ich bin mir nicht sicher. Das Neunte, glaub ich.“   „Es ist das Zehnte, um genau zu sein, und das sollte dir eigentlich schon alles beantworten.“ Zero starrte ausdruckslos in Hizumis Gesicht und weigerte sich, diese kryptische Aussage mit einer Nachfrage zu würdigen. „Verstehst du nicht? Wenn wir davon ausgehen, dass zwischen einer Wiedergeburt und der nächsten immer ungefähr einhundert Jahre vergehen …“ Hizumi machte eine auffordernde Handbewegung, als wollte er ihm die Antwort aus der Nase ziehen. Falten erschienen auf Zeros Stirn, während er ernsthaft versuchte, herauszufinden, worauf der andere hinaus wollte.   „Wieso fragst du mich Dinge, die du selbst viel besser weißt?“   „Halt mich bei Laune.“ Hizumi zwinkerte und sein breites Grinsen zog sich beinahe von einem Ohr bis zum anderen.   „Ich hab keine Ahnung, was du von mir hören willst“, zischte Zero und pflasterte ein unehrliches Lächeln auf seine Lippen, als die alte Dame einige Tische weiter einen deutlich zu interessierten Blick riskierte. Sein Gesichtsausdruck schien trotz aller Mühe nicht freundlich genug gewesen zu sein, denn pikiert wandte sie sich ab, sprach wenige Worte mit ihrem Begleiter und verließ kurz darauf den Frühstücksraum.   „Du bist und bleibst ein zauberhaft charmantes Wesen, wenn du es darauf anlegst.“   „Wenn du glaubst, dumme Sprüche halten mich davon ab, dich weiterhin zu löchern, hast du dich geschnitten.“   „Spielverderber.“ Hizumi pustete in seine Teetasse, was sich für ihn jedoch mehr wie ein genervtes Seufzen anhörte.   „Hör auf, mich hinzuhalten, Hizumi“, knurrte er. „Nach allem, was gestern geschehen ist, habe ich ein Recht darauf, endlich mehr als nur Bruchstücke zu erfahren.“ Am liebsten wäre er laut geworden, hätte seine Faust auf den Tisch geschlagen oder wäre seinem Gegenüber wahlweise an die Gurgel gegangen. Nichts davon tat er jedoch. Er hatte in der Vergangenheit zähneknirschend akzeptiert, dass Hizumi sein Wissen wie einen Augapfel hütete. Vielleicht auch, weil er Angst davor hatte, was der andere ihm offenbaren könnte, würde er nur wollen, aber diesen Luxus konnte er sich nicht mehr leisten.   „Ist ja schon gut.“ Der andere atmete schwer aus, als müsste er sich für das wappnen, was nun kommen würde, setzte sich jedoch gerader hin und fixierte ihn mit seinen durchdringenden Augen, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. „Zehn Leben, einhundert Jahre – und in wenigen Tagen wird es ein ganzes Millennium her sein, seit du Karyus Seele an die deine gebunden hast. Eintausend Jahre, Zero, begreifst du nicht, wie signifikant das ist?“   Um ehrlich zu sein, verstand Zero überhaupt nichts und versuchte vielmehr, all die Informationen, die ihm Hizumi so nonchalant vorgesetzt hatte, nachzuvollziehen. Es sollten bereits tausend Jahre vergangen sein? Und was hieß hier, ER hätte Karyus Seele an sich gebunden? Eben diese Frage stellte er, nicht ohne seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen.   „Du tust gerade so, als hätte ich mir wissentlich Karyus Seele unter den Nagel gerissen. Ich hatte doch keine Ahnung, was mein Versprechen auslösen würde.“   „Natürlich hattest du die nicht, du warst und bist nur ein Mensch. Es waren die Mächte, die …“   „Mich verflucht haben“, unterbrach er Hizumi knurrend und fühlte erneut die Ungerechtigkeit seiner ganzen Misere in sich aufsteigen.   „Du schreibst ihren Taten zu viel Bedeutung zu, glaub mir. Sie haben dich weder verflucht, noch dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllt, deine Liebe auf ewig beschützen zu können.“    „Ach nein? Was haben sie deiner Meinung nach dann getan? Warum dürfen Karyu und ich nicht endlich unseren Frieden finden?“ Zero senkte den Blick und starrte ausdruckslos auf seine Finger, die er so fest ineinander verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß und blutleer wirkten.   „Weil ihr unterhaltsam seid.“ Sein Kopf ruckte nach oben und sein Blick war mörderisch, als er Hizumi fixierte. „Sieh mich nicht so an, ich hab nicht behauptet, dass ich gutheiße, was sie tun.“ Sein Gegenüber hob beschwichtigend beide Hände. Zero schnaubte, versuchte jedoch, sein übersprudelndes Temperament zu zügeln. Es war schließlich nicht klug, den Boten für die Taten seiner Herren verantwortlich zu machen.   Er öffnete den Mund, hielt jedoch inne, als sich die beiden Geschäftsmänner erhoben und leise miteinander diskutierend zu den Aufzügen gingen. Nun waren sie also allein hier und er fragte sich insgeheim, ob dieser praktische Umstand reiner Zufall war oder Hizumi seine Finger mit im Spiel hatte. Zuzutrauen wäre es ihm, ihn danach fragen würde er jedoch nicht. Es gab schließlich Wichtigeres, das sie zu besprechen hatten.   „Okay, Hizumi, ich hab genug von deinen kryptischen Andeutungen. Erklär mir endlich, was Sache ist.“   Einen langen Moment sagte Hizumi kein Wort, während er zwei präzise gehäufte Löffel Zucker in seinen Tee gab und so lange umrührte, bis kein Körnchen mehr in der Tasse kratzte. Erst dann sah er ihm wieder ins Gesicht, trank einen Schluck und spitzte überlegend die Lippen.   „In Ordnung.“ Einen Herzschlag lang schloss er die Augen, dann sah er Zero derart durchdringend an, dass sein Magen zu krampfen begann. „Die Mächte sind unsterbliche Wesen, älter als die Zeit, und im Regelfall ständig gelangweilt. Ein Menschenleben ist für sie nichts weiter als ein Sandkorn in der Wüste, klein, unbedeutend, bis etwas passiert, das ihr Interesse weckt. Dein Versprechen vor fast eintausend Jahren war so ein Ereignis und hätten sie geahnt, dass ihre Einmischung das prekäre Gleichgewicht der Welten aufs Spiel setzt, hätten sie dich damals sterben lassen, ohne dich auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen.“ Hizumi hustete, ein derart schmerzvoller Laut, dass sich Zero besorgt nach seinem Wohlbefinden erkundigt hätte, wäre er von seiner Erzählung nicht so gefangen und würde er nicht so dringend die Antworten hören wollen, die nur der andere ihm geben konnte. „Aber sie haben sich eingemischt, haben dich befähigt, eure Seelen aneinanderzubinden, weil sie sehen wollten, was du daraus machst. Für Jahrhunderte beobachteten sie, bis sich langsam zwei Fraktionen bildeten. Eine Seite, die für dich ist, eine Seite, die dich scheitern sehen will. Schwarz und Weiß, wie die Figuren auf einem Schachbrett. Für die längste Zeit war es ihnen verboten, sich in den Lauf der Dinge einzumischen, war es ganz dir, deiner Liebe und dem Zufall überlassen, wie eure Leben verlaufen.“   „Warum konnten wir dann bislang nie ein Leben zu Ende leben? Warum wurde mir meine Liebe wieder und wieder entrissen, kaum hatte ich sie gefunden?“   „Hast du schon einmal daran gedacht, dass es einer Seele vorherbestimmt ist, wie viel Zeit sie auf dieser Erde hat?“   Zeros Atem stockte und mit einem Mal wurde ihm schrecklich übel. Dieser Gedanke war ihm nie in den Sinn gekommen, aber jetzt, da Hizumi ihn ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich bewusst, wie aussichtslos sein Streben in all den Jahrhunderten gewesen war. „Ich hatte also nie eine Chance?“   „Nein, so gesehen nicht, zumindest nicht während eurer ersten Leben. Doch dann begann eine Partei, sich nicht mehr an die Regeln zu halten, euch ...“ Hizumi verstummte, atmete schwer.   Zero hingegen konnte nichts weiter tun, als vor sich auf das weiße Tischtuch zu starren, auf das Geschirr und das dekorative Blumengesteck, das darauf stand. Die Welt vor seinen Augen verschwamm und sein Hals wurde derart eng, dass er kaum noch Luft bekam. Alles war umsonst gewesen, all sein Leid, all sein Verzicht. Plötzlich umfasste Hizumi sein Handgelenk so fest, dass sich seine spitz gewordenen Fingernägel schmerzhaft in seine Haut bohrten. Zischend wollte Zero seine Hand zurückziehen, hielt jedoch inne, als er in das blasse Gesicht ihm gegenüber sah.   „Diesmal wirst du deine Chance bekommen“, presste der andere zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und Zero verstand nicht, was auf einmal mit seinem Freund los war. „Beide Fronten haben Wächter geschickt, um zu beobachten, um die Fairness aufrechtzuerhalten, wenn du so willst. Ich sagte dir bereits, dass ich eingreifen kann, wenn sich die Gegenseite nicht an die Regeln hält.“ Hizumi schluckte. „Und das werde ich auch weiterhin tun, versprochen.“   „Aber warum das alles? Wieso sollte mein Schwur, der einzig und allein meiner Liebe gilt, irgendein mystisches Gleichgewicht in Gefahr bringen? Karyu und ich sind nur unbedeutende Menschen, das hast du selbst gesagt. Was ist diesmal anders?“   „Ihr seid nicht unbedeutend, ganz im Gegenteil. Karyu … seine Seele, sie ist … unendlich wertvoll … für beide …“   „Hizumi!“ Erschrocken war Zero halb aufgesprungen, als sich sein Freund krümmte und erneut zu husten begann. Ein feines, rotes Rinnsal rann aus seinem Mundwinkel, das er hektisch mit einer Serviette fortwischte.   „Mach keinen Aufstand“, krächzte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, und lächelte ihn an. Die Tatsache, dass seine Lippen unnatürlich gerötet waren und sich ebenso rote Schlieren auf seinen Zähnen zeigten, verhinderte erfolgreich, dass diese Geste auch nur im Ansatz beruhigend wirkte. Dennoch setzte sich Zero wieder, ohne aber den Blick von Hizumi zu nehmen.   „Was war das?“   „Ich scheine die Geduld der Bosse ein wenig überstrapaziert zu haben.“   „Wie meinst du das?“   „Ich sagte dir doch schon, dass es Dinge gibt, die ich dir nicht sagen KANN – wortwörtlich.“   „Aber …“ Mit geweiteten Augen und leicht offenstehendem Mund beobachtete er, wie sich Hizumi erneut über den Mund wischte, einen Schluck Tee trank, und dann beinahe wieder normal aussah. Nur der verkniffene Zug um seine Augen und seine anhaltende Blässe bewiesen ihm, dass er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. „Deine … Bosse haben das gerade getan?“   „Dachtest du, das wäre nur eine Ausrede, um dich hinzuhalten?“ Hizumis Worte trafen genau ins Schwarze und beschämt senkte Zero den Blick. „Du hast es hier mit Wesen zu tun, deren Macht sich dein menschlicher Verstand nicht einmal im Ansatz vorstellen kann.“   „Vielleicht ist das so, aber ich kann es zumindest versuchen, um Karyus Willen.“   „Nein, das kannst du nicht, glaub mir.“ Hizumi erhob sich, warf die blutbefleckte Serviette unachtsam auf seinen Teller und machte Anstalten, ihn allein hier sitzenzulassen.   „Warte!“   „Mh?“   „Ich … nur noch eine Frage, okay, dann lass ich das Thema fürs Erste auf sich beruhen.“   „Es ist genug, Zero. Wir geben später noch ein Konzert und ich würde es bevorzugen, das durchziehen zu können, ohne dass sich meine Lunge in Wohlgefallen auflöst.“   „Bitte, Hizumi.“ Zero war niemand, der sich sonderlich leicht damit tat, um einen Gefallen zu bitten, und das schien sein Freund zu wissen, denn nach einem tiefen Seufzen setzte er sich wieder an den Tisch und sah ihm erwartungsvoll in die Augen.   „Na schön, eine allerletzte Frage noch.“   „Danke.“ Die Anspannung, die in den letzten Minuten seinen Körper regelrecht hatte vibrieren lassen, fiel von ihm ab und hinterließ knochentiefe Erschöpfung. Aber er ließ sich nichts anmerken, während er versuchte, seine wirbelnden Gedanken zu sortieren. „Was war das blaue Leuchten?“   „Von allem, was du mich noch fragen könntest, ist es das, was du wissen willst?   „Ja.“   „Das war nur der Bannkreis, den ich um Karyu und dich gelegt habe.“   „Du hast uns also manipuliert.“   „Nein, ich hab nur dafür gesorgt, dass ihr keine hässlichen Flecken am Boden des Aufzugsschachts hinterlasst.“   „Wie meinst du das?“   „Ich sagte doch schon, wenn die Gegenseite unfair spielt, kann ich eingreifen. Es war nur nicht so einfach, einen Gegenfluch zu wirken, weil ich zu weit weg war. Darum auch die zeitliche Diskrepanz, während Karyu und du im Aufzug festgesessen habt.“   „Aber …“ Zero schüttelte den Kopf. „Woher kam dann diese eigenartige Vertrautheit zwischen uns, wenn nicht du es warst, der uns beeinflusst hat? Verdammt noch mal, Hizumi, wir hätten uns beinahe gek…“ Im letzten Augenblick unterbrach sich Zero selbst, konnte am wissenden Lächeln seines Gegenübers jedoch  deutlich ablesen, das Hizumi wusste, was er nicht ausgesprochen hatte. Er rieb sich übers Gesicht, wütend auf sich und seine chaotischen Gedanken, die Schuld an diesem Fauxpas waren.   Mit einem leisen Summen auf den Lippen erhob der andere sich und er wollte schon protestieren, weil er bei Weitem noch nicht zufrieden mit den Antworten war, die er bislang erhalten hatte. Noch bevor er den Mund jedoch erneut öffnen konnte, hielt Hizumi neben seinem Sitzplatz inne, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte verschwörerisch in sein Ohr: „Wenn mich nicht alles täuscht, nennt ihr Sterblichen dieses Gefühl – Liebe. Und so wie es aussieht, scheint es auf Gegenseitigkeit zu beruhen, was? Ich könnte jetzt sagen, ich hab es dir ja gesagt, aber das hebe ich mir für ein anderes Mal auf.“   „Du kannst froh sein, dass du die einzige Informationsquelle bist, die ich habe“, knurrte Zero und löste bewusst langsam seine zu Fäusten geballten Hände. Seine Kiefer malten, während er sein Temperament zu zügeln versuchte. So sehr er Hizumi das überhebliche Lächeln aus dem Gesicht wischen wollte, so wenig konnte er es sich leisten, den anderen ernsthaft zu verärgern. „Beantworte mir noch eine Frage.“   Hizumi atmete tief ein, als würde er seine Forderung ausschlagen wollen, schloss eine Sekunde später jedoch den Mund, ohne etwas gesagt zu haben. Das halbe Grinsen war verschwunden und hatte diesem bewegungslos analysierenden Blick Platz gemacht, der ihn stets zu verunsichern wusste.   „In Ordnung, was willst du wissen?“   „Du behauptest, ein Beobachter zu sein, der so lange tatenlos zusehen muss, bis die anderen gegen die Regeln verstoßen, aber unser Gespräch hat nur zu deutlich gemacht, dass du mehr Freiheiten hast, als du zugibst.“ Hizumis Mundwinkel zuckten, als müsste er sie davon abhalten, sich zu einem Lächeln zu formen. Beinahe glaubte er, so etwas wie Stolz in den dunklen Augen erkennen zu können, bis ein Blinzeln diesen Ausdruck wegwischte, als hätte es ihn nie gegeben. „Du heißt nicht gut, was die Mächte tun und trotzdem arbeitest du für sie, warum?“   „Das kann ich dir nicht sagen.“   „Und die Gegenseite? Was wollen sie?“   „Denk nach, Zero, ich hab dir bereits alles gesagt, was ich konnte.“   Überlegend zog er die Stirn kraus. Sein Herz raste, seine Gedanken taumelten wirr durcheinander und machten es ihm beinahe unmöglich, sich zu konzentrieren, bis sich eine Aussage Hizumis in den Vordergrund drängte. „… keine hässlichen Flecken am Boden des Aufzugsschachts hinterlasst.“ Seine Augen weiteten sich, als ihm klarwurde, was diese flapsigen Worte tatsächlich zu bedeuten hatten.   „Ganz genau.“ Hizumi lächelte schmal und zeigte damit zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs so etwas wie Mitgefühl.  „Ich geh jetzt packen, wir sehen uns später, Zero.“ Mit diesen Worten drehte er sich weg, durchquerte zielstrebig die Lobby und verschwand im Treppenhaus, ohne sich noch einmal nach ihm umgesehen zu haben.   „Sie wollen dich töten … uns beide“, wisperte Zero und ballte seine rechte Hand zur Faust, bis sein ganzer Arm zu zittern begann. „Das lass ich nicht zu.“ Ruckartig erhob er sich und verließ den Frühstücksraum. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen und er wusste, dass er eine ganze Weile brauchen würde, bis er alle Informationen in eine einigermaßen logische Reihenfolge gebracht hatte. Trotzdem fühlte er sich seltsam energiegeladen, als hätte er plötzlich nicht mehr nur ein vages Ziel vor Augen. Es gab eine konkrete Bedrohung, kein Krieg, keine Naturgewalten, die ihm Karyu raubten, und er würde alles tun, was es bedurfte, um ihn diesmal zu beschützen. Und wenn das hieß, seinem Freund nicht mehr von der Seite zu weichen, dann würde er auch das tun, egal, was sein Herz dazu zu sagen hatte.   ~*~   Die Luft war angenehm frisch, als er vor das Hotel trat und sich eine Kippe ansteckte. Das Nikotin würde sein angeschlagenes Nervenkostüm hoffentlich soweit beruhigen, dass er für die Show später nicht nur einigermaßen wach, sondern auch funktionsfähig sein würde. Er dachte an Hizumi, an sein schmerzvolles Husten und das Blut und verbat es sich, nun ein schlechtes Gewissen zu haben. Er hatte diese Antworten gebraucht – streng genommen sogar mehr, als er erhalten hatte. Er war nicht schuld, nie schuld gewesen, weil die Mächte ein bösartiges Spiel mit ihm gespielt hatten, und allein dafür hasste er sie noch ein ganzes Stück mehr. Grimmig zog er am Filter seiner Zigarette und hatte gar nicht bemerkt, dass sich jemand neben ihn gestellt hatte, bis er angesprochen wurde.   „Wenn du so guckst, kann man richtig Angst vor dir bekommen.“ Zero drehte den Kopf und sah Karyu direkt in die Augen, der es trotz seiner Größe irgendwie schaffte, ihn wie ein kleiner Junge von unten herauf anzusehen. Seine Lippen zierte ein schiefes Lächeln, was in ihm zwei gänzlich widersprüchliche Gefühle aufsteigen ließ. Auf der einen Seite wollte er sich abwenden, am besten noch davonlaufen, und auf der anderen Seite hätte er diese schönen Lippen nun zu gern geküsst. Unnötig zu sagen, dass er nichts davon tat, außer das Lächeln seines Gegenübers vage zu erwidern.   „Der Blick galt nicht dir, keine Sorge.“ Er zog sein Feuerzeug aus der Hosentasche, ließ es aufschnappen und hielt seinem Freund die Flamme entgegen, bis auch in Karyus Mundwinkel eine Zigarette glomm. „Na, wie war die Nacht nach dem Spektakel von gestern? Tut mir übrigens leid, dass ich nicht reagiert habe, als du geklopft hast. Ich …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, ich war zu durcheinander, um mit jemandem reden zu wollen.“   „Schon gut. Zu behaupten, ich wäre nicht durcheinander gewesen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.“ Karyu zog an seiner Zigarette, blickte für einen Moment in den Himmel, bevor er ihn erneut anlächelte. „Ich wollte nur sichergehen, dass du heil in deinem Zimmer angekommen bist.“ Zero sagte nichts, hob nur vielsagend eine Augenbraue und ließ das Schmunzeln zu, das an seinem Mundwinkel zupfte. „Ich weiß, ich weiß …“ Sein Freund winkte ab und täuschte er sich, oder waren seine Wangen leicht rot geworden?   Bevor die Stimmung zwischen ihnen unangenehm werden konnte, fuhr hinter Zero die elektrische Schiebetür beiseite und spuckte Tsukasa aus, der ihnen freudestrahlend einen guten Morgen wünschte.   „Wo du deine Energie herhast, würde ich wirklich gern mal wissen, Tsukatchi“, murmelte Zero und blendete für einen Moment den Redeschwall des Drummers aus, der ohnehin Karyu und nicht ihm galt. Man mochte meinen, die beiden hätten sich Tage und nicht nur Stunden nicht gesehen, so viel wie sie sich zu erzählen hatten. Belustigt schüttelte Zero den Kopf, drückte seine aufgerauchte Zigarette im bereitgestellten Aschenbecher aus und wandte sich zum Gehen. „Ich geh packen. Wir sehen uns später, Jungs.“   „Soll ich dir helfen?“   Er stutzte und schaute über die Schulter zu Karyu, der so wirkte, als könnte er nicht glauben, dass diese Frage gerade seinen Mund verlassen hatte.   ‚Verflucht, legt es der Kerl darauf an, süß zu sein?‘, dachte er halb grimmig, halb verzweifelt und wusste für einen Moment nicht, was er tun geschweige denn sagen sollte. „Solltest du nicht lieber erst einmal frühstücken? Ich bin schon groß, ich kann meine sieben Sachen auch selbst zusammenpacken.“   Tsukasa schaffte es nicht ganz, sein Lachen zu unterdrücken, was von Karyu mit einem derart entrüsteten Seitenblick bedacht wurde, dass Zero beinahe in das Lachen miteingestimmt hätte.   „Ich hatte oben noch ein Sandwich von der Tanke. Das hab ich gegessen“, murmelte Karyu lahm und wenn er ehrlich war, tat er ihm beinahe leid. „Vergiss es bitte einfach, okay? War eine blöde Frage.“   Zero drehte sich weg, weil er sein Lächeln beim besten Willen nicht mehr zurückhalten konnte. In der Spiegelung der Schiebetür sah er, wie Karyus Gesicht fiel und Tsukasa ihm teils mitfühlend, teils noch immer feixend eine Hand auf die Schulter legte.   „Ich brauch zwar keine Hilfe, aber du kannst mir Gesellschaft leisten, wenn du magst? Packen ist immer so eine öde Angelegenheit.“ Er versuchte, seiner Stimme einen desinteressierten Unterton zu verleihen, hätte sich aber gar keine Mühe geben brauchen, denn Karyu wirkte, als hätte er ihm nach dem ersten Satz schon nicht mehr zugehört. Ob er ihm sagen sollte, dass er sowohl die in die Luft gerissenen Arme, als auch den vielsagenden Blick, den er Tsukasa zugeworfen hatte, in der Spiegelung hatte sehen können? Lieber nicht, fürs Erste wollte er tatsächlich Karyus Gegenwart genießen und keinen verschämten Gitarristen in seinem Zimmer hocken haben. „Was ist, kommst du?“   „Bin schon da!“     ~*~ And I can't stop 'til the whole world knows my name 'Cause I was only born inside my dreams Until you die for me, as long as there's a light My shadow's over you   'Cause I am the opposite of amnesia And you're a cherry blossom You're about to bloom You look so pretty, but you're gone so soon ~*~ Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- „Du, Zero?“   „Mh.“ Er brummte abwesend, während er das Ladekabel seines altersschwachen Klapphandys aus der Steckdose zog und in seiner Reisetasche verstaute. Ein prüfender Blick durch den Raum bestätigte ihm, dass er alles eingepackt hatte und nur noch schnell ins Bad musste, um seine Kulturtasche zu holen. Karyu machte diesem Vorhaben jedoch einen Strich durch die Rechnung, weil er so praktisch mitten im ohnehin beengten Zimmer stand, dass er sich an ihm hätte vorbeiquetschen müssen, um ins Badezimmer zu gelangen. „Setz dich doch. Du gehst mir nur im Weg um, wenn du hier herumstehst.“ Er versuchte sich an einem nonchalanten Lächeln, auch wenn er sich nicht überwinden konnte, dem anderen direkt ins Gesicht zu sehen. „Was wolltest du gerade eigentlich fragen?“   „Ehm …“, begann Karyu in seiner so typischen, etwas verschüchtert wirkenden Art, ließ sich auf dem Bett nieder und zupfte an einem abstehenden Stück Nagelhaut herum. Auch er mied seinen Blick, wie Zero feststellte. Er seufzte unhörbar, hasste diese unangenehme Anspannung, die zwischen ihnen herrschte. Aber daran war nichts zu ändern und er sollte lieber fertigpacken, statt seinen Kollegen analysieren zu wollen. Gerade, als er das Bad betreten und seine Kulturtasche geholt hatte, hörte er Karyus Stimme erneut. „Ich begreife noch immer nicht, was da gestern mit uns passiert ist.“   „Da geht es dir wie mir“, gab er zu, während er langsam zurück zu seiner Reisetasche und somit zwangsläufig auch auf Karyu zuging, der genau neben ihr saß.   „Ich meine, das ist doch seltsam, dass niemand etwas mitbekommen haben will, oder? Und warum sind wir uns beide sicher, dass wir viel länger in diesem dämlichen Fahrstuhl gesteckt haben, als es den Anschein macht? Da stimmt doch irgendwas nicht. Ich komme mir schon vor, wie in einer dieser Akte X Folgen.“ Karyu versuchte sich an einem selbstironischen Grinsen, aber als Zero seinen Blick erwiderte, erkannte er ein beinahe ängstliches Flackern in seinen Augen.   „Ich glaube kaum, dass wir gestern von Außerirdischen entführt wurden, wenn es das ist, was du vermutest“, scherzte er, zog den Reißverschluss seiner Reisetasche zu und setzte sich mit etwas Abstand neben Karyu aufs Bett. „Vermutlich haben wir beide wirklich nur falsch auf die Uhr gesehen, was anderes ergibt doch gar keinen Sinn.“ Er hasste es, seinem Freund etwas vormachen zu müssen, aber was hätte er anderes sagen sollen? ‚Hey, Karyu, höhere Mächte haben versucht, uns umzubringen, und Hizumi, der übrigens eine Art Schutzengel ist, hat uns vorm Schlimmsten bewahrt.‘ Ja, genau das würde Karyus Nerven beruhigen, ganz sicher.   „Aber, dass niemand etwas bemerkt haben soll …“   „Die Angestellte war allein im Foyer und du hast selbst gesehen, wie beschäftigt sie war. Neben unserem Aufzug gibt es noch drei weitere allein im Eingangsbereich des Hotels, da fällt es vermutlich nicht auf, wenn einer davon mal über einen längeren Zeitraum nicht kommt, wenn man ihn ruft. Das war nur eine Verkettung seltsamer Zufälle, mehr nicht. Versuch, dir nicht länger Gedanken darüber zu machen, okay? Wir haben heute Abend eine Show abzuliefern.“   „Mh …“, brummte Karyu und rieb sich über die Augen. „Du hast ja recht, es fällt mir nur schwer, nicht weiter darüber nachzudenken.“   „Glaub ich dir, aber versuch es wenigstens.“ Zero zauberte ein hoffentlich aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen und legte für einen kurzen Moment seine Hand auf Karyus Knie. „Wir sollten dann mal losgehen, die anderen warten sicherlich schon.“ Bevor er seinen Worten jedoch Taten folgen lassen konnte, hielt er in jeder Bewegung inne. Sein Freund hatte einen seiner langen Zöpfe zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und spielte gedankenverloren wirkend damit. Die Bewegung zog ganz leicht an seiner Kopfhaut, nicht schmerzvoll, vielmehr derart angenehm, dass ihm ein Schauer über den Rücken rann. „Was machst du?“, hörte er sich fragen, obwohl er nicht einmal bemerkt hatte, dass seine Lippen sich bewegten.   „Ich mag die Zöpfe.“ Karyus Stimme klang wie aus weiter Ferne und als sich ihre Blicke trafen, stockte ihm der Atem. Ihr Beinahe-Kuss kam ihm wieder in den Sinn, ebenso wie sein Traum vor wenigen Stunden. Er schluckte schwer, als ihm der andere immer näher zu kommen schien …   „Komm schon, Leader, wir haben noch eine dreistündige Autofahrt vor uns.“ Ein schmales Lächeln zierte seine Lippen, als er seinen Zopf aus Karyus Fingern zog, sich erhob und äußerlich so tat, als wäre gerade nichts geschehen. Innerlich vibrierte er jedoch förmlich und hatte Mühe, ruhig und kontrolliert zu atmen. ‚Nur mit der Ruhe, Zero, alter Junge‘, dachte er im Stillen. ‚Lass dir bloß nicht anmerken, dass dein Herz wie wild rast.‘ Er schulterte seine Reisetasche und wollte schon das Zimmer verlassen, aber Karyu hatte sich noch immer keinen Millimeter von der Stelle gerührt. „Erde an Karyu?“ Er schnippte ihm leicht gegen die Stirn, was ihn aufzuwecken schien. Diesmal war Zeros Grinsen ehrlich, als er in das teils erschrockene, teils verwirrte Gesicht seines Gegenübers sah. „Bist du im Sitzen eingeschlafen oder was?“   „Nein, ich … war nur gerade in Gedanken.“   „Und da hab ich dir schon so oft gesagt, dass du nicht denken sollst, weil dir das nicht bekommt.“   „Haha.“   Zero atmete erleichtert aus, als endlich Bewegung in den Großen kam und sie gemeinsam das Zimmer verlassen konnten. Karyu wirkte noch immer grüblerisch, doch gleichzeitig fühlte er seine musternden Blicke beinahe körperlich auf sich. Verdammt, das war nicht gut. Er wollte gar nicht wissen, was der Gitarrist in seinem Oberstübchen gerade ausbrütete.   „Hast du schlafen können?“   „Ehm, was?“ Nun war Zero es, der in den letzten Augenblicken mit seinen Gedanken gefühlt meilenweit weg gewesen war und nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie die Treppen nach unten genommen hatten. Karyu traute dem Aufzug wohl ebenso wenig wie er selbst, was? „Tschuldige, ich hab dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?“   „Ich wollte nur wissen, ob du die Nacht über besser geschlafen hast?“   „Wieso, seh ich so aus?“ Er schielte zur Seite und lächelte seinen Kollegen schief an. „Sag bloß nichts Falsches, sonst nehm ich dir das übel.“   „Und da wollte ich gerade feststellen, dass deine Augenringe weniger geworden sind.“   „Augenringe? So was hab ich gar nicht.“   „Stimmt.“ Karyu lachte, ein Laut, der Zeros Magen in kribbelnde Aufruhr versetzte. „Soll ich trotzdem fahren, damit du noch etwas Augenpflege machen kannst?“   „Wenn du die anderen beiden überzeugt bekommst, dich fahren zu lassen, sag ich nicht nein.“ Obwohl es guttat, mit Karyu herumzualbern, musste er zwangsläufig wieder an ihren Beinahe-Unfall denken. „Aber nur, wenn du dir sicher bist, dass du auch wirklich fahren … willst“, setzte er daher nach, blieb kurz stehen und musterte den anderen kritisch.   „Du kennst doch das Sprichwort, dass man gleich wieder aufs Fahrrad steigen soll, wenn man mal runtergefallen ist, oder? Ich kenn mich. Wenn ich zu viel darüber nachdenke, krieg ich nur Angst vorm Autofahren und damit wäre niemandem geholfen.“   „Mh, okay, das versteh ich. Aber du sagst Bescheid, wenn du abgelöst werden willst, in Ordnung.“   „Großes Indianerehrenwort.“   „Karyu?“   „Mh?“   „Du bist ein Doofkopf, hat dir das schon mal jemand gesagt?“   „Ja, du, gefühlt jeden Tag.“   Der Große lachte herzhaft, als sie im Foyer ankamen, wo Hizumi und Tsukasa bereits am Empfang auf sie warteten. Er würde ihren Sänger darauf ansetzen, seine übernatürlichen Augen offen zu halten, damit er, wie es Karyu so schön ausgedrückt hatte, seine eigenen würde pflegen können.   „Na, alles klar?“, erkundigte sich Tsukasa, während der Leader ihre Zimmerschlüssel einsammelte, um auszuchecken.   „Alles bestens“, murmelte Zero und suchte die Taschen seiner Jacke nach seiner Zigarettenschachtel ab, zog sich eine der Kippen heraus und klemmte sie sich in den Mundwinkel. „Ich warte draußen auf euch, okay?“, nuschelte er und verließ mit geschulterter Reisetasche das Hotel. Draußen atmete er tief die frische Luft ein, bevor er sich die Zigarette ansteckte.   „Bist du schlecht drauf?“   Ein wenig erschrocken hob er den Kopf, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ihm einer seiner Kollegen nach draußen gefolgt war. Tsukasa lächelte verschmitzt, als wäre ihm seine Reaktion nicht entgangen, und begann ebenfalls zu rauchen.   „Nö, wie kommst du darauf?“   „Du bist noch wortkarger als sonst.“   „Ich bin nur noch immer müde, das ist alles. Wollen wir schon mal vorgehen? Meine Tasche wird schwer.“   Der Drummer nickte und gerade, als sie sich in Bewegung gesetzt hatten, stießen auch Hizumi und Karyu lauthals debattierend zu ihnen.   „Mann, Hizumi, ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass das Management nicht für Zimmerservice aufkommt. Was hast du überhaupt bestellt, dass die fast tausend Yen verlangt haben?“   „Nichts Besonderes, ich hatte nur Hunger, es war spät und die Läden hatten schon zu. Was hätte ich deiner Meinung nach also machen sollen?“   Zero verdrehte die Augen, schaffte es jedoch nicht, das schiefe Schmunzeln zurückzuhalten, das sich bei den Worten seiner beiden Kollegen auf seine Lippen schlich. „Jedes Mal dasselbe, was?“, flüsterte er so leise, dass nur Tsukasa, der direkt neben ihm lief, ihn hören konnte.   „Um ehrlich zu sein, hatte ich ja schon drauf gewartet.“ Der Drummer scherte sich nicht darum, dass man sein Amüsement nur zu deutlich auf seinem Gesicht sehen konnte. „Wenn du mich fragst, macht Hizumi das nur, um unseren Leader zu ärgern.“   Karyu indes grummelte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart und ging mit ausladenden Schritten an ihnen vorbei. Hizumi und seine deutlich kürzeren Beine hatten Schwierigkeiten, mit dem Großen mitzuhalten, und so rief er quer über den Parkplatz: „Jetzt mach doch kein Drama draus. Sobald wir wieder zu Hause sind, kriegst du das Geld. Ich hatte nur nichts mehr auf dem Konto.“   „Komischerweise hast du in solchen Momenten nie was auf dem Konto“, maulte Karyu und wirbelte herum, um ihren Sänger anzustarren. Bevor er jedoch noch etwas hätte sagen können, verlor sein Gesicht plötzlich jegliche Farbe und seine Augen weiteten sich. Zunächst verstand Zero nicht, was er sah, aber instinktiv hatte er zu rennen begonnen und war mit wenigen Schritten an der Seite seines Freundes angekommen.   „Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“ Karyus Oberarm zitterte, als er ihn stützend umfasste, und er bemerkte, dass die Hände des Großen zu festen Fäusten geballt waren. „Was ist denn los?“   „Ni… Nichts.“ Karyu schloss die Augen und schüttelte den Kopf, während er bemüht ruhig ein- und wieder ausatmete. „Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen.“   „Wen denn?“   „Nicht so wichtig.“ Das Lächeln, welches er ihm daraufhin schenkte, war wacklig und seine Gesichtsfarbe ähnelte noch immer mehr vergorener Milch als einem gesunden Teint.   „Red keinen Blödsinn, Karyu. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Auch Zero blickte sich auf dem Parkplatz um, konnte jedoch außer einem Geschäftsmann in einem schwarzen Anzug, der gerade in seinen Wagen stieg, keine Menschenseele entdecken.   „Lass gut sein. Ich hab mich getäuscht.“ Karyu machte sich los, drehte sich von ihm weg und fuhr sich durch die Haare, während er auf ihren Minivan zuging.   „Okay, was war das gerade?“ Tsukasa wirkte so verwirrt, wie Zero sich fühlte, nur zwischen Hizumis Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, als würde er scharf über etwas nachdenken.   „Hizu, hast du gesehen, was ihn so …“ Ja, was eigentlich? Hatte Karyu Angst gehabt oder war er geschockt gewesen diese Person, wer auch immer sie gewesen war, hier zu sehen?   „Nein, ich hab nichts mitbekommen“, murmelte der Kleinste ihrer Runde lang gezogen und schüttelte den Kopf. „Kommt schon, lasst uns losfahren, sonst müssen wir uns nachher wieder so hetzen.“ Hizumi und Tsukasa gingen an ihm vorbei und waren kurz darauf im Van verschwunden, während er noch immer nachdenklich den Parkplatz musterte. Eine Gänsehaut jagte ihm über den Rücken, als der Wind auffrischte und sich unter seine Jacke stahl. Verdammt, was ging hier vor sich?   ~*~   Die Fahrt nach Nagoya war, genau wie das Einchecken im Hotel, ereignislos verlaufen und so waren sie mehr als pünktlich am Klub angekommen, in dem sie heute Abend spielen würden. Er hatte versucht, Karyu noch einmal auf sein seltsames Verhalten auf dem Parkplatz anzusprechen, aber der Große hatte abgeblockt und sich bis jetzt effektiv hinter den Vorbereitungen für die Show verstecken können. Jetzt jedoch saß der Leader neben ihm in einer Wolke von Haarspray an der langen, ziemlich heruntergekommen wirkenden Spiegelfront, die ihnen zum Schminken und Stylen diente.   „Du weißt, dass sie schon tot sind?“, neckte er, während er seine Zöpfe mit deutlich gezielteren Sprühstößen des Haarlacks dazu brachte, etwas von seinem Kopf abzustehen. Karyus schwarz geschminkte Augen erwiderten seinen Blick und mit einem lang gezogenen Seufzen, das müder klang, als es die Situation rechtfertigte, stellte er die Dose beiseite.   „Irgendwann rasiere ich mir einen Militärschnitt, dann brauch ich mich mit den Zotteln nicht mehr herumschlagen“, murrte er und zupfte frustriert an dem Gemüse auf seinem Kopf herum. Zero hätte bei dem Anblick am liebsten laut aufgelacht, beließ es jedoch bei einem halben Schmunzeln, stand auf und stellte sich hinter ihn.   „Darf ich?“ Er ließ seine Hände über Karyus Kopf schweben und begann erst, sich der armen Strähnen anzunehmen, nachdem sein Freund genickt hatte. „Ich denke, das Management wäre von so einem Radikalschlag nicht sonderlich begeistert“, scherzte er, was Karyu ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Mit nur wenigen Handgriffen hatte er die recht verklebten, dunkelblonden Haare soweit in Form gebracht, dass sie in etwa als Frisur zu erkennen waren. „So, wenn du sie dir nicht waschen willst, ist das alles, was noch rauszuholen ist.“   „Nee, zum Haarewaschen ist keine Zeit mehr und … mh, sieht doch gar nicht so übel aus.“ Er grinste ihn über die Reflexion im Spiegel breit an. „Danke dir.“   „Nicht dafür.“ Zero drehte sich weg und war bereits einen Schritt auf seinen eigenen Platz zugegangen, als er es sich noch einmal anders überlegte, stehen blieb und Karyu musterte. „Verrätst du mir nun endlich, wen du geglaubt hast, auf dem Parkplatz zu erkennen?“   „So hartnäckig kenn ich dich gar nicht.“ Karyu runzelte die Stirn und schaute ihm über den Spiegel teils fragend, teils belustigt entgegen. „Warum interessiert dich das so?“   „Weil du ausgesehen hast, als würdest du jeden Moment umkippen oder einen Herzinfarkt bekommen. Also bitte, wer würde sich da keine Sorgen machen?“   „Du hast dir Sorgen um mich gemacht?“   „Natürlich hab ich das.“   Karyus Augen waren kugelrund geworden und sein Mund stand einen kleinen Spalt breit offen. Wäre er über die unverhältnismäßige Reaktion seines Freundes nicht so erstaunt gewesen, hätte er sich bei diesem Anblick vermutlich scheckig gelacht. So jedoch erwiderte er für einen langen Moment nur stumm Karyus Blick, bevor sie beide von Makoto, einem ihrer Tontechniker, aus ihrer Starre gerissen wurden.   „Sorry, dass ich euch unterbrechen muss, aber es gibt Probleme mit deinem Verstärker, Karyu. Kannst du ihn dir mal ansehen? Wenn es blöd läuft, musst du heute Abend das Ersatzgerät hernehmen.“   „Oh, nein.“ Karyu seufzte und war kurz davor, sich durchs Haar zu fahren, aber blitzschnell hatte Zero seine Finger um das Handgelenk des anderen gelegt und ihn damit effektiv daran gehindert, erneut ein Vogelnest auf seinem Kopf zu bauen.   „Die Haare sind tabu, bis du auf der Bühne bist, verstanden.“   „Ja, Mama.“   „Ich geb dir gleich Mama.“ Er grinste und scheuchte den Großen davon, nicht aber ohne ihn vorher daran zu erinnern, dass er ihm noch eine Antwort schuldig war.   ~*~   Trotz der technischen Schwierigkeiten hatten sie pünktlich mit der Show beginnen können. Seine Antwort hatte er noch immer nicht erhalten, aber nun, wo er endlich wieder auf der Bühne stand, waren die vielen Gedanken und Sorgen, die er sich ständig um Karyu machte, beinahe vergessen. Der Rhythmus von Tsukasas Drums und die tiefen Töne seines Basses vibrierten durch seine Knochen, während Karyus melodisches Gitarrenspiel und Hizumis Gesang einen herrlichen Kontrast zum Jubeln und Kreischen ihrer Fans bildeten. Die Luft schien zu kochen, machte ihm das Atmen schwer, und die vielen Scheinwerfer, die auf sie gerichtet waren, trugen nur dazu bei, dass er sich wie in einem Hexenkessel fühlte. Der Schweiß lief ihm in Strömen den Rücken hinunter, perlte über sein Gesicht und dennoch wäre er gerade nirgendwo lieber gewesen. Tsukasa zählte einen weiteren Song ein, der Letzte, bevor sie sich eine kurze Pause gönnen würden. Seine Finger krampften, als er den nächsten Akkord anschlug, aber ein kurzes Schütteln genügte, um sie wieder zum Funktionieren zu bringen. Augenblicke wie diese, in denen ihm bewusst wurde, wie weit sie alle in den letzten fünf Jahren gekommen waren, schafften es immer wieder, ihn in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen. Er verließ seinen Platz auf der rechten Seite, ging weiter nach vorn, bis er kurz vorm Bühnenrand innehielt und auf das Meer ihrer Fans herabsah. Strahlende Gesichter blickten zu ihm auf. Auf manchen konnte er Spuren von Tränen erkennen, auf den meisten spiegelte sich jedoch dieselbe ausgelassene Freude wider, die auch er in dieser Sekunde empfand. Er ging vor ihnen auf die Knie, spielte einen Herzschlag lang nur für sie. So sehr war er in seinen eigenen Empfindungen gefangen, dass er zunächst nicht verstand, warum ihr Kreischen plötzlich noch lauter, noch frenetischer geworden war. Bis er eine Präsenz hinter sich fühlte, einen langen Arm, der sich sanft um seine Brust legte, Finger, die sein Kinn zur Seite drückten und warme Lippen, die angedeutet, zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, über seine Haut wisperten. Seine Lider fielen zu, sein Mund öffnete sich, um einen Laut freizulassen, der sich im Lärm der Menschen und ihrer Musik verlor. Jegliche Fähigkeit einen vernünftigen Gedanken zu fassen hatte ihn verlassen, und es war lediglich der Routine seiner Finger zu verdanken, dass er nicht zu spielen aufhörte.   So schnell dieser surreale Moment gekommen war, so schnell war er wieder verschwunden, und hatte es dennoch geschafft, ihn gänzlich aus dem Konzept zu bringen. Er wusste nicht, wie er den Song beendet hatte oder wie er hinter die Bühne gelangt war. Das Nächste, dem er sich wieder bewusst wurde, war Karyu, den er mit einer Hand gegen die schmutzig graue Betonwand ihres Aufenthaltsraums gedrückt hielt. Zero bekam kaum Luft und brodelnde Wut, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich gegen den Gitarristen oder sich selbst richten wollte, ließ seinen Magen rumoren.   „Was hast du dir dabei gedacht?“, zischte er und ließ erst von ihm ab, als Karyu seine Hand über die seine legte. So, als hätte ihn diese flüchtige Berührung verbrannt, zuckte er zurück und verschränkte abwehrend seine Arme vor der Brust. „Seit wann geben wir Fanservice, ohne es vorher abgesprochen zu haben? Verdammt, du kannst froh sein, dass ich mich da draußen nicht verspielt hab!“   „Tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht.“   „Ja, so wie du nie nachdenkst, bevor du irgendeinen Mist machst.“ Er drehte sich um, konnte es gerade nicht ertragen, in Karyus Gesicht zu sehen. Er wusste, dass er überreagierte und dass er den Leader mit seinem Verhalten verletzte, aber er konnte nicht aus seiner Haut. „Lass in Zukunft einfach deine Griffel von mir, hörst du.“ Er stürmte aus dem Raum und steckte sich im Gang, der zur Bühne führte, eine Zigarette an. Tief atmete er den Rauch in seine Lungen und wünschte sich, er könnte sich beruhigen. Aber seine Hände zitterten noch immer und sein Herz sehnte sich zurück nach diesem kurzen Moment, in dem er Karyu erneut so nah gewesen war. Gott, er fühlte sich wie ein Junkie auf Entzug, der das charakteristische Aroma seiner ganz persönlichen Droge bereits auf der Zunge geschmeckt hatte, bevor sie ihm wieder weggenommen wurde.   „Wenn du endlich aufhören würdest, dir alles zu verbieten, würde es euch beiden besser gehen.“ Hizumi lehnte plötzlich neben ihm, ohne dass er bemerkt hätte, wie er dorthin gekommen war. Im Gegensatz zu ihm wirkte der andere tiefenentspannt, während er einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche trank, bevor er ihn kritisch musterte. „Denkst du nicht, dass du etwas streng mit ihm gewesen bist?“   „Mit Karyu kann man nicht streng genug sein, sonst kommt der noch öfter auf so dämliche Ideen“, maulte er und zog so heftig an seiner Zigarette, dass der heiße Rauch in seiner Kehle brannte. Er verzog das Gesicht und vernichtete den Rest unter seiner Schuhsohle. „Und, was meine Verbote angeht, die musst du schon mir überlassen.“   „Ja, man sieht ja, was dabei rauskommt, wenn man alles dir überlässt.“   „Was soll das nun wieder heißen.“   „Nichts weiter, nur dass sich Karyu da drinnen gerade selbst zerfleischt und du hier draußen genau dasselbe tust. Und warum das alles? Weil du zu stur bist, euch beiden dieses ständige Leid endlich zu ersparen.“   „Das hat nichts mit Sturheit zu tun und gerade du solltest das am besten wissen.“   „Red es dir nur weiter ein, vielleicht glaubst du irgendwann einmal tatsächlich daran.“ Hizumi funkelte ihn aus wütend zusammengekniffenen Augen an, was ihn derart aus der Fassung brachte, dass er für einen Moment nicht wusste, wie er reagieren sollte. „Du weißt, wie fragil Karyus Selbstbewusstsein ist. Wir müssen noch einmal raus auf die Bühne und dein Ausbruch ist gerade echt zum falschen Zeitpunkt gekommen, wenn ich das mal so sagen darf.“   „Tja, daran hätte er denken sollen, bevor er mir vor Hunderten unserer Fans so auf die Pelle rückt. Unabgesprochen!“   „Zero …“ Sein Name aus Hizumis Mund klang wie ein Seufzen und der andere wirkte mit einem Mal eher am Ende seiner Geduld angekommen als wirklich verärgert. Zero öffnete den Mund, um sich und sein Handeln zu verteidigen oder wenigstens irgendetwas zu sagen, das seine Wut auf Karyu aufrechterhalten würde.   „Fuck“, murmelte er stattdessen kaum hörbar und verbarg sein Gesicht hinter beiden Händen, als knochentiefe Erschöpfung den Platz des Ärgers in ihm einnahm. „Ich weiß doch, dass er sich nichts dabei gedacht hat, aber …“   „Woher willst du das wissen.“   „Weil die Vorstellung, es würde mehr dahinterstecken, schlicht und einfach unerträglich wäre.“   Hizumi schnaubte. „Manchmal würde ich dich am liebsten so lange durchschütteln, bis du endlich vernünftig wirst.“ Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter, drückte kurz zu, bevor er spürte, wie sich der Sänger von ihm entfernte. „Aber nachdem das nicht meine Aufgabe ist, sag ich unserem Großen jetzt lieber, dass schon wieder alles in Ordnung kommen wird, bevor er sich noch mehr in Selbstvorwürfen verliert.“   Zwei Herzschläge lang spürte er noch Hizumis Blick auf sich, als würde der andere auf eine Reaktion von ihm warten. Aber Zero starrte nur wie versteinert auf die von ihm ausgetretene Zigarette, die eine schwarze Aschespur auf dem abgetretenen Linoleumboden hinterlassen hatte. Einen kurzen Moment gönnte er sich den Luxus, sich vorzustellen, was wäre, wenn Hizumi rechtbehalten würde. Wenn hinter Karyus Taten mehr als nur Unüberlegtheit stecken würde. Wenn er sich ihren Beinahe-Kuss, die Anziehung zwischen ihnen, die im Hotelzimmer geherrscht hatte, nicht nur eingebildet hätte. Wenn er seine eigenen Gefühle für den Gitarristen zulassen, ihnen Raum bieten würde. Ja, was wäre dann? Sein Herz flatterte aufgeregt in seinem Brustkorb und es fühlte sich beinahe so an, als wäre es glücklich. Zero hingegen lächelte traurig. Diese Gedanken waren zu gefährlich, um sie zuzulassen. Er stieß sich von der Wand ab, ging zurück in ihren Aufenthaltsraum und schälte sich aus seinem verschwitzten Oberteil. Er mied Karyus Blick, obwohl er ihn auf sich fühlen konnte, und streifte sich eines der T-Shirts über, die sie extra für diese Tour hatten drucken lassen. Mit geübten Handgriffen brachte er sein verschmiertes Make-up wieder in eine Form, die gewollt aussah, und straffte die Schultern, bevor er zu den anderen ging, die an der Tür auf ihn gewartet hatten.   „Bereit, die Meute da draußen noch einmal zum Ausflippen zu bringen?“ Tsukasa grinste in die Runde, vibrierte beinahe mit all der Energie, die durch seine Adern zu fließen schien.   „Na, aber immer doch!“, rief Hizumi aus und schlug gegen die ausgestreckte Handfläche des Drummers. Karyus Reaktion hingegen bestand aus einem schwachen Nicken, aber bevor Tsukasa sich beschweren oder fragen konnte, was mit ihm los sei, war er bereits von Hizumi davongezogen worden. Manchmal hasste er den Sänger dafür, dass er ihn zwang, sich seinen Dämonen zu stellen, aber was sein musste, musste eben sein.   „Hör mal, Karyu“, begann er und setzte sich in Bewegung, froh darüber, dass der Leader ihm ohne Weiteres folgte. „Ich hab überreagiert und dafür möchte ich mich entschuldigen.“   „Schon gut“, murmelte Karyu mit einem derart niedergeschlagenen Unterton in der Stimme, dass er ihm kein Wort glaubte. Wäre Zeit gewesen, hätte er ihn zurückgehalten, um diese dumme Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. So jedoch konnte er nur dabei zusehen, wie sein Freund die drei Stufen zur Bühne hinaufstieg und sich unter dem anschwellenden Jubel der Massen mit gehobenen Armen feiern ließ. Vor den Kopf gestoßen blieb er für einen weiteren Augenblick reglos stehen und starrte ihm hinterher. Hatte er sich verhört oder hatte Karyu im Vorbeigehen tatsächlich noch gesagt, dass es ihm sehr leidtue, weil er wisse, wie wenig Zero von Fanservice, vor allem mit ihm, halten würde. ‚Oh, Karyu, du könntest nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.‘   ~*~   Der Rest des Konzerts war eine verschwommene Erinnerung an mechanische Bewegungen, ohrenbetäubend laute Geräusche und ein Meer von nichtssagenden Gesichtern, die ineinander zu verschwimmen begannen. Sie hatten die Show beendet, ja, aber Freude hatte sie ihm nicht mehr bereitet. Karyus Worte zogen wie in einer Dauerschleife durch seinen Kopf und sein Herz schmerzte jedes Mal, wenn er sich an den besiegten Ausdruck in den schönen Augen zurückerinnerte. Diesmal war er schuld daran, dass es Karyu nicht gut ging, und dieses Wissen war unerträglich. Dennoch hatte er nicht noch einmal versucht, mit ihm zu reden, und saß stattdessen nun mit seiner Band in einer abgedunkelten Nische eines Klubs. Tsukasa hatte darauf bestanden, dass sie heute alle zusammen feiern gingen, und Zero hatte nicht den Elan für Gegenargumente gehabt.   „“Ma~ann, Zero. Da leiern wir dem Management schon eine weitere Übernachtung aus den Rippen, damit wir nicht mitten in der Nacht heimfahren müssen und Party machen können, und dann hockst du hier miesepetrig an deiner Cola nuckelnd herum.“   „Nicht jeder kann so ein Gesellschaftstier sein, wie du eines bist, Tsukasa.“ Von irgendwoher zauberte er ein schiefes Lächeln auf seine Lippen, von dem er wusste, dass es seine Augen nicht erreichte, und zog provokant am Strohhalm seines Getränks. „Außerdem solltest du aufhören, dich zu beschweren, immerhin brauchen wir jemanden, der morgen keinen Kater hat, um wieder nach Hause zu kommen, oder etwa nicht?“ Für einen langen Moment schaute ihm der Drummer nur sprachlos ins Gesicht, bevor man mehr als deutlich erkennen konnte, dass auch bei ihm der Groschen gefallen war.   „Verdammt, damit hast du tatsächlich recht.“   „Siehst du.“ Nun war sein Schmunzeln ehrlicher geworden, einfach, weil es immer wieder schön war, Tsukasa beim Sortieren seiner Gedankenbeobachten zu können. Besonders unterhaltsam wurde es, wenn der Drummer, so wie jetzt, schon einige Bier intus hatte und seine Denkprozesse damit auf ein fast schon komödiantisch langsames Niveau fielen. „Und nur, weil ich mich mit Cola am Einschlafen hindere und einfach mal nichts tue, heißt das ja nicht, dass ich nicht eine prima Zeit habe.“   „Wem willst du damit was vormachen?“ Der skeptisch hochgezogenen Augenbraue hätte es nicht bedurft, aber so unterstrich sie nur Tsukasas Unglaube. Wenigstens blieb es ihm erspart, darauf eine Antwort zu finden, als Hizumi an ihren Tisch zurückkehrte.   „Guckt mal, wen ich eingesammelt habe.“ Der Sänger grinste so breit, als würde er ihnen einen ungetrübten Blick auf sein Gebiss gestatten wollen, und stützte mit spielerisch anmutender Leichtigkeit einen betrunkenen Karyu, während er mit der anderen Hand ein Tablett mit vier gefüllten Gläsern balancierte.   „Wow, das muss man dir lassen, sollten wir mit der Band irgendwann keinen Erfolg mehr haben, kannst du überall als Kellner anfangen“, stellte Zero mit nicht wenig Respekt in der Stimme fest, deutete erst auf das Tablett und dann auf Karyu, dem mittlerweile schon die Augen zugefallen waren.   „Das ist alles eine Sache der Übung, stimmt’s Tsukatchi?“   „He~! Du machst mich schon wieder irgendwie schlecht, oder? Ich weiß zwar nicht wie, aber hör auf damit.“   „Was denn? Ich hab doch gar nichts gesagt.“   Zero schüttelte belustigt den Kopf und war aufgestanden, um Karyu mehr schlecht als recht auf die Sitzbank zu manövrieren, während sich Sänger und Drummer kabbelten. Die beiden hatten sich wirklich gesucht und gefunden. Sowohl in ihrer Fähigkeit, mehr zu trinken, als gut für sie war, als auch darin, sich ständig soweit hochzuschaukeln, dass man als Außenstehender nicht wusste, ob das, was sie taten, noch als Zankerei durchging oder schon ein handfester Streit war. Dank Karyu war er jedoch so weit abgelenkt, dass er sich zumindest über Letzteres erst einmal keine Gedanken zu machen brauchte.   „Wie kannst du dich in so kurzer Zeit nur so abgeschossen haben?“, murmelte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Karyus Nuscheln war auch nicht als solche zu verstehen und er war schon froh, den Großen überhaupt dazu bewegen zu können, seinen Kopf nicht auf ihm, sondern lieber auf der Tischplatte abzulegen. Gemütlich sah zwar anders aus, aber wer saufen konnte, konnte auch die Rückenschmerzen am nächsten Tag ertragen. Als er sich dabei ertappte, wie er Karyu die komplett zerzausten Haare aus dem Gesicht streichen wollte, wachte er aus dem Zustand geistiger Umnachtung, die ihn in der Gegenwart des anderen ständig zu befallen schien, auf und setzte sich wieder anständig hin. Hizumis wissender Blick ruhte auf ihm, den er jedoch geflissentlich ignorieren konnte. Wenigstens hatte Tsukasa nichts mitbekommen und spielte lieber mit dem kleinen Papierschirmchen, mit dem der Cocktail dekoriert war, den Hizumi ihm mitgebracht hatte.   „Immer wieder schön, wie man ihm mit so Wenig solche Freude bereiten kann“, stellte Zero fest und wusste gerade wirklich nicht, ob er lachen oder den Kopf über das Verhalten seines Kollegen schütteln sollte.   „Wenigstens einer, der pflegeleicht ist.“ Selbst wenn er den Seitenhieb akustisch nicht verstanden hätte, Hizumis Blick sprach Bände. Zero presste die Lippen aufeinander, um nichts Falsches zu sagen. In den letzten beiden Tagen hatten seine Emotionen schon verrückt genug gespielt, da musste er jetzt zusätzlich nicht noch einen Streit vom Zaun brechen. „Hier“, meinte der Sänger in diesem Moment mit einem beinahe versöhnlichen Unterton in der Stimme und schob ihm einen der Cocktails zu. „Ist auch alkoholfrei.“   „Danke.“ Er lächelte ehrlich, als er sein Glas in die Mitte hielt, damit seine Freunde anstoßen konnten. Selbst in Karyu war wieder Leben gekommen, auch wenn seine Versuche, die Gläser der anderen zu treffen, erst von Erfolg gekrönt waren, als Tsukasa ihn feixend dirigierte.   „Wenn’s um Alkohol geht, wird selbst unser Karyu wieder munter.“   „Sei nich immer so gemein zu mir, Hizu.“   „Bin ich doch gar nicht.“   ~*~   „Wieso bin ich noch gleich mit euch heute Abend ausgegangen?“, ächzte Zero und versuchte, Karyus schwankenden Gang erneut auszugleichen. Der Arm des Gitarristen lag schwer um seine Schultern, sein Kopf lehnte gegen seinen eigenen und alles in allem schien er nicht viel von seiner Umgebung mitzubekommen.   „Weil ich mich sonst um zwei Betrunkene hätte kümmern müssen.“ Hizumi, der Tsukasa mehr zu tragen als zu stützen schien, wirkte tiefenentspannt, als er durch die Lobby ihres Hotels auf die Aufzüge zuging.   „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich dich mit deinem Schicksal alleingelassen.“   „Uh, das trifft mich jetzt.“   „Hizumi.“ Zero blieb stehen, was Karyu erst einige Sekunden später registrierte und sie beide unter dem amüsierten Kichern des Sängers beinahe zu Boden gehen ließ. „Lach du nur“, knurrte er, versuchte, sich unter dem Gewicht seines Freundes wieder etwas gerader hinzustellen, und sah dann mehr als nur etwas skeptisch den silbernen Schiebetüren des Fahrstuhls zu, wie sie sich langsam öffneten. „Ich weiß nicht, ob ich da wirklich einsteigen will.“   „Willst du Karyu lieber drei Stockwerke nach oben dirigieren? Komm schon rein.“ Hizumi machte eine ungeduldige Handbewegung, wobei sein Blick ihm wohl sagen sollte, dass Karyu und ihm nichts passieren konnte, solange er in der Nähe war.   ‚Schön wärs‘, dachte er, entschied sich jedoch dazu, dem anderen zu vertrauen und einzusteigen. Würden die Mächte erneut etwas versuchen wollen, hätte er somit wenigstens seinen persönlichen Schutzengel dabei.   Besagter Schutzengel hatte recht behalten und während er mit Tsukasa noch zwei Etagen höher fuhr, war Zero mit seiner Last im dritten Stockwerk ausgestiegen und schwankte nun über den Flur. Obwohl an Karyu nicht viel dran war, war er dank seiner Größe unglaublich unhandlich und er schickte innerlich ein Stoßgebet an alle Götter, als sie endlich das Zimmer des Gitarristen erreicht hatten.   „So, da sind wir. Wo ist dein Schlüssel?“   „Hosentasche“, nuschelte Karyu, ohne auch nur den Kopf von seiner Schulter zu nehmen. Zero seufzte leise. Ihm blieb heute wirklich nichts erspart. „Andere Seite.“ Nun kicherte sein Freund betrunken, was ihn zu einem herzhaften Augenrollen verleitete, obwohl er ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.   „Das hättest du auch gleich sagen können“, murrte er dennoch, pfriemelte den gefundenen Schlüssel ins Schloss und bugsierte Karyu in den nur schummrig von den Straßenlaternen vor dem Hotel erleuchteten Raum. Am Bett angekommen half er ihm, sich zu setzen, und blickte eine ganze Weile auf ihn herab. „Kommst du allein klar?“, fragte er schlussendlich, nachdem der andere sich noch immer kein Stück bewegt hatte.   „Mhmh“, brummte Karyu und begann, an den Knöpfen seines Hemdes zu zupfen, ohne auch nur einen geöffnet zu bekommen. Ein ehrliches Schmunzeln legte sich auf Zeros Lippen und er konnte nicht umhin wieder einmal festzustellen, dass der andere eindeutig niedlicher war, als es gerechtfertigt sein sollte.   „Das seh ich“, stellte er sarkastisch fest und ging vor seinem Freund auf die Knie, um ihm wenigstens dabei zu helfen, die Schuhe loszuwerden.   „Warum kannst du mich nicht leiden?“ Karyus Worte kamen so unerwartet, dass er in jeder Bewegung innehielt und nicht anders konnte, als ihm erschrocken ins Gesicht zu sehen. „Ich will doch nur mit dir befreundet sein.“ Die vom Alkohol glasigen Augen waren traurig, während sie auf ihn herabsahen und für einen schwindelerregenden Moment fühlte er sich, als würde dieser Blick all seine Barrieren einreißen können.   „Wir sind Freunde“, hörte er sich sagen und sein Herz brach bei dem zweifelnden Lächeln, das sich auf Karyus Lippen geschlichen hatte.   „Sind wir das?“   „Hör mal, Karyu.“ Er stellte den Schuh beiseite, den er dem anderen gerade ausgezogen hatte und hockte sich auf seine Waden. „Wenn es um vorhin geht … Ich sagte doch schon, dass ich überreagiert hab und das mir das wirklich leidtut.“   „Nein, die Sache mit dem Fanservice war meine Schuld. Es war dumm und unüberlegt, aber ... Es hat mir halt mal wieder gezeigt, dass ich recht habe.“   „Was meinst du?“   „Ich bin mir sicher, wäre es Hizumi gewesen, hätte es dich nur halb so sehr gestört.“   „Das stimmt doch gar nicht.“   „Ach, nein?“   „Nein …“   „Warum stößt du mich dann immer fort? Warum fühlt es sich ständig so an, als würde ich dir auf die Nerven gehen oder als wäre ich etwas Abstoßendes, das man kaum ertragen kann?“ Karyu presste die Lippen aufeinander, als seine Stimme beim letzten Wort versagte und senkte den Blick.   „Karyu, ich …“ Es hätte so vieles gegeben, was er in diesem Augenblick gern gesagt hätte, aber nichts, was er wirklich sagen konnte. „Das bildest du dir nur ein“, endete er also lahm und hasste sich selbst dafür, nicht über seinen Schatten springen und Karyu das sagen zu können, was er im Augenblick so dringend hören zu wollen schien.   „Geh, ich komm schon allein klar.“   „Aber …“   „Geh einfach, ich will allein sein.“ Karyu ließ sich zur Seite fallen, kehrte ihm den Rücken zu und zog die Beine an. Er selbst fühlte sich wie versteinert, konnte einige lange Momente nichts weiter tun, als seinen Freund stumm zu betrachten und das Brennen seiner Augen zu ignorieren. Nur langsam erhob er sich, zupfte die Bettdecke unter Karyu hervor und breitete sie über ihm aus.   „Schlaf gut“, wisperte er, aber erhielt keine Antwort. Langsam ging er zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. „Ich empfinde dich nicht als abstoßend, Karyu, ganz im Gegenteil.“ Seine Stimme war so leise, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob der andere ihn überhaupt hatte hören können, bevor er das Zimmer verließ.   ~*~ They say we are what we are But we don't have to be I'm bad behavior but I do it in the best way I'll be the watcher Of the eternal flame I'll be the guard dog of all your fever dreams   I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass (Glass) I try to picture me without you but I can't ~*~ Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Vier Tage. Seit vier Tagen versuchte er, den Mut aufzubringen, zu Karyu zu gehen und sich zu erklären, reinen Tisch zu machen oder schlicht und einfach nur, sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Er ertrug es kaum, zu wissen, wie überzeugt sein Freund davon war, dass er ihm nichts weiter als lästig war. Das war so weit von der Wahrheit entfernt, dass er gelacht hätte, würde sein Herz nicht so schmerzen, wenn er daran dachte. Größer noch als seine Pein jedoch war die Stimme der Vernunft in ihm, die ihn davon überzeugen wollte, dass es so, wie es nun zwischen ihnen war, das Beste für sie beide sei. Immerhin würden ihn seine Gefühle für Karyu somit nicht von seiner Aufgabe ablenken, ihn zu beschützen. Nur … leider verschwanden sie auch dadurch nicht. Zero seufzte, schwenkte das Glas in seiner Hand, bis die Eiswürfel leise zu klirren begannen. Der billige Whiskey brannte in seiner Kehle und es schüttelte ihn, aber wenigstens tötete der Alkohol einige seiner sich ständig im Kreis drehenden Gedanken ab. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war er feige, schlicht und einfach. Er pausierte den Film, der in den letzten Minuten unbeachtet über den kleinen Bildschirm seines Laptops geflimmert war und schob das Gerät von seinem Schoß auf den Futon neben sich. Er brauchte zwei Anläufe, bis er endlich auf seinen Beinen stand und mit unsicheren Schritten zur Küchenzeile schlurfte. Die mehr als halb leere Flasche Jack Daniel's zeigte nur zu deutlich, dass er es etwas übertrieben hatte, und dennoch schenkte er sich nach. Gerade, als er überlegte, ob er den Balanceakt auf seinen Kühlschrank ohne gebrochene Knochen meistern würde, um eine rauchen zu können, klopfte es an der Wohnungstür. Beinahe hätte er sein Glas fallen lassen, so sehr erschrak er sich. Wer konnte das mitten in der Nacht sein? Er wartete reglos, hoffte, sein unerwarteter Besucher würde wieder verschwinden, aber das nächste Klopfen war noch lauter und klang noch hektischer als das Erste.   „Ich komm ja schon!“, rief er aus und schaffte es sogar, seine schwere Zunge dazu zu bewegen, verständliche Silben aneinanderzureihen. Statt jedoch sofort zu öffnen, zog er die Tür nur soweit auf, bis sich die Sicherheitskette spannte, er aber dennoch einen guten Blick auf den Fremden vor seiner Wohnung werfen konnte. Fremd war der Mann jedoch nicht, der ihn zwischen wirren und komplett durchnässten Haarsträhnen hindurch wie eine Erscheinung anblinzelte. „Karyu“, nuschelte er monoton, während sich sein Herz nicht entscheiden konnte, ob es vor Freude oder Überraschung wie wild zu schlagen begann. „Was machst du denn hier, um diese Uhrzeit?“   „Kann ich rein kommen?“ Karyu schenkte ihm einen bittenden Blick, bevor er über seine Schulter sah, als Schritte im Treppenhaus zu hören waren. „Bitte?“   „Ich bin betrunken und es ist spät, das ist gerade wirklich kein guter Zeitpunkt für einen Höflichkeitsbesuch.“   „Bitte, Zero, lass mich rein.“   Spielte ihm der Alkohol in seiner Blutbahn einen Streich oder zitterte Karyus Stimme? „Was ist denn überhaupt los?“   Wieder schaute sein Freund über die Schulter nach hinten und trat unwillkürlich einen Schritt näher an die noch immer nur einen Spalt breit geöffnete Tür heran. „Ich erklär dir alles, aber bitte, bitte lass mich rein, okay?“   Der Ausdruck in Karyus Augen war derart gehetzt, dass Zero nicht weiter über seinen eigenen desolaten Zustand oder die nächtliche Uhrzeit nachdachte. Beinahe ebenso fahrig wie sein Freund wirkte, schob er die Tür zu, nestelte das Ende der Sicherheitskette aus dem Schieber und öffnete, damit er eintreten konnte.   „Danke.“ Karyu drängte ihn sanft aber nachdrücklich zur Seite und verschloss seine Wohnungstür so sorgfältig, als befürchtete er, jemand könnte sich unbefugt Zutritt verschaffen. Zero versuchte erst gar nicht, das Verhalten seines Kollegen noch einmal infrage zu stellen oder irgendetwas zu verstehen, schlurfte stattdessen ins Bad und kam wenige Sekunden später mit einem frischen Handtuch zurück. Eine wahre Meisterleistung in seinem Zustand, aber irgendwie glaubte er nicht daran, dass Karyu das auch zu würdigen wusste.   „Du bist vollkommen durchgeweicht“, stellte er überflüssigerweise fest und nahm erst jetzt das laute Hämmern dicker Regentropfen wahr, die gegen die Scheibe seines kleinen Fensters schlugen.   „Danke für das Handtuch“, murmelte sein Freund müde klingend und rieb sich über die nassen Haare. „Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze.“   „Ich such dir was zum Wechseln raus.“ Ohne auf die entschuldigenden Worte einzugehen, begann er, in seiner Kommode nach einer Jogginghose und einem T-Shirt zu suchen. „Die Hosen sind dir sicherlich zu kurz, aber allemal besser als nass hier herumzusitzen. Wenn du was trinken willst, bedien dich einfach.“ Er reichte Karyu das Kleiderbündel und deutete auf die Flasche auf der Arbeitsplatte, bevor er wieder auf seinen Futon zuging und sich bäuchlings darauflegte. Es drehte sich alles und wenn er nicht zu genau darüber nachdachte, konnte er sich einreden, Karyu wäre nur ein Fragment seiner übereifrigen Vorstellungskraft. Genau, das musste es sein, immerhin hatte er gerade eben erst an den Gitarristen gedacht. Wie hoch waren also die Chancen, dass Karyu just im selben Moment vor seiner Wohnung aufkreuzte?   Eine Präsenz neben ihm und eine warme Hand, die ihm die Zöpfe aus dem Gesicht und Nacken strich, weckten ihn aus dem Dämmerschlaf, in den er die letzten Minuten über gefallen sein musste.   „Wie viel hast du getrunken?“ Karyus Stimme war leise, vielleicht sogar besorgt, und als er seine schweren Lider hob, wurde er mit eben so einem Blick konfrontiert.   „Keine Ahnung. Genug, um zu wissen, dass ich es spätestens morgen bereuen werde.“   „Ich dachte, du trinkst nicht.“   „Nicht, wenn es jemand mitbekommt.“ Zero grinste schief und versuchte, sich aufzurichten, was ihm erst gelang, als ihm Karyu stützend unter die Arme griff. „Hatte ich nicht gesagt, dass ich keinen von euch vor den Proben morgen sehen will?“ Seine Worte hätten vorwurfsvoll klingen sollen, immerhin hatte sich Karyu mitten in der Nacht in seiner Wohnung breitgemacht und war nicht einmal eingeladen worden, aber sie hörten sich vielmehr müde und ausgelaugt an.   „Es tut mir leid, ehrlich.“   „Dann erklär mir endlich, was du hier willst.“   „Ich war mit ein paar Freunden in der Pink Lounge was trinken. Das ist die Cocktailbar nur einen Steinwurf von hier. Kennst du die?“   Zero nickte, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, bevor er nach dem Glas griff, das Karyu ihm hinhielt. Kaum hatte er jedoch die kühle Flüssigkeit darin geschluckt, verzog er missbilligend das Gesicht. Er hatte mit Alkohol gerechnet und so schmeckte das Leitungswasser noch metallischer und widerlicher als sonst. „Wenn du mich umbringen willst, gibt es deutlich angenehmere Varianten für uns beide“, maulte er und stellte das Glas nach seinem Whiskey Ausschau haltend zur Seite. „Wo ist …?“ Karyu deutete in Richtung Arbeitsplatte, auf der sowohl die halb leere Flasche als auch sein Glas standen. Unerreichbar in seinem Zustand, woran sein grinsender Freund, so wie es für ihn aussah, in nächster Zeit auch nichts ändern wollte. „Du bist grausam.“   „Und du betrunken. Wir sind ein tolles Team, was?“ Zeros Augenbraue wanderte nach oben und er versuchte, den anderen mit einem bösen Blick zu strafen. So sehr, wie er jedoch dabei schielte, verfehlte es seine Wirkung. „Vermutlich glaubst du mir das nicht, aber ich wollte vorhin wirklich nur zum nächsten Taxistand, weil ich die letzte Bahn verpasst habe, als …“   „Als du die glorreiche Idee hattest, mich mitten in der Nacht zu besuchen?“   „Nein, eben nicht.“ Karyu seufzte und schaute für einen Moment derart besorgt zur Wohnungstür hinüber, als würde er damit rechnen, dass sie jeden Augenblick aufgebrochen werden würde.   „Was ist los mit dir? Du bist total durch den Wind“, nuschelte Zero und versuchte krampfhaft, nicht zu lallen. ‚Tja, wer ist hier durch den Wind, was?‘   „Ich hab sie wieder gesehen und Panik bekommen.“   „Bitte? Wen hast du gesehen.“   „Die beiden Männer.“ Karyu fuhr sich durch die Haare und ließ sich neben ihm auf dem Futon nieder.   „Etwas genauer wäre nicht verkehrt, Karyu. Also, welche beiden Männer?“   „Die, die ich in letzter Zeit überall zu sehen glaube. Sie beobachten mich und ich weiß nicht warum. Normalerweise halten sie Abstand und wenn ich versuche, auf sie zuzugehen oder ihnen zu folgen, sind sie plötzlich verschwunden. Aber vorhin … Ich hatte das Gefühl, sie würden mich verfolgen, als hätten sie etwas vor, und ich hab Panik bekommen. Ich weiß, wie irrsinnig sich das anhört, aber … Ich wusste einfach nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen.“ Karyu hatte ohne Punkt und Komma gesprochen, sich immer mehr in seine Furcht hineingesteigert, und saß nun schwer atmend neben ihm, das Gesicht hinter beiden Händen verborgen.   „Hey, schon gut“, murmelte Zero und legte dem großen Häuflein Elend eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß nicht, ob ich das gerade alles richtig verstanden hab … aber beruhig dich erst mal wieder. Hier kann dir ja nichts passieren.“   „Du bist nicht sauer?“   „Sauer? Weil du mich dabei störst, mir gepflegt die Kante zu geben? Wie kommst du nur darauf.“ Zero grinste schief, aber Karyu schien so sehr davon überzeugt zu sein, dass er ihm lästig war, dass er ihn nun nur aus kugelrunden Augen ansah und nichts sagen konnte. „Das war ein Scherz“, setzte er also erklärend nach und rieb sich über die brennenden Augen. „Vor einigen Tagen auf dem Parkplatz … Du dachtest, dass du sie dort gesehen hättest, als du so …“ Zero machte eine vage Handbewegung, als sein nebliges Hirn die Grenze seiner verbalen Leistungsfähigkeit erreicht zu haben schien.   „Ja, genau. Ich dachte wirklich, ich würde mir das nur immer einbilden, aber heute … Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an die Schritte im Treppenhaus zurückdenke.“   „Die hab ich auch gehört.“   „Wirklich?“   „Ja. Also, zumindest den Teil hast du dir nicht eingebildet.“   „Scheiße, ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll, dass endlich jemand außer mir etwas mitbekommen hat, oder ob ich nun nur noch mehr Angst habe. Andererseits könnten die Schritte lediglich von einem deiner Nachbarn gekommen sein und ich verlier schlicht und einfach den Verstand.“   „Wie lang geht das schon so?“   „Ich weiß nicht, seit einigen Wochen?“   „Und du hast nichts gesagt?“   „Natürlich nicht. Du merkst doch gerade selbst, wie durchgedreht sich das anhört.“   „Ach, Karyu.“ Er schaute den anderen durch seine gespreizten Finger hindurch an, bevor er endgültig die Hände vom Gesicht nahm und die Finger fest im Schoß miteinander verschränkte. Sie begannen zu zittern, als ihm die mögliche Tragweite dessen, was Karyu ihm gerade erzählt hatte, bewusst wurde. „Einbildung oder nicht, was ist, wenn diese Männer wirklich was im Schilde führen? Vielleicht sind es Verbrecher oder Stalker oder … keine Ahnung … fehlgeleitete Fans?“ ‚Oder die Agenten der Gegenseite, die nach allem, was ich weiß, mindestens so übernatürlich sind, wie Hizumi es ist. Scheiße‘, dachte er und spürte, wie ihm jegliches Blut aus dem Gesicht wich. „Du solltest den anderen davon erzählen, ganz besonders Hizumi.“   „Ich … aber …“ Karyus Stirn legte sich in Falten und seine Körpersprache zeigte nur zu deutlich den Unwillen, den sein Vorschlag in ihm auslöste. „Warum gerade Hizumi?“   „Weil unser werter Herr Sängerknabe so dermaßen neugierig ist, dass ihm zwei Männer, die dich beobachten, sicherlich nicht entgehen werden.“   Ein schmales Lächeln zupfte an Karyus Lippen, bevor der ernste Ausdruck zurückkehrte, der sein Gesicht um Jahre gealtert wirken ließ. „Irgendwie hatte ich gehofft, dass du mich einfach nur für durchgeknallt halten und meiner Geschichte keinen Glauben schenken würdest.“   „Tja, da hast du wohl meine angeborene Paranoia unterschätzt.“ Gott, es fiel ihm so schwer, einen lockeren Tonfall beizubehalten und nicht in Panik zu verfallen. Wie zum Teufel sollte er es schaffen, seinen Freund zu beschützen, wenn sich alles gegen sie zu verschwören schien? Er glaubte keine Sekunde daran, dass sich Karyu seine Verfolger nur einbildete, und war sich gleichzeitig beinahe sicher, dass es sich bei ihnen keineswegs um schnöde Menschen handelte. Am liebsten würde er Hizumi anrufen, verlangen, dass ihr Sänger vorbeikam und alles wieder in Ordnung brachte. Es war ihm nicht aufgefallen, dass ein kurzes, verzweifeltes Lachen über seine Lippen gekommen war, erst als Karyu die Hand auf seine Schulter legte und ihn die besorgten Augen musterten, wurde es ihm bewusst.   „Hey, alles in Ordnung? Du solltest jetzt wirklich schlafen. Wenn ich kurz dein Telefon benutzen darf, ruf ich mir ein Taxi und bin sofort weg.“   „Nein!“, rief er aus, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu können, wie seine unerwartet heftige Reaktion auf Karyu wirken mochte. „Ich meine … Ich bin froh, dass du hergekommen bist und das dir nichts passiert ist und …“   „Zero?“ Karyus Stimme war leise, während er ihn mit seinen großen und so verwirrend ausdrucksstarken Augen verwundert ansah. „Was ist mit dir?“   „N… nichts, ich bin nur …“ Er schluckte schwer, als seine Kehle eng wurde und sich das Zittern seiner Hände auf seinen Körper ausweitete. Verflucht, er musste damit aufhören, sich vorzustellen, was alles hätte passieren können. Karyu war hier, das sollte das Einzige sein, was im Augenblick von Bedeutung war. „Ich glaube, ich bin gerade einfach nur zu betrunken, um angemessen reagieren zu können“, gab er wenigstens einen Teil der Wahrheit zu und war versucht, seine Hand über die Karyus zu legen, um ihn daran zu hindern, gleich wieder auf Abstand zu gehen. Statt diesem Verlangen jedoch nachzugeben, setzte er sich etwas gerader hin und fixierte seinen Freund so gut es eben ging. Er atmete tief durch – ein untrügliches Zeichen seiner Nervosität und wie durcheinander er gerade war, aber daran ließ sich nun auch nichts mehr ändern. „Hör mal. Ich … mein Futon ist zwar nicht so bequem, wie dein Bett sicherlich ist, aber du kannst hierbleiben, wenn du magst. Ob ich jetzt auf dem Boden oder im Sessel nicht schlafen kann, ist auch schon egal.“ Karyu öffnete den Mund, vermutlich um ihm zu widersprechen, aber er schüttelte vehement den Kopf. Eine Bewegung, die er keine Sekunde später bereute, als sich alles vor seinen Augen zu drehen begann. „Ugh …“ Eine zweite Hand hatte sich auf seine andere Schulter gelegt und als er seine Augen einen Spalt breit öffnete, war ihm sein Freund plötzlich verdammt nah gekommen. Ohne darüber nachzudenken, lehnte er sich mit der Stirn gegen Karyus Brust und atmete tief durch. „Nach allem, was du erzählt hast, will ich einfach nicht, dass du heute noch allein unterwegs bist, verstehst du? Auch wenn es nur für ein paar Sekunden ist, während du ins Taxi einsteigst. Außerdem bekommt der Taxifahrer einen Lachkrampf, wenn er dich in den viel zu kurzen Hosen sieht, weigert sich, dich mitzunehmen, und dann haben wir den Salat. Und mit deinen nassen Klamotten lasse ich dich nicht vor die Tür. Du siehst also, dir sind die Hände gebunden.“ Wenn er ehrlich war, wusste er gerade nicht, was er sagte. Sein Mund hatte ein Eigenleben entwickelt und auf seine Lippen hatte sich ein breites Grinsen geschlichen, obwohl ihm gar nicht zum Scherzen zumute war.   Karyus leises Lachen perlte wie ein warmer Sommerregen über seinen Rücken und ohne es bewusst steuern zu können, entkam seinen Lippen ein leiser Laut, als er sich näher gegen seinen Freund schmiegte. Der andere war so warm und die Vibrationen seines Brustkorbs kitzelten auf angenehme Weise in seinem Gesicht.   „Das nenne ich mal schlagfertige Argumente“, meinte Karyu schließlich und tätschelte ihm wie einem kleinen Kind den Kopf.   „Du nimmst mich nicht ernst.“   „Ich nehm dich immer ernst.“ Zero glaubte ihm kein Wort, aber die Nähe zu seinem Freund, die Finger, die bewusst oder unbewusst mit seinen Zöpfen zu spielen begonnen hatten, waren so schön, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. „Ich befürchte nur, du wirst mir morgen den Kopf abbeißen, wenn du mich hier entdeckst, bevor ich mich rechtfertigen kann.“ Der traurige Unterton, der Karyus Worten plötzlich anhaftete, schmerzte, weil Zero ganz genau wusste, dass er dafür verantwortlich war.   „Trau dich“, wisperte er, hob den Kopf und sah seinem Gegenüber auffordernd in die Augen. „Vielleicht beiß ich dich auch nur, ohne langfristige Konsequenzen.“ Er schmunzelte, als Karyu kurz leise auflachte, bevor er wieder ernst wurde. Tief atmete er ein, als würde er unter die Oberfläche eines Sees tauchen wollen, aber in Wirklichkeit versuchte er lediglich, sich ein Rückgrat wachsen zu lassen, um seinem Freund endlich das zu sagen, was er schon viel früher hätte hören sollen. „Weißt du, Karyu, ich hab versucht, dich in den letzten Tagen anzurufen. Ich war sogar einmal vor deiner Wohnung, um mich persönlich zu entschuldigen, aber mich hat im letzten Moment immer der Mut verlassen. Ich weiß, dass ich kein einfacher Mensch bin und dass mein Verhalten schnell verletzend sein kann, aber bitte glaub mir, dass es mir leidtut. Ich wollte nie, dass du denkst, ich würde dich nicht leiden können.“ Karyus Mund stand leicht offen, als könnte er nicht fassen, was er zu hören bekam. Zu verdenken war es ihm nicht. Zero verstand selbst nicht, warum er ihm das alles gerade erzählte. Aber noch hatte ihn der Gitarrist nicht unterbrochen, also fuhr er fort: „Ich bin damals nach Tokyo gezogen, um neu anzufangen, nachdem ich mich mit meiner Familie überworfen hatte. Wie gut es gelaufen ist, bevor ihr mich in diesem Klub aufgegabelt habt, hast du ja selbst gesehen. Was ich damit sagen will, ist …“ Er schluckte, bevor er sich einen Ruck gab und die Arme um Karyus Hals legte. Er drängte sich stärker gegen den warmen Körper und verbarg sein glühendes Gesicht an der Halsbeuge seines Freundes. „Ich hab dir das nie gesagt, aber ich bin dir so unglaublich dankbar, dass du mich damals angesprochen hast. Ihr drei seid mir in den letzten Jahren verdammt wichtig geworden. Ihr seid jetzt meine Familie, verstehst du? Und, na ja, wie in jeder Familie ist es wohl unvermeidbar, dass es Streit gibt, dass wir uns auf die Nerven gehen und froh sind, die anderen auch mal nicht zu sehen, aber …“ Er zog sich ein Stück zurück, hielt Karyu nun nur noch locker umschlungen, und sah ihm ernst ins Gesicht. „Du bist mir wichtig, Karyu, und egal, wie mürrisch oder mundfaul oder schlecht gelaunt ich bin, daran ändert sich nichts, verstehst du?“   „Ich …“ Das Lächeln, das Karyu ihm schenkte, war wacklig und der Unglaube stand ihm quer übers Gesicht geschrieben. „Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll.“   „Sag am besten gar nichts. Ich hab schon genug für uns beide geredet.“ Zeros Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sich sanft aus ihrer Umarmung löste und mit etwas Koordinationsschwierigkeiten auf die Beine kam. „Ich wollte nur nicht, dass dieses Missverständnis noch länger zwischen uns steht.“ Er drehte sich weg, um eine weitere Decke aus der Kommode zu holen, kam aber nur einen halben Schritt weit, bevor sich Karyus Finger um sein Handgelenk schlossen.   „Warte. Ich … Danke, ehrlich, ich glaub, du weißt gar nicht, wie dringend ich das alles hören musste.“ Zero lächelte, als er sich herumdrehte und auf seinen Freund herabschaute. „Ich wollte nie, dass du genervt von mir bist, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, je mehr ich versucht habe, nichts falsch zu machen, desto schlimmer ist es geworden.“   „Sei nicht so streng mit dir. Es ist die Lebensaufgabe eines kleinen Bruders, nervig zu sein, oder etwa nicht? Das passt schon.“ Er zwinkerte Karyu zu, wuschelte ihm kurz durchs Haar, und wollte sich gerade wieder wegdrehen, als er für einen Sekundenbruchteil glaubte, einen traurigen Schatten hinter den braunen Augen vorbeihuschen zu sehen. Ob er in seinem benebelten Zustand nun doch genau das Verkehrte gesagt hatte? Noch bevor er jedoch fragen konnte, was los war, hatte sich auf die Lippen des anderen erneut ein Lächeln geschlichen und der Druck um sein Handgelenk war verschwunden. „Du hast mich übrigens überzeugt, hierzubleiben“, meinte Karyu in diesem Moment und richtete sich ebenfalls zum Stehen auf. „Aber nur, wenn sich keiner von uns den Rücken im Sessel krumm sitzen muss.“ Skeptisch musterte Zero erst den hochgewachsenen Gitarristen, dann den schmalen Futon zu seinen Füßen und zuckte die Schultern.   „Wenn du meinst. Beschwer dich aber nicht, sollte ich dich als Kopfkissen benutzen. Ich hab ein sehr vereinnahmendes Wesen, du wurdest gewarnt.“   „Ich schätze, damit kann ich leben.“   Während Karyu im Badezimmer verschwand, holte er die zweite Decke und machte es sich nah an der Wand liegend so bequem wie möglich. Anders als sonst, wenn er versuchte, endlich einmal Schlaf zu finden, dümpelte sein Geist nun entspannt in trübem Nebel herum, und als sich Karyu zu ihm legte, bemerkte er, wie angenehm schwer seine Glieder waren. Nicht einmal, als sich ein Arm über seine Schultern legte, kam ihm der Gedanke in den Sinn, dass so viel Nähe keine gute Idee sein könnte. Nein, ganz im Gegenteil. Er seufzte zufrieden auf, drehte sich herum und kuschelte sich noch näher.   „Schlaf gut“, nuschelte er. Für eine Sekunde erinnerte er sich daran, dass er sich keinen Wecker gestellt hatte, aber so schnell der Anflug von Pflichtbewusstsein gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Besonders, als er glaubte, warme Lippen zu spüren, die sich für einen Herzschlag lang auf seine Stirn legten.   „Schlaf du auch gut.“ Karyus Atem kitzelte über sein Gesicht, als würde er auf irgendetwas warten, aber Zero war schon zu weit in die Tiefen eines beginnenden Traums abgetaucht, als dass er noch hätte reagieren können. „Ich wünschte wirklich, ich wäre mutiger“, hörte er noch wie aus weiter Ferne, dann versank er endgültig in der samtenen Schwärze einer Erinnerung.   ~*~   Er saß vor einem Spiegel und beobachtete sich selbst dabei, wie er ein funkelndes Ornament nach dem anderen in seine komplizierte Hochsteckfrisur schob. Das Gesicht, das ihm aus dem polierten Silber entgegensah, war nicht sein heutiges, und dennoch konnte er die verblüffende Ähnlichkeit nicht leugnen. Die Augen waren es, die sich fast nicht verändert hatten. Sie waren so dunkel, dass die Pupille kaum von der Iris zu unterscheiden war, was von der schwarzen Kohle, die sie umrahmte, nur noch verstärkt wurde. Sein Mund, ein kleines, herzförmiges Ding, war karmesinrot geschminkt und ließ das weiße Puder auf seiner Haut fast überirdisch leuchten. Er erinnerte sich, wie jung er gewesen war. Süße sechzehn, eine Meiko, die an diesem Abend ihr Debüt feiern würde. Ein Abend, der ihr Leben verändern würde, auch wenn ihr die Tragweite dieser Veränderung noch gar nicht bewusst war.   Er mochte diesen Traum, dieses Leben … beinahe. Womöglich war er in diesem Jahrhundert am glücklichsten gewesen, so lange jedenfalls, bis auch hier die Tragödie seiner Existenz ihren Lauf genommen hatte. Er versuchte, aufzuwachen, erinnerte sich daran, dass Karyu bei ihm war, und sicherlich nicht miterleben sollte, wie ihn das unvermeidbare Ende einholte und zurück in die Realität schleuderte. Aber seine Versuche blieben fruchtlos, während die Meiko, aus deren Augen er die Welt um ihn herum erlebte, weiter ihrer abendlichen Routine nachging.   Ihr Kimono war ein Kunstwerk aus dunkler Seide, verziert mit Kranichen und Herbstblumen, die den Auftakt einer neuen Jahreszeit verkündeten. Heute würde sie alles geben. Heute würde sie tanzen, singen, ihr Instrument spielen, als hinge ihr Leben davon ab. Sie würde beweisen, wie scharf ihre Zunge war, wie eloquent ihre Geschichten und wie allumfassend sie unterhalten konnte. Sie würde die Attraktion des Abends sein, kein Mann würde seine Blicke von ihr nehmen können. Sie war es wert, einen Gönner zu finden, einen Danna, der für sie sorgen und ihr Rückhalt geben würde. Sie versuchte, nicht daran zu denken, welche Art von Männern es sein würde, die ihrer Darbietung beiwohnen würden, dass unter ihnen auch solche sein konnten, die sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Sie musste positiv denken, darauf vertrauen, dass ihr Talisman, der ihr zum Jahreswechsel Glück für die bevorstehenden Monate prophezeit hatte, recht behalten würde.   Das Bild vor Zeros Augen verschwamm und für einen Moment hoffte er, er hätte es geschafft und würde aufwachen. Dann jedoch klärte sich seine Sicht, während Stimmengewirr seine Ohren und Rauch seine Nase kitzelten. Ob jeder so realistisch träumte wie er oder ob das eine Spezialität seiner besonderen Situation war? Eine überaus interessante Frage, die er bei Gelegenheit einmal Hizumi stellen sollte. Er versuchte, sich umzusehen, aber der Blick der Meiko war hoch konzentriert auf das Gefäß mit heißem Wasser und den Bambuspinsel gerichtet, die sie benutzte, um den Tee für ihre Gesellschaft zuzubereiten. Selbst nach all der Zeit waren ihm ihre Bewegungen so vertraut, dass unwillkürlich ein feines Ziehen durch sein Herz ging. Verdammt, er war so gut gewesen in dem, was er getan hatte. Mit zarten Bewegungen schob sie einem ihrer potenziellen Gönner die filigrane Teeschale zu, sprach die Worte, die diesen symbolischen Akt traditionell begleiteten. So würde der ganze Abend verlaufen, unterbrochen nur von ihren künstlerischen Darbietungen und den gelegentlichen Trinkspielen, in die sie die Männer verwickeln würde. Sie versuchte, aufgeschlossen zu bleiben, die Freude, die ihr ihre Berufung brachte, in jede der routinierten Handgriffe und Bewegungen einfließen zu lassen. Doch je weiter die Zeit voranschritt, desto müder wurde sie. Nicht, weil ihr die Anstrengung zusetzte oder ihr schweres Gewand unerbittlich ihre Schultern nach unten drücken wollte. Nein, der Grund für ihre Müdigkeit war einzig und allein der, dass sie keinen der hier Versammelten als ihren Danna wollte. Und dennoch würden sie nach diesem Abend ihre Gebote abgeben, um sie feilschen, sich gegenseitig ausstechen, bis nur einer von ihnen übrig bleiben würde. Und sie würde diese Entscheidung, die über ihren Kopf getroffen wurde, dankbar annehmen und glücklich darüber sein müssen. Die rote Blüte ihres Mundes begann zu welken, als ihr endgültig bewusst wurde, dass sie erneut ihr Leben, ihr Wohlbefinden in die Hände eines anderen würde legen müssen – wie an dem Tag, als ihre Eltern sie hierher in die Stadt der Blumen gebracht hatten. Plötzlich riss sie ein Gefühl aus ihren trüben Überlegungen, das sie bislang noch nie gespürt hatte. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen hob sich ihr Blick.   Obwohl Zero wusste, was passieren, wen die Meiko sehen würde, traf ihn die Welle der Vertrautheit, der Sehnsucht, wie ein Schlag ins Gesicht, der ihn von den Beinen gerissen hätte, hätte er Kontrolle über seinen Körper gehabt. So jedoch betrachtete er den jungen Mann, der soeben das Gasthaus betreten hatte, mit flatterndem Herz, während sein früheres Ich versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber auch sie hatte das untrügliche Gefühl beschlichen, soeben ihrem Schicksal, ihrer Liebe, ins Antlitz gesehen zu haben.   Er erinnerte sich ab diesem Zeitpunkt nur noch bruchstückhaft an die Ereignisse des Abends und auch in seinem Traum flogen die Bilder und die sie begleitenden Geräusche wie ein Schwarm kleiner Vögel an ihm vorbei. Hier ein dröhnendes Lachen, dort das gerötete Gesicht eines Betrunkenen und die Hand eines Dritten, die eine beiläufige Berührung mit sich brachte. Über allem jedoch strahlte der Fremde, der ihm vertrauter war als er sich selbst, wie der hellste Stern am Firmament. Zero hatte vergessen, wie gut seine Liebe in dieser längst vergangenen Nacht ausgesehen hatte. Er trug die Gewänder eines Edelmanns, das lange, schwarze Haar zu einem strengen Zopf geflochten und ein alles und jeden für sich einnehmendes Lächeln auf dem attraktiven Gesicht.   Erinnerungen aus zahllosen Leben stürmten auf die Meiko ein, als sich ihre Blicke trafen, und dennoch war sie professionell genug, um sich weiterhin um ihre Gäste zu kümmern. Obwohl sie am liebsten alle von ihnen ignoriert hätte, um all ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf diesen jungen Mann zu richten, der nun mit gemessenen Schritten auf sie zukam.   Wieder verschwamm Zeros Blick, die Musik und das Stimmengewirr verstummten, bis er schließlich allein in seinem Raum in der Okiya auf dem Tatamiboden saß.   Die Finger in ihrem Schoß waren eiskalt, als sie sie ineinander verschränkte, um sie vom Zittern abzuhalten. Sie hatte versucht, zu schlafen, dann zu meditieren und als auch dafür ihr Geist zu voll gewesen war, hatte sie sich hingesetzt und starrte nun seit Stunden schon vor sich ins Leere. Der Bote hätte längst eintreffen und die Ergebnisse der Auktion bekannt geben müssen. Seit Tagen betete sie, dass es der unbekannte sein würde, der das höchste Gebot abgegeben hatte, obwohl sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt Interesse an ihr hatte. Er war nicht eingeladen gewesen, war keiner der ausgesuchten Gönner, und dennoch wusste sie, dass sie um so vieles mehr verband, als Traditionen oder die Zwänge der Gesellschaft. Sie würde einen Weg finden, mit ihm zu sein, musste ihn finden, um ihn zu beschützen. Sie konnte ihn nicht wieder verlieren, nun, da sie ihn eben erst gefunden hatte. Oder würde ihre Gegenwart, ihre Einmischung in sein Leben erst dafür sorgen, dass er wie in den Jahrhunderten zuvor ein grausames Ende finden würde? Vielleicht war sie schuld, schon immer schuld gewesen, und sollte nun lieber ihre Distanz wahren?   Zero lächelte, als die Gedanken seines früheren Selbst in eine Richtung gingen, die ihm nur allzu vertraut waren. In jedem Leben schien er sich dieselben Sorgen zu machen und dennoch waren ihm stets die Hände gebunden, wenn es darum ging, ihr Schicksal zu verändern. Selbst hier, wo er und seine Liebe so viele gemeinsame Freuden genossen hatten.   Der Raum um ihn herum verlor seine Konturen, wurde größer, prunkvoller, bis Zero von oben herab auf die Körper zweier Liebender blickte, die sich in leidenschaftlicher Umarmung hielten. Sie waren so glücklich gewesen, die Meiko und ihr Danna, und in einer perfekten Welt hätte die Geschichte hier ihr Ende gefunden, aber nicht in seiner. Er spürte, wie seine Augen zu brennen begannen, als warme Tränen aus ihnen fielen, seine Wangen nässten. Es war derselbe Raum, nur einige Monate später, aber die Atmosphäre war eine gänzlich andere. Er hörte sie weinen, fühlte ihren Schmerz, als sie nach der Hand ihrer Liebe griff. Sie war so kalt, so schwach, so blass, dass sie sich kaum traute, sie vollends zu umfassen. Das schöne Gesicht ihres Dannas war eingefallen, die Augen trüb, die Lippen aufgerissen und wund. Ein schrecklicher Husten schüttelte ihn, raubte ihm auch noch die letzte Energie. So sicher, wie sie am Abend ihres Kennenlernens gewusst hatte, dass er der Teil ihrer Seele war, den sie ihr ganzes Leben lang vermisst hatte, so sicher war sie sich nun, dass dieser Augenblick ihr letzter Gemeinsamer sein würde. Sie küsste die von Blut geröteten Lippen, nahm sein letztes Ausatmen wie einen Schatz in sich auf, bevor der weiße Tod ihn mit sich nahm.   ~*~   „Zero? Hey, Zero, wach auf.“ Karyus sanfte Stimme bahnte sich einen Weg durch den Schleier seiner Erinnerungen, bis er schließlich die Augen öffnete. Das Zimmer lag in schummrigem Halbdunkel und eine Träne rann über seine Schläfe. Er verzog das Gesicht, als sich die Feuchtigkeit in seinem Ohr sammelte und er für einen Moment nichts mehr hören konnte. Groggy richtete er sich auf und bemerkte erst jetzt, dass Karyu direkt neben ihm saß und ihn besorgt musterte. „Du hast im Schlaf geredet und gew… Also, ich meine, ich dachte, es wäre besser, wenn ich dich aufwecke.“   „Danke“, murmelte er und rieb sich übers Gesicht. „Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Schlaf und ich sind nicht die besten Freunde, aber das weißt du ja.“   „Ist wieder alles in Ordnung? Hattest du einen Albtraum?“   „Ich weiß nicht.“ Zero lachte heiser auf, was sich mehr wie ein Schluchzen anhörte. „Ich weiß gerade überhaupt nichts.“   „Hey.“ So ein kleines Wort und doch hatte Zero das Gefühl, als würde sich Karyus Zuneigung wie eine wärmende Decke um ihn legen. Wieder stieg eine so allumfassende Traurigkeit in ihm hoch, dass er wie ein kleines Kind geweint hätte, säße der andere nicht noch immer neben ihm.   „Halt mich fest“, bat er mit gebrochener Stimme, lehnte sich gegen Karyus Seite und versteckte sein Gesicht an seiner Schulter. „Lass mich nicht allein.“ Warme Arme legten sich keinen Herzschlag später um ihn, gaben ihm den Halt, den er so dringend brauchte.   „Niemals“, murmelte Karyu in die Flut seiner Zöpfe und lehnte sich stärker in ihre Umarmung. „Willst du mir erzählen, was dich so aufwühlt? Vielleicht geht es dir dann besser.“   „Es war nur ein dummer Traum.“   „Dann erzähl mir davon.“   ~*~ Sometimes the only payoff for having any faith Is when it's tested again and again everyday I'm still comparing your past to my future It might be your wound but they're my sutures     I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass I try to picture me without you but I can't ~*~ Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Sie saßen gegen die Wand gelehnt auf dem Futon, Karyus Arm noch immer fast schützend um seine Schultern, während er müde und ausgelaugt einen Fleck auf dem Fußboden fixierte. Sehen tat er jedoch nichts, viel zu gefangen war er noch immer in den Bildern seines Traumes, seiner Erinnerung, von der er seinem Freund soeben erzählt hatte. Er seufzte unhörbar, drehte den Kopf zur Seite und verbarg sein Gesicht gegen Karyus Brust gelehnt, wie er es so oft in den letzten Minuten getan hatte. Die Nähe zu ihm tat so unglaublich gut, doch gleichzeitig nagte eine immer stärker werdende Nervosität an seinem Nervenkostüm. Was würde Karyu sagen? Was würde er von all dem halten, was er ihm gerade erzählt hatte? Würde er glauben, dass es nur ein Traum war oder hatte er sich mit dieser Geschichte endgültig verraten. Noch hatte er nicht reagiert, schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und Zero brachte es nicht über sich, ihn anzusprechen. Wäre es wirklich so schlimm, wenn er ihn durchschaut hätte? Vielleicht war es an der Zeit, endlich reinen Tisch zu machen. Er konnte die anfängliche Erleichterung bereits spüren, die dieses Geständnis mit sich bringen würde …   „Du, Karyu, hör mal …“, begann er, verstummte jedoch, als sein Freund zeitgleich zu sprechen anfing.   „Warum nur sind all deine Geschichten immer so traurig? Oh, entschuldige, was wolltest du sagen?“   „Nicht so wichtig.“   „Sicher?“   „Mhmh.“ Zero seufzte und schloss die Augen, als sich der kurze Anflug von Mut verzog und ihn unsicher und zwiegespalten zurückließ. „Aber, um deine Frage zu beantworten, ich hab keine Ahnung, warum ich träume, was und wie ich träume.“ ‚Lüge! Bodenlose Lüge!‘, schrie es in seinem Inneren, aber er ignorierte die Stimme ebenso wie das aufziehende schlechte Gewissen.   „Jedenfalls ist es wirklich kein Wunder, dass dich so ein Traum aufwühlt. Wen täte das nicht?“ Karyus Finger schoben sich in seinen Nacken, streichelten über die empfindliche Haut dort und bescherten ihm eine dicke Gänsehaut, die langsam über seinen Rücken rann. „Wir sollten dein Unterbewusstsein darauf trainieren, nur noch Träume mit Happy End zu produzieren, was hältst du davon?“   „Keine schlechte Idee“, gab er zu und war über Karyus Versuch, die etwas eingetrübte Stimmung aufzuheitern, mit einem Mal so erleichtert, dass er am liebsten laut aufgelacht hätte. Er beließ es jedoch bei einem belustigten Schnauben und schaute von unten her zu seinem Freund auf, ohne jedoch sein gemütliches Plätzchen an seiner Seite aufzugeben. „Ich glaube nur nicht, dass sich mein Unterbewusstsein von deinen Versuchen beeindrucken lassen wird.“   „Wenn es so stur wie du ist, dann sicherlich nicht.“   „Es ist ein Teil von mir, du hast nicht wirklich etwas anderes erwartet, oder?   „Nein, wenn ich ehrlich bin, hab ich das nicht.“ Karyu lächelte auf ihn herab und die Anziehung zwischen ihnen war plötzlich zu einem greifbaren Wesen geworden, das ein Eigenleben zu entwickeln schien. Schnell wandte Zero den Blick ab und starrte auf seine rechte Hand, die – wann auch immer das geschehen war – komplizierte Muster auf Karyus Oberschenkel zeichnete. Fuck. Er hielt inne, verschränkte die Finger so fest miteinander, dass die Knöchel weiß wurden, und verfluchte seinen Körper für die notorische Unzurechnungsfähigkeit, die ihn in Karyus Gegenwart ständig befiel.   „Also, Doktor Freut …“, begann er und versuchte, seiner Stimme einen lockeren Unterton zu verleihen. „Da ich nicht glaube, dass du dich mit dem Argument, wir müssen früh raus, von deinem Vorhaben abbringen lässt …“ Ein prüfender Blick nach oben zeigte ihm Karyus breites Grinsen, was ihm Antwort genug war, sodass er fortfuhr: „Weih mich ein, wie du mein Unterbewusstsein umprogrammieren willst.“ Kurz fragte sich ein kleiner, wohl noch rationaler Teil seines Gehirns, ob sie mitten in der Nacht tatsächlich nichts Besseres zu tun hatten, als sich nun irgendwelche blödsinnigen Theorien auszudenken, aber Karyus Augen funkelten so vorfreudig, dass er es nicht über sich brachte, seiner Vernunft nachzugeben.   „Ich dachte mir, ich könnte damit anfangen, deinem Traum jetzt und hier ein glückliches Ende zu verpassen, vielleicht genügt das schon als Anregung für die Zukunft?“   „Das ist aber sehr zuversichtlich gedacht.“   „Schon, aber was anderes fällt mir gerade nicht ein.“   „Na schön, dann leg mal los, jetzt bin ich neugierig.“ Ohne weiter darüber nachzudenken kuschelte er sich bequemer an und zog die Decke über ihre Beine. Karyus Arm verstärkte für einen Moment seinen Halt, bevor er spürte, wie sich der größere Körper neben ihm entspannte. ‚Als hätte er die ganze Zeit über den Atem angehalten‘, dachte Zero und ließ das liebevolle Lächeln zu, das mit Nachdruck an seinen Lippen zupfte. In Augenblicken wie diesen fragte er sich wirklich, ob er tatsächlich so gerne litt oder ob die Sehnsucht nach Karyu mittlerweile einfach so groß geworden war, dass er bewusst oder unbewusst jede Chance ausnutzte, ihm nahe sein zu können. Und obwohl ihm die prekäre Lage, in die er sich und seinen Freund manövriert hatte, mehr als bewusst war, konnte oder wollte er nichts dagegen tun.   „Also …“, begann Karyu und verlieh seinen Worten einen tragenden Unterton, so wie es jeder gute Geschichtenerzähler getan hätte. Nur mit dem Unterschied, dass Zero eine gewisse Nervosität aus der weichen Stimme heraushören konnte, was er unglaublich rührend fand. Er schloss die Augen, versuchte, alle Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben und nur noch dem zu lauschen, was Karyu ihm zu erzählen hatte. „Als ihr Danna krank wurde, klapperte die Meiko alle Ärzte der Stadt ab, um …“   „Dein Ernst?“   „Ehm, ja, wieso?“   „Ich glaube kaum, dass eine Meiko im achtzehnten Jahrhundert irgendwas abklappert.“   „Okay, das ist ein Argument.“   Zero sah das verlegene Lächeln auf Karyus Lippen, als er kurz den Kopf hob, wurde im nächsten Moment jedoch von seinem Arm abgelenkt, der sich um seine Mitte legte. Obwohl die lockere Umarmung unerwartet kam, tat er nichts, um sich aus ihr zu lösen, sondern erwiderte das Lächeln, bevor er es sich wieder gemütlich machte. Karyus Kopf lehnte sich leicht gegen seinen und es verstrichen einige Sekunden der Stille, die angenehmer waren, als Zero es für möglich gehalten hätte. Vielleicht hätte er sogar einschlafen können, würde es ihn nicht so brennend interessieren, was Karyu sich ausgedacht hatte.   „Erzählst du weiter?“   „Ehm, na klar. Also … als ihr Danna krank wurde, suchte die Meiko jeden Arzt der Gegend auf, nur um ein ums andere Mal abgewiesen zu werden. Ist das jetzt besser so?“ Der andere machte eine Pause und Zero lachte leise in sich hinein, als er kurz nickte.   „Ja, so kannst du weitererzählen.“   „Sehr gut.“   Erneut sanken seine Lider entspannt herab und ohne, dass er sich wirklich anstrengen musste, erschienen die Bilder in seinem Geist, die Karyu mit Worten zeichnete. Er sah sich selbst in der Gestalt der Meiko, wie sie immer verzweifelter wurde, als niemand ihr und ihrem Danna helfen konnte.   „Eines Tages fand sie schließlich einen Arzt, der sich ihren Liebsten ansah und ihm Heilung versprach … zu einem Preis, versteht sich.“   „Natürlich, immerhin ist nichts umsonst und der Traum soll ja realistisch sein.“   „Ganz genau.“ Karyu lachte leise in sich hinein, während er für eine Sekunde den Halt um ihn verstärkte. Er gönnte es sich, seinem schwelenden Verlangen wenigstens ein bisschen nachzugeben und ebenfalls die Arme um die Mitte seines Freundes zu legen. Sie mussten schon ein seltsames Bild abgeben, wie sie hier ineinander verschlungen saßen und sich Geschichten ausdachten, aber gerade war ihm das herzlich egal. Karyu schien nichts dagegen zu haben und das war das Einzige, was für ihn zählte. „Die Meiko war nicht mittellos, aber diese Summe konnte sie nicht aufbringen.“   „Konnte sie nicht? Aber was ist mit ihrem Gönner, hat der nicht genug Geld?“   „Stimmt …Mist.“ Karyu überlegte für einen langen Moment, bevor ein begeisterter Laut ankündigte, dass ihm wohl eine Lösung für sein Dilemma eingefallen war. „Ihr Geliebter war schon zu schwach, um in diese Richtung noch irgendwas veranlassen zu können, und … Genau! Die Meiko konnte nicht einfach über sein Geld verfügen, sodass sie darauf angewiesen war, den Betrag irgendwie selbst zu beschaffen.“   „Mh, okay, das akzeptiere ich jetzt einfach mal so, weil du’s bist.“   „Ha! Super, dann muss ich mir nichts Neues einfallen lassen.“   „Dachte ich mir“, murmelte Zero grinsend, aber Karyu ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.   „Sie überlegte also hin und her, was sie tun konnte, bis sie sich schließlich dafür entschied, ihren kostbarsten Kimono zu verkaufen.“   „Autsch.“   „Ganz genau. Tatsächlich konnte es sich jedoch keiner der vielen Kaufleute der Stadt leisten, dieses Kunstwerk zu erstehen. Es schien aussichtslos und ihrem Danna ging es immer schlechter, aber als die Verzweiflung am größten war, fasste sie all ihren Mut zusammen und besuchte einen allerletzten Händler. Ein zwielichtiger Geselle – hier kannst du dir übrigens Hizumi vorstellen, hab ich grad beschlossen.“   „Hizumi, ernsthaft? Und das soll gegen meine Albträume helfen?“   „Das war fies …“, stellte Karyu bemüht tadelnd fest, obwohl Zero nur zu deutlich spüren konnte, dass er sein Lachen kaum unterdrücken konnte. Er hatte damit weniger Skrupel, als er sich feixend etwas nach vorn beugte und nach der kleinen Wasserflasche angelte, die er gerade halb unter seinem Kopfkissen versteckt entdeckt hatte.   „Willst du auch?“, fragte er, nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, und reichte die Flasche an seinen Freund weiter. „Du hast allerdings recht.“ Er streckte sich kurz, bevor er sich wieder gegen Karyu lehnte und die Augen schloss. „Ich kann mir Hizumi wirklich sehr gut als zwielichtigen Gesellen vorstellen.“   „Na, sag ich doch.“ Karyu stellte die Flasche beiseite und zog ihn erneut in seine Arme, was er beinahe mit einem glücklichen Aufseufzen quittiert hätte. So weit war seine Hirnleistung jedoch noch nicht abgefallen, sodass er es dabei beließ, die Decke wieder anständig über sie zu ziehen. „Also, weiter im Text. Der Kaufmann ließ sich bitten und die Verhandlungen mit ihm waren alles andere als angenehm für die Meiko, aber schlussendlich hatte sie ihn so weit, dass er ihr das dringend benötigte Geld gab. Es hatte sie nicht nur ihren kostbaren Kimono und einen vergoldeten Haarkamm, sondern auch einen Teil ihrer Ehre gekostet, aber das war alles vergessen, als sie den Arzt endlich beauftragen konnte, sich um ihren Liebsten zu kümmern. Und ja, bevor du fragst, ich bin dafür, dass wir Tsukasa zum Arzt machen.“   „Unseren Drummer Boy? Na, ob das was wird. Aber okay, ich lass mich drauf ein.“   „Sehr gut.“   „Aber warte mal …“   „Ja?“   „Wenn Hizumi der Händler und Tsukasa der Arzt ist, wer ist dann der Danna? Ich gehe davon aus, die Meiko bin ich, oder etwa nicht?“ Er wusste, dass er Karyu mit dieser Frage zu Überlegungen anregte, die alles andere als gut für sie beide waren, und er hätte sie sich einfach verkneifen sollen, aber er wollte wissen, ob der Gitarrist bereits eine Ahnung hatte oder zumindest in dieselbe Richtung dachte wie er.   „Das überlasse ich ganz dir, immerhin hast ja du von ihm geträumt.“ Ihre Blicke trafen sich, als er erneut zu seinem Freund aufsah. Hätte Karyu nicht die feine Röte auf seinen Wangen bereits verraten, spätestens das hoffnungsvolle Flackern in den schönen Augen sprach Bände.   „Gut, ich hab mich nämlich schon entschieden, wisperte er und auf eine seltsame Art und Weise hörten sich diese wenigen Worte in seinen Ohren wie ein Versprechen an. „Also, wie geht es weiter?“ Karyu räusperte sich, während Zero den Blick wieder von ihm abwandte und mit einem verstohlenen Lächeln auf den Lippen nach seiner Hand griff, um ihre Finger miteinander zu verschränken.   „Der Arzt nahm die beiden mit in ein kleines Fischerdorf, wo neben seinen Tinkturen und Tees vor allem die Seeluft helfen sollte, die Krankheit zu vertreiben. Wochen und Monate zogen ins Land, bis sich der Zustand ihres Liebsten langsam besserte.“   Zero seufzte unhörbar, als sich erneut Bilder vor sein geistiges Auge schoben. Er glaubte beinahe, das Salz in der Luft riechen und auf seinen Lippen schmecken zu können, als er durch die Augen der Meiko auf das Meer hinaussah. Hätte sein Leben so verlaufen können? Hätten sich die Arme seines Liebsten genau so um seine Mitte gelegt, wie sie es in seiner Vorstellung soeben taten? Hätte sein Danna sich wieder vollständig erholt? Wären sie zusammen glücklich geworden, hätten sie nur ein wenig mehr Zeit gehabt? Die Krankheit war so plötzlich gekommen, hatte einen so schweren Verlauf genommen, dass er keine Chance gehabt hatte, irgendetwas zu unternehmen. Zeit, immer wieder Zeit. Genau wie in all den Leben zuvor hatte es ihm auch in diesem an Zeit gemangelt. Er war so in seinen Überlegungen versunken gewesen, dass er weder Karyus Erzählung weiter hatte folgen können, noch die Tränen bemerkte, die ihm langsam über die Wangen rannen. Erst jetzt, als er sich dazu zwang, die Augen wieder zu öffnen, konnte er der Stimme seines Freundes lauschen, die ihm von dem glücklichen Ende berichtete, das er sich für die beiden Liebenden ausgedacht hatte.   „Der Danna war wieder ganz gesund geworden und obwohl ihre lange Abwesenheit weder seinen Geschäften noch der Berufung seiner Meiko … Mh, eigentlich müsste sie jetzt ja schon eine Geisha sein, oder?“ Karyu rieb sich übers Kinn, schien jedoch keine Antwort zu erwarten, weil er im nächsten Moment bereits mit seiner Geschichte fortfuhr. „Also, ihre lange Abwesenheit hatte ihnen geschäftlich gesehen zwar nicht gutgetan, aber zusammen überwanden sie auch diese Krise. Genau wie sie ab diesem Zeitpunkt alles gemeinsam taten. Es gab nur eines, das ihm zu ihrem absoluten Glück noch fehlte und das war, seine Geliebte endlich zur Frau zu nehmen. Aber er geduldete sich, wusste, dass es einer Geisha untersagt war, zu heiraten. Doch als es an der Zeit war, dass sie Platz für die nächste Generation machte, ging er vor ihr auf die Knie und bat sie, seine Frau zu werden.“   „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.“   „Vorher gabs noch die fetteste Party, die das Hanamachi je gesehen hat, aber ja, im Großen und Ganzen ist das das Ende.“ Zero lachte und verbarg sein Gesicht im Stoff von Karyus Oberteil, als ihm gleichzeitig dicke Tränen über die Wangen rollten. Himmel, wann war er so fürchterlich emotional geworden? Aber allein es einmal ausgesprochen zu hören, wie eines seiner Leben hätte verlaufen können, hätte sich das Schicksal nicht gegen ihn verschworen, tat gleichzeitig so gut und so weh, dass er das Gefühl hatte, sein Herz würde jeden Augenblick zerbersten. „Zero? Was ist denn? Hab ich was Falsches gesagt?“   „Nein“, schniefte er und schaute auf, direkt in Karyus Gesicht, über das sich Verwirrung und Besorgnis in gleichem Maße zogen. „Du hast genau das Richtige gesagt. Die Geschichte war toll, ehrlich, ich bin nur ein betrunkener, viel zu emotionaler Idiot, das ist alles.“ Er lächelte schief, zog die Nase hoch und verfluchte den eitlen Teil seiner selbst, der sich gerade allen Ernstes Sorgen darüber machte, dass Karyu ihn in so einem desolaten und alles andere als ansehnlichen Zustand sehen musste. Als hätte er keine größeren Probleme. Die Hand seines Freundes zum Beispiel, die sich unerwartet an seine Wange gelegt hatte, und ihn mit sanftem Nachdruck zwang, seinen Blick zu erwidern.   „Das glaub ich dir nicht. Du bist weder betrunken genug noch ein von Natur aus extrem emotionaler Mensch, also muss deine Reaktion etwas anderes zu bedeuten haben.“ Zero stockte der Atem und seine Lippen wurden mit einem Mal taub, als er versuchte, das, was sein Gegenüber soeben gesagt hatte, begreifen zu können. „Ich bin mir sicher, dass mehr hinter deinen Träumen steckt, als du mir bislang verraten hast. Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, was genau es ist, aber das ist okay.“ Karyu lächelte und sein Daumen strich derart sanft eine Träne unter seinem rechten Auge fort, dass er sich ein leises Aufschluchzen verkneifen musste. „Ich will nur, dass du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst. Ich will für dich da sein, Zero.“   „Himmel, Karyu“, seufzte er beinahe weinerlich klingend und schloss die Augen, um den erwartungsvollen Blick seines Freundes nicht mehr sehen zu müssen. „Du weißt gar nicht, wie sehr ich mir das wünsche, aber es geht nicht.“   „Warum denn nicht?“   „Weil …“ Er presste die Lippen aufeinander, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber je schneller sein Herz zu schlagen begann, desto weniger gelang es ihm. „Ich hab Angst. Angst um dich, Angst dass dir etwas passiert und Angst dich zu verlieren.“   „Aber, wieso? Ich versteh das nicht. Was ist denn los? Ich fühle mich, als wäre ich so kurz davor, endlich alles zu begreifen und das Einzige, was mir noch fehlt, ist ein winziger Hinweis von dir, der alles ins richtige Licht rückt. Kannst du dir auch nur im Geringsten vorstellen, wie verrückt mich das macht?“   „Es tut mir leid.“ Zero legte seine Rechte über die Karyus und atmete durch, um sich wenigstens etwas zu sammeln. „Ich begreife selbst erst nach und nach, was hier überhaupt vor sich geht, verstehst du? Ich kann dir nichts sagen, was ich selbst nicht weiß.“   „Dann sag mir das, was du kannst.“ Als Karyu die Stirn gegen seine lehnte, erschauerte er und öffnete einen Spalt breit die Augen. Sein Freund war ihm so nah, dass sich ihr Atem mischte, und es wäre ein Leichtes gewesen, seiner Sehnsucht nachzugeben und endlich diese so weich wirkenden Lippen zu küssen. Womöglich würde sich Karyu damit auf andere Gedanken bringe… Nein, das war seinem Freund gegenüber nicht fair. Trotzdem … Dieser Mund … „Bitte, Zero.“   „Ich …“ Er biss sich auf die Unterlippe, presste für einen Moment die Lider fest aufeinander, bevor er etwas auf Abstand ging, um wenigstens zu versuchen, passende Worte zu finden. „Meine Träume sind keine Träume im herkömmlichen Sinn.“ So, jetzt hatte er es ausgesprochen, aber Karyu sah nicht so aus, als würde diese Offenbarung viel Sinn für ihn ergeben. „Sie sind Erinnerungen. Erinnerungen an frühere Leben.“   „Was?“ Karyus Mimik schien wie erstarrt und er wusste nicht, ob der andere nur verwirrt oder vollkommen geschockt von dem war, was er ihm gerade erzählt hatte.   „Nenn es Wiedergeburt oder Reinkarnation, wie auch immer. Ich träume von früheren Leben … unseren früheren Leben. Deinen und meinen, verstehst du?“ Sein Freund sagte nichts, blinzelte nicht einmal, also griff er nach seinen Händen, die eiskalt geworden waren, und hielt sie fest umschlossen. „Du bist der Danna, die Prinzessin und noch so viele mehr, von denen ich dir noch nicht erzählt habe. Himmel, Karyu, in einem Leben warst du ein kleines Mädchen, das ich vor dem Ertrinken gerettet habe, nur um zusehen zu müssen, wie du doch in meinen Armen stirbst. In einem anderen habe ich meine Existenz damit verbracht, nach dir zu suchen, doch als ich dich endlich fand, warst du so alt und gebrechlich, dass ich dabei zusehen konnte, wie uns die Zeit durch die Finger rann. Kriege, Unfälle, Naturkatastrophen … Es ist in jedem verfluchten Leben dasselbe. Kaum habe ich dich gefunden, wirst du mir wieder weggenommen!“   „W… warte, ich …“   Aber Zero hatte sich zu sehr in seine Furcht hineingesteigert, dass er nicht mehr zu reden aufhören konnte. „Ich kann dich nicht noch einmal verlieren, Karyu. Ich ertrage nicht noch ein Leben, in dem ich dabei zusehen muss, wie du stirbst. Ich weiß, dass du in Gefahr bist, diese Männer, von denen du mir erzählt hast, haben bestimmt auch etwas damit zu tun, aber ich hab einfach keine Ahnung, was ich tun kann, um dich zu beschützen. Ich hab versucht, auf Abstand zu gehen, diese dummen Gefühle zu dir, die mich nur ablenken, nicht an mich ran zu lassen, aber du machst es mir verflucht noch mal auch nicht leicht!“ Er hatte seine Hände in Karyus Oberteil verkrallt, sein wilder Blick auf das blass gewordene Gesicht seines Freundes gerichtet, und bekam kaum noch Luft. Wieder brannten Tränen in seinen Augen, obwohl diese nun von der Wut herrührten, die er in diesem Moment auf sich selbst verspürte. Wieso war er nur so schwach? Warum war er unfähig, seine Liebe zu beschützen? Warum nur?   Er zuckte zusammen, als er Karyus Finger spürte, die erst zaghaft über seine Zöpfe streichelten, bevor sie ihn mit sanftem Druck dazu brachten, dass er sich gegen seine Schulter lehnte. Arme legten sich schützend um ihn, zogen ihn nah gegen den so herrlich warmen Körper.   „Du … hast Gefühle für mich?“   „Nach allem, was ich dir gerade erzählt habe, ist es ausgerechnet das, was dich aus der Fassung bringt?“ Unwillkürlich entkam Zero ein amüsiertes Schnauben, aber er blieb weiterhin gegen Karyu gelehnt, wagte es nicht, ihm erneut ins Gesicht zu sehen.   „Scheint so.“ Das Lachen seines Freundes klang nervös, aber auch er blieb an Ort und Stelle, verstärkte sogar den Halt um ihn. „Ich weiß gerade nicht, was ich denken soll. Bis eben war ich mir sicher, nichts von dir zu erfahren, und jetzt schwirrt mir der Kopf und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Bei jedem anderen würde ich mich nun auf den Arm genommen fühlen …“ Karyus Stimme war leise und ein nachdenklicher Unterton verlieh ihr beinahe einen ätherischen Klang. „Aber bei dir weiß ich, dass du dir niemals so einen schlechten Scherz mit mir erlauben würdest. Nicht du.“ Zero spürte den Druck eines flüchtigen Kusses auf seinem Schopf, bevor der andere weitersprach. „Ich will nicht behaupten, dass ich auch nur im Ansatz begreifen kann, was du mir gerade erzählt hast, aber … ich glaube dir.“   „Ehrlich?“   „Ja. So unfassbar sich das alles anhört, aber irgendwie weiß ich einfach, dass es wahr ist.“ Zero kniff die Augen zusammen, als er mit einem Mal das Gefühl hatte, irgendetwas in seinem Inneren hätte sich gelöst und ließe ihn seit einer Ewigkeit endlich frei atmen. Seine Emotionen spielten verrückt, sein Körper wollte lachen und weinen zugleich, doch im selben Moment war da die Furcht davor, einen Fehler gemacht zu haben. „Hast du mir jemals zuvor davon erzählt?“   „Nie.“   „Warum nicht.“   Zero atmete tief durch und fasste sich, bevor er sich ein kleines Stück weit löste, um Karyus Blick erwidern zu können. „Meist blieb uns einfach nicht die Zeit und wenn doch, hatte ich zu große Angst davor, dein Schicksal mit diesem Wissen zu besiegeln. Aber jetzt … In diesem Leben scheint so vieles anders zu sein. Wir haben noch nie eine so lange Zeitspanne gemeinsam verbracht und ich weiß heute Dinge, die vielleicht alles ändern könnten. Trotzdem hab ich Angst, doch die falsche Entscheidung getroffen zu haben.“ Er senkte den Blick oder wollte es zumindest, aber erneut war es Karyus Hand an seiner Wange, die ihn daran hinderte.   „Wie lange?“   „Was meinst du?“   „Wie viele Leben trägst du dieses Wissen schon allein mit dir herum?“   Zeros Lippen verzogen sich zu einem müden Lächeln und als er den Schmerz in Karyus Augen erkannte, den diese kleine Geste bereits verursacht hatte, hätte er am liebsten nichts gesagt. Doch sein Freund blieb stumm, erwartungsvoll, und hatte er nicht eine Antwort verdient? „Zehn Leben, beinahe tausend Jahre …“   „Oh, Zero.“ Karyus Augen glänzten und er konnte den Ansturm der Emotionen fühlen, die in ihm toben mussten, als wären es seine Eigenen. „Warum nur du? Ich meine, wieso erinnere ich mich nicht? Ist doch so, oder? Dass ich mich nie erinnere?“   „Ja.“   „Das ist so ungerecht, dass nur immer du mit diesem Wissen klarkommen musst.“   „Es tut mir leid, vielleicht hätte ich dir schon viel früher etwas sagen sollen.“   „Nein, so war das nicht gemeint.“ Karyu streichelte erneut über seine Wange, bevor er die Hand zurückzog, um sich durch die Haare zu fahren. „Es zerreißt mich fast, zu wissen, dass ich bis jetzt keine Ahnung hatte, was du durchgemacht hast. Ich bin so ein Idi…“   „Pssst, hör auf damit.“ Sein Finger lag auf Karyus Lippen, um ihn daran zu hindern, sich für etwas Vorhaltungen zu machen, das er nie hatte beeinflussen können. Sein zunächst tadelnder Blick wurde weich, bis sich ein liebevolles Lächeln auf seine Züge schlich. „Das ist so typisch für dich“, murmelte er und rückte näher, hatte nicht einmal bemerkt, dass seine Linke in Karyus Nacken gewandert war und seine Finger mit den feinen Härchen dort zu spielen begonnen hatten. „Mach dich nicht wegen etwas fertig, dass noch nie in deiner Macht lag.“ Ihm war durchaus bewusst, dass er sich diesen Ratschlag gut und gern auch selbst hätte geben können, aber wenn es um Karyu ging, war er schon immer ein Meister darin gewesen, mit zweierlei Maßstäben zu messen. „Weißt du, ich hab Angst zu hoffen, aber vielleicht wird diesmal doch alles anders. Diesmal beschütz ich dich. Diesmal nimmt mir dich keiner weg.“ So daher gesagt seine Worte auch klingen mochten, fühlten sie sich wie ein Schwur an. Karyu atmete zittrig ein, als hätte er in diesem Augenblick dasselbe gespürt, würde wissen und verstehen, was in Zero vor sich ging. Er fühlte sich, als wären sie beide gefangen in einem Fischernetz und jede noch so kleine Bewegung würde ihre Körper näher zueinander bringen. Sie konnten der Anziehung nicht entfliehen und wenn es nach ihm ging, wollte er das auch nicht mehr. Viel zu lange hatte er sich zurückgehalten, viel zu lange hatte er es sich selbst verboten, auch nur in diese Richtung zu denken.   „Sag …“, begann Karyu und seine Stimme klang so herrlich heiser, dass ihm ein wohliger Schauer über den Rücken rann. „Sag mir, dass es eine dumme Idee ist, dich jetzt küssen zu wollen.“ Karyu schien den Atem anzuhalten, während Zero endgültig die Hoffnung aufgab, noch einen rationalen Gedanken fassen zu können. Himmel, wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Seine Sehnsucht flammte wie ein Schwelbrand auf, schien ihn zu verschlingen und ihm gleichzeitig neue Energie zu verleihen. Wie ein Phönix, der aus der Asche seiner verbrannten Vergangenheit aufersteht. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er seine eigenen Worte nicht verstand, obwohl er spürte, wie sich seine Lippen bewegten.   „Verlang das nicht von mir.“ Seine Rechte glitt über Karyus Gesicht, bis sie auf seiner Brust zum Halten kam. Er konnte das rhythmische Pochen seines Herzens spüren, das mindestens ebenso schnell schlug wie sein eigenes. Die Welt schien den Atem anzuhalten, als sie gleichzeitig den letzten Abstand zwischen ihnen überwanden, bevor sich ihre Lippen in einer ersten, zarten Berührung trafen. Zeros Lider sanken herab, obwohl er fürchtete, nur einem seiner Wunschträume zu erliegen, wenn er den Blick nicht weiterhin auf seine Liebe gerichtet ließ. Als sich Karyus Mund fester gegen den seinen presste und sich warme Arme um ihn legten, war jedoch auch diese Sorge verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Für einen Sekundenbruchteil glaubte er, ein Geräusch zu hören, Hunderter kleiner Zahnräder, die sich gleichzeitig in Bewegung setzten, wie eine Uhr, die rückwärts zählte.   „Zero.“   Sein Name, gewispert gegen seine Lippen, riss ihn aus seinen Überlegungen, die ihm in derselben Sekunde so unwichtig erschienen. Er ließ sich nach hinten auf den Futon sinken und Karyu folgte ihm, während er den Kontakt ihrer Lippen zu einem richtigen Kuss werden ließ. Ein genussvoller Laut entkam ihm, als er den größeren Körper weiter auf sich zog und seine Hände unter das T-Shirt gleiten ließ, um mehr der warmen Haut fühlen zu können. Testend leckte er über Karyus Lippen und sein Herz machte einen vorfreudigen Hüpfer, als sie sich einladend teilten. Beinahe eintausend Jahre und dennoch war seine Liebe zu küssen nie schöner gewesen. Er spürte, wie er sich langsam entspannte, als sich ihre Zungen trafen und er trotz der Neuheit seiner Gefühle eine nicht zu leugnende Vertrautheit verspürte. Beinahe war es ihm, als wäre er nach langer Abwesenheit endlich nach Hause gekommen. Vieles hatte sich verändert, aber im Kern war doch alles noch genau so, wie er es zurückgelassen hatte. Karyu war seine Liebe, egal, welches Geschlecht er hatte, wie er aussah oder wie alt er war. Er war sein, unumstößlich und unwiderruflich, über alle Jahrhunderte hinweg.   „Was ist?“ Er lächelte, nachdem sich Karyu aus ihrem Kuss gelöst hatte und nun mit einem eigenartigen Blick auf ihn herabsah.   „Das ist kein Traum, oder?“   „Nein, ganz sicher nicht.“ Er grinste und haschte blitzschnell nach der Unterlippe seines Gegenübers, um spielerisch hineinzubeißen.   „Au.“   „Siehst du, kein Traum.“   „Das hättest du mir auch zärtlicher beweisen können.“   „Hätte ich, aber wo wäre da der Spaß geblieben?“   Karyu verdrehte die Augen, erwiderte jedoch sein Grinsen mindestens genauso breit, bevor er ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn drückte. „Wirst du mir irgendwann von all unseren Leben erzählen?“   „Wenn du das möchtest. Aber nicht mehr heute.“ Seine Finger fanden den Weg in Karyus haar ebenso zielsicher wie seine Lippen ihr Gegenstück, als er ihn mit Nachdruck erneut auf sich zog. „Heute hab ich Besseres zu tun.“   „Und was wäre das?“   „Lass dich überraschen.“       ~*~ Mummified my teenage dreams No, it's nothing wrong with me The kids are all wrong, the story's all off Heavy metal broke my heart   Come on, come on, and let me in Bruises on your thighs like my fingerprints And this is for to match The darkness that you felt I never meant for you to fix yourself   We've been here forever And here's the frozen proof I could scream forever We are the poisoned youth ~*~ Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- Der Duft kühler Morgenluft vermischt mit dem vertrauten Geruch einer brennenden Zigarette kitzelte seine Nase und holte ihn sanft, aber nachdrücklich aus der Schwärze eines traumlosen Schlafs. Einen langen Moment blieb er regungslos liegen, atmete ruhig ein und wieder aus, während er in der nahezu überwältigenden Freude schwelgte, für einige Stunden tatsächlich geschlafen zu haben. Richtiger, echter Schlaf – keine Albträume, keine grausamen Erinnerungen – und er wusste, wem er dieses Glück zu verdanken hatte. Nach und nach nahm er die Geräusche der erwachenden Großstadt wahr und als er blinzelnd die Augen öffnete, begrüßte ihn gräuliches Dämmerlicht, das durch das kleine Fenster in den Raum fiel. Eine schlanke Gestalt verdeckte das meiste des hellen Rechtecks und würde ihr Gesicht nicht hin und wieder durch das rote Aufglühen des Zigarettenendes erhellt, wäre sie nicht von den sie umgebenden Schatten zu unterscheiden. Zero lächelte, als selbst dieses Bild eine Welle der Vertrautheit und Geborgenheit mit sich brachte. Karyu wirkte nachdenklich, wie er dort auf seinem Kühlschrank saß, ein Bein angezogen, das andere entspannt herabhängend, und den Rauch aus dem geöffneten Fenster ziehen ließ. Leise erhob er sich, konnte den Blick für keinen Augenblick von seinem Freund nehmen, und ging auf ihn zu.   „Kannst du nicht mehr schlafen?“   „Nein, mir schwirrt der Kopf zu sehr, um Ruhe zu finden.“   „Das kann ich verstehen.“ Er trat noch näher an ihn heran, stellte sich zwischen seine Beine und streichelte über seinen bloßen Oberarm. Ein Lächeln schlich sich auf Zeros Lippen, als er die Gänsehaut spürte, die dieser Berührung folgte und die den anderen leicht erschauern ließ. „Du machst dich nur verrückt, wenn du versuchst, alles zu analysieren.“   „Wem sagst du das.“ Karyu seufzte und zog an seiner Zigarette. „Weißt du, was eigenartig ist?“ Er schüttelte den Kopf, verschränkte seine Finger mit denen Karyus freier Hand und drückte einen kurzen, aufmunternden Kuss auf den Handrücken. „Ich dachte immer, Konzepte wie Wiedergeburt oder die Erinnerung an frühere Leben wären nichts weiter als die überaktive Fantasie von esoterisch interessierten Menschen oder Leuten, die es mit ihrer Religion etwas zu genau nehmen. Ein Teil in mir will das noch immer glauben, will das, was du mir erzählt hast, als reine Fiktion abtun, aber gleichzeitig weiß ich, dass es wahr ist. Das Wissen ist so unumstößlich in mir wie die Tatsache, dass der Himmel blau und das Gras grün sind. Und trotz all dem erinnere ich mich an absolut nichts.“   Karyus Augen wirkten fiebrig und erst jetzt bemerkte Zero, wie erschöpft er aussah. Sein Herz schmerzte bei diesem Anblick und gleichzeitig schien es die Liebe, die es für diesen Menschen empfand, kaum noch in sich halten zu können.   „Dein Geist kann sich vielleicht nicht an unsere Verbindung erinnern, aber ich hab den starken Verdacht, dass deine Seele es kann. Möglicherweise ist ja sie es, die dir die Sicherheit gibt, mir glauben zu können.“ Es fühlte sich komisch an, so etwas zu sagen, und gleichzeitig spürte er, dass es die Wahrheit war. Es waren ihre Seelen, dieses wunderschöne und doch nicht greifbare Licht, die sich vor Jahrhunderten gefunden und aneinandergebunden hatten, und die nun langsam wieder begannen, sich miteinander vertraut zu machen. „Du hast mir so gefehlt“, wisperte er, ohne es bewusst beeinflussen zu können, und lächelte, als sich Karyu aus seinem lockeren Griff befreite, nur um ihm sanft über die Wange zu streicheln und ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn zu drücken.   „Du mir auch.“ Karyu erwiderte sein Lächeln schief, bevor er beinahe verschämt den Blick senkte. „Ich dachte in den letzten Jahren immer, dass dieses Verlangen, bei dir sein zu wollen, stärker und stärker geworden ist, weil du unerreichbar für mich warst. Wie eine Obsession, die mir manchmal echt Angst gemacht hat.“ Zero verzog das Gesicht, aber noch bevor er aussprechen konnte, wie leid es ihm tat, dass sein Freund diese Ungewissheit und Selbstzweifel so lange mit sich hatte herumtragen müssen, fuhr er fort: „Jetzt jedoch weiß ich, dass es wahre Sehnsucht war, die ich empfunden habe. Ich denke, meine … Seele wollte einfach ihr Gegenstück wiederhaben.“ Das Lächeln auf Karyus Lippen wirkte ebenso verlegen wie die leichte Röte auf seinen Wangen, als er die Hand sinken ließ und die Finger erneut mit den seinen verschränkte. „Das war ein wenig dick aufgetragen, was?“   „Geringfügig.“ Er grinste und küsste Karyus Nasenspitze. „Aber nach allem, was sich in den letzten Stunden für dich geändert hat, sei dir das verziehen.“   „Du bist so großmütig.“   „Ich weiß.“ Zero zwinkerte seinem Gegenüber neckend zu, bevor er wieder ernster geworden fortfuhr: „Außerdem … Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mir das, was du gerade gesagt hast, nicht unglaublich gutgetan hat.“   „Dann hab ich es gern gesagt.“ Noch immer lächelnd zog Karyu erneut an seiner Zigarette, bevor er sie ihm fragend hinhielt. „Willst du auch?“   Zero nickte, aber statt lediglich den gerollten Tabak entgegenzunehmen, schloss er schmunzelnd die Lippen um den Filter und zog daran, ohne Karyu aus den Augen zu lassen. Die Lippen seines Freundes teilten sich, während ihn die warmen, braunen Augen so durchdringend musterten, dass sein Magen aufgeregt zu flattern begann. Langsam entließ er den Rauch und bemerkte mit einer nicht zu verachtenden Vorfreude, wie ihm Karyu immer näher kam, bis er schlussendlich seine Lippen in einem fordernden Kuss vereinnahmte. Himmel, hatte er wirklich vergessen, wie schnell ihn seine Liebe um den Verstand bringen konnte, wenn sie es darauf anlegte? Offensichtlich, denn binnen Sekundenbruchteilen fühlten sich seine Knie an, als könnten sie sein Gewicht nicht mehr tragen, während sein Kopf in herrlicher Leere schwamm und sich sein Körper nach mehr verzehrte.   ‚Oh, Karyu‘, dachte er, bevor sich seine Lippen für die Zunge seines Liebsten teilten, der zielsicher sein Gegenstück zu umgarnen begann. Beide Finger in Karyus Schopf grabend lehnte er sich stärker gegen ihn und seufzte auf, als eine große Hand über seinen Rücken fuhr, bis sie ihr Plätzchen auf seinem Hintern gefunden hatte. Seine Lider waren ihm bereits bei der ersten Berührung ihrer Lippen zugefallen und wäre Karyu nicht plötzlich zusammengezuckt, hätte er sich womöglich für immer so von ihm küssen lassen.   „Au.“   „Was denn?“ Verwirrt schaute er erst seinem Gegenüber ins Gesicht, dann auf die Finger, die Karyu fast vorwurfsvoll anstarrte.   „Die Kippe ist zu weit runtergebrannt.“ Er folgte dem empört wirkenden Wink zum Spülbecken, wo der Rest der Zigarette kläglich vor sich hin dampfte.   „Komm her“, murmelte er und musste sich ein Schmunzeln verkneifen, während er gleichzeitig den Stummel löschte, im Abfalleimer entsorgte und Karyus angesengte Finger unter den Wasserstrahl dirigierte. „Wenn du Glück hast, gibts keine Blase.“   „Warum passiert so was immer mir?“   „Was meinst du?“   „Na, solche Peinlichkeiten.“   Zeros Mundwinkel zuckten verräterisch und dennoch versuchte er, keine Miene zu verziehen, während er Karyus Mund für einen kurzen Kuss noch einmal für sich eroberte. „Ich spar mir jetzt einfach einen Kommentar, geh duschen und du legst dich am besten noch mal hin, mh? Wir haben noch genug Zeit, bis wir im Studio sein müssen.“   „Ich würde viel lieber mit dir duschen.“   Karyus Blick brannte regelrecht auf ihm, aber er konnte … wollte für keine Sekunde wegsehen. Sein Freund stand noch immer vornübergebeugt, die Finger unter dem laufenden Wasserstrahl, und für einen Sekundenbruchteil verschwand der müde Zug um seine Augen. An seine Stelle trat der freche, etwas anzügliche Gesichtsausdruck, der so typisch für ihren Gitarristen war, und der ihm schon viel zu oft weiche Knie beschert hatte. Er schluckte, ließ sich den Aufruhr in seinem Inneren jedoch nicht anmerken und zauberte stattdessen ein feines Schmunzeln auf seine Lippen.   „Hättest du wohl gern.“ Neckend drückte er Karyus Kinn mit spitzem Zeigefinger nach oben, bis er erneut nach der so reizvollen Unterlippe haschen konnte. Für einen Moment ließ er ihn seine Zähne spüren, bevor er kosend über dieselbe Stelle leckte. „Leider ist meine Dusche so eng, dass wir uns entweder beim Versuch, beide in die Kabine zu passen, etwas zerren oder gleich alle Knochen brechen. Tut mir leid“, wisperte er nah an Karyus Mund, drückte ihm einen letzten Kuss auf und drehte sich um. „Leg dich noch mal hin, in Ordnung?“   „Mach ich, weil du es bist.“   „Brav.“   ~*~   Dieses feine, fast verblüfft anmutende Lächeln schien sich permanent auf seine Lippen gelegt zu haben, denn selbst, als er in seinem winzigen Bad angekommen in den Spiegel sah, war es noch immer dort.   „Nicht zu fassen“, wisperte er seiner Reflexion entgegen und versuchte, den müden, vielleicht auch gelangweilt wirkenden Gesichtsausdruck wiederzufinden, der in den letzten Jahren zu einer Art Markenzeichen für ihn geworden war. Unnötig zu erwähnen, dass seine Bemühungen fruchtlos blieben. Als das heiße Wasser über seinen Körper rann und er sich tatsächlich dabei ertappte, wie er ein uraltes Liebeslied zu summen begann, schob er seiner mentalen Unzurechnungsfähigkeit jedoch nachdrücklich einen Riegel vor. Natürlich wünschte er sich seit einer Ewigkeit nichts sehnlicher, als endlich glücklich zu sein, aber das ging nun eindeutig zu weit. Obwohl er zugeben musste, dass sich eine Dusche noch nie derart entspannend angefühlt hatte und er darüber beinahe die Zeit vergessen hätte.   Als er mit einem Handtuch um den Hüften in den Hauptraum seiner Behausung zurückkehrte, schien nicht nur die Morgensonne durch das Fenster, sondern auch Karyu war tief und fest eingeschlafen. Er lächelte und warf einen schnellen Blick auf die Uhr, um erleichtert festzustellen, dass ihnen noch zwei Stunden blieben, bis sie im Studio eintreffen mussten. Gut so, schließlich wollte er nicht dafür verantwortlich sein, dass ihr Leader zu spät zu ihren Terminen erschien, das wäre ein schlechter Start für ihre Beziehung. Abrupt hielt Zero in jeder Bewegung inne und der Lange Lederrock mit den zahlreichen Verzierungen aus Metall, den er sich gerade aus der Schublade seiner Kommode gezogen hatte, viel geräuschvoll klappernd auf den Boden. Was hatte er da gerade gedacht? Eine Beziehung? Das ging doch ein wenig schnell für seinen Geschmack. Besonders, weil er Karyus Einstellung zu so einer tief greifenden Entscheidung noch nicht einmal kannte, war es ein wenig sehr anmaßend von ihm, einfach davon auszugehen, dass sich sein Freund fest binden wollte. Sie lebten schließlich nicht mehr in der Vergangenheit, wo eine Verbindung zwischen Mann und Frau erst dann legitim war, wenn sie einen Trauschein in Händen hielten, und gleichgeschlechtliche Beziehungen im besten Fall einfach totgeschwiegen wurden. Japan war, was Letzteres anging, zwar noch nicht das, was er als ideal bezeichnen würde, aber nun ja, sie hatten zumindest Spielräume, die vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wären. Und er sprach hier aus Erfahrung. Zero seufzte unhörbar. Vermutlich überdachte er alles wieder einmal nur viel zu intensiv. Er rieb sich über die Stirn, hob den Rock vom Boden auf und begann sich anzuziehen. Himmel, so wirr wie er gerade im Kopf war, konnte er von Glück reden, dass sie heute lediglich für ihren Auftritt am Wochenende probten und nichts Wichtigeres anstand.   Langsam ging er auf seinen Futon zu, auf dem es sich Karyu bäuchlings gemütlich gemacht hatte. Die Decke war bis über seine Mitte herabgerutscht und gab einen verführerischen Blick auf seinen nackten Rücken preis. Nicht, dass Zero länger als nötig hingesehen hätte, aber als er sich hinkniete, um das im Schlaf so friedlich, beinahe zart wirkende Gesicht seines Freundes näher betrachten zu können, hatte sich eine gewisse Hitze in seinem Magen angesammelt. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde er heute den ganzen Tag über keinen vernünftigen Gedanken zustande bringen. Nicht, wenn Karyu in seiner Nähe war, zumindest. Trotz dieser erneuten Erkenntnis beugte er sich so leise wie möglich vor und begann, Küsse auf der nackten Haut zu verteilen. Genießend schloss er die Augen und erinnerte sich an die vielen Zärtlichkeiten zurück, die sie spät in der Nacht – oder war es schon früh am Morgen gewesen? – ausgetauscht hatten. Karyus Hände hatten sich so gut angefühlt, während sie über seinen Körper streichelten und ein Teil in ihm wünschte sich auch jetzt noch, dass sie weiter gegangen wären. Aber trotz seiner … ihrer Sehnsucht hatte die Vernunft gesiegt, wobei er sich nicht sicher war, ob er diesen Umstand nun nicht lieber verfluchen wollte. Plötzlich zuckte der schlafwarme Körper unter ihm zusammen und Karyu zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als hätte er sich erschreckt. Verständnislos blinzelte Zero auf seinen Freund herab, der sich ein Stück weit aufgerichtet hatte und nun aus kleinen Augen zu ihm nach hinten blinzelte.   „Was ist da so kalt und nass?“   „Bitte?“   „An meinem Rücken?“   „Oh.“ Zero begann zu lachen, als sein Blick auf das fiel, was Karyu so unsanft aus seinem Schlummer gerissen hatte. Einige seiner Zöpfe waren über seine Schultern gerutscht und lagen nun teilweise auf Karyus Rücken. Dieselben Zöpfe, deren Enden beim Duschen nass geworden waren und nun munter feuchte und kalte Spuren auf Karyus Haut hinterließen. „Tut mir leid, mir ist nicht aufgefallen, dass sie nass geworden sind.“ Er grinste auf seinen Freund herab, der sich umgedreht hatte, um ihn nun übertrieben vorwurfsvoll zu mustern. „Aber du musst sowieso aufstehen.“   „Soll das deine Entschuldigung sein?“   „Welche Entschuldigung? Hättest du eine hören wollen?“, fragte er neckend und begann, herzhaft zu lachen, als er sich von einer auf die andere Sekunde unter Karyu wiederfand. Noch während sein Liebster ihn bemüht tadelnd musterte, zuckten seine Mundwinkel, bis auch er ein Lächeln nicht mehr zurückhalten konnte.   „Ich glaube, ich hab dich noch nie so lachen hören. Klingt schön.“ Zero verstummte und schloss die Augen, als ein warmer Finger begann, seine Gesichtszüge nachzuzeichnen, als würde Karyu sie sich einprägen wollen. „Nur, weil ich das gerade gesagt habe, musst du nicht damit aufhören.“ Wieder fanden weiche Lippen seine Haut, diesmal am Hals, knapp unter seinem Ohr, und entlockten ihm einen leisen Laut, der sich eindeutig genießend anhörte.   „Ich weiß“, murmelte er und haschte nach den Lippen seines Liebsten, ohne sie sehen zu müssen, und schwelgte in der wohligen Gänsehaut, die ihm über den Rücken rann.   „Mh=“, brummte es gegen seine Haut und ließ ihn erneut erschauern.   „Du solltest dich jetzt herrichten, sonst kommen wir heute definitiv nicht mehr aus der Wohnung.“   „Forderst du gerade mein Pflichtbewusstsein heraus?“   „Nein, das würde mir im Leben nicht einfallen.“ Blinzelnd öffnete Zero die Augen wieder, als er spürte, wie Karyu ein Stück auf Abstand ging. Der Blick, mit dem er nun gemustert wurde, wärmte einen Teil seines Herzens, den er längst für tot gehalten hatte … dann seufzte Karyu so abgrundtief, als wäre er in den letzten Minuten um Jahre gealtert und brach damit den Zauber.   „Ich mag es nicht, wenn du das tust.“   „Was denn?“   „Recht haben.“   Er sagte nichts darauf, lachte nur leise in sich hinein, während er seinem Freund beim Aufstehen zusah und sich ebenfalls erhob. „Kann ich dich mit einem Kaffee wieder aufmuntern?“   „Wenn es einen Kuss dazu gibt, vielleicht.“   „Mh, das sollte sich einrichten lassen.“   ~*~   „Woran denkst du gerade?“   Die tief stehende Herbstsonne blendete ihn und er musste die Augen zusammenkneifen, um Karyu, der neben ihm herging, mustern zu können. Sie waren bereits ein wenig spät dran, dennoch hatten sie entschieden, zu Fuß ins Studio zu gehen. Der Weg war nicht allzu weit, führte sie geradewegs durch einen hübsch angelegten Park, und auch das Wetter schien dies für eine gute Idee gehalten zu haben. Bis eben noch hatten sie sich ungezwungen unterhalten und Zero hatte sich mehrmals dabei erwischt, wie er seine Fingerspitzen flüchtig gegen die seines Liebsten hatte streifen lassen, nur um sicher zu sein, dass Karyu auch wirklich hier war. Jedes Mal hatte sein Freund ihn angelächelt, die Geste verstohlen erwidert, obwohl sie nahezu allein unterwegs waren. Aber in den letzten Minuten war Karyu verstummt und hatte auch nicht auf seine Berührung reagiert. „Karyu?“   „Mh?“   „Ist was nicht in Ordnung?“   „Wie? Oh … nein, nein, ich … Mir schwirren nur so viele Fragen im Kopf herum.“   „Fragen, die du mir stellen könntest?“   „Mh, ich denke schon, ein paar zumindest.“   „Dann schieß mal los.“ Er schenkte seinem Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln und setzte sich wieder in Bewegung, nachdem er stehen geblieben war, um sich besser unterhalten zu können.   „Diese ganze Sache mit unseren früheren Leben …“ Karyu zuckte mit den Schultern, als würden ihm die richtigen Worte fehlen, um das auszudrücken, was ihm auf der Seele brannte. „Erzählen wir den anderen davon? Ich meine, die halten uns doch für komplett durchgedreht.“   Von Karyu unbemerkt verzog Zero das Gesicht. Ganz offensichtlich wäre es nun an der Zeit, ehrlich zu sein und zuzugeben, dass zumindest Hizumi schon Bescheid wusste. Aber wenn er erst damit anfing, musste er zwangsläufig auch erzählen, wer oder was Hizumi war und es war eindeutig nicht an ihm, die Geheimnisse des Schutzengels auszuposaunen. Verdammt, er musste unbedingt eine ruhige Minute finden, um mit ihrem Sänger darüber zu reden. Am besten noch, bevor sie morgen ihre große Abschlussshow gaben.   „Zero?“   „Mh? Tschuldige, ich hab nur gerade darüber nachgedacht, was du gesagt hast.“   „Und?“   „Wir sollten auf jeden Fall einen passenden Moment abwarten, um es ihnen zu erzählen.“   „Denkst du wirklich, sie würden uns das abkaufen?“   „Wir reden hier von Tsukasa und Hizumi, natürlich würden sie das.“ Er versuchte sich an einem nonchalanten Lächeln, das wohl überzeugend wirkte, denn die steile Sorgenfalte auf Karyus Stirn glättete sich, bis sein Freund deutlich entspannter aussah. Innerlich atmete er erleichtert aus. Wenigstens diese Hürde hatte er für den Moment umschifft, auch wenn er ahnte, dass in nächster Zeit noch so einige auf ihn zukommen würden. „Willst du mich noch etwas fragen?“   Karyu nickte und umfasste plötzlich so selbstsicher seine Hand, als hätte er vergessen, dass sie hier, so allein sie auch waren, dennoch jederzeit jemand sehen konnte. Aber ihm sollte es recht sein und wenn man von dem Kribbeln in seinem Magen ausging, war auch der Rest seines Körpers sehr zufrieden mit den derzeitigen Entwicklungen.   „Was passiert, wenn du über Überbleibsel unserer Vergangenheit stolperst? Also, ich meine, das ist jetzt vielleicht ein wenig sehr morbide, aber es muss doch schlimm sein, plötzlich vor seinem eigenen Grab zu stehen oder einen Ort wiedergefunden zu haben, der mal ein Zuhause war, oder nicht?“   Karyu wirkte erneut unheimlich verlegen, sodass er ihn am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Stattdessen ging er entspannt weiter, brummte nur leise, um Deutlichzumachen, dass er die Frage verstanden hatte, und gönnte sich einige Augenblicke des Nachdenkens.   „Ich finde die Frage nicht morbide oder zu persönlich, mach dir da mal keine Sorgen.“ Für einen Wimpernschlag erwiderte Karyu seinen Blick aus großen Augen, als würde es ihn ernsthaft überraschen, dass ihm sein Unbehagen quer übers Gesicht geschrieben stand. „Es fällt mir nicht leicht, über all das zu reden. Nicht, weil es mir unangenehm ist. Es ist nur so verdammt ungewohnt, mit jemandem … mit dir darüber reden zu können.“ Er lachte leise auf und fuhr sich über die Zöpfe, bevor er Karyu spielerisch anrempelte. „Willst du mal eines unserer Gräber sehen?“   „W… was?“, kiekste sein Freund und schüttelte den Kopf. „N… nein, das ist nicht … ich meine … lass mal lieber gut sein.“   „Das war ein Scherz, Karyu.“ Zero konnte nicht mehr an sich halten und lachte herzhaft auf. „Dein Gesichtsausdruck gerade war wirklich Gold wert.“   „Ha, ha.“   „Nimm es mir nicht übel“, bat er schmunzelnd, doch Karyu verschränkte im Gehen die Arme vor der Brust und schaute ihn von der Seite her schmollend an. Beinahe hätte er diesen Gesichtsausdruck erwidert, nachdem der angenehme Kontakt ihrer Finger so rüde unterbrochen worden war, aber glücklicherweise besaß er noch so etwas wie ein Fünkchen Selbstbeherrschung. Also begnügte er sich damit, seine kalten Pfoten in die Tasche seiner Jacke zu stopfen und Karyu einen frechen Seitenblick zuzuwerfen. „Bin ich froh, dass du ein deutlich besserer Gitarrist als Schauspieler bist, sonst hätten wir es wohl nie geschafft, Konzerte zu geben, bei denen wir nicht draufzahlen müssen.“   „Eh, das war gemein.“   „Ehm, nein, eigentlich war das ein Kompliment, aber gut.“ Zero grinste und stippte seinem Freund so lange in die Seite, bis dieser sein gekünsteltes Schmollen aufgab und leise lachend wieder neben ihm herlief. „Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich fast nie an Details unserer früheren Leben.“ Zero knabberte auf seiner Unterlippe herum, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden und sich von Karyus nahezu bohrend interessiertem Blick nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich bin noch nie in die Verlegenheit gekommen, mich plötzlich vor einem unserer Gräber wiederzufinden oder an einem Ort zu sein, der einmal ein Zuhause war. Ich bin mir nicht einmal zu hundert Prozent sicher, ob wir immer in Japan gelebt haben. Es scheint zwar so zu sein, aber wirklich wissen tue ich es nicht.“ Erneut verstummte er, schaute für einen Moment auf seine Füße und lauschte dem gleichmäßigen Geräusch ihrer Schritte, die über den Kiesweg knirschten. „Was diese ganze Wiedergeburtssache angeht, scheint das eine Wissenschaft für sich zu sein, von deren Regeln und Gesetzen ich noch immer erschreckend wenig verstehe.“ Er seufzte und versuchte, das schlechte Gewissen Karyu gegenüber zu ignorieren, welches diese Erkenntnis soeben mit sich gebracht hatte. „Ich erinnere mich nur an ein Leben genauer als an all die anderen und …“   „Oh, nein“, hauchte Karyu plötzlich und unterbrach somit seinen Gedankengang. Erschrocken sah er direkt in das blass gewordene Gesicht seines Freundes und versuchte mit wildem Blick herauszufinden, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte.   „Karyu? Was ist denn?“   „Die Männer … sie sind wieder da. Hinter dir. Dreh dich um und sag mir bitte, dass du sie auch siehst.“   Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er Karyus Bitte nachkam und sich umdrehte. Zunächst sah er nichts, nur den Ausgang des Parks und den Spielplatz gleich in der Nähe, wo zwei Mädchen lachend auf den Schaukeln hin und her schwangen, während sich ihre Mütter lebhaft unterhielten. Gerade, als er erleichtert ausatmen und seinem Freund sagen wollte, dass er sich geirrt haben musste, verzerrte sich jedoch das Bild vor seinen Augen, als würde die Luft in der Hitze flirren. Wo bis eben noch ein leerer Weg zu sehen war, standen nun zwei Männer, beide in schwarzen Anzügen gekleidet und eindeutig in ihre Richtung sehend.   „Ich seh sie“, wisperte er tonlos, die Lippen taub vor Angst und mit der Rechten nach Karyus Hand tastend. Kaum schlossen sich die eiskalten Finger um die seinen, wirbelte er herum und rannte davon. Ihm war egal, wer diese Kerle waren oder was genau sie von Karyu wollten. Er blickte sich nicht um, wollte gar nicht wissen, ob sie verfolgt wurden. Weg, weg, einfach nur weg, war das Einzige, woran er gerade denken konnte. Erst als Karyu den Griff um seine Hand spürbar verstärkte, zog sich die Panik ein wenig zurück.   „Warte, wohin laufen wir eigentlich?“   „Ich weiß nicht? Raus aus dem Park. Irgendwohin, wo wir unter Menschen sind.“   Das Grün der Bäume und Büsche um sie herum vermischte sich mit dem Braun der Wege zu einer verschwommenen Einheit und erst, als diese dem kalten Grau der Stadt wich, schien Zero einen dringend nötigen Atemzug nehmen zu können. Sie waren beinahe wieder den gesamten Weg zurück zu seiner Wohnung gerannt und würden es nicht mehr rechtzeitig zu den Proben schaffen, aber das war ihm gerade herzlich egal. Noch immer krallten sich ihre Finger in die Hand des jeweils anderen, als hätten sie beide gleichermaßen Sorge, sie könnten sich verlieren. Zero wagte es nicht, sich umzusehen, herauszufinden, ob sie die Fremden abgeschüttelt hatten oder nicht. Er machte sich nichts vor. Die Männer waren eindeutig von der übernatürlichen Sorte und hatten mit Sicherheit Mittel und Wege, sie einzuholen. Dennoch fuhr eine Welle der Erleichterung durch seinen Körper, als sie die Treppen der U-Bahnstation seines Viertels hinuntereilten und sich mit einem Mal inmitten von Stimmengewirr und eindeutig menschlichen Körpern wiederfanden, die hektisch von einem Ort zum anderen eilten.   „Oh, Gott“, keuchte Karyu neben ihm und erst jetzt bemerkte er, dass er mindestens ebenso außer Atem war wie sein Freund.   „Lass uns die nächste Bahn in Richtung Stadtmitte nehmen und von dort aus mit dem Bus zum Studio fahren. Ich riskier es heute nicht noch einmal, zu Fuß unterwegs zu sein.“   „In Ordnung.“ Ohne, dass sie sich absprechen mussten, suchten sie automatisch die belebtesten Wege, die sie zum richtigen Bahnsteig führen würden. Es war zwar nicht nett, sich durch die Menschenmassen zu quetschen, aber irgendeinen Tod mussten sie sterben. Zero verzog das Gesicht, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, und verfluchte nicht zum ersten Mal seinen angeborenen Pessimismus. „Hast du dein Handy dabei?“   „Ja, aber der Akku ist leer.“   „Du stehst mit dem Ding eindeutig auf Kriegsfuß, was?“ Er versuchte sich an einem Lächeln, während sie sich in die Traube der Berufstätigen einreihten, die ebenso wie sie beide den Zug in die Stadt nehmen wollten.   „Ist das ein Wunder? Wenn ich telefonieren möchte, soll das Ding gefälligst funktionieren. Aber nein. Entweder es gibt kein Netz oder es ist nicht aufgeladen. Schlimmer als ein Haustier, sag ich dir.“   „Na, dann bleibt zu hoffen, dass du dich um ein Haustier deutlich besser kümmern würdest als um dein armes Handy.“   „Wo ist deines denn, wenn du schon so schlaue Sprüche klopfst, mh?“   „Zu Hause vergessen.“ Zero grinste verschmitzt und rieb sich über den Nacken, als ihn Karyus erst ungläubiger Blick streifte, bevor er inbrünstig mit den Augen rollte. Eine so typische wie auch herzerwärmende Geste, dass er für eine Sekunde sogar die Misere vergaß, in der sie sich gerade befanden. So lange jedenfalls, bis sein Blick auf zwei Männer fiel, die lässig an die Wand der U-Bahnstation gelehnt dastanden und sie zu beobachten schienen. Männer in schwarzen Anzügen … und … ohne Gesichter. Schnell sah er weg und quetschte sich mit Karyu in den Zug, der soeben eingefahren war. Verflucht, er hatte geahnt, dass sie nicht weglaufen konnten.   ~*~   „Und … die beiden hatten tatsächlich keine Gesichter?“   Hizumis Stimme klang nervtötend ruhig, als er ihn das fragte, und Zero musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzufahren. Seine Hände waren zu festen Fäusten geballt, seine Zähne gruben sich wieder und wieder in seine Unterlippe, während sein starrer Blick auf Karyu gerichtet blieb. Sein Freund war noch immer blass um die Nase, aber ansonsten war ihm nichts von dem Schrecken des Morgens anzumerken, während er einige Meter von ihnen entfernt mit Tsukasa herumalberte. Sie waren ohne weitere Vorkommnisse im Studio angekommen und hatten sogleich mit den Proben begonnen. Dank ihrer Verspätung war bis jetzt keine Zeit gewesen, den anderen von den Ereignissen zu erzählen, aber sobald ihr Leader zu einer kurzen Pause gerufen hatte, hatten sie das nachgeholt. Nun gut, um genau zu sein, hatte Karyu nur grob erzählt, was passiert war, und war dann sichtbar erleichtert gewesen, als Tsukasa es sich zur Aufgabe machte, ihn auf andere Gedanken bringen zu wollen. Zero hingegen hatte sich ihren Sänger geschnappt und ihm die wirklich beängstigenden Details erzählt. Und obwohl er zugeben musste, dass er die ganze Sache am liebsten verdrängt und vergessen hätte, schwelte die Hoffnung in ihm, dass sich der Schutzengel nun wenigstens einen Reim auf alles würde machen können und wichtiger noch, dass er wusste, was sie gegen diese Männer unternehmen konnten.   „Zero?“   „Ja“, zischte er, bis er sich daran erinnerte, dass er, wenn er Antworten von Hizumi wollte, ihn lieber nicht verärgern sollte. „Ich meine … Anfänglich dachte ich, sie würden Masken tragen und nein, ich hab mich nicht gewundert, warum das keiner der Passanten auf dem Bahnsteig eigenartig fand, weil … Ja weil ich selbst gesehen hab, dass die Kerle sich quasi unsichtbar machen können. Also …“ Er fuhr sich über die Zöpfe, ärgerte sich, dass er allem Anschein nach nicht zum Punkt kommen konnte, aber sein Hirn fühlte sich an, als hätte sich eine Horde Hornissen dort eingenistet. „Es waren auf jeden Fall keine Masken, die ich gesehen habe. Es sah so aus, als hätte jemand ihre Gesichtszüge einfach wegradiert oder … als hätte irgendwer vergessen, ihnen ein Gesicht zu geben. Verstehst du, was ich meine?“   „Leider nur zu gut.“   Hizumi rieb sich übers Kinn, als hätte er einen Bart, den es zu zwirbeln galt. Ein äußerst verstörender Gedanke, der perfekt zu seinem bisherigen Tag passte. Zero hätte am liebsten das Gesicht hinter den Händen vergraben und dem kindlichen Irrglauben gefrönt, dass er sicher war, solange man ihn nicht sehen konnte.   „Wie meinst du das?“, brachte er es schließlich doch über sich, nachzuhaken, als Hizumi auch nach mehreren Augenblicken nicht weitergesprochen hatte.   „Ich kenne diese Art von … Wesen. Es sind Agenten der Gegenseite. Späher, wenn du so willst. Ihr einziger Existenzgrund ist der, Informationen zu sammeln, zu überwachen und Bericht zu erstatten. Im Regelfall sollte von ihnen also keine Gefahr für Karyu ausgehen.“   „Im Regelfall!?“ Zero war vom Sofa aufgesprungen und funkelte Hizumi aus zusammengekniffenen Augen wütend an. „Was soll das heißen, im Regelfall? Und was, wenn der Regelfall NICHT eintritt?“   „Hey, alles okay bei euch?“ So schnell seine Wut aufgekommen war, fiel sie in sich zusammen, als er sich mit Karyus besorgtem Blick konfrontiert sah. Ganz der Leader hatte ihr Gitarrist wie immer einen Riecher dafür, wenn Situationen zu eskalieren drohten, und schob dem Ganzen allein durch seine Anwesenheit einen Riegel vor.   „Ich hab Zero nur gerade gesagt, dass ich nicht glaube, dass von diesen Männern in Schwarz eine echte Gefahr für dich ausgeht.“ Hizumi lächelte Karyu schwach an. „Dennoch bin ich der Meinung, dass du mit dem Management sprechen solltest.“   „Wie? Warum das denn?“   „Mh, mir wäre einfach wohler, wenn wir morgen während des Konzerts ein oder zwei Security-Leute hätten, die ein Auge auf uns haben.“ Langsam setzte sich Zero wieder und schaute mit einer Mischung aus Erstaunen und Neid dabei zu, wie Hizumi es mit wenigen gezielten Worten schaffte, Karyu sichtbar zu beruhigen.   „Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt, wenn du in nächster Zeit weder zu Fuß noch öffentlich unterwegs bist?“ Nur, um auf Nummer sicher zu gehen“, schaltete sich nun auch ihr Drummer ein und Zero musste zugeben, dass das keine schlechte Idee war. „Wenn du dem Management alles erklärst, kannst du mit Sicherheit den Van nutzen.“   „Ich kann dich fahren.“ Plötzlich lagen alle Blicke auf ihm, als wäre ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Tsukasa hatte sogar seinen Drumstick fallen lassen, der klappernd auf dem Boden aufgekommen war. Eilends jagte er dem Holzstäbchen hinterher, das ein Eigenleben entwickelt und wohl beschlossen hatte, unter das Sofa rollen zu wollen. „Jetzt schaut nicht so“, murrte Zero, „ich bin schließlich der Einzige von uns, der ein Auto hat.“   „Eine sündhaft teure Sportkarosse, deren Unterhalt mehr kostet, als wir im Monat zusammen verdienen.“   „Danke, Hizumi, für die korrekte, wenn auch nicht wirklich empathische Darstellung meiner Finanzlage“, knurrte er.   „Arbeitest du deswegen noch immer im Konbini und wohnst in dieser Schuhschachtel von Appartement?“ Mittlerweile hatte auch Tsukasa seine Jagd nach dem Stöckchen erfolgreich beendet und hockte sich neben ihm auf die Sofalehne.   „Nicht, dass euch das was angeht, aber ja.“   „Ich dachte immer“, hakte nun auch Karyu ein, „dass du dich mit deinem Flitzer nur ungern durch den Stadtverkehr quälst?“   „Tu ich auch.“   „Und trotzdem würdest du mich fahren?“   „Siehste mal.“   Karyus Wangen nahmen plötzlich eine gesunde Röte an, sodass er sich abwenden musste, um seine Verlegenheit nicht ganz so offensichtlich zur Schau zu stellen. Damit war auch diese Diskussion erfolgreich im Keim erstickt und Zero war nur froh, dass sich die Stimmung zwischen ihnen in den letzten Minuten wieder etwas aufgelockert zu haben schien. Während Hizumi also ankündigte, sich einen Tee holen zu gehen und Tsukasa augenscheinlich nur darauf gewartet hatte, ihn begleiten zu können, atmete Zero zum ersten Mal seit gefühlten Stunden erleichtert aus, als sich Karyu neben ihn setzte und einen Arm um seine Schultern legte. Ohne darüber nachzudenken, lehnte er sich gegen seine Seite und schloss für einen Moment die Augen.   „Es ist süß von dir, dass du mich fahren willst.“   „Erzähl es keinem“, brummte er und nun war es an ihm, seinen Körper davon überzeugen zu müssen, die Durchblutung in seinen Wangen nicht über die Maßen anzuregen. So, wie Karyu ihn jedoch musterte, schien ihm das nicht wirklich zu gelingen. „Ich will nur, dass dir nichts passiert, da ist so ein bisschen Chauffeur spielen nun wirklich keine große Sache“, versuchte er sich zu erklären, um sich nicht ganz so anmerken zu lassen, wie verlegen ihn dieser ehrlich dankbare Blick machte. Und tatsächlich war sein Freund so zuvorkommend und beließ es dabei, nur ein gewispertes Danke und einen kleinen Kuss musste er noch über sich ergehen lassen, was er natürlich angemessen schrecklich fand – nicht.   „Du hattest übrigens recht“, wechselte sein Lieblingsgitarrist schlussendlich das Thema, wofür er ihm äußerst dankbar war.   „Ich hab meistens recht“, scherzte er und lächelte, als Karyu daraufhin schnaubte, ihm jedoch erneut einen Kuss auf die Schläfe drückte. „Verrätst du mir auch, womit ich recht hatte?“   „Dass es eine gute Idee war, Hizumi und Tsukasa von der ganzen Sache heute Morgen zu erzählen. Mir sitzt der Schrecken zwar immer noch in den Knochen, aber irgendwie fühle ich mich … sicherer, jetzt wo sie es wissen. Ist das seltsam?“   „Mh“, brummte Zero überlegend. Das war tatsächlich eine gute Frage. Hatte er selbst sich auch sicherer gefühlt, nachdem er mit Hizumi hatte sprechen können? Erleichterter vielleicht, weil er nichts mehr hasste, als Geheimnisse mit sich herumzuschleppen – ein Paradoxon seiner Existenz – aber sicherer? Ja, ein wenig zumindest, weil er wusste, dass Hizumi nicht nur ein Mensch war, wie der Rest von ihnen, aber davon wusste Karyu nichts. „Seltsam finde ich das nicht, ich bin eher froh, dass es dir damit jetzt besser geht.“ Er lächelte und tastete nach Karyus Hand, bis er ihre Finger miteinander verschränken konnte. „Ich bin kein Fan davon, noch mehr Geheimnisse vor den anderen haben zu müssen, verstehst du das?“ Für einen langen Moment kehrte Stille zwischen ihnen ein, während Karyu ihn mit derart viel Mitgefühl im Blick musterte, dass ihm seine Kehle eng zu werden drohte. „Schau nicht so.“ Er lächelte und lehnte sich erneut gegen die Seite seines Liebsten.   „Aber ich …“   Zero schüttelte den Kopf. „Lass uns nicht jetzt darüber reden, in Ordnung?“   „Okay.“   „Du, Karyu?“   „Ja.“   „Weißt du, warum es noch gut war, mit den anderen zu reden?“   „Nein, wieso?“   „Weil wir jetzt wissen, dass Hizumis Kopf tatsächlich zu mehr gut ist, als nur dafür zu sorgen, dass ihm bei Regen das Wasser nicht in den Hals läuft.“   „Du kannst so herrlich gemein sein“, stellte Karyu feixend fest, aber sein Lachen war nicht von langer Dauer. Als Zero den Kopf hob, um seinem Freund ins Gesicht sehen zu können, hatte sich ein nachdenklicher Ausdruck auf seine Züge gelegt.   „Was ist denn?“   „Sollen wir ihnen … das mit uns auch sagen?“   ‚Das mit uns.‘ Zero musste sich zusammenreißen, nicht dümmlich vor sich hin zu grinsen, als dieser kleine Satz sein Herz wie eine Decke einhüllte und wärmte. „Das überlasse ich ganz dir.“   „Ehrlich? Du hättest nichts dagegen?“   „Nein, warum sollte ich? Früher oder später kriegen sie es sowieso raus, dafür sind die zwei einfach viel zu neugierig.“   „Auch wieder wahr. Mmmh, vielleicht sagen wir es ihnen noch nicht gleich … Ich meine …“   „Alles gut.“ Er lächelte, streichelte Karyu über die Wange und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich hab auch nichts dagegen, dich noch eine Weile ganz für mich allein zu haben.“ Wieder zierte diese hübsche Röte Karyus Wangen, bevor sie auf Abstand gehen mussten, weil sich Schritte dem Studio näherten.   „Ich hab euch Kaffee mitgebracht“, trällerte Tsukasa, noch bevor Hizumi die Tür vollständig aufgeschoben hatte und Zero fragte sich nicht zum ersten Mal, woher ihr Drummer all diese übersprudelnde Energie nahm.   „Danke“, murmelte er, nahm im Aufstehen den Becher entgegen und musterte die drei Männer, die ihm in den letzten Jahren zu einer Familie geworden waren. Er hatte vorhin nicht gelogen, er hasste es tatsächlich, vor ihnen Geheimnisse zu haben, und als ihm dieser Umstand nun wieder so deutlich bewusst wurde, stach und zwickte das schlechte Gewissen in seinem Magen. Nun da nicht nur Hizumi Bescheid wusste, fragte er sich, wie lange sie Tsukasa noch im Dunkeln tappen lassen konnten. War es ihm gegenüber nicht unfair, weiterhin zu schweigen? Natürlich wusste Karyu noch kaum etwas von dem, was hier Übernatürliches vor sich ging, verdammt, selbst er wusste erst einen Bruchteil, aber Tsukasa? Er sah von dem Becher in seiner Hand auf und musterte ihren Drummer.   Im nächsten Moment passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Als hätte Tsukasa bemerkt, dass er ihn beobachtete, hob er den Kopf. Die dunklen Augen richteten sich genau auf die Seinen, hielten seinen Blick wie in einem Schraubstock gefangen, aus dem er sich nicht befreien konnte. Gleißend helles Licht blendete ihn, als seine Sicht mit Erinnerungsfetzen geflutet wurde. Jedes seiner Leben flammte für eine Sekunde auf und jedes von ihnen nahm einen kleinen Teil seines Schmerzes mit sich, als es wieder erlosch. Zero hatte das Gefühl, Stunden wie paralysiert dazustehen, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Schlussendlich sah er Karyu, bleich und aufgewühlt vor ihrem Van stehen, nachdem sie kurz davor beinahe mit dem Lkw zusammengestoßen waren. Erneut Karyu, diesmal sein ängstliches Gesicht, kurz nachdem der Aufzug stecken geblieben war, obwohl er wusste, dass es so dunkel gewesen war, dass er ihn gar nicht hatte erkennen können. Und schließlich die Männer von heute Morgen, die ein Gefühl der Angst und Panik in ihm hochkommen ließen, das so stark war, dass es ihn in die Knie gezwungen hätte, hätte sich nicht eine warme, starke Hand haltend auf seine Schulter gelegt.   „Hey, alles in Ordnung mit dir?“   Er blinzelte, seine Augen brannten und fühlten sich an, als wollten sie ihm jeden Moment aus den Höhlen fallen. „W… was? J… ja, alles gut.“ Die Hand gehörte zu Tsukasa und das Lächeln, das ihm sein Freund und Bandkollege schenkte, ließ ihn unwillkürlich erschaudern. Was war das gerade gewesen? Was war passiert? War überhaupt etwas passiert? Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, als er sich zu erinnern versuchte.   „Bist wohl wieder einmal zu schnell aufgestanden, was?“   „Ja, das wird es gewesen sein“, murmelte er geistesabwesend und heillos überfordert mit der Situation. „Kennst mich und meinen tollen Kreislauf doch.“   „Du musst wirklich besser auf dich achtgeben.“ Tsukasas Finger drückten seine Schulter leicht, eine Geste, die er unter anderen Umständen als beruhigend empfunden hätte, die ihm jetzt jedoch eigenartig übergriffig vorkam. Himmel, was hatte sein Hirn nun wieder für ein Problem?   „Tsukasa, kommst du?“ In Hizumis Stimme schwang ein angespannter Unterton mit und als er den Blick auf ihren Sänger richtete, erkannte er einen verkniffenen Zug um seinen Mund. „Karyu hat uns noch was zu sagen, habt ihr ihn nicht gehört oder was?“   „Was? Nein, tschuldige, mir war gerade schwindlig und …“   „Hey, wieder alles gut?“ Jetzt war es Karyu, der auf ihn zukam, und hätte er sich in diesem Moment nicht einen Ruck gegeben und sich wieder gerade hingestellt, hätte ihn sein Freund wohl in die Arme geschlossen. Er versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln und folgte ihrem Leader zum Besprechungstisch in der Ecke, während Hizumi noch irgendetwas mit Tsukasa zu besprechen hatte. Ihr Sänger schien aus irgendeinem Grund wütend zu sein und obwohl Zero nicht lauschen wollte, schnappte er einige Gesprächsfetzen auf, aus denen er jedoch auch nicht schlau wurde.   „… musst besser aufpassen …“ „… blutiger Anfänger …“ „… tut mir leid …“ „… Hunger …“   Er schüttelte den Kopf und wandte sich endgültig Karyu zu, der ihm ganz Gentlemanlike den Stuhl vom Tisch weggezogen hatte. Zeros rechte Braue wanderte gen Haaransatz, als er sich schmunzelnd setzte und seinem Freund zuraunte, dass er froh sein konnte, dass ihre Kollegen das gerade nicht gesehen hatten. Verschmitzt grinsend rieb sich Karyu über den Nacken, was seine kleinlaute Entschuldigung alles andere als glaubwürdig machte.   „Lausebengel.“ Er stippte Karyu in die Seite, bevor sein Blick unwillkürlich erneut auf Hizumi und Tsukasa fiel. „Was ist denn mit Hizu los?“   „Weiß nicht. Vielleicht ist er wieder einmal nur neugieriger als die Polizei erlaubt und ärgert sich, dass ihr zwei nicht gleich angelaufen kamt, als ich meinte, ich müsste euch noch was Wichtiges sagen.“   „Klingt ganz nach ihm.“ Diesmal fühlte sich das Lächeln auf seinen Lippen spröde an, während er erneut darüber nachdachte, was eigentlich gerade passiert war. War ihm wirklich schwindlig gewesen? Er glaubte nicht, aber welche Erklärung gäbe es sonst? Sein beschränkter, menschlicher Verstand hatte keine Chance, hatte längst begonnen, Tsukasas seltsames Verhalten und seine eigenen Reaktionen darauf zu rationalisieren, und als der Rest ihrer Truppe an den Tisch kam, hatte er bereits vergessen, was er überhaupt zu begreifen versucht hatte. Nur eine eigenartige Wärme hielt sich nachdrücklich in seinem Körper und schien die scharfen Kanten seiner beständigen Angst um Karyu abgemildert zu haben. Beinahe wie ein Schmerzmittel … oder eine Droge, was so ein irrwitziges Konzept war, dass er es sogleich wieder verwarf.   „Dann mal raus mit der Sprache, Leader, was gibt es denn so Interessantes zu erzählen?“   Nur zu gern ließ er sich von Hizumis fordernder Stimme aus seinen Gedanken reißen. Wenn er ehrlich war, war er mittlerweile auch ziemlich gespannt, was Karyu ihnen zu sagen hatte, aber ihr Gitarrist ließ sich bitten. Für einen langen Augenblick musterte Karyu ihren Sänger nur, bevor seine eiserne Kontrolle brach und er sie plötzlich übers ganze Gesicht grinsend anstrahlte.   „Also …“, begann er und Zero spürte förmlich, wie sehr sein Liebster es genoss, dass ihm die Aufmerksamkeit aller sicher war. Auch er hing sprichwörtlich an Karyus Lippen, obwohl dieser Umstand in seinem Fall noch einen ganz anderen Grund hatte. Karyu hatte schöne Lippen, war es ihm da zu verübeln, dass er sie gerne ansah? Vor allem jetzt, wo er das ganz offiziell auch durfte. Er lächelte und bemerkte im letzten Moment, dass seine Gedanken abzudriften drohten, also trank er einen Schluck seines Kaffees und zwang sich, sich zu konzentrieren. „Ich hatte vor unserer Tour noch ein langes Gespräch mit dem Management …“   „Wissen wir“, quäkte Tsukasa und grinste frech, als ihn der strafende Blick des Leaders traf.   ‚Wie die Kinder‘, dachte Zero mit einem Gefühl, das man mit viel gutem Willen als mütterlich bezeichnen könnte.   „Auf jeden Fall haben wir bei diesem Gespräch nicht nur beschlossen, dass unser Konzert morgen gefilmt und wenn alles gut geht als Konzert-DVD auf den Markt gebracht wird, sondern …“   „Jetzt spann uns nicht so auf die Folter.“ Diesmal war es Hizumi, der ihren Leader unterbrach und der sichtlich aufgeregt auf der Kante seines Stuhls hin und her rutschte. Karyu indes schien die Spannung zu genießen, die seine länger und länger andauernde Pause in ihnen auslöste, bis selbst Zero keine Geduld mehr hatte.   „Karyu“, brummte er lang gezogen und machte eine scheuchende Handbewegung.   „Na, schön“, murmelte so Aufgeforderter beinahe etwas eingeschnappt und fuhr fort. „Wenn wir unsere Sache morgen richtig, richtig gut machen, dann … werden wir Ende Oktober zwei Shows in Europa geben!“     ~*~ 'Cause we could be immortals, immortals Just not for long, for long Live with me forever now Pull the blackout curtains down Just not for long, for long   We could be immortals Immortals ~*~ Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- Die Müdigkeit hing an ihm wie ein Mantel aus Blei, der ihm die Schultern nach unten drückte. Mit fahrigen Fingern schob er den Wohnungsschlüssel ins Schloss und betrat seine Behausung. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, unterlegt mit dem verblassenden Duft eines Parfums, das ihn unwillkürlich an Karyu erinnerte. Wie angewurzelt blieb er stehen, schloss seine brennenden Augen und gab sich für einen Moment der Illusion hin, sein Freund würde in der Dunkelheit der Wohnung auf ihn warten. Wie sehr er sich wünschte, Karyu wäre nun wirklich hier.   Zeros Armbanduhr zeigte 05:38 Uhr an, als er den Fehler machte, darauf zu sehen. Wie er es hasste, während der ohnehin nie enden wollenden Nachtschicht im Konbini auch noch Überstunden machen zu müssen, nur weil seine Kollegen allesamt die Unzuverlässigkeit in Person waren. Seine schlurfenden Schritte hatten ihn ins Bad geführt, wo er sich kurz Wasser ins Gesicht schöpfte, die Zähne putzte und seine Kleidung unachtsam auf den Boden warf. Für Ordnung konnte er später auch noch sorgen. Wieder zurück im Hauptraum steuerte er auf die Steckdose neben seinem Kühlschrank zu und nahm das Handy vom Strom. Das kleine Display leuchtete auf, als er das Gerät entsperrte und sogleich piepte es leise, zeigte an, dass eine Nachricht auf ihn wartete. Zero lächelte, als er die Nummer ihres Leaders erkannte und überflog den überraschend kohärenten Text.   03:41 » Hizumi und Tsukasa haben mich heil nach Hause gebracht. Ich glaube, sie fühlen sich schon wie meine Bodyguards. Schade, dass du nicht mitkommen konntest. Die Bar, die Tsukasa ausgesucht hat, war wirklich speziell. Sie hätte dir gefallen. Steht dein Angebot noch, mich morgen abzuholen? Gute Nacht, Zero, und … ich vermisse dich. «   Wärme hatte sich in seinem Magen ausgebreitet und Vertrieb für einen Moment den trägen Schleier, der seine Gedanken einhüllte. Er hätte es wohl nie laut ausgesprochen, aber er fand Karyus Geste unheimlich lieb. Nicht nur, dass sein Freund weitsichtig genug war, ihm Bescheid zu geben, dass er heil von seiner Kneipentour mit den anderen wieder zu Hause angekommen war, auch der letzte Satz vermochte es, sein Herz höherschlagen zu lassen.   05:49 » Ich bin froh, dass deine Hobby-Bodyguards einen guten Job gemacht haben. Natürlich steht mein Angebot noch. Ich bin um drei bei dir. Schlaf gut, Karyu. «   Zero schickte die Nachricht ab und noch während er überlegte, ob er nicht lieber noch einen Satz der Zuneigung ergänzen sollte, verfinsterte sich seine Miene. Er atmete tief ein, rümpfte die Nase, während sich seine Augen zu schmalen Schlitzen verengten.   „Hat dir noch niemand gesagt, dass es unhöflich ist, sich ohne Einladung in der Wohnung eines anderen breitzumachen?“ Zero legte das Handy beiseite und drehte sich herum, den Blick starr auf eine Zimmerecke gerichtet, deren Schatten tiefer wirkten als der Rest.   „Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das übernatürliche Wesen ist.“ Die Schatten waberten, als wären sie lebendig, bis sich eine große, geflügelte Gestalt aus ihnen schälte. Die Katzenaugen des Engels reflektierten das wenige Licht im Raum und sahen dadurch beinahe so aus, als würde blaues Feuer hinter ihnen lodern. „Deine Beobachtungsgabe ist herausragend gut. Was hat mich verraten?“   „Nächstes Mal solltest du weniger trinken, deine Bierfahne ist unverkennbar. Also spar dir dein Lob und sag mir lieber, womit ich deinen unverhofften Besuch verdient habe. Aber mach schnell, ich bin nicht in der Stimmung für Small Talk.“   „Spielverderber.“ Der Engel breitete seine Schwingen aus, deren Enden die Wände seiner kleinen Wohnung berührten. Nicht zum ersten Mal war Zero froh darüber, kaum etwas herumstehen zu haben, denn Hizumi hätte jede Dekoration zweifellos in ihre Einzelteile zerlegt. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass Tsukasa und ich unseren Leader ohne Zwischenfälle nach Hause gebracht haben. Aber das scheint er bereits selbst erledigt zu haben.“   „Und weiter?“, erkundigte sich Zero, dem jetzt erst bewusst wurde, dass er seinem ungebetenen Besucher in nichts weiter als seiner Boxershorts gegenüberstand. Vielmehr genervt denn peinlich berührt ging er die wenigen Schritte zu seiner Schlafstätte hinüber, bückte sich nach der dünnen Decke und schlang sie sich um die Schultern. Mit einem leisen Seufzen auf den Lippen setzte er sich und machte eine einladende Handbewegung in Richtung seines Kühlschranks. „Ich gehe davon aus, dass das nicht der einzige Grund ist, warum du hier bist. Wenn du also was trinken willst, schau selbst nach, was ich dahabe. Ich bin zu müde, um Gastgeber zu spielen.“   „Mh.“ Hizumi brummte – ein Laut, der sowohl Zustimmung als auch Unwillen hätte ausdrücken können – bevor er mit einem leisen Rascheln seiner Schwingen zu seinem menschlichen Erscheinungsbild zurückkehrte. Zero stopfte ein Kissen zwischen Rücken und Wand, lehnte sich dagegen und beobachtete seinen Kollegen aus halb geschlossenen Augen. Mit mäßigem Interesse hockte Hizumi vor seinem Kühlschrank und nahm dessen mageren Inhalt in Augenschein. „Kann ich das letzte Bier haben?“   Zero brummte zustimmend und musste sich zusammenreißen, nicht hier und jetzt einzuschlafen. Nicht, dass er seinem übernatürlichen Freund etwas unterstellen wollte, aber Hizumi hatte sicherlich die frühen Morgenstunden nicht nur deswegen in seiner Wohnung verbracht, um sich nun für seinen erfolgreichen Bodyguard-Job loben zu lassen. „Verrätst du mir jetzt, warum du wirklich hier bist?“ Das Zischen, mit dem die Kohlensäure aus der frisch geöffneten Dose entwich, erinnerte Zero daran, wie durstig er selbst war. Träge tastete er nach der Flasche neben seinem Futon, trank einen Schluck des schalen Wassers, während er versuchte, aus Hizumis unbewegter Miene schlau zu werden. „Also?“                  „Es braut sich was zusammen“, antwortete der Engel vage, setzte sich im Schneidersitz vor ihn und leerte die Dose in einem Zug bis zur Hälfte. Zeros Magen sackte ihm in die Beine und beinahe hätte er das Wasser wieder ausgespuckt, so schlecht war ihm plötzlich geworden.   „Was meinst du damit?“, krächzte er, „ich dachte, diese Späher sind mehr oder weniger harmlos?“   „Sind sie auch, aber es gibt einen Grund, weswegen sie Karyu ins Visier genommen haben. Dieser Grund ist es, der mir Sorgen bereitet. Ich hab mich umgehört, obwohl mir das, wie du weißt, von höchster Stelle untersagt ist. Doch, meine Insubordination mal beiseite, das, was ich herausgefunden habe, ist alles andere als beruhigend. Ich kann dir nicht alles sagen, aber …“   „Bitte?“ Zero fuhr hoch und war seinem Kollegen im nächsten Moment so nahegekommen, dass er Hizumis ruhige Atemzüge auf seinem Gesicht fühlen konnte. „Vor wenigen Stunden sagtest du noch, Karyu wäre nicht in Gefahr und nun so was? Willst du mich verarschen?“ Wut loderte durch seine Adern und auch wenn er wusste, dass nicht Hizumi sein Gegner war, konnte er sich kaum noch beherrschen. „Ich werde nicht zulassen, dass Karyu etwas passiert. Nicht noch einmal.“, zischte er, die Hände zu festen Fäusten geballt, um sich davon abzuhalten, sie um Hizumis dünnen Hals zu legen. „Also hör auf mit deinen kryptischen Andeutungen und halb garen Informationen und red endlich Klartext. Was hast du herausgefunden. Sag es mir, Hizumi!“   „Das kann ich nicht und du weißt das.“ Mit nervtötender Ruhe legte der Engel die Hand auf seine Schulter und drückte ihn sanft, aber unnachgiebig zurück in eine sitzende Position. „Es ist wahr, dass von den Spähern selbst keine Gefahr ausgeht, aber denk nach, Zero, irgendwer muss sie beauftragt haben.“   Hizumis Blick war derart durchdringend, dass sich Zero auch ohne den Druck seiner Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, wie versteinert fühlte. Eine stählerne Faust schien sich um sein Herz gelegt zu haben, drückte zu und raubte ihm beinahe die Fähigkeit, Atem zu holen. „Aber du sagtest …“, wisperte er durch taube Lippen hindurch und starrte ausdruckslos in das mitfühlende Gesicht seines Gegenübers. „Du hast gelogen.“   „Nein, das hab ich nicht.“ Hizumis Miene verfinsterte sich und die warme Schwere seiner Hand verschwand. Erst jetzt bemerkte Zero, wie sehr sie ihm ein Anker gewesen war, und beinahe hätte er gewimmert, den anderen gebeten, ihm erneut Halt zu geben. Er fühlte sich, als würde ihm sein Leben, das Leben Karyus durch die Finger rieseln wie feiner Sand, den nichts aufzuhalten vermochte. „Vorhin im Probenraum wart ihr beide vollkommen aufgelöst. Wie hätte ich dir unter diesen Umständen mehr sagen können, ohne dass Karyu noch größere Angst bekommt? Ich hab dich nicht angelogen. Solange wir ein Auge auf Karyu haben, können die Späher nichts weiter tun, als ihn zu beobachten und Bericht zu erstatten. Er ist in Sicherheit, aber wir müssen wachsam sein, verstehst du?“   Zero nickte, bevor er das Gesicht hinter beiden Händen verbarg. „Was kann ich tun? Wer ist hinter ihm her und warum?“ Er schaute auf, dem Engel direkt in die Augen. „Warum das alles? Ich konnte bisher nie verhindern, dass er stirbt, aber warum nun diese Bedrohung? Wieso jetzt?“   „Überleg, Zero, du kennst die Antwort.“ Wenn möglich wurde der Blick seines Freundes noch bohrender, doch so sehr Zero sich auch bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schüttelte den Kopf, was ein resigniertes Seufzen seines Gegenübers zur Folge hatte. „Vor bald eintausend Jahren warst du ein Dieb und deine Liebe der größte Schatz, den du je gestohlen hast“, begann Hizumi und erzählte ihm damit nichts Neues. Dennoch wurden seine Hände feucht und sein Atem beschleunigte sich, als kannte sein Körper bereits die Wahrheit, vor der sein Geist sich noch immer verschloss. „Als sie getötet wurde, hast du deine Seele an die ihre gebunden, eure Schicksale miteinander verknüpft. Etwas, das einem Menschen nicht möglich sein sollte und dennoch ist es geschehen.“ Hizumi zuckte zweimal hintereinander kurz zusammen und verzog das Gesicht, als würden ihn Schmerzen plagen. Aber seine Augen blieben starr auf die Zeros gerichtet, erwiderten seinen Blick, als wolle er weitaus mehr sagen, als ihm mit Worten möglich war. „Die Mächte haben es zugelassen, fanden Spaß daran, die Irrungen und Wirrungen eurer vielen Leben zu verfolgen … aber ihre Nachlässigkeit hatte … hatte … Konsequenzen … fuck.“ Hizumi krümmte sich, als ihn ein trockener Husten schüttelte, der sich in Zeros Ohren unglaublich qualvoll anhörte.   „Hizu!“ Erschrocken hatte er sich auf die Knie hochgerappelt und hielt seinen Freund an beiden Schultern aufrecht. „Verflucht, was kann ich tun?“ Hizumis Finger der rechten Hand krallten sich plötzlich schmerzhaft fest in seinen Oberarm und erneut loderte in seinen Augen das blaue Feuer, als er Zeros Blick erwiderte.   „Hör zu … Karyu und dich verbindet ein Licht, so hell, dass es selbst die Zeit überstrahlt. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten, das ist das Gesetz des Seins, verstehst du? Dich leitet die Liebe zu Karyu und all seinen Inkarnationen, führt dich durch jedes eurer Leben, aber ihn treibt nichts als Hass. Hass auf dich und auf alles, was du verkörperst. Er will euch vernichten … und spielt damit der Gegenseite direkt in die Hände.“ Hizumis Körper wurde von gewaltsamen Krämpfen geschüttelt, seine Augen rollten in den Höhlen nach hinten, bis nur noch das Weiß zu sehen war. „Du hast … noch nicht begriffen … wie wichtig …“ Der Engel wurde von erneutem Husten geschüttelt, Blut rann ihm übers Kinn, bevor er nach vorn sackte. „Wie wichtig … ihr seid.“   „Hizumi!“ Schlagartig hörte das Zucken auf, genau wie das Zittern, als sein Freund das Bewusstsein verlor. Zero hatte die Arme um Hizumis Oberkörper geschlungen, in seiner ungünstigen Sitzposition jedoch Mühe, ihn zu halten. Aufkeimende Panik und die Angst um seinen Freund ließen kaum einen klaren Gedanken zu, dennoch schaffte er es, den anderen vorsichtig auf den Futon zu betten. „Himmel, nein“, wisperte er und tastete mit zitternden Fingern nach Hizumis Puls. Für einen schrecklichen Moment glaubte er, dass da nichts war, bevor ihm beinahe die Tränen kamen, als er doch ein unruhiges Flattern unter seinen Fingerspitzen spüren konnte. Er hatte keine Ahnung, ob der Engel überhaupt sterben konnte, aber verdammt, für ihn hatte das gerade sehr danach ausgesehen. Er sank in sich zusammen, lehnte für einen schwachen Moment die Stirn gegen die Brust des anderen, die sich ganz leicht hob und wieder senkte. „Ich hasse das alles so sehr. Diese selbstgerechten Schweine. Wieso haben sie dich überhaupt zu mir geschickt, wenn sie dich jedes Mal dafür bestrafen, wenn du mir hilfst?“ Er hob den Kopf, rieb sich übers Gesicht und erhob sich, um eine kalte Kompresse für seinen Freund zu holen.   Als er in den Hauptraum zurückkehrte, lag Hizumi noch immer unverändert da. Resigniert versuchte er, es ihm so bequem wie möglich zu machen, und schob ihm das Kissen unter den Kopf. Vorsichtig wischte er ihm das bereits trocknende Blut vom Kinn und legte die Kompresse auf seine Stirn. Auch Zero zitterte, was jedoch mehr dem Schock als der Raumtemperatur zuzuschreiben war. Leise ächzend setzte er sich neben seinen Freund, schlang erneut die Decke um sich, die ihm irgendwann von den Schultern gerutscht sein musste, und betrachtete das nun friedliche Gesicht des Engels. Seine Gedanken rasten, drehten sich immer und immer wieder um das, was Hizumi ihm offenbart hatte, bis er es nicht mehr aushielt und sich erneut erhob. Es ratschte leise, als er das Feuerzeug betätigte und die kleine Flamme an seine Zigarette hielt. Durch das geöffnete Fenster strömte noch kühle Morgenluft ins Innere und brachte das helle Zwitschern erwachender Vögel mit sich, das in seinen Ohren viel zu fröhlich klang. Der Rauch brannte in seinen Lungen, aber er begrüßte das unangenehme Kratzen im Hals. Alles war besser als die unendliche Qual, die die Erinnerungen mit sich brachten, welche Hizumis Worte an die Oberfläche seines Bewusstseins getrieben hatten.   Sein Körper stand in Flammen, gezeichnet von den Schlägen und dem Hunger, dem er seit einer Ewigkeit ausgesetzt war. Fieber pflügte durch seine Adern, erhitzte seine Zellen, bis er das Gefühl hatte, sie würden jeden Moment zerbersten. Sein Atem ging stoßweise, eine quälende Notwendigkeit, die er so gerne eingestellt hätte. Aber der Funke seines Lebens wollte nicht verlöschen, obwohl er schon so oft kurz davor gestanden hatte. Jedes Mal, wenn er ihn flackern fühlte, die Dunkelheit ihre zärtlichen Finger nach ihm ausstreckte, flehte er ihn an, endlich aufzugeben. Doch jedes Mal erstrahlte er aufs Neue und der Kreislauf seines Leidens begann von vorn. Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, erinnerte sich kaum noch an das Licht der Sonne oder die Wärme, die sie auf seiner Haut hinterlassen hatte. In diesem Verlies war es stets dunkel, kalt und feucht. Trotz des tobenden Fiebers überzog eine permanente Gänsehaut seinen Körper, schien zu seiner Normalität geworden zu sein. Seine Finger waren blau und steif, zu nichts zu gebrauchen, ebenso wie sein Geist. In jeder Sekunde, in der es ihm möglich war, zu denken, versuchte er, sich an sich selbst zu erinnern, stellte sich Fragen, auf die er jedoch nie eine Antwort fand. Wer war er? Warum war er hier? Wer hasste ihn so sehr, dass er ihn hier gefangen hielt? Wer waren die Männer, die ihn schlugen? Wem gehörte das höhnische Lachen, das von den Wänden widerhallte, wenn er seine Schmerzen nicht mehr stumm ertragen konnte? Er wusste es nicht. Nur ein einziger Gedanke war so klar in seinem Geist wie eine scharfkantige Scherbe, die tiefe Wunden in seine Seele schnitt. Er hatte sie verloren. Für immer verloren. Sie und ihr gemeinsames, noch ungeborenes Kind. Er hatte mitansehen müssen, wie sie getötet wurden, und war machtlos gewesen, ihnen zu helfen. Das musste der Grund für sein Leid sein, der Grund für seine anhaltende Existenz, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als diese Welt zu verlassen, um wieder bei ihnen zu sein. Aber er verdiente es, zu leiden … er hatte sie nicht retten können.   „Willst du sterben?“ Eine gehässige Stimme riss ihn unsanft in die Realität zurück, während eine Klinge gleichzeitig schmerzhaft in sein Fleisch schnitt. „Natürlich willst du sterben.“ Dieses Lachen, das er so oft schon gehört hatte. „Aber das werde ich nicht zulassen. Du hast mir mein Schönstes genommen und dafür wirst du so lange büßen, wie ich Gefallen daran finde.“   Wieder ein Schnitt, tiefer diesmal, doch der Schmerz war nichts gegen die Verzweiflung, die die Worte des Fremden in ihm auslösten. Er wollte flehen, um Gnade bitten, doch seine Stimme war ebenso vertrocknet wie seine Tränen. Mit unendlicher Anstrengung gelang es ihm, die verkrusteten Augen zu öffnen, in das hassverzerrte Gesicht seines Peinigers zu sehen. Und plötzlich erinnerte er sich, erinnerte sich an alles. Er erkannte ihn, den Fürsten und Mörder seiner Liebe. Hass wusch für einen glorreichen Augenblick über ihn, verlieh ihm Stärke und ließ alle Schmerzen hinter einem Schleier aus Rot verschwinden. Er wusste nicht, woher er plötzlich die Kraft nahm, sich aufzurichten, oder woher die Wucht seines Armes kam, als er dem Edelmann die Faust zielsicher ins Gesicht rammte. Er spürte ein zufriedenstellendes Knacken, als das Nasenbein seines Peinigers brach und der Schwall Blut, der ihm ins Gesicht spritzte, war beinahe so warm, wie ein Kuss seiner Liebe es früher gewesen war. Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, das selbst dann nicht verblasste, als Hände nach ihm griffen, ihn auf den kalten, rauen Steinboden niederdrückten und Schläge seinen ausgelaugten Körper erneut zu quälen begannen.   Als seine Foltermeister diesmal von ihm abließen, war der Funke seines Lebens nur noch ein schwaches, flackerndes Ding. Er lag auf dem Rücken, die Augen nur einen winzigen Spalt geöffnet. Sein Atem rasselte in seiner Brust, seine Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht und würden nie wieder zu gebrauchen sein. Schmerzen spürte er schon lange nicht mehr nur eine unendliche Leere. Vielleicht würde es diesmal endlich soweit sein. Vielleicht würde er seinen Frieden finden, mit seiner Liebe im Tode vereint.   „Erinnere dich an mich.“ Er zuckte zusammen, als er die Worte hörte, die leise wie ein Windhauch durch das Gemäuer seines Gefängnisses wehten. „Erinnere dich an mich, über die Jahrhunderte hinweg.“   „Liebste?“, formten seine Lippen, ohne jedoch ein Geräusch zu machen. Er drehte den Kopf und traute seinen Augen kaum. Da stand sie, seine Königin, so wunderschön wie in der Nacht, als er ihr zum ersten Mal gegenübergetreten war. Sie lächelte ihn an, eine Hand auf ihrem vorgewölbten Bauch ruhend. „Ich werde dich nie vergessen“, versprach er, seine Stimme kaum lauter als ein Lufthauch. Aber sie hatte ihn verstanden, kam auf ihn zu, kniete sich vor ihn und legte eine Hand auf sein geschundenes Gesicht.   „Dann geh, mein Liebster, lass dieses Leben los, das nur noch Leid für dich bereithält. Ich warte auf dich. Du wirst mich finden.“ Sie küsste seine Stirn und zum ersten Mal, seit einer Ewigkeit durchströmte ihn wahre Wärme.   „Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht retten konnte. Ich werde dich nie wieder verlieren, dich immer beschützen, das schwöre ich dir.“   „Ja, das wirst du“, flüsterte sie und presste ihre warmen, weichen Lippen auf seinen zerschlagenen Mund. „Ich warte auf dich … immer“   Goldenes Licht hüllte sie ein, so rein und strahlend wie die Unschuld selbst. Ein letztes Ausatmen kam ihm über die Lippen. Er fragte sich nicht, ob ihre Erscheinung nur eine Illusion seines sterbenden Geists war, viel zu sehnlich hatte er sich gewünscht, sie ein letztes Mal noch erblicken zu dürfen. Seine Glieder wurden schwer, so schwer, und unter dem Blick ihrer gütigen Augen hieß er den Tod willkommen.   Ein leises Stöhnen und das Rascheln von Stoff rissen ihn aus seinen Erinnerungen. Hizumi hatte sich aufgerichtet, die Augen noch immer geschlossen und hielt seinen wohl schmerzenden Kopf in beiden Händen.   „Mach langsam“, riet Zero ihm, nahm einen letzten Zug seiner unbeachtet verdampften Zigarette und drückte den Rest im Spülbecken aus. „Kann ich dir was bringen? Wasser? Eine Schmerztablette?“   „Wasser, bitte“, krächzte sein Freund, die Stimme so rau und dünn, dass Zero ernsthaft befürchtete, sie würden ihr Konzert heute Abend absagen müssen. Ruhiger als er sich fühlte, holte er ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es mit Wasser und trug es zu seinem Freund hinüber.   „Hier“, murmelte er, wartete, bis ihm Hizumis Griff um das Glas sicher erschien und hockte sich vor ihm auf die Knie. „Geht es wieder?“   „Es wird … du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.“   „Mh“, brummte er nicht wirklich überzeugt, auch wenn sich Hizumi bereits wieder lebendiger anhörte als eben noch. Zero machte sich ernsthafte Sorgen um seinen Freund und dennoch konnte er die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, keinen Moment länger für sich behalten. ES ist der Fürst, der hinter Karyu her ist, nicht wahr?“ Hizumi hob den Blick und obwohl er keine Miene verzog, erkannte Zero die Zustimmung in den nun vollkommen menschlich wirkenden Augen. „Wie ist das möglich?“, fragte er, vielmehr sich selbst als den Engel, und rieb sich über die Stirn, hinter der sich Kopfschmerzen anbahnten. „Du sagtest, einem Menschen sollte es nicht möglich sein, seine Seele an die eines anderen zu binden. Wie also hat er es geschafft, die Jahrhunderte zu überdauern?“ Noch immer sagte Hizumi nichts, aber eine weitere Erinnerung kratzte an den Innenwänden Zeros Schädels.   „Es gibt zwei Seiten, hell und dunkel, schwarz und weiß, wie die Spielfelder eines Schachbretts.“   Er wusste nicht mehr, wann oder zu welcher Gelegenheit Hizumi versucht hatte, ihm den Aufbau des Universums mit diesem Vergleich zu erklären, aber er erinnerte sich daran, wie wenig Sinn diese Worte für ihn ergeben hatten. Jetzt jedoch waren sie wie eine Offenbarung, wie ein Schleier, der weggezogen wurde und endlich das erkennbar machte, was schon immer da gewesen war.   „Gleichgewicht“, wisperte er, beinahe ehrfürchtig, und blickte seinem Freund direkt in die Augen. „Ich habe durch mein Handeln irgendetwas aus dem Gleichgewicht gebracht und das ist nun der Versuch der Mächte, wieder alles ins Lot zu bringen.“   „Nah dran“, gab Hizumi zu und lächelte. „Gut gemacht.“ Sein Freund erhob sich, war noch sichtlich wacklig auf den Beinen, aber wirkte deutlich fitter als noch vor wenigen Minuten. „Für mich wird es Zeit, zu gehen, wenn wir heute Abend eine anständige Show auf die Beine stellen wollen.“   „Aber …“ Zero stand ebenfalls auf und hielt seinen Freund an der Schulter zurück.   Hizumi schüttelte den Kopf und befreite sich mit einem kleinen Schritt zur Seite aus seinem Griff. „Ich hab dir alles gesagt, was ich konnte, du hast es selbst miterlebt.“   Zero biss sich auf die Unterlippe. Sein schlechtes Gewissen verlangte von ihm, seinen Freund endlich in Ruhe zu lassen, nicht noch einmal ungewollt dafür zu sorgen, dass Hizumi Schmerzen erleiden musste. Aber die Angst um Karyu trieb ihn an, ließ ihn seine nächsten Worte aussprechen, bevor er sich bewusst dafür entschieden hatte.   „Warte bitte, nur noch eine Sache.“ Zero presste beide Handballen gegen seine Schläfen, übte Druck aus, im Versuch, seine panisch wirbelnden Gedanken zu sortieren. „Vor einigen Tagen sagtest du, wir wären nicht unbedeutend, dass Karyus Seele für beide …“ Hier stockte er, denn Hizumi hatte damals nicht weitergesprochen, nicht weitersprechen können, weil seine Meister ihn auf gleiche Weise wie gerade eben bestraft hatten. „Ich vermute, du wolltest mir sagen, dass beide Parteien gleichermaßen Interesse an seiner Seele haben?“ Zero wurde übel bei dem Gedanken, was seine Worte implizierten. Als wäre so etwas Kostbares wie Karyus Seele etwas, worum man feilschen konnte. Hizumi hatte noch immer nichts gesagt, doch in seinen Augen glaubte er, so etwas wie Hoffnung zu erkennen. Hoffnung, dass Zero endlich auch ohne Worte begreifen würde, was er ihm mitteilen wollte.  „Sie wollen seine Seele wiederhaben, nicht wahr? Und ich habe das mit meinem Versprechen vor eintausend Jahren verhindert.“ Hizumis Hand schoss vor, Finger schlossen sich beinahe schmerzhaft um sein Handgelenk, eine stumme Zusicherung, dass er auf dem richtigen Weg war. „Aber warum?“, flüsterte er, „was unterscheidet Karyus Seele von den Milliarden anderer auf dieser Welt?“   „Sie gehört nicht hierher, das unterscheidet sie.“ Durch Hizumis Körper rann ein Beben, aber noch schien er seine Grenzen nicht überschritten zu haben. „Es ist ein Spiel, Zero. Alles, was die Mächte tun können, um der Routine ihrer nie endenden Existenz zu entfliehen, ist zu spielen.“ Hizumis Kieferknochen zeichneten sich harsch unter seiner Haut ab, so stark presste er die Zähne aufeinander. „Jedes Spiel fordert einen Einsatz und manche Einsätze sind mehr wert als andere.“   „Willst du damit sagen …“, hauchte er und fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. „Seelen. Der Einsatz für ihre Spiele sind Seelen?“ Hizumis Lider schlossen sich für einen langen Moment. Er nickte nicht, gab auch sonst kein Zeichen der Zustimmung oder Verneinung, aber als er die Augen wieder öffnete, wusste Zero, das er recht hatte.   Der Moment seines Schwurs kehrte in seine Gedanken zurück, der Augenblick seines Todes, in dem ihn der goldene Schein seiner Liebe umfangen hatte. Er erinnerte sich an das Gefühl der Reinheit und Unschuld, das ihn erfüllt hatte, den Trost, den es ihm gespendet hatte.   „Manche Einsätze sind mehr wert als andere“, klangen Hizumis Worte in ihm nach, wie Puzzleteile, die plötzlich zusammenpassten.   „Je reiner eine Seele ist, desto mehr Wert hat sie für die Mächte, nicht wahr?“ Zero erwartete keine Antwort, hatte sich längst von Hizumi losgemacht, um wie ein eingesperrter Tiger im Raum auf und ab zu gehen. „Aber warum sagtest du, dass seine Seele nicht hierher gehört?“   „Was tun die Menschen mit ihren wertvollsten Besitztümern?“, beantwortete Hizumi seine Frage mit einer Gegenfrage, die wie ein Schwall kaltes Wasser über Zero hereinbrach.   „Sie sperren sie weg“, flüsterte er durch taube Lippen hindurch. „Karyus Seele war eingesperrt und ist ihnen entkommen.“ Es waren nur Vermutungen, die er anstellte, aber etwas sagte ihm, dass er mit ihnen nicht falschlag. „Mein Schwur hat verhindert, dass die Mächte ihren Einsatz wiederbekommen, nachdem sie … sie …“ Das totenblasse Gesicht seiner Liebe schob sich in seinen Geist, ließ seine Augen feucht werden. „Gestorben war.“   Hizumi lächelte dünn, mitfühlend. Zero war zu betäubt, um sich auch nur im Ansatz darüber zu freuen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, sich einen ersten, kleinen Teil der Wahrheit zu erarbeiten. Ihm war vorher schon klargewesen, dass die Mächte grausame Wesen waren, aber das hier? ‚Karyu, oh Gott, wie konnten sie dir das nur antun?‘   „Ich werde jetzt gehen, das ist das Beste für uns beide“, schnitt Hizumis Stimme durch seine wirbelnden Gedanken und holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.   „Ich …“ für einen Moment wollte er protestieren, verlangen, dass ihn der Engel endlich in alles einweihte – jetzt wo er so kurz davor stand, zu verstehen. Dann schloss er jedoch den Mund und nickte. „Du hast recht.“   Er begleitete seinen Freund zur Wohnungstür, den Kopf voll mit dröhnenden Gedanken, die nur mehr Fragen aufzuwirbeln schienen.   „Wir alle werden ein Auge auf Karyu haben. Du, ich, selbst Tsukasa. Ihm passiert nichts.“ Hizumis Hand auf seiner Schulter war warm, als sie aufmunternd zudrückte, bevor er die Tür öffnete. „Versuch, noch etwas zu schlafen, sonst kriegst du deine Augenringe nachher gar nicht abgedeckt.“   „Wofür gibt es schwarzen Lidschatten?“, merkte er trocken an und das Lächeln, welches Hizumi ihm daraufhin schenkte, erreichte sogar seine Augen.   „Auch wieder wahr.“   Hizumi verließ seine Wohnung, doch noch bevor er den Treppenabsatz erreichte, rief ihm Zero gedämpft hinterher: „Pass auf dich auf, hörst du?“   „Dito.“ Der Engel hob die Hand zum Gruße, bevor er sich mit einem Bocksprung über das Geländer katapultierte und lautlos im schwarzen Auge des Treppenhauses verschwand.   „Angeber“, brummte Zero, ein Schmunzeln im Mundwinkel und schloss die Tür hinter sich.   Für zwei, drei lange Atemzüge lehnte er sich gegen die geschlossene Tür, versuchte, seine wirbelnden Gedanken in so etwas wie Ordnung zu bringen – ohne nennenswerten Erfolg. Resigniert ließ er die Schultern hängen und stieß sich ab. Er sollte besser Hizumis Beispiel folgen und sich aufs Ohr legen. Seine Schritte führten ihn zurück zum Kühlschrank, genauer gesagt zu seinem Handy, welches vergessen auf der Arbeitsplatte daneben lag. Der Plan war gewesen, sich einen Wecker zu stellen und sich dann hinzulegen, obwohl er bezweifelte, dass er nach allem, was er soeben in Erfahrung gebracht hatte, auch nur eine ruhige Minute finden würde. Allerdings machte ihm die Nachricht, die mit einer kleinen Eins am oberen, rechten Rand des Displays um seine Aufmerksamkeit buhlte, seinem Vorhaben fürs Erste einen Strich durch die Rechnung. Stirnrunzelnd wählte er den Menüpunkt an und seine Verwunderung steigerte sich noch mehr, als es erneut eine Mitteilung seines hochgewachsenen Freundes war, die auf ihn wartete. Bevor er zu lesen begann, verglich er den Zeitstempel der Nachricht mit seiner Armbanduhr und musste feststellen, dass Karyus Antwort bereits fünf Minuten, nachdem er ihm geschrieben hatte, eingetroffen war.   „Ach Karyu, du solltest doch schon längst schlafen“, murmelte er in die Stille seiner Wohnung und begann zu lesen.   05:54 » Bist du eben erst nach Hause gekommen? Ich dachte, deine Schicht ist um vier zu Ende. Überstunden? «   Schmunzelnd schüttelte Zero den Kopf, zog eine Zigarette aus der beinahe leeren Schachtel und steckte sie sich an, bevor er einen kurzen Text tippte.   06:20 » Ja, musste Überstunden schieben … nichts Neues. Aber was machst du so früh noch wach, Leader, solltest du nicht ein Vorbild sein? «    Er drückte auf senden, lehnte sich gegen den Kühlschrank und schloss die Augen. Auf der Leinwand seiner Lider spielten sich die letzten Minuten wie in einem Zeitraffer ab, während seine wirbelnden Gedanken den Soundtrack seines persönlichen Kinofilms lieferten.   „Es braut sich was zusammen …“, hörte er Hizumi erneut sagen. „Vor bald tausend Jahren warst du ein Dieb und deine Liebe der wertvollste Schatz, den du je gestohlen hast.“ Wieder zog er an der Zigarette, doch selbst der beißende Geschmack des verbrannten Tabaks konnte ihn nicht aus seinem Gedankenkarussell reißen. „Ihn treibt nur der Hass.“ „Du hast noch nicht verstanden, wie wichtig ihr seid.“ „Jedes Spiel fordert einen Einsatz und manche Einsätze sind wertvoller als andere.“ Eine dicke Gänsehaut rann ihm über den Rücken, die nicht von dem kühlen Windstoß herrührte, der den Weg durch das geöffnete Fenster gefunden hatte und über seine nackte Haut streichelte. Beinahe glaubte Zero, wieder die Schmerzen seines gefolterten und dem Hungertod nahen Körpers fühlen zu können, obwohl diese Agonie bereits beinahe ein Millennium zurücklag. Er lächelte bitter, als er die Augen öffnete und die Hand, deren Finger nicht um den Filter seiner Zigarette gelegt waren, vor sein Gesicht hielt. Nicht einmal sein Körper war derselbe – als Dieb hatte er keine Schwielen an den Fingern von stundenlangem Bassspielen gehabt. Sein Kopf schmerzte, wie immer, wenn er seine unkonventionelle Existenz näher zu beleuchten, auch nur im Ansatz zu verstehen versuchte.   Karyu Seine reine Seele. Die Mächte. Der Fürst.   Zero schreckte auf, als das Handy auf der Ablage neben ihm kurz, aber erstaunlich laut vibrierte. Eigenartig, er erinnerte sich nicht einmal daran, es aus der Hand gelegt zu haben.   „Es wird wirklich Zeit, dass ich ins Bett komme“, nuschelte er um den Filter herum und rieb sich über den verspannten Nacken. Noch einmal strömte der bittere Rauch in seine Lunge, bevor auch diese Zigarette den Tod im Spülbecken fand. Gähnend streckte er sich, bevor er erleichtert über die Störung, die ihn am weiteren Grübeln hinderte, die eingegangene Nachricht aufrief.   06:27 » Ich würde gern mit gutem Beispiel vorangehen, aber ich wälze mich schon seit Stunden nur hin und her. Mir geht zu viel im Kopf herum. «   „Na, da sind wir schon zwei“, murmelte Zero, ein selbstironisches Lächeln auf den Lippen. Während er gelesen hatte, hatte das Gerät in seiner Hand erneut vibriert und unter Karyus Nachricht war eine weitere erschienen.   06:28 » Ich wünschte, du könntest jetzt hier bei mir sein, vielleicht könnte ich dann endlich schlafen. «   Wärme flutete sein Herz und so schön diese Empfindung auch war, sie war so stark, dass sie ihm den Atem raubte. Er keuchte, die Augen geschlossen und am ganzen Leib zitternd. Wie oft waren ihm in einsamen Nächten solche oder so ähnliche Szenarien durch den Kopf gegangen? Seine Finger bebten, als er nur wenige Tasten drücken musste, um seiner Liebe eine passende Antwort zukommen zu lassen.   06:31 » Gib mir zwanzig Minuten. «   Plötzlich hellwach ging er zu seiner Kommode, zog wahllos Kleidungsstücke aus ihr hervor und begann sich anzuziehen. Wenn er sich die Zeit nehmen würde, seine überhastete Reaktion näher zu betrachten, würde ihm klar werden, dass er gerade nur vor seinen Sorgen zu fliehen versuchte. Aber da Karyu der Inhalt seiner Sorgen war und er im Begriff war, zu ihm zu fahren, waren derartige Analysen seines Verhaltens unnötig. Zumindest redete er sich das ein und, hey, warum auch nicht?   Auf dem Weg die Treppen nach unten in die Tiefgarage hatte sein Handy erneut vibriert und er schmunzelte jetzt noch, als er bereits in seinem Wagen saß.   06.32 » Was? Wie meinst du das? «   Zero sparte es sich, Karyu erneut zu antworten. Der Große würde schon früh genug sehen, was er damit meinte. Der Motor seines Sportwagens gab ein zufriedenstellendes Röhren von sich, während er mit höherer Geschwindigkeit, als es angemessen war, die Rampe der Tiefgarage nach oben fuhr.   Der morgendliche Verkehr hielt sich noch in Grenzen und so war er früher vor Karyus Wohnblock angekommen, als er anfänglich vermutet hatte. Und als hätte das Universum bemerkt, dass es einiges gutzumachen hatte, fand er einen Parkplatz unweit des Eingangs. Manchmal musste eben selbst er Glück im Leben haben. Mit einem Elan, den er nicht hätte beschreiben können, flog er die Stockwerke bis zu Karyus Appartement regelrecht hinauf, bis er vor der Tür angekommen zweimal kurz anklopfte. Würde sein Atem nicht so gehetzt gehen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er schon mal fitter gewesen war – hätte er die Schritte, die sich der Tür näherten, vermutlich gehört. So jedoch war es sein Name, der an seine Ohren drang.   „Zero?“   „Ja, wie angekündigt.“ Unruhig wippte er von den Fersen auf die Zehenballen und wieder zurück und musste sich tatsächlich ein breites Grinsen verkneifen, während er hörte, wie Karyu die Sicherheitskette beiseiteschob. Im selben Maße, wie die Tür aufgezogen wurde, fing sein Herz schneller zu schlagen an, beinahe so, als hätte er den anderen eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. „Hey“, murmelte Zero lahm, als er seinem Freund endlich gegenüberstand, und fühlte sich nun endgültig wie ein pubertierender Teenager.   „Hey.“   Karyu trug nichts weiter als eine Boxershorts und ein übergroßes T-Shirt und das Vogelnest auf seinem Kopf zeugte davon, dass er sich tatsächlich stundenlang im Bett hin und her gewälzt haben musste. Eine Welle der Zuneigung schwappte über Zero hinweg und nahm die Befangenheit mit sich, die unsinnigerweise in ihm hochgestiegen war.   „Darf ich reinkommen?“   „J… ja, natürlich.“ Er lächelte, als Karyu beiseitetrat und ihn hereinwinkte. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, hörte er die Tür ins Schloss fallen und spürte lange Arme, die ihn von hinten an einen warmen Körper zogen. „Du bist wirklich gekommen““, flüsterte der Große und sein Atem kitzelte herrlich an Zeros Hals, bescherte ihm eine wohlige Gänsehaut.   „Kennst du mich denn nicht schon lange genug, um zu wissen, dass ich keine Scherze mache?“ Das Lächeln schien auf seinen Lippen festgewachsen zu sein, als er Karyus Rechte von seiner Hüfte zog und sie anhob, um einen sanften Kuss auf die Knöchel zu drücken. Im nächsten Moment drehte er sich herum und legte nun selbst die Arme um seinen Freund. Leise seufzend presste er sein Gesicht gegen Karyus Brust, atmete tief durch und fühlte, wie endlich ein Teil seiner Anspannung von ihm abfiel. Trotz allem, was heute passiert war, trotz seines Gesprächs mit Hizumi, den Erkenntnissen, die drohten, ihn in den Wahnsinn zu stürzen, würde er weiter über sie nachdenken, und seiner schmerzhaften Erinnerungen, die sich noch immer zu roh und frisch anfühlten, war er unendlich glücklich. Karyu war hier bei ihm und in Sicherheit.   „Eigentlich schon“, hörte er seinen Freund flüstern, bevor er einen Kuss auf seinem Scheitel fühlte. Zero hob den Kopf, reckte sich dem deutlich Größeren entgegen und seufzte zufrieden, als weiche Lippen sogleich die seinen fanden. Seine Arme wanderten höher, legten sich um Karyus Hals, während er sich rücklings den Flur hinunterdrängen ließ. Erst als er die Kante eines Bettes an den Waden spürte, löste er sich und grinste neckend zu seiner Liebe hinauf.   „Entweder bist du unglaublich müde oder dich treiben unlautere Gedanken an.“ Auf Karyus Lippen legte sich ein vielsagendes Grinsen, das seinen Magen wilde Purzelbäume schlagen ließ.   „Wieso muss es das eine oder das andere sein?“   „Mh, muss es nicht, wenn es nach mir geht.“   Lachend ließ Zero sich auf die Matratze fallen, rutschte nach hinten und machte Karyu mit lockendem Zeigefinger deutlich, dass er nicht länger auf ihn warten wollte. Sein Freund ließ sich nicht bitten, schob sich über ihn und erneut fanden warme Lippen die Zeros, ließen ihn leise seufzen. Oh ja, genau das brauchte er nun. Karyus Gewicht auf seinem Körper, seine vereinnahmende Präsenz, die ihn einhüllte und mit ihrem Licht die Schatten der Vergangenheit vertrieb.   ~*~ Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me, for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~ Kapitel 10: Kapitel 10 ---------------------- Zero wusste, dass er träumte. Die Realität verschwamm an den Rändern seines Gesichtsfeldes, die Geräusche waren gleichzeitig zu leise und hallten dennoch von unsichtbaren Wänden wider. Aber das war egal. Alles, was zählte, war der Mann unter ihm und ihre Körper, die sich in einem uralten Tanz vereinten. Seine Liebe stöhnte auf, die Hände um die Bettstreben gelegt und hielt sich daran fest, während Zero sich noch schneller in ihm zu bewegen begann. Unter dem Druck seiner Fingerkuppen rötete sich die zarte Haut Karyus Oberschenkel, als wären sie die Leinwand, auf der er seine Fingerabdrücke auf ewig hinterlassen durfte. Ein Schauer durchfuhr ihn, der sehnliche Wunsch, seine Zeichen auf dem schönen Körper könnten tatsächlich diese Traumwelt überdauern und auch im Licht des Morgens noch zu sehen sein. Schweiß schimmerte auf der leicht gebräunten Haut, ließ Karyu in seinen Augen nur noch schöner wirken. Unverhofft senkte er den Kopf, fing eine der Perlen mit der Zunge auf und noch eine, bis ihn der salzige Geschmack direkt zu Karyus Lippen führte. Ihr Kuss war flüchtig, immer wieder unterbrochen von ihren gepressten Atemzügen. „Karyu“, wisperte er, fühlte lange Finger, die sich in sein Haar krallten, ihn erneut gegen fordernde Lippen zogen. Nur zu gern ließ er sich küssen, sich erobern, gab sich vollends der Leidenschaft des Momentes hin. Der Leib unter ihm versteifte sich, ein Zittern rann durch ihn, das ihn erfasste und mit sich riss. Ihrer beider Stöhnen war laut, befreiend und so wenig aufzuhalten wie die Stille, die sie plötzlich umgab.   Zero öffnete die Augen, wusste nicht, wann er sie geschlossen hatte, und sah sich um. Seine Umgebung hatte sich drastisch verändert, glich in keiner Weise mehr Karyus Schlafzimmer. Um genau zu sein, glich sie nichts, was ihm bekannt war, denn nichts war es, das sie nun umgab. Seine Liebe und er standen in einem vollkommen schwarzen Raum, ohne Anfang, ohne Ende. Dennoch konnte er Karyus Gesicht erkennen, das unbeschwerte Lächeln, das er ihm schenkte.   „Komm“, sagte er und ergriff Zeros Hand. „Wir gehören hier nicht her.“   „Wie meinst du das?“   „Na, sieh uns doch an.“ Zero tat, wie sein Freund es von ihm verlangte und musterte erst Karyu, bevor er an sich selbst hinabsah. Sein Liebster hatte recht – sie passten tatsächlich nicht hierher. Sein Freund trug ein weißes, weichfließendes Gewand, das ihn vage an die Kleidung mittelalterlicher Königinnen erinnerte. Er selbst steckte in einer Rüstung samt Schwert und Schild, die aus so hellem Metall gefertigt waren, dass auch sie in der Dunkelheit ihrer Umgebung strahlend weiß wirkten. „Verstehst du nun?“   „Ich …“ Er zuckte mit den Schultern, was ein metallisches Kratzen und Schaben verursachte. “Nein, ich glaube nicht.“   „Das macht nichts. Noch ist Zeit.“ Wieder lächelte Karyu ihn an, beugte sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber nun komm, wir haben einen weiten Weg vor uns.“   Er erwiderte Karyus Lächeln, als sie sich in Bewegung setzten. Ihre Schritte klangen hohl und er hatte das Gefühl, Stunden unterwegs zu sein, bis sich vor ihnen mit einem Mal ein weißer Streif am endlosen Horizont zeigte.   „Was ist das?“, fragte er hauchend, erfasst von einer Ehrfurcht, die er sich nicht erklären konnte.   „Das ist unser Ziel.“   Je näher sie der Helligkeit kamen, desto schneller wurden Zeros Schritte. In seinem Nacken prickelte es und ihn beschlich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Eine nicht greifbare Bedrohung legte sich wie ein Band um seinen Brustkorb, machte ihm das Atmen schwer. Er wusste, dass sie in Sicherheit sein würden, sobald sie die Schwärze hinter sich gelassen hatten. Nur noch wenige Meter, nur noch ein paar Schritte …   „Karyu!“, rief er erschrocken aus, als sich die Hand seines Geliebten aus der Seinen löste. Er stolperte noch einen Schritt nach vorn, einen Fuß im Dunkel, den anderen in der Helligkeit, bevor er herumwirbelte. „Karyu.“ Mit Entsetzen sah er den Grund, weshalb sein Freund nicht mehr an seiner Seite war. Ein Mann, gekleidet im schwarzen Spiegelbild seiner eigenen Rüstung, hielt Karyu von hinten umfasst, ein Schwert gegen seinen Hals gepresst.   „So sieht man sich wieder, Dieb.“ In gleichem Maße, wie sich erschreckend vertraute Gesichtszüge aus dem vormals glatten Metall des Helmes formten, begann sich Karyus Erscheinung zu verändern. Zero blinzelte, als er in ihm erst seinen Danna, dann seinen Rebellenfürsten, dann Akemi und noch so viele mehr erkannte. An manche erinnerte er sich kaum noch, ihre gemeinsame Zeit nichts weiter als ein Wimpernschlag, andere waren mit so schmerzvollen Erlebnissen verknüpft, dass er sich nicht mehr erinnern wollte. Aber sie würde er nie vergessen können.   „Liebste“, wisperte er, als es nun das Antlitz seiner Prinzessin war, das ihm von Furcht erfüllt entgegensah. „Lass sie los!“, rief er, untermalt vom zufriedenstellenden Schaben, mit dem er sein eigenes Schwert aus der Scheide zog. „Stell dich mir, du Feigling!“   „Ich denke nicht.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung durchschnitt das schwarze Schwert den Hals der Prinzessin, während Zero nur fassungslos dabei zusehen konnte. Er hechtete nach vorn, die Arme ausgestreckt, um den kraftlosen Körper aufzufangen. Blut färbte das weiße Gewand in dunklem Rot und als er seinen starren Blick von der klaffenden Wunde lösen konnte, waren es Karyus schöne Augen, die ihm traurig entgegensahen. Sein Liebster wollte sprechen, doch das Leben floss so schnell aus ihm, dass ihm keine Gelegenheit dafür mehr blieb.   „Karyu“, hauchte er, als sich die Lider schlossen, der Leib in seinen Armen bewegungslos und schwer wurde.   „Du wirst es nie schaffen“, erklang die höhnische Stimme des Fürsten nah an seinem Ohr. „Du wirst immer zu langsam sein, deine Liebe nie retten können.“   ~*~   „Karyu!“ Er schreckte hoch, stemmte sich gegen das Etwas, das ihn nachdrücklich an Ort und Stelle hielt. Verdammt, er musste weg, musste seinen Liebsten erreichen, bevor er erneut zu langsam sein würde. „Oh, bitte, lass mich los, lass mich gehen“, flehte er der Dunkelheit entgegen, die ihn zu allen Seiten hin umgab und ebenso festzuhalten schien, wie der unsichtbare Griff um seine Schultern. „Ich muss zu ihm! Ich darf nicht wieder versagen.“ Tränen rannen ihm haltlos über die Wangen und die Panik dröhnte laut wie Hammerschläge in seinen Ohren, sodass er die Stimme, die geduldig auf ihn einredete, erst mit einiger Verspätung wahrnahm.   „Schsch, beruhig dich. Es ist alles gut. Du hast nur schlecht geträumt.“   „Ka… Karyu?“, hauchte er und fühlte, wie sich eine Hand von seiner Schulter löste. Es klickte leise, bevor er von der kleinen Lampe auf dem Nachttisch geblendet die Augen schloss.   „Ja.“ Karyu schenkte ihm ein schiefes Lächeln, das besser als alle Worte seine Unsicherheit zeigte. „Bin nur ich, der olle Karyu.“   „Oh, Gott“, hauchte er, schloss die Augen und ließ sich gleichzeitig zur Seite kippen, bis seine Stirn sacht gegen Karyus Brust lehnte. Tief atmete er ein und wieder aus. Als aber auch das nicht half, seiner Panik Herr zu werden, krallte er beide Hände in das übergroße Schlafshirt, das sein Liebster trug, um sein Gesicht im weichen, duftenden Stoff zu verbergen. Karyu war hier, lebendig. Er konnte sogar seinen Herzschlag hören, wenn er nur das Ohr ganz stark gegen den warmen Oberkörper presste. Karyu lebte, er war nicht zu spät … nicht schon wieder.   „Hey.“ Ein liebevolles Hauchen, mehr war dieses kleine Wort nicht gewesen, als er Lippen spürte, die sich gegen seinen Scheitel pressten. „Es ist alles gut, hörst du? Es war nur ein Albtraum.“ Karyu begann, leicht über seinen Nacken zu kosen, während Zero noch immer damit beschäftigt war, sich zu beruhigen. Karyus Worte waren wie ein Mantra, welches er innerlich so lange wiederholte, bis er endlich zu zittern aufhörte und auch sein Atem wieder ruhig und gleichmäßig ging. Die ganze Zeit über hatte sein Freund ihn gehalten, ihm kleine Nichtigkeiten zugeflüstert, bis Zero es schaffte, sich aufzurichten und wenige Zentimeter auf Abstand zu gehen.   „Tut mir leid, dass du das mitbekommen musstest.“   Wieder lächelte Karyu, doch seine Augen glänzten vor Mitgefühl. „Schon gut, dafür musst du dich nun wirklich nicht entschuldigen.“ Lange Finger strichen ihm einige seiner Zöpfe hinter die Ohren, bevor sie sanft über seine Wangen streichelten. „Willst du mir sagen, was passiert ist? In deinem Traum, meine ich. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht willst, aber vielleicht …“   Zeros Mundwinkel zuckten, als er den Finger hob und ihn Karyu auf die Lippen legte. „Pass auf, sonst stolperst du noch über deine eigenen Worte.“ Er sah noch, wie sich Karyus Augen weiteten, als er den Finger durch seine Lippen ersetzte, bevor ihm fast zeitgleich die Lider zuflatterten. Genau das brauchte er jetzt. Eine physische Bestätigung, dass es seinem Liebsten gut ging, dass er hier war, atmete, lebte.   ~*~   Am Ende hatte es nicht lange gedauert, bis Karyu ihn dazu gebracht hatte, ihm von seinem Traum zu erzählen. Mit jedem weiteren Detail war sein Liebster blasser geworden und hatte ihm so deutlich vor Augen geführt, dass es nicht fair war, Karyu mit diesen Dingen zu belasten. Aber war es nicht ebenso unfair, ihn weiterhin im Dunkeln tappen zu lassen? Um ehrlich zu sein, hatte Zero mittlerweile keine Ahnung mehr, was in dieser Situation noch richtig und was falsch war. Das Einzige, was er wusste, war, dass es unheimlich guttat, diese Dinge nicht länger immer nur für sich behalten zu müssen. Es war befreiender, als er sich jemals hätte vorstellen können, als sich Karyus Arme um ihn legten, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, und ihn einfach nur hielten. Es fühlte sich beinahe so an, als könnte er zum ersten Mal in seinem Leben schwach sein, ohne befürchten zu müssen, das Schicksal würde ihn sogleich für diese Schwäche bestrafen.   „Was, denkst du, hatte dieser Traum zu bedeuten? Meinst du, er hängt mit den Männern zusammen, die uns verfolgt haben?“   „Ich …“ Zero schluckte und richtete sich etwas auf, um Karyu ins Gesicht sehen zu können. Fast zögerlich tastete er nach der großen Hand des anderen und lächelte, als sein Freund sogleich ihre Finger miteinander verschränkte. „Ich glaube, der Traum war schlichtweg eine Manifestation der Angst, die ich um dich habe“, spielte er die Wahrheit herunter, die sich wie ein Klumpen Blei in seinen Magen gelegt hatte. „Ich weiß, dass ich gesagt habe, du sollst dir keine Sorgen machen, was die Männer angeht und dass wir das schon in den Griff bekommen, aber …“ Er schloss für einige Sekunden die Augen - ein feiger Versuch, dem anhaltenden Unbehagen, welches Karyu übers Gesicht geschrieben stand, auszuweichen. „Ich mache mir dennoch Sorgen.“   „Du glaubst also doch, dass ich in Gefahr bin?“   Eine lange Pause folgte, bevor er abgehakt nickte und beschämt den Kopf senkte. „Irgendwas braut sich zusammen, ich spüre es in meinen Knochen, aber ich hab keine Ahnung, was genau oder was ich überhaupt dagegen tun kann.“   „ Argh! Das ist so, so … ich begreife das alles einfach nicht.“ Karyu hatte die Lider fest aufeinandergepresst und rieb sich mit beiden Händen über die Schläfen. Für einen langen Moment blieb sein Gesicht hinter den Händen verborgen, bevor er sichtbar die Schultern straffte und Zero in die Augen sah. Okay … lass uns für einen Moment davon ausgehen, dass dein Traum nicht nur die Art deines Unterbewusstseins war, dich auf deine Angst aufmerksam zu machen. Dann bedeutet das doch, dass der Fürst nach all der Zeit persönlich hinter uns her ist, oder?“ Zero schluckte, erwiderte jedoch nichts auf die erschütternde Wahrheit, die sein Freund soeben ausgesprochen hatte. „Wieso das alles? Warum ausgerechnet jetzt?“   „Ich weiß es nicht.“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Bislang gab es nie eine derart greifbare Bedrohung. Es war immer viel diffuser, Dinge wie die Zeit, Krankheiten oder Katastrophen, die dich mir weggenommen haben. Und selbst, wenn andere gegen unsere Verbindung waren, ist alles immer so verdammt schnell gegangen. Ich war immer bis zu letzt ahnungslos, trotz der Erinnerungen an unsere früheren Leben. Ich konnte nur in jedem Leben nach dir suchen und alles dafür geben, dich nicht wieder zu verlieren.“ Zero rieb sich übers Gesicht. „Bislang ist die Bedrohung nie vom Fürsten selbst ausgegangen.“ Fest sah er Karyu in die Augen. „Ich habe nie vorher auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er uns über die Jahrhunderte hinweg folgen könnte.“   „So eine Scheiße“, zischte Karyu und fuhr sich durch die ohnehin vom Schlaf zerzausten Haare. „Nur weil dieser Typ ein menschenverachtender Tyrann war und meine Vorfahrin schlau genug, ihn zu verlassen, als sich ihr die Chance geboten hat, ist er jetzt auf Rache aus oder was? Wie geht das überhaupt? Das ist alles so unglaublich, das kann gar nicht real sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es einfach jedem möglich ist, auf diesen Wiedergeburtszug aufzuspringen. Stell dir doch mal eine Gesellschaft vor, in der es egal ist, ob man stirbt oder nicht, weil man ohnehin früher oder später dort weitermachen kann, wo man aufgehört hat. Das ist absurd, oder nicht?“ Karyus Augen waren wild, als er seinen Blick suchte, bevor er sich von ihm abwandte. „Vielleicht hört sich das aber auch nur für mich komplett verrückt an, weil ich der einzige Idiot hier bin, der sich noch immer an nichts erinnern kann!“   Karyu hatte sich in Rage geredet und war aufgestanden, um nun wie ein eingesperrter Tiger vor dem Bett auf und ab zu gehen. Obwohl Zero beim besten Willen nicht mit der Heftigkeit seiner Reaktion gerechnet hatte, konnte er es seinem Freund nicht verübeln, dem ganzen angestauten Frust auf diese Weise Luft zu machen. Hatte er selbst nicht auch vor wenigen Minuten festgestellt, wie unfair es wäre, sein Wissen vor Karyu weiterhin verborgen zu halten? Egal, wie unangenehm die Situation nun für ihn werden würde, Karyu hatte ein Recht darauf, endlich mehr, als nur Bruchstücke zu erfahren. Unwissenheit hatte ihm noch nie geholfen, das Leben seiner Liebe zu retten.   „Karyu“, sprach er leise, erhob sich ebenfalls vom Bett und stellte sich direkt vor ihn, um ihn am Auf- und Ablaufen zu hindern. „“Du bist kein Idiot und es ist auch nicht deine Schuld, dass du dich an nichts erinnern kannst, hörst du?“ Er hob die Rechte und als Karyu nicht vor ihm zurückwich, begann er, sanft über seine Wange zu streicheln. Karyus Kieferknochen zeichneten sich harsch unter der dünnen Haut ab, so stark presste er die Zähne auf einander, und in seinen Augen loderte ein Feuer, das Zero in die Knie gezwungen hätte, wüsste er nicht, dass sein Zorn nicht ihm galt. Ich konnte wenigstens schon in Erfahrung bringen, dass alles irgendwie mit meinem Versprechen an dich vor eintausend Jahren in Zusammenhang steht, und den Rest finde ich auch noch heraus, das verspreche ich dir“, wisperte er und trat noch einen Schritt näher an seinen Liebsten heran. „Ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um dem Schicksal diesmal eins auszuwischen. Diesmal wird uns nichts trennen. Keine Macht dieser oder einer anderen Welt wird dich mir noch einmal wegnehmen.“   Karyu blieb stumm, doch mit jedem Atemzug, der über seine Lippen kam, erkannte er, wie sich der größere Körper mehr und mehr entspannte. Irgendwann schloss sein Geliebter die Augen und ließ den Kopf nach vorn sinken, bis er sanft auf Zeros Schulter ruhte. „Ich fühle mich so dumm und unwissend. Ich will nicht, dass die ganze Last auf deinen Schultern liegt. Ich will nicht gerettet werden, verstehst du?“ Braune Augen fixierten ihn und die Entschlossenheit in ihnen war wie ein Schwall kalten Wassers, der über Zero hereinbrach. Sollte das etwa die Lösung ihrer Misere sein? War sein Fehler in der Vergangenheit nie der gewesen, dass er zu schwach, zu langsam gewesen war, sondern dass er seine Liebe unterschätzt hatte? Vielleicht war es nie nur allein an ihm gewesen, ihr Schicksal zum Guten zu wenden. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen und schluckte den Schmerz herunter, den ihm diese Möglichkeit verursachte. Verflucht, wenn sie beide nur mehr über die Agenda der Mächte wissen würden, könnte das ihr Jahrhunderte andauerndes Leid endlich beenden. Hizumi hatte ihm in den letzten Tagen bereits einige Einblicke in die Denkweise der Mächte gegeben, aber nun wurde es Zeit, dass er endlich Klartext sprach. Zero wusste zwar, dass der Engel bestraft werden würde, wenn er sich über den Willen seiner ‚Bosse‘ hinwegsetzte, aber darauf konnte er keine Rücksicht mehr nehmen. Er wusste bereits jetzt mehr, als in all seinen Leben zuvor, und diesmal würde er auch in der Lage sein, sein Wissen an seine Liebe weiterzugeben. Von einem überwältigenden Gefühl der Hoffnung erfüllt, legte er beide Hände an Karyus Wangen und zog seinen etwas überrumpelten Freund in einen langen, intensiven Kuss.   „Ehm, wofür war das gerade?“   „Brauche ich jetzt schon einen Grund, um meine Liebe zu küssen?“ Zufrieden stellte er fest, wie sich Karyus Wangen auf diese Aussage hin röteten und seinem bis eben noch so verhärmt wirkenden Gesicht jugendliche Frische zurückgaben. „Ich denke, ich hatte gerade einen Aha-Moment.“   „So, so. Und? Erzählst du mir davon?“   „Morgen. Ich … es gibt Dinge, die nicht an mir sind, sie dir zu erzählen, aber ich verspreche dir, dass ich dir morgen alles sagen werde, was ich weiß.“   „Es gibt also noch mehr?“   „Ja, leider … und ich befürchte, ich selbst verstehe nicht einmal einen Bruchteil davon.“   „Du warst also nicht ehrlich zu mir, obwohl wir die ganze Zeit über diesen Irrsinn gesprochen haben?“   „Was? Nein, Karyu, das verstehst du falsch.“   „Tue ich das?“   „Ja.“ Karyu hatte sich wieder auf das Bett gesetzt, den Rücken gegen das Kopfende gelehnt und die Decke über seine Beine gezogen. Erneut hatte sich die Stimmung zwischen ihnen verändert, aber diesmal bescherte sie ihm Bauchschmerzen. „Karyu?“   „Wir sollten schlafen. Mir brummt der Schädel und wir haben in ein paar Stunden ein Konzert zu geben.“   „Aber …“   „Nein, nicht jetzt, Zero, okay?“ Komm her. Ich will nicht mehr reden.“   Zero schluckte, tat jedoch, wie sein Liebster von ihm verlangte und schlüpfte ebenfalls unter die Decke. Einen Wimpernschlag später war das Zimmer erneut in Dunkelheit gehüllt, die ihm beinahe noch mehr Unbehagen bescherte, als Karyus Schweigen. Doch gerade, als er sich über den Wunsch seines Liebsten hinwegsetzen und doch noch einmal das Wort an ihn richten wollte, legten sich lange Arme um seine Mitte.   „Versuch zu schlafen.“ Ein sanfter Kuss suchte und fand seine Wange, bevor sich Karyu gegen ihn schmiegte und seine Wärme mit ihm teilte.   „Du auch“, wisperte er, tastete nach einer Hand des anderen, hauchte einen Kuss auf einen der Fingerknöchel, bevor er sie auf seinem Brustkorb ablegte. „Es ist nicht leicht für mich …“, wisperte er, ohne damit zu rechnen, dass Karyu ihm zuhören oder auf das Gesagte reagieren würde.   „Ich versuche, dich zu verstehen, ehrlich, aber für mich ist das auch nicht einfach.“   „Ach, Karyu“, seufzte er, plötzlich unendlich müde und drehte sich so, dass er sein Gesicht an der Brust des anderen verbergen konnte.   „Schlaf jetzt, wir müssen morgen fit sein.“   „Ich tu mein Bestes.“   ~*~   „Und du willst ihm also alles sagen, ja?“   „Ja.“ Zero presste die Lippen aufeinander und erwiderte Hizumis Blick so selbstsicher er konnte. Um sie herum herrschte reges Treiben, während die Männer und Frauen vom Staff die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Show trafen. Zeros Kopf ruckte zur Seite, als Karyus Gitarre plötzlich ein unangenehmes Schrillen von sich gab, bevor der Tontechniker es schaffte, die passende Frequenz einzustellen. Er verzog das Gesicht, jedoch nicht des durchdringenden Geräuschs wegen, sondern weil Hizumi ihn noch immer mit stoischer Miene musterte und so seine Entschlossenheit deutlich ins Wanken brachte. „Versteh mich nicht falsch“, lenkte er ein und verkniff sich ein geschlagenes Seufzen, das im vorherrschenden Tohuwabohu ohnehin untergegangen wäre. „Ich kann ihm sowieso nicht viel mehr sagen, als ich schon getan habe. Du hast mir das Versprechen abgenommen, deine ‚Besonderheiten‘ für mich zu behalten, und das werde ich tun, aber …“   „Aber du willst, dass ich mich Karyu offenbare, nicht wahr?“   Wieder musste Zeros Unterlippe dran glauben, als er abgehakt nickte. Wie er es hasste, auf den guten Willen anderer angewiesen zu sein. „Es ist wichtig, Hizumi, dass Karyu und ich so viel wie möglich über das erfahren, was hier vor sich geht, verstehst du nicht? Nur so haben wir eine Chance.“   „Ach, ja? Das sind ja ganz neue Töne. Was ist aus deiner bisherigen Einstellung geworden, dich von Karyu fernzuhalten, um ihn nicht zu gefährden?“ Hizumis rechte Braue wanderte in einer provokanten Geste ein Stück nach oben. „Mir ist aufgefallen, dass du zu ihm gefahren bist, kurz nachdem ich gegangen bin. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“ Zusammen mit den letzten beiden Silben verzog sich Hizumis Mund zu einem anzüglichen Grinsen, welches Zero ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte.   „Nicht nur, dass du unsere Lage nicht ernstzunehmen scheinst, jetzt spionierst du mir auch noch hinterher?“   „Glaub mir, Zero, ich nehme eure Lage ernster, als dir bewusst ist genau wie meinen Job. Und als dein ‚Schutzengel‘ …“ Hizumi malte Anführungszeichen in die Luft, was Zero nur unbeeindruckt schnauben ließ, „… ist es nun mal meine Pflicht, ein Auge auf dich zu haben. Dabei ist mir diese Kleinigkeit ebenso wenig entgangen wie die Tatsache, dass ihr vorhin gemeinsam hier angekommen seid.“   „Ich hatte Karyu versprochen, ihn mit dem Wagen mitzunehmen, das weißt du.“   „Ja~.“   Falls möglich, weitete sich Hizumis Grinsen nur noch mehr, aber wenigstens bestand er nicht auf eine Antwort. Stattdessen war es Zero, der fragend eine Augenbraue hob, bevor sie beide von einem lauten Scheppern aus ihrer nicht wirklich privaten Unterredung gerissen wurden.   „Alles in Ordnung?“, rief Hizumi über den allgemeinen Geräuschpegel hinweg und fixierte Tsukasa, der ungläubig einem seiner Becken hinterher sah.   „Ja, ja“, antwortete ihr Drummer sichtlich aus dem Konzept gebracht, erhob sich und dankte im Vorbeigehen seinem Techniker, der sich sofort pflichtschuldig um den kleinen Defekt bemühte. „Scheint nur nicht richtig festgeschraubt gewesen zu sein.“ Tsukasa fuhr sich durchs Haar, bevor er ihnen ein breites Lächeln schenkte. „Ich muss ja sagen, Leute zu haben, die für einen arbeiten, ist schon irgendwie cool, oder?“   „Definitiv.“ Zero erwiderte das Lächeln, obwohl er sich nicht entscheiden konnte, ob er froh oder genervt über Tsukasas Störung sein sollte. Eine Antwort auf seine Bitte hatte Hizumi ihm noch immer nicht gegeben und zu allem Überfluss winkte ihn nun Taka zu sich, um die Einstellungen seines Basses zu finalisieren. Mit einem letzten Blick auf ihren Sänger wandte er sich von seinen beiden Kollegen ab und ging mit wenig Elan auf den schon etwas in die Jahre gekommenen Techniker zu. Glücklicherweise gab es nicht mehr viel, was sie zu klären hatten, und so war es nicht verwunderlich, dass Zero mit den Gedanken nicht wirklich bei der Sache war. Stattdessen ertappte er sich immer wieder dabei, wie sich seine Aufmerksamkeit auf Karyu richtete und er seinen Bewegungen mit den Augen folgte. Vermutlich war es an der Zeit, auch ihren Kollegen reinen Wein einzuschenken und zuzugeben, dass sich sein Verhältnis zu ihrem Gitarristen in den letzten Tagen drastisch verändert hatte. Noch eine Sache, die er mit Karyu besprechen musste, sobald sich eine Möglichkeit dafür bot.   Er seufzte und winkte ab, als Taka ihn fragend musterte. Die Stimmung zwischen Karyu und ihm war gedrückt gewesen, als sie vor wenigen Stunden die Wohnung des anderen verlassen hatten. Das schlechte Gewissen, noch immer Dinge vor seinem Liebsten geheim zu halten, begann ihn innerlich aufzufressen. Für einen Augenblick schaute er sich nach Hizumi um, der noch immer mit Tsukasa etwas abseits des Trubels stand und sich unterhielt. Täuschte er sich oder ignorierte ihn der andere gerade? Sonst hatte Hizumi immer einen siebten Sinn dafür, wenn er angestarrt wurde. Zeros Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Verdammt, warum zierte sich der Engel so? Plötzlich hob Hizumi erschrocken den Kopf, während Zero in derselben Sekunde zu Karyu herumwirbelte. Er hätte nicht erklären können, was er soeben aus dem Augenwinkel gesehen hatte, aber was auch immer es war, das ungute Gefühl in seiner Magengegend sprach Bände. Noch bevor er verarbeiten konnte, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt ereignete, reagierte sein Körper. Mit drei langen Schritten war er an Karyus Seite, hebelte den deutlich Größeren mit der Schulter wie ein Rugbyspieler aus und brachte ihn so zu Fall. Hinter ihnen krachte es laut, während sich seine Rippen schmerzhaft zu Wort meldeten, als er hart auf seinem Freund zum Liegen kam. Beinahe glaubte er, den Einschlag heißer Glassplitter auf seinem Rücken fühlen zu können, als der von der Decke gefallene Scheinwerfer auf dem Bühnenboden in tausend Einzelteile zersprang. In Zeros Ohren rauschte es, während er Karyu, ohne zu blinzeln, aus schockgeweiteten Augen anstarrte. Sein Freund sah nicht minder erschrocken aus. Karyus Lippen bewegten sich, aber noch war Zero zu erschüttert, um irgendetwas um sie herum wahrnehmen zu können. Erst als sich die großen Hände des anderen an seine Schultern legten und er ihn mit sanftem Nachdruck auf Abstand schob, drangen aufgeschrecktes Stimmengewirr und die Geräusche hektischen Treibens an seine Ohren.   „… hätte böse ausgehen können, hätte Zero nicht so schnell reagiert.“ „… in Ordnung bei euch?“ „… du aufstehen?“   Es kam ihm vor, als würden alle Anwesenden gleichzeitig auf sie einreden, während er noch immer das Gefühl hatte, alles nur in Zeitlupe wahrzunehmen. Erst Karyus Stimme, die deutlich ruhiger zu ihm sprach, holte ihn ein Stück weit in die Realität zurück.   „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt?“ Automatisch schüttelte er den Kopf, während sein Freund mit zitternden Fingern begann, seinen Rücken abzutasten.   „Und du? Ist mit dir auch alles in Ordnung?“, fragte er schlussendlich, als sie sich mit Hizumis und Tsukasas Hilfe aufgerichtet hatten und die beiden anderen sie vorsichtig von den restlichen Splittern befreiten.   „Ja, dank dir.“   „Du hast einige kleinere Schnitte im Nacken“, merkte Hizumi an, wischte ihm vorsichtig die Zöpfe über die Schultern und zupfte auch von dort die Splitter fort. Zero zischte kurz, als ein besonders hartnäckiges Exemplar mit einem unangenehmen Zerren an seiner Haut darauf reagierte. „Das sollten wir desinfizieren, bevor sich was entzündet.“ Er nickte nur erneut und ließ sich von Hizumi hinter die Bühne und in die Waschräume führen.   „Ich muss zurück zu Karyu“, murmelte er mit deutlicher Verspätung, weil sich sein Kopf noch immer wie in Watte gehüllt anfühlte. Was war das gerade gewesen? Ein Unfall? Ein Anschlag?   „Tsukasa ist bei ihm. Mach dir keine Sorgen, ihm ist wirklich nichts passiert.“ Hizumi feuchtete mehrere Papierhandtücher an und bedeutete ihm, sich gegen eines der Waschbecken zu lehnen. „Zieh kurz dein Hemd aus, nicht, dass noch Splitter im Stoff festsitzen.“ Zeros Gedanken rasten, seine Bewegungen waren jedoch schlafwandlerisch langsam, als er Hizumis Aufforderung folgeleistete. Er senkte den Kopf, beugte sich leicht vor, während der Sänger sich um seine Verletzungen kümmerte. „Das nenne ich mal Reaktionsfähigkeit, Hut ab.“   „Der Scheinwerfer … das war …“   „Mmmh.“ Hizumi brummte leise, während er aus einem Erste-Hilfe-Kasten ein Fläschchen mit Desinfektionslösung nahm und auf den kleinen Schnitten verteilte. Leicht verzog Zero das Gesicht, sagte jedoch weiter nichts. „Ich weiß, was du denkst.“   „Das war kein Zufall.“   „Ich hab nichts gesehen, was darauf schließen lässt, aber … an einen Zufall glaube ich auch nicht.“ Hizumi seufzte, warf das blutige Papiertuch in den Abfalleimer und sah ihm ernst in die Augen. „Ich werde Karyu sagen, was ich kann. Du hast recht, wir sollten jeden Vorteil für uns nutzen, den wir kriegen können. Je mehr Karyu weiß, desto sicherer wird er sein.“   „Danke.“ Zero schloss für einen Moment die Augen, spürte Erleichterung und anhaltende Panik gleichzeitig durch sein System rasen. „Danke, ehrlich“, wiederholte er und erwiderte erneut Hizumis Blick. „Ich hatte diese Nacht einen Traum“, murmelte er und schluckte, als sich die Bilder seines Albtraumes vor sein geistiges Auge schieben wollten. „Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass er mir gezeigt hat, was passieren wird.“   „Wirklich?“   „Freu dich nicht zu früh. Ich hab keine Ahnung, was genau das, was ich gesehen hab, zu bedeuten hat. Aber wer auch immer hinter Karyu her ist, egal, ob es der Fürst ist oder doch die Mächte, die die Strippen ziehen, wir müssen ihm zuvorkommen.“   „Du musst mir erzählen, was du geträumt hast. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Vielleicht …“   „Da seid ihr ja!“ Tsukasa hatte die Tür so schwungvoll geöffnet, dass sie laut gegen die Wand krachte und Zero zusammenfahren ließ. „Oh, tschuldigt, das wollte ich nicht. Ihr wart nur so schnell verschwunden …“   „Zero?“ Auch Karyu tauchte in der offenstehenden Tür auf und kam sogleich auf ihn zu. „Was ist mit dir?“   „Nichts, alles gut, mach dir keine Sorgen.“ Zero richtete sich auf, begutachtete sein Schirrt und schüttelte es vorsichtshalber einmal kräftig aus, bevor er es sich wieder überzog. „Es sind nur Kratzer. Wie geht es deinem Rücken? Den Rippen? Wirklich alles gut? Ich bin recht unsanft auf dir gelandet.“ Zero hob den Kopf, erwiderte Karyus musternden Blick nicht minder besorgt.   „Komm mit, Tsukasa“, hörte er Hizumi sagen und sah aus dem Augenwinkel, wie ihr Sänger den anderen mit Nachdruck aus dem Waschraum bugsierte. „Lass uns nachsehen, ob wir irgendwas helfen können.“   Ein Teil in Zero wollte Hizumi folgen, ihr Gespräch fortsetzen, aber der weitaus größere Teil hatte nur noch Augen für Karyu. Kaum war die Tür hinter ihren Kollegen ins Schloss gefallen und sie für den Moment allein, kam sein Liebster auf ihn zu. Zero seufzte, als sich lange Arme um ihn legten, und erwiderte die Geste, presste sein Gesicht gegen den warmen Oberkörper seines Freundes.   „Scheiße“, wisperte er und fühlte erst jetzt das zittern, das wie Wellen durch seinen Leib rann. „Ich darf gar nicht daran denken, was hätte passieren können.“   „Dann tu es nicht.“ Karyus Stimme klang noch immer ruhig, erstaunlich, bedachte man, dass der Große es war, der um Haaresbreite erschlagen worden wäre. „Denkst du, das war ein Unfall oder …?“   „Ich weiß es nicht.“ Zero hob den Kopf, brachte es jedoch nicht über sich, seine Vermutung auch Karyu gegenüber ehrlich zu äußern. „Ich weiß nur, dass der Sicherheitsbeauftragte der Halle sich warm anziehen sollte. Der kriegt was zu hören, darauf kannst du wetten.“ Er verengte die Augen und biss die Zähne fest zusammen, ein eher jämmerlicher und nicht gerade wirkungsvoller Versuch, seine Angst um Karyu in Wut umschlagen zu lassen.   „Hey.“ Lange Finger legten sich unerwartet sanft an seine Wange und dirigierten seinen Kopf so, dass Karyu seine Lippen mit den eigenen einfangen konnte. „Danke.“ Ein wohliger Schauer rann Zero über den Rücken, als die hauchzarten Berührungen über seinen Mund prickelten. „Hättest du nicht so schnell reagiert, wäre ich jetzt wohl …“   „Pscht“, zischte er leise und nun war es an ihm, zu verhindern, dass weitere Worte Karyus Mund verlassen würden. Seine Finger gruben sich in das brünette Haar seines Liebsten, hielten ihn an Ort und Stelle fest. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihr Kuss leidenschaftlicher. Hände strichen über störende Kleidung, Körper pressten sich aneinander, suchten Nähe, die ihnen vorhin beinahe für immer entrissen worden wäre. „Karyu“, keuchte er, vollends im Strudel der Gefühle für seinen Geliebten versunken. Vergessen war die unterschwellige Gefahr, die wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte. Vergessen war der alles andere als ideale Ort, an dem sie sich befanden und an dem sie jederzeit entdeckt werden konnten. Alles, was zählte, war der Mann in seinen Armen. „Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert“, wisperte er zwischen zwei Küssen, haschte nach Karyus Unterlippe und keuchte, als sich große Hände auf seinen unteren Rücken legten. Mit kurzen Küssen und neckenden Bissen suchte er sich einen Weg über Karyus Kiefer bis zum Hals, liebkoste auch dort die weiche Haut. „Ich liebe dich“, entkam es ihm, ohne dass er darüber hätte nachdenken oder es verhindern wollen. Und als wären seine Worte ein Schwall kalten Wassers gewesen, welcher Karyu in die Realität zurückholte, löste der Größere sich ein Stück von ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Zero konnte nicht anders – er murrte unwillig und schob die Unterlippe vor.   „Was hast du gerade gesagt?“, verlangte sein Liebster zu wissen, doch Zero hatte nur Ohren für die Art, wie diese wenigen Worte Karyus Mund verlassen hatten. Keuchend, schier außer Atem und daran war er, Zero, ganz alleine schuld.   „Gar nichts, hast du was gehört?“, flüsterte er, den Blick unverwandt auf seinem Gegenüber ruhend.   „Zero …“   Seine Mundwinkel zuckten, bevor sich ein kokettes Lächeln auf seine Lippen legte. Er umfasste eine Haarsträhne Karyus und begann sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu zwirbeln. „Was denn? Ist es meine Schuld, dass du mich nicht verstanden hast? Du solltest eben besser zuhören, wenn ich dir was zu sagen habe.“   „Ich hab dir zugehört. Ich weiß nur nicht, ob ich meinen Ohren trauen kann.“   „Wieso, was haben dir deine Ohren denn gesagt?“ Auf Karyus Wangen legte sich eine entzückende Röte, die es schaffte, Zero davon zu überzeugen, seinen Liebsten nicht länger zu necken. Lächelnd legte er beide Hände an Karyus Gesicht, streichelte über die definierte Linie seiner Wangenknochen. „Ich liebe dich“, wiederholte er flüsternd und wollte die schönen Lippen vor sich gerade noch einmal in Beschlag nehmen, als es an der Tür zum Waschraum klopfte.   „Kommt ihr?“   „Hizumi“, stöhnte Karyu derart resigniert auf, dass Zero nicht anders konnte, als zu lachen.   „Ja, Hizu, wir kommen sofort.“ Spielerisch drückte er Karyu noch einen Kuss auf die Nasenspitze und tätschelte seine Wange. „Schmoll nicht, Leader, immerhin sind wir hier, um ein Konzert zu spielen.“ Lächelnd umfasste er Karyus Hand, drückte einen Kuss auf die Fingerknöchel. „Ich pass auf dich auf, ja?“   Karyu nickte, schenkte ihm seinerseits noch einen viel zu intensiven Kuss und setzte sich in Bewegung. „Ich pass auch auf dich auf.“ Er lächelte und zwinkerte ihm zu. Zeros Herz erwärmte sich, weil er diese Geste als das erkannte, was sie war. Karyu versuchte, ihm und wohl auch sich selbst die Angst zu nehmen. „Und nach der Show reden wir, in Ordnung?“   „Ja.“   ~*~   Zero drückte die schwere Tür auf, die sie aus dem Konzerthaus und auf den Parkplatz brachte, und erschauerte, als ihm sogleich ein kalter Windstoß entgegenwehte. Trotz oder wegen der heißen Dusche, die er sich nach der Show genehmigt hatte, fing er sogleich an, ekelhaft zu frieren. Karyu, der in seinen dicken Parka gehüllt neben ihm ins Freie trat, sah plötzlich noch verlockender aus, als ohnehin schon. Und das lag für einmal nicht an dem lieben Lächeln, welches er ihm schenkte oder an der geöffneten Zigarettenschachtel, die er ihm einladend hinhielt.   „Willst du eine?“   „Ich würde mich gerade viel lieber zu dir in deine Jacke stehlen, aber danke“, stellte er mit einem kleinen Schmunzeln fest, zog eine der Zigaretten aus der Schachtel und klemmte sie sich zwischen die Lippen.   „Ich hab schon immer gesagt, dass dein Ledermantel keine anständige Jacke ist, aber mir soll es recht sein. Ich halte gern als deine lebendige Wärmflasche her.“   Ein liebevolles Augenrollen war alles, was Zero dazu zu erwidern hatte, bevor er sich auf den Weg zu seinem Wagen machte. „Wo bleiben Hizumi und Tsukasa eigentlich?“   „Sie kommen sicher gleich.“ Karyu zuckte mit den Schultern, bevor er damit fortfuhr, seine Jackentaschen abzutasten.   „Suchst du was?“   „Ja, mein Feuerzeug. Ich glaub, ich hab es Backstage liegenlassen. So ein Mist.“   „Hier.“ Er hielt Karyu sein eigenes Feuerzeug hin, aber der Große machte keine Anstalten, es anzunehmen.   „Danke, aber ich hänge an dem Teil. Geh doch schon mal vor, ich lauf nur schnell zurück und komm dann gleich nach, okay?“   „Klar.“ Zero erinnerte sich, dass sein Liebster kein schnödes Wegwerffeuerzeug verwendete so wie er, sondern schon seit er ihn kannte ein hübsches, silberfarbenes Zippo mit Gravur sein Eigen nannte. Kein Wunder, dass er es nicht zurücklassen wollte. Zero lächelte, fand die Gedanken, die er sich mal wieder über Karyu machte, gerade irgendwie amüsant. Im nächsten Moment jedoch gefroren ihm sämtliche Gesichtszüge.   „Was? Nein!“ Die Worte, der abgehakte Schrei, der ihnen folgte, waren eindeutig von Karyu gekommen. Er wirbelte herum. Obwohl er kaum drei Schritte von seinem Liebsten entfernt stand, fühlte er sich, als wären es unendliche Weiten, die sie voneinander trennten. Wie war das möglich? Er hatte Karyu doch nur für eine Sekunde aus den Augen gelassen. Die Tür, die zurück ins Konzerthaus führte, war genau dort, keine fünf Meter vor ihm. Wie hatten sich die gesichtslosen Männer nur zwischen sie drängen können, ohne dass er etwas bemerkt hatte?   „Karyu!“, rief er, wollte zu ihm eilen, konnte sich jedoch mit einem Mal nicht mehr bewegen. Die Luft um ihn herum schimmerte, verdichtete sich, bis er das Gefühl hatte, sie bestünde aus unnachgiebigem Glas. Er bekam keine Luft mehr, seine Lungen brannten und dennoch versuchte er, wieder und wieder nach seinem Liebsten zu rufen. Einer der Gesichtslosen schlug mit der geballten Faust gegen Karyus Schläfe, der sich bis eben mit Leibeskräften gegen die Hände gewehrt hatte, die ihn erbarmungslos festhielten. Nun jedoch sackte er bewusstlos in sich zusammen, kam unsanft auf dem geteerten Boden des Parkplatzes auf.   ‚Nein!‘, schrie alles in Zero, während der Sauerstoff in seinen Lungen zur Neige ging, der Druck hinter seinen Augen dafür immer unerträglicher wurde. Verdammt, wenn das so weiterging, würde er jämmerlich ersticken, während er wieder einmal nichts tun konnte, um Karyu zu helfen. Aber dem noch nicht genug, öffnete sich vor den Gesichtslosen plötzlich ein elektrisch knisterndes Oval, das in sämtlichen Spektralfarben zu erstrahlen schien. Geblendet hätte er die Augen zusammengekniffen, wäre er nicht zur Bewegungslosigkeit verdammt. Im selben Moment, als er mitansehen musste, wie sich der Kerl, der Karyu geschlagen hatte, den Großen mit Leichtigkeit über die Schultern wuchtete, schlug die Tür zum Parkplatz mit einem lauten Knall gegen die Hauswand. Die Umrisse eines geflügelten Wesens zeichneten sich im Licht des dahinterliegenden Konzerthauses ab, brachten Zeros rasenden Puls ins Stolpern. ‚Hizumi‘, dachte er mit einem Anflug der Hoffnung, der ihn nur noch mehr schwindeln ließ. Aus den Fingerspitzen des Engels sprühten blaue Blitze, trafen den einen, der sich schützend vor seinen Kumpanen und Karyu gestellt hatte. Zero glaubte, einen spitzen Schrei zu hören, der in röchelndes Gurgeln überging, als der Getroffene in sich zusammensackte und reglos auf dem schmutzigen Boden liegen blieb.   „Lass ihn gehen“, donnerte Hizumis außerweltliche Stimme über den Parkplatz, schien die erstarrte Luft um Zero vibrieren zu lassen. „Lass ihn gehen oder dich trifft dasselbe Schicksal.“   „Damit schreckst du mich nicht, Bote. Ich lebe nur, um zu dienen. Mein Leben ist nichts wert. Nimm es dir ruhig, wenn du dich traust.“ Der Gesichtslose begann zu lachen – ein Laut, der sich wie das Kratzen von Fingernägeln über eine Schiefertafel in Zeros Gehörgänge fraß. „Wenn du es wagst, den kleinen Menschen hier zu verletzen, versteht sich.“   Schwärze bedeckte mittlerweile nahezu Zeros komplettes Gesichtsfeld. Der Tunnel seiner Sehkraft fixierte sich auf Hizumis übermenschliches Gesicht, auf die Verzweiflung, die nur zu deutlich darauf geschrieben stand. Auch er erkannte das Dilemma, verstand, dass dem Engel die Hände gebunden waren, wollte er Karyu nicht verletzen. Dennoch flehte er innerlich, Hizumi würde seinen Liebsten retten können, während er gleichzeitig mitansehen musste, wie der Kerl durch das pulsierende Portal trat.   ‚Nein!‘, schrie er, doch in seinem Brustkorb befand sich keine Luft mehr, die den Schall nach außen hätte tragen können. Er wehrte sich mit allem, was er hatte gegen den Zauber, der ihn gefangen hielt und zu seinem grenzenlosen Erstaunen schien sein Gefängnis erste Risse zu bekommen. Ob es daran lag, dass der verbleibende Gesichtslose nicht über genügend Macht verfügte, um gleichzeitig Zero in Schach und das Portal geöffnet zu halten oder ob Hizumi seine übernatürlichen Finger im Spiel hatte, wusste er nicht. Um ehrlich zu sein, war es ihm auch herzlich egal. Alles, was in diesem Augenblick zählte, war freizukommen und Karyu zu erreichen. Das reglose, blasse Gesicht seines Geliebten spornte ihn an, mobilisierte Kräfte, von denen er nicht geglaubt hatte, dass er sie noch aufbringen konnte. Um ihn herum knirschte und knackte es, als würde Glas unter enormem Druck wieder in seine ursprünglichen Elemente pulverisiert werden. In einem Schauer aus funkelndem Sand brach er frei, gönnte sich nicht einmal die Zeit, Luft zu holen, sondern stürzte sogleich auf das Portal zu, in dem der Gesichtslose und Karyu soeben verschwunden waren.   Das Oval wurde rasend schnell kleiner – Himmel, er musste es erreichen! Aus dem Augenwinkel erkannte er Hizumi, der genau wie er nach vorn preschte. Zero spürte die Kälte, die von dem Zugang ausging, als sein Oberkörper in den Regenbogen aus Farben eintauchte. Als würde ihn von der anderen Seite jemand packen, wurde er in den Strudel aus Licht gezogen. Zero versuchte, sich herumzudrehen, eine Hand nach Hizumi auszustrecken, aber der Sog war zu stark. Das einzige, was er noch spürte, war ein stechender Schmerz an seinem Handgelenk, bevor ihn das Portal verschluckte. Der Engel hatte ihm noch irgendetwas zugerufen, doch durch das ohrenbetäubend laute Rauschen um ihn herum hatte er ihn nicht verstehen können. Er wusste nur, dass Hizumi es nicht geschafft hatte, ihm zu folgen. Er war auf sich allein gestellt. Gerade, als sich diese Erkenntnis wie ein schweres Gewicht in seinem Magen breitmachte, wurde er unsanft auf der anderen Seite des Portals ausgespuckt. Er landete hart auf einem Steinboden – Marmor, wie ihn sein Hirn unwichtigerweise informierte – und keuchte. Er fühlte sich schwach wie ein Neugeborenes, das erst einmal lernen musste, wie es atmete. Seine Umgebung war in schummriges Licht getaucht, roch modrig und rief Erinnerungen an Ereignisse wach, die er lieber vergessen wollte. Röchelnd versuchte er, sich aufzurappeln, stützte sich mit den Händen ab und stemmte sich hoch. Sein Blick viel auf sein Handgelenk, das sich noch immer schmerzhaft, beinahe heiß anfühlte. „Was zum …“, krächzte er, als er die Handfläche nach oben drehte und genau über seinem Puls das stilisierte Bildnis eines Engels erkannte. „Hizu?“ Obwohl er den Sinn dieses Brandmales nicht verstand, begann sich sein zitternder Atem plötzlich zu beruhigen. Vielleicht war er doch nicht so allein, wie er angenommen hatte. Und apropos allein – wo waren Karyu und der Gesichtslose abgeblieben? Blinzelnd begann er sich umzusehen und sich einen Überblick über seine Lage zu verschaffen. Doch noch bevor er hätte zuordnen können, wo genau er sich befand, Explodierte ein grausamer Schmerz in seinem Kopf. Gepeinigt keuchte er, sackte zurück auf den Boden, wo er reglos liegen blieb. „Fesselt ihn und bringt ihn in den Audienzsaal“, hörte er eine leise, beinahe melodische Stimme sagen. „Der Meister wird sich freuen, dass uns gleich beide Vögelchen ins Netz gegangen sind.“ Zeros letzter Gedanke galt Karyu, bevor ihm endgültig die Sinne schwanden.     ~*~ Come on, come on and let me in The bruises on your thighs like my fingerprints And this is supposed to match The darkness that you felt I never meant for you to fix yourself Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~ Kapitel 11: Kapitel 11 ---------------------- „Was willst du von uns?“   „Was ich von dir will, wirst du noch früh genug herausfinden, und was ich mit deinem kleinen Dieb hier vorhabe … tja, Rache ist wohl das akkurateste Wort dafür. Und glaub mir, ich werde jede Sekunde seines Leidens in vollen Zügen genießen.“   „Mistkerl.“   „Hüte deine Zunge! Hast du etwa vergessen, dass du deinem Ehegatten ewige Treue und Gehorsam geschworen hast? Wenn ich dich erst einmal von dieser unpassenden Hülle befreit habe, wirst du endlich wieder mein sein.“   „Argh, lass mich, fass mich nicht an!“   ‚Oh Himmel nein, der Fürst … das kann nicht wahr sein.‘ Zero erkannte diese schnarrende Stimme, die Ekel und Furcht in ihm hochsteigen ließ. Sein Schädel explodierte in einem Schauer aus Farben und Schmerzen, als er versuchte, seine Augen zu öffnen. Zu seiner Rechten klirrte und schabte es, als würden sich Ketten über Stein bewegen, und Karyus angewidertes Keuchen ließ seinen Magen rumoren. „Nimm deine Griffel von ihm“, nuschelte er mit schwerer Zunge und konnte kaum den Kopf heben, noch wirklich erkennen, was sich direkt vor ihm abspielte. Generell hatte er Schwierigkeiten, zu verstehen, wo er sich befand und was überhaupt geschehen war. Oh Gott, sein Kopf; wenn er nur nicht so schmerzen würde, könnte er sicher einen klaren Gedanken fassen.   „Ah, endlich. Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen und das Beste verpassen.“   „Zero!“   Er schluckte gegen die Galle an, die in seine Kehle stieg. Karyu klang so verzweifelt. Was war nur geschehen? Er erinnerte sich an die Gesichtslosen, die seine Liebe gepackt hatten, an das Portal, durch das er gefallen war und daran, dass Hizumi noch versucht hatte, ihnen hinterherzukommen. Und dann? Sein Handgelenk hatte geschmerzt, er hatte den Umriss eines Engels eingebrannt in seine Haut bemerkt und wollte sich auf den Weg machen, Karyu zu suchen, als … ‚Ich muss niedergeschlagen worden sein‘, vermutete er und ein stechender Schmerz am Hinterkopf bestätigte seine Theorie. ‚Wie lange war ich ohnmächtig?‘ Zero hatte so sehr gehofft, seine Träume vom Fürsten wären nichts weiter als eine Art Manifestation seiner Angst vor dem Ungewissen gewesen, das Karyu und ihn bedrohte, aber das war eine grobe Fehleinschätzung. ‚Oh Gott, was hat dieser rachsüchtige Albtraum Karyu angetan, während ich außer Gefecht gesetzt war?‘ Eines schwor er sich, wenn der Fürst seiner Liebe auch nur ein Haar gekrümmt hatte, würde er ihm das büßen.   „Zero, sag doch etwas.“   „Es ist alles gut“, murmelte er schwerfällig, untermalt vom hämischen Lachen des Fürsten.   „Wie rührend.“   Erneut blinzelte er angestrengt, bis seine Umgebung endlich in den Fokus seiner Wahrnehmung rückte. Er kniete auf einem Boden aus schwarz-weißen Marmorplatten, die ihn entfernt an ein überdimensioniertes Schachbrett erinnerten. Die Decke war so hoch, dass er ihr Ende nicht erkennen konnte, welches sich in dunkle Schatten hüllte. Als wären sie im Freien, aber der Geruch nach Feuchtigkeit und Moder ließ ihn eher an ein Kellergewölbe denken. Von seiner Position aus konnte er keine Fenster oder sonstige Lichtquellen ausmachen, trotzdem wurde der Raum von einem unheimlich gelblichgrünen Schein erhellt, der von den Wänden selbst zu kommen schien. Auf einer erhöhten Plattform ruhte ein wuchtiger Block aus schwarzem Stein, der über und über mit Schriftzeichen und Symbolen verziert war. Zero erkannte ein Uroboros – eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss – daneben ein Pentagramm, ein Kreuz, einen neunarmigen Leuchter, ein Sonnenrad und so vieles mehr, als hätte sich der Erschaffer dieses Altars an allen spirituellen Symbolen der Welt bedient. Trotz der zahllosen Dinge, die es auf dem Monolithen zu entdecken gab, hielt er sein Interesse nur für Sekunden, denn eine große, bullige Gestalt unweit davon ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der Fürst. Tatsächlich, er war es. Zero schluckte, als er bemerkte, dass sich das verhasste Gesicht trotz der Jahrhunderte kein bisschen verändert hatte. Mit einem grausamen Grinsen auf den Lippen stand er dort und neben ihm …   „Karyu“, hauchte er und durch sein Herz schnitt ein so unerträglicher Schmerz, dass ihm erneut die Sinne zu schwinden drohten. Karyus Hände und Füße waren in dicken Schellen aus Metall gefangen, eine grobgliedrige Eisenkette erstreckte sich von ihnen ausgehend zu allen vier Ecken des Raumes. Zeros Schultern schmerzten allein bei dem Anblick, so unnatürlich überdehnt waren die Gliedmaßen seiner Liebe. Aber das Schlimmste waren Karyus Augen, die groß und angsterfüllt direkt auf ihn gerichtet waren.   „Bist du in Ordnung?“   „Ja“, wisperte er, die Stimme schwer vor Scham. Wie konnte Karyu nur fragen, ob er in Ordnung war? Ausgerechnet er, der schon wieder versagt hatte. Selbsthass riss an seinem Herz, ließ Übelkeit in ihm hochsteigen. ‚Karyu, es tut mir so leid.‘   Er versuchte, sich aufzurichten, aber ein unnachgiebiger Druck um Hals und Handgelenke verhinderte das. Auch er war mit dicken Metallschellen fixiert, von denen viel zu kurze Ketten zu einer Halterung im Boden führten, und ihn in einer demütigend knienden Position gefangen hielten. Wut schickte Hitze in seine Wangen und obwohl er wusste, dass es zwecklos sein würde, stemmte er sich mit aller Macht gegen seine Fesseln.   „Du verfluchter Dreckskerl“, rief er sich Angst, Verzweiflung und den letzten Rest Orientierungslosigkeit von der Seele, als sein schwankender Blick am Fürsten hängen blieb. „Mach Karyu und mich los und dann stell dich mir, du Feigling!“   Der Fürst lachte höhnisch, zog sein Schwert aus der Scheide und kam langsam auf ihn zu. „Du solltest dir eine neue Drohung einfallen lassen. Diese hier hat mich schon bei unserer letzten Begegnung nicht beeindruckt.“ Die Spitze des Schwertes bohrte sich in seine Wange, doch Zero verzog keine Miene, selbst als er die Wärme frischen Blutes auf der Haut spüren konnte.   „Zero!“, rief Karyu erneut. Der Fürst beachtete ihn nicht weiter und versperrte mit einem kleinen Schritt zur Seite auch noch Zeros Sicht auf ihn.   „Es ist alles okay, Karyu, alles gut.“   „Ach, wie herzzerreißend. Du bist noch genauso naiv und blind vor Liebe wie du es damals warst“, raunte der Fürst mit einem widerlich zufriedenen Funkeln in den Augen. „In wenigen Sekunden ist ein Millennium verstrichen und du hast noch immer nicht begriffen, dass ich mir nicht stehlen lasse, was mir gehört.“ Der Fürst ging auf ein Knie, um beinahe auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Das Schwert klapperte metallen, als er es auf den Boden legte, um die kräftigen Finger um Zeros Kinn schließen zu können. „Sieh selbst.“   Ein schmerzhafter Ruck riss seinen Kopf zur Seite und jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er vorhin nicht das Schaben von Karyus Ketten gehört hatte, sondern das Geräusch einer riesigen Apparatur, die die gesamte Länge der Wand zu seiner Rechten einnahm.   „Ist sie nicht wunderschön?“   „Was …“, krächzte er gegen den Druck der Eisenschelle um seine Kehle, die ihm in dieser Haltung langsam aber sicher die Luft zum Atmen raubte.   „Sie ist die Schwester der Weltenuhr, die seit Anbeginn das Schicksal der Menschheit bestimmt. Sie ist ein Geschenk der Mächte, meine treue Begleiterin durch die Jahrhunderte. Du musst wissen, alles Unglück, jede Katastrophe ruht in ihr und es braucht nur eine kleine Drehung am richtigen Rädchen, um zu vernichten, was sich mir widersetzt.“ Der Fürst näherte sich, bis Zero seinen stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte. „Mmmh, diesen Ausdruck wollte ich schon so lang in deinen Augen sehen. Endlich begreifst du, dass ihr nie eine Chance gegen mich hattet. Ihr habt das Unvermeidliche nur hinausgezögert.“ Der Fürst lachte schrill – ein Laut, der von Irrsinn sprach und tief in Zeros Seele schnitt.   Er konnte nicht mehr atmen, nicht mehr denken, nicht einmal mehr fühlen. Als Hizumi ihm offenbart hatte, dass Karyu und er in den letzten Jahrhunderten nichts weiter als Marionetten zur Belustigung der Mächte waren, hatte er diese Ungerechtigkeit kaum ertragen können. Er hatte wahrhaftig nie eine Chance gehabt, Karyu zu retten, und nur das Wissen, dass ein einziger Mensch sich nicht gegen den Lauf der Geschichte oder Naturgewalten stellen konnte, hatte ihm so etwas wie Trost gespendet. Aber das hier? Wie hatten die Mächte es verantworten können, einem Wahnsinnigen die Herrschaft über Leben und Tod anzuvertrauen? Er konnte nicht fassen, dass der Hass eines einzigen Wesens so allumfassend sein konnte, dass er willentlich all diese Katastrophen verantwortet hatte. All die Kriege, die Bomben, die Feuer und Fluten – so viele ausgelöschte Leben. Und wofür das alles?   Zero schrie.   Seine Stimme klang so unmenschlich, dass er sich vor sich selbst gefürchtet hätte, wäre er noch zu einer anderen Emotion als Wut fähig. Der Fürst war lachend zur Seite ausgewichen, als er versucht hatte, ihn mit dem Kopf im Gesicht zu treffen, nahm sein Schwert wieder auf und schob es zurück in die Scheide.   „Was denn? Fehlen dir plötzlich die Worte?“   „Zero! Was ist?“   „Du Schwein! Du verfluchtes Schwein!“ Ein heftiger Schlag riss seinen Kopf erneut zur Seite, seine Lippe platzte auf und die Schelle schnitt in das weiche Fleisch seines Halses. Aber er begrüßte den körperlichen Schmerz – alles war besser, als die Qualen, die seine Seele in Stücke rissen.   „Nein, lass ihn in Ruhe!“   „Worauf wartest du denn noch? Beende es endlich. Töte mich, aber lass Karyu gehen!“   „Denkst du wirklich, ich würde so kurz vor dem Ziel einen so gewaltigen Fehler machen? Du wirst leiden, Dieb. Du wirst dabei zusehen, wie ich mir zurückhole, was mir gehört, und dann, erst dann, werde ich dich von deinem elenden Leben befreien.“   Wieder vernahm Zero das metallische Schaben und als er zu der Apparatur blickte, bewegte sich einer der großen Schwenkarme, drehten sich Zahnräder und veränderten die Winkel, in der kugelähnliche Gebilde zueinanderstanden.   „Was passiert hier? Zero?“   „Ich weiß es nicht“, hauchte er in plötzlicher Furcht, den Blick unverwandt auf die Mechanik gerichtet. Das bis eben noch vorherrschende Chaos schien sich zu ordnen, die Gebilde, die ihn nun entfernt an Planeten erinnerten, ihren vorbestimmten Platz zu finden, bis sie alle in einer Reihe standen.   „Endlich!“, rief der Fürst im selben Moment aus, als ein gleißendes Licht den Saal erhellte. „Endlich hat mein Warten ein Ende!“   Hinter Zero erhoben sich gleichzeitig zahllose Stimmen zu einem flüsternden Singsang, der mit jeder weiteren Sekunde lauter wurde. Eine Gänsehaut ließ ihn erschaudern und seine Kehle trocken werden. Er verstand nicht, was die Unbekannten sagten, noch konnte er sich zu ihnen umdrehen, aber allein ihr Tonfall ließ plötzliche Hoffnungslosigkeit in ihm aufsteigen. Machtlos musste er dabei zusehen, wie der Fürst auf Karyu zuging. Das Licht war erneut schwächer geworden, sammelte sich in einem Wirbel aus Spektralfarben um Karyus Leib.   „Nein!“ Zero schrie und wehrte sich verzweifelt gegen seine Fesseln, die jedoch keinen Millimeter nachgaben. „Nein, tu ihm nichts, bitte!“   Unbeeindruckt streckte der Fürst die Hand nach Karyu aus. Mit weit aufgerissenen Augen, den Mund zu einem anhaltenden Schrei geöffnet, musste Zero mitansehen, wie die Finger des Fürsten durch die Brust seiner Liebe stachen, als bestünde sie nicht aus Haut, Muskeln und Fleisch, sondern aus nachgiebigem Gelee. Karyu hatte keine Chance. Kein Laut entkam ihm, als jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich und die schönen Augen stumpf wurden. Ohne einen Tropfen Blut zog der Fürst seine geballte Faust zurück. Goldenes Licht schimmerte durch seine geschlossenen Finger, während Karyu, äußerlich unverletzt und die Lider wie im Schlaf gesenkt, in seinen Ketten zusammensackte.   „Was hast du ihm angetan? Karyu! Liebster, bitte sag etwas, mach deine Augen auf! Karyu, bitte!“ Tränen strömten über Zeros Wangen, während seine flehenden Worte im lauten Lachen des Fürsten untergingen.   „Mein, endlich bist du wieder mein.“   Als sich die Finger des Fürsten teilten, schwebte eine leuchtende Blüte wenige Zentimeter über seiner Handfläche, stieg höher und blieb vor Karyus Brust hängen, als würde sie zurück in ihren Körper wollen, aber es nicht schaffen. Zero keuchte, geblendet von ihrer Schönheit und dem goldenen Glanz, der jeden Winkel des Raumes erstrahlen ließ. Sie erinnerte ihn an den üppigen Kopf einer Pfingstrose, und obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, wusste er, dass er sie schon einmal gesehen hatte. In dem Augenblick, als er zum ersten Mal gestorben war, als er seiner Liebe geschworen hatte, sie in jedem Leben wiederzufinden.   In Zeros Ohren rauschte es, als der Schock sich endgültig seines Verstandes bemächtigte. Die Erkenntnis, was der Fürst Karyu angetan hatte, was er ihm wortwörtlich aus dem Leib gerissen hatte, war zu schrecklich, um sie auch nur zu denken. Dadurch bemerkte er das dünne, weißlich glimmende Band erst einen schmerzvollen Herzschlag später, dass sich von der Rose ausgehend bis zu seiner eigenen Brust zog. Es war hauchzart und wiegte sich in der Luft wie ein geisterhaftes Gespinst. ‚Unsere Verbindung‘, dachte er wie betäubt. Alles in ihm schrie danach, dieses fragile Band zu beschützen, es an sich zu nehmen, zu halten, genau wie Karyu. Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen, doch diesmal riss ihn ein so erbarmungsloser Schmerz aus seiner Trauer, dass er nichts weiter tun konnte, als zu schreien. Der Fürst lachte triumphierend, den reich verzierten Dolch noch in der Hand, mit dem er ihre Seelen soeben für immer voneinander getrennt hatte.   „Nein! Nein, Karyu.“ Zero sackte in sich zusammen, als wäre ihre Verbindung der letzte Halt gewesen, der ihm inmitten all des Horrors noch Stärke verliehen hatte.   „Schweig! Du hast sie lange genug an dich gebunden, Dieb! Jetzt gehört sie wieder mir! Tritt vor, Gefäß.“   Hinter Zero schwoll der vielstimmige Chor zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, bevor er verstummte. Urplötzlich war es totenstill im Saal. Zwei schmerzvolle Herzschläge lang geschah nichts, dann war das leise Geräusch nackter Füße auf Stein zu hören. Eine junge Frau, fast noch ein Kind, trat vor den Fürsten und ging in die Knie. Ihr Leib war dünn, nur bedeckt von ihrem schwarzen Haar, das ihr weit bis über die schmalen Hüften reichte. Ihr Blick war abwesend, wie betäubt, und dennoch reagierte sie sofort, als ihr der Fürst ein kaum zu erkennendes Handzeichen gab. Geschmeidig erhob sie sich, wischte sich die langen Strähnen hinter die Schultern, gänzlich unbeeindruckt von ihrer Nacktheit.   Zero hätte nicht geglaubt, dass sich sein Entsetzen nach all dem, was bereits geschehen war, noch steigern konnte. Er ahnte, was kommen würde, und war dennoch unvorbereitet, als sich die Hand des Fürsten auch in den Leib der jungen Frau bohrte, als wäre dies das Normalste der Welt. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam ihm über die Lippen … und eine weitere Seele fiel der unbändigen Gier dieses Monsters zum Opfer. Das Licht der Kleinen glomm silbrig, schwächer als Karyus, und sein Aussehen erinnerte entfernt an das fragile Kristallgeflecht einer Schneeflocke.   „Hör auf, bitte hör auf“, bat Zero verzweifelt mit tränenerstickter Stimme.   Der Fürst scherte sich nicht um sein Flehen und ebenso wenig schenkte er dem Kristall in seiner Hand Beachtung. Nicht einmal einen Blick hatte er für die Seele der jungen Frau übrig, als er die Finger in einer ruckartigen Bewegung um das zarte Gebilde schloss und es pulverisierte. Glitzernder Staub fiel herab und löste sich auf, kaum hatte er den Boden berührt.   „Nein! Du Monster! Wie konntest du ihr das antun?“, rief Zero, die Stimme heiser vor Ekel und Furcht vor dem, was nun folgen würde.   Das grausame Lachen des Fürsten hallte von den Wänden wider, als er sich zu dem in sich zusammengesunkenen Körper der jungen Frau beugte, ihn mit Leichtigkeit auf die Arme nahm und auf dem Steinaltar niederlegte.   „Die perfekte Hülle für meine Gemahlin.“   „Nein! Ich werde nicht zulassen, dass du Karyu das antust!“ Auch ohne die Worte des Fürsten hatte Zero längst begriffen, was er vorhatte. Grenzenlose Wut gab ihm die Kraft, sich erneut mit aller Macht gegen seine Fesseln zu stemmen. Das Metall knirschte und ächzte, aber noch hielt es stand. Unbeeindruckt von seinem Rufen trat der Fürst auf Karyu zu, streckte seine gierigen Finger nach dem goldenen Seelenkristall aus …   »Mach dich bereit.«   Zero zuckte zusammen, als er mit einem Mal Hizumis Stimme direkt in seinen Gedanken hörte. Noch bevor er reagieren konnte, füllte sich der Saal von allen Ecken her mit schwarzem, undurchdringlichem Nebel. Binnen Sekunden hüllte er selbst das strahlende Leuchten der goldenen Rose ein, bis Zero nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Der Fürst brüllte wütend, bellte Befehle, die über das angsterfüllte Raunen und Rufen der Unbekannten jedoch kaum zu hören waren. Plötzlich spürte er den Druck um Hals und Handgelenke schwinden, als die Schellen aufschnappten. Blitzschnell richtete er sich auf und hätte beinahe aufgeschrien, als ihn von hinten jemand packte.   „Ruhig, ich bin es.“   „Hizumi? Oh Gott, du bist hier. Der Fürst … Karyu … er hat Karyu …“   „Schsch.“ Er wurde an den Schultern herumgedreht, bevor sich Arme um ihn legten und ihn harsch gegen einen vertrauten Körper zogen. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er zitterte. Tränen rannen unaufhaltsam über seine Wangen und er verkrallte sich in Hizumis Oberteil, verbarg sein Gesicht gegen die Brust des Engels. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das alles für dich sein muss, aber du musst dich zusammenreißen, hörst du? Einen Nervenzusammenbruch kannst du später haben, aber jetzt bleibt keine Zeit dafür.“   „Aber er hat … Karyu, seine Seele … unsere Verbindung.“   „Hör mir zu.“ Hände legten sich an seine Wangen, drückten ihn auf Abstand und obwohl Zero noch immer nichts sehen konnte, war er sich sicher, dass Hizumis Augen die Finsternis durchdrangen. „Meine Ablenkung wird nicht mehr lange halten. Du musst dich dem Fürsten stellen, du bist der Einzige, der das hier beenden kann.“   „Aber Karyu …“   „Zero, konzentrier dich! Nur du kannst ihn retten, noch ist es nicht zu spät.“   Etwas Kühles presste sich gegen seine rechte Handfläche und reflexartig griff er zu. Er fühlte sich, als würde ihn eine Sturmflut von den Füßen reißen, als mit einem Mal die Erinnerungen aus all seinen Leben in nie gekannter Klarheit zu ihm zurückkehrten. Sie brachten Erfahrung und Selbstsicherheit mit sich, gaben ihm Kraft und Mut, als sich seine Finger um den vertrauten Griff des Schwertes legten, mit dem er in der Vergangenheit so viele Schlachten geschlagen hatte.   „Woher hast du das?“   „Ich erkläre dir alles, wenn wir das hier überstanden haben, okay?“   „Ich verstehe.“   „Du weißt, was zu tun ist. Kämpfe gegen ihn, rette Karyu, nur du kannst das Schicksal für dich entscheiden.“   „Das werde ich.“   Kaum war seine letzte Silbe verklungen, kehrte das Licht zurück. Erst langsam, wie der Beginn eines neuen Morgens, dann so hell, dass er für eine Sekunde geblendet die Augen schließen musste. Als er blinzelnd die Lider erneut hob, hatte sich seine Umgebung auf frappierende Weise verändert. Rings um ihn herum rannten Menschen in wilder Panik auf Ausgänge zu, die ihm bis eben nicht aufgefallen waren. Zwischen ihnen erkannte er Gesichtslose, Dutzende von ihnen und Hizumi in all seiner überirdischen Pracht. Mit gespreizten Flügeln fegte er über ihre Gegner hinweg, als wäre er ein Racheengel und nicht die Personifizierung von Schutz, für die Zero ihn immer gehalten hatte.   Energisch riss er sich von dem Anblick los, drehte sich zu dem Fürsten herum, der trotz Hizumis Ablenkung und all des Tumults noch immer nicht von seinem perfiden Plan abgelassen hatte. Gerade streckte er seine widerlichen Finger nach Karyus Seelenkristall aus, als Zero mit einem markerschütternden Kampfschrei auf ihn zusprang. Der Mistkerl reagierte schnell, parierte seinen ersten Hieb und wich dem Zweiten aus.   Klirrend krachten ihre Schwerter aufeinander, Funken stoben, so hart prallte Metall auf Metall. Zeros Arme schmerzten von der ungewohnten Belastung, doch obwohl er diese Art von Bewegungen noch nie in diesem Leben vollführt hatte, wusste sein Körper genau, was er tun musste.   „Du wirst mich nie besiegen können. Du bist schwach und ich nur noch eine Haaresbreite von meinem Ziel entfernt“, keifte der Fürst. Speichel und Schweiß flogen Zero entgegen. Angewidert verzog er die Lippen zu einem grimmig entschlossenen Grinsen. Nicht ein einziges Wort aus dem Mund dieses Scheusals würde seine Entschlossenheit ins Wanken bringen.   „Ich werde dich vernichten. Wer von uns ist schwach?“, rief er aus, als ein besonders harter Schlag die Klinge des Fürsten zum Schwingen brachte. „Du bist nur stark, wenn du dreckig spielst!“   Für einen Augenblick war Zero vom Geschehen um ihn herum abgelenkt, als er in der Menge der Gesichtslosen plötzlich Tsukasa zu erkennen glaubte. Oh Himmel, nein, was machte ihr Drummer hier? Hatte Hizumi den Verstand verloren? Wie hatte er Tsukasa nur in diese Sache mit hineinziehen können? Er wusste doch von nichts, wie konnte er ihn in eine solche Gefahr bringen?   Ein heißer Stich in der linken Schulter erinnerte ihn daran, dass er seinen Gegner im Auge hätte behalten sollen, statt die Zurechnungsfähigkeit seines Engelfreunds infrage zu stellen. Er schrie auf, vielmehr aus Wut auf seine eigene Nachlässigkeit denn vor tatsächlichem Schmerz. Verflucht, er würde nicht noch einmal zulassen, dass ihn das Schwert des Fürsten streifte. Vielmehr würde er dafür sorgen, dass ihm das höhnische Lachen im Hals stecken blieb!   „Du wirst bluten, bluten und leiden, bis ich keine Verwendung mehr für dich habe.“   „Hochmut kommt vor dem Fall, Fürst“, zischte er, parierte den nächsten Schlag, holte in einem weiten Bogen aus und ließ seine Klinge auf die seines Gegners herabfahren. Die Vibration des Aufpralls fegte wie ein Donnerschlag durch seinen Körper, ließ für einen kurzen Moment selbst seine Finger taub werden. Aber sein Griff um den Schwertknauf lockerte sich nicht, ebenso wenig, wie die Intensität seines Angriffs nachließ. Seine Wut gab ihm Stärke, die Angst um Karyu ließ ihn durchhalten und über sich hinauswachsen. Ihr Kampf war ausgeglichen, keiner von ihnen gewann die Oberhand, doch Zero wusste, dass er das nicht ewig durchhalten würde.   Rings um ihn herum streckten elektrische Entladungen einen Gesichtslosen nach dem anderen nieder – Hizumis göttliche Macht, da war er sich sicher. Ihre Schreie hallten von den Wänden wider, machten Zero taub für den Strom an Beschimpfungen, den ihm der Fürst unaufhörlich entgegenschrie. Aus dem Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung zu seiner Rechten, ein Lakai, der seinem Meister zu Hilfe eilen wollte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, Adrenalin wie flüssige Lava in seinen Adern, während er versuchte, sich binnen Sekunden eine Strategie zu überlegen. Sollte er ausweichen? Parieren?   Ein ekelhaftes Krachen und Knacken war zu hören, während sich Zero unter einem erneuten Schwerthieb des Fürsten wegduckte, sich über die Schulter abrollte und wieder auf die Füße kam. Tsukasa hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Der Drummer stand, einen Schlagstock wie einen Streitkolben schwingend, an der Stelle, an der sich Zero bis eben befunden hatte. Der Angreifer lag ihm blutend zu Füßen, ob er tot war oder nur bewusstlos, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Tsukasa schenkte ihm ein grimmiges Lächeln, als wäre es für ihn an der Tagesordnung, gegen gesichtslose Wesen zu kämpfen, bevor er sich schwungvoll umdrehte, um einem weiteren Feind entgegenzutreten.   „Ich werde dich vernichten“, brüllte der Fürst und walzte erneut auf ihn zu. Zero hatte Mühe, den Schlag abzuwehren, aber er war sich nicht zu schade, unfair zu spielen. Sein Ellenbogen schoss nach oben, genau in dem Moment, als sein Gegner zu einem erneuten Angriff ansetzen wollte, und traf ihn mitten im Gesicht. Aufheulend sprang der Fürst zurück, ruderte aus dem Gleichgewicht gekommen mit den Armen. Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch, während er jaulte und jammerte, als hätte ihm Zero mehr als nur die Nase gebrochen.   Aber für den Moment bekam er davon nichts mit. In seinem Kopf herrschte das absolute Chaos, während er zu begreifen versuchte, was sein Freund und Bandkollege hier tat. Wie war Tsukasa überhaupt hierhergekommen und wie konnte er im Angesicht dieses übernatürlichen Schreckensszenarios so gelassen bleiben? Derart gefangen war er in seinen Überlegungen, dass er seine Chance verpasste, seinem Gegner einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Doch ihm blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken zu machen, denn der Fürst hatte seine Balance wiedergefunden und griff mit unverminderter Härte an.   Zeros Arme zitterten, seine Knie hielten ihn nur mit Mühe aufrecht und sein Kopf schmerzte so sehr, dass er kaum noch aus den Augen sehen konnte. Aber er würde nicht kapitulieren, nicht solange noch ein Funken Leben in seinem Körper war.   „Gib auf, du hast keine Chance“, zischte ihm sein Gegner genau in diesem Moment zu, als hätte er seine Gedanken gelesen.   „Niemals!“ Er spürte, wie sich seine Lippen zu einem erbarmungslosen Lächeln verzogen, denn Hizumi hatte es endlich geschafft, sich bis zu Karyu durchzukämpfen. Hoffnung durchströmte seinen Leib, brachte neue Kraft mit sich. „Du wirst niemals gewinnen!“   Zero schrie, ein Kampfschrei, der ihm Mut verlieh, der seinen nächsten Schlag noch härter, noch präziser auf den Fürsten herabfahren ließ. Nur noch ein bisschen, er musste ihn nur noch eine Weile hinhalten, bis Hizumi Karyu befreit hatte. Karyu. Wieder drosch er auf seinen Gegner ein, trieb ihn immer weiter nach hinten, zwang ihn in die Knie. Im Raum war es still geworden, die Gesichtslosen waren entweder besiegt oder geflohen, doch das bekam Zero nicht mit. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er nichts hörte, sein Blickfeld war auf einen kleinen Tunnel geschrumpft, dessen Zentrum das hassverzerrte Gesicht des Fürsten einnahm.   „Gib auf, du bist geschlagen“, zischte er schwer atmend, die Spitze seines Schwerts nur Millimeter von der Kehle des anderen entfernt. Er wusste, er sollte ihn töten, ihm war nicht zu trauen, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, ein Leben zu nehmen. Selbst so ein von Hass Zerfressenes wie das des Fürsten. Er war kein Mörder, kein Krieger … nicht in diesem Leben.   „Du wirst mich nie besiegen. Selbst wenn du mich jetzt tötest, werde ich wiederkommen. Die Mächte sind auf meiner Seite.“   „Du tust mir leid. Nicht einmal jetzt, am Ende deiner unheiligen Existenz, erkennst du, dass du verloren hast.“ Zero hob den Arm, bereit sich gegen seinen inneren Widerstand zu stellen und zu beenden, was beendet werden musste. Für ihn selbst, für Karyu, für ihren Frieden.   „Zero, pass auf, hinter dir!“   Durch den Tumult in seinem Herzen verstand er die Worte nicht, aber er erkannte die Stimme. Diese über alles geliebte Stimme. Sein Kopf ruckte nach oben, weg von dem Fürsten und hin zu Karyu, denn seine Stimme war es, die er gehört hatte. Sein Liebster lebte. Gestützt von Tsukasa und Hizumi stand er unweit von ihm …   „Karyu“, flüsterte er in einer Mischung aus grenzenloser Freude und Fassungslosigkeit, denn genau in diesem Augenblick jagte ein unerträglicher Schmerz durch ihn. „Karyu“, hauchte er erneut, gefangen im Blick aus schockgeweiteten Augen. Seine Knie gaben nach und er sackte zu Boden. Das irrsinnige Lachen des Fürsten begleitete seinen Fall, ihre Positionen nun vertauscht, während Zero zu begreifen versuchte, was passiert war. Er riss sich von Karyus schönen Augen los, blickte an sich herab, wo die Spitze eines Schwertes durch seine Bauchdecke ragte. Ein kleiner Teil in ihm summte verstehend, endlich machte etwas hier Sinn, der viel Größere jedoch füllte sich mit unendlicher Trauer. ‚Und wieder habe ich versagt.‘   „Du hättest mir glauben sollen, Dieb, du hattest nie eine Chance.“ Der Fürst hob sein Schwert an, bereit, ihm den Kopf von den Schultern zu schlagen. Doch so weit kam es nicht.   Plötzlich war da Tsukasa. Zero hätte gelacht, wäre es ihm möglich gewesen, so irreal fühlte sich alles um ihn herum an. Die Finger des Drummers hatten sich in den Schädel des Fürsten gebohrt, doch kein Blut war zu sehen. Nur schwarzer, ölig wirkender Dunst waberte an Tsukasas Fingern vorbei, seine Arme hinauf und verschwand in seinem Mund, der Nase, selbst den Augen. Zero sah den anderen erzittern, ob in Ekstase oder Schmerz hätte er nicht sagen können. Was geschah hier?   Der leblose Leib des Fürsten krachte im selben Moment auf den Boden, als hinter Zero jemand aufschrie. Erneut raste ein so unerträglicher Schmerz durch ihn, dass ihm die Sinne zu schwinden drohten. Das Schwert wurde aus seinem Leib gerissen, als ein Körper mit einem dumpfen Aufprall hinter ihm auf dem Boden aufschlug. Hizumi musste sich um den zweiten Angreifer gekümmert haben, aber das war zweitrangig. Wo war Karyu? Arme legten sich um ihn und mit einem Mal war er umgeben von Karyus Wärme, seinem Duft, seiner wundervollen Präsenz, die ihn sicher hielt, selbst als ihm die letzten Kräfte schwanden.   „Mein Karyu, es tut …“ Seine Lider schlossen sich und Kälte bemächtigte sich seiner Glieder. Er wusste, dass er starb, viel zu viele Male hatte er das schon miterlebt. Manchmal so schnell, dass es vorbei war, bevor er überhaupt etwas gespürt hatte, manchmal so langsam und qualvoll, dass er dem Tod mit offenen Armen entgegengesehnt hatte.   „Bleib bei mir“, hörte er Karyus tränenerstickte Stimme, fühlte die Nässe, die wie warmer Sommerregen auf sein Gesicht fiel.   ‚Es tut mir so leid, ich war nicht stark genug.‘   „Tut doch etwas! Er stirbt!“   Die Welt um ihn herum wurde still, sein Körper taub für jeden Schmerz und jede Berührung, bis ein kleiner heller Punkt vor seinem Geist erschien, lockend, bittend. Er wusste, dort hätte er es gut, dort gab es keinen Schmerz, keine Sehnsucht, keine Furcht … keinen Karyu.   „Alle eintausend Jahre steht das Universum in perfektem Gleichgewicht, werden die Grenzen zwischen den Welten durchlässig.“, erklang plötzlich eine samtene Stimme, schien ihn von allen Seiten her einzuhüllen. „Genau in diesem Moment durchbrechen Hunderte, vielleicht Tausende Seelen die Barrieren und Kehren zum Ursprung ihres Seins zurück.“ Durch Zeros Leib rann ein Zittern, als er den goldenen Glanz von Karyus Seele erneut zu sehen glaubte. „Sie sind verwundbar, diese heimkehrenden Seelen. Sie können eingefangen werden oder verdorben.“   Das war er also, der Moment, auf den die Mächte gewartet hatten. Karyus und seine Unterhaltsamkeit hin oder her, ihr wahres Ziel war es, ihren Besitz wieder an sich zu bringen. „Eintausend Jahre, Zero, verstehst du nicht, wie signifikant das ist?“ Nein, er hatte es nicht verstanden, aber jetzt, jetzt tat er es. „Manche Einsätze sind wertvoller als andere.“ Sie hätten Karyus Seele eingefangen, wieder weggesperrt, wie einen Schatz, den niemand zu Gesicht bekommen durfte. „Es gibt zwei Seiten, schwarz und weiß, hell und dunkel, wie die Figuren auf einem Schachbrett.“ Und die Gegenseite hatte genau dies verhindern wollen. „Du hast sie lange genug an dich gebunden, Dieb, jetzt gehört sie wieder mir!“ Der Fürst war nichts weiter als ihre Marionette gewesen, ein Werkzeug, mit dem sie die Verbindung von Karyus und seiner Seele hatten trennen können.   Zeros Herz blutete, als sich die scharfen Kanten der Erkenntnis immer tiefer in den zuckenden Muskel gruben. War er wirklich so blind gewesen, dass er erst sterben musste, um die Wahrheit zu begreifen? Oder wäre der Ausgang immer derselbe gewesen, egal ob er klüger, schneller, stärker gewesen wäre? Er wusste es nicht; und mit einem Mal war er schrecklich müde.   „Du hast die Wahl“, sprach die Stimme erneut, diesmal direkt hinter ihm. Zero wirbelte herum. Plötzlich stand er auf einem schwarzen, spiegelnden Boden, um ihn nichts als Dunkelheit, und dennoch konnte er die Gestalt ohne Probleme ausmachen, die sich ihm langsam näherte. Die Schwingen des Engels raschelten, wie der Flügelschlag Hunderter Vögel, als er sie hinter seinem Rücken faltete und ihn anlächelte.   „Hizumi“, hauchte er. „Wie meinst du das.“   „Es ist deine Entscheidung.“ Der Engel machte eine weitschweifende Armbewegung und mit einem Mal war der Boden unter Zeros Füßen kein Spiegel mehr, sondern ein Fenster, durch das er Karyu und sich selbst erkennen konnte. Über die Wangen seiner Liebe rannen unaufhörliche tränen, während er sich, Zeros leblosen Körper in den Armen haltend, vor und zurück wiegte.  „Der Kreislauf deiner Wiedergeburt ist durchbrochen. Du kannst es hier und jetzt beenden und diese Welt für immer verlassen.“ Hinter Karyu erkannte er schattenhafte Wesen, die ihn mit Mitgefühl musterten. Manche von ihnen hatten ihre geisterhaften Hände auf Karyus Schulter, seinen Kopf, die Wange gelegt, als würden sie ihn trösten wollen, andere standen nur da, wirkten unentschlossen. Zero keuchte, er erkannte sie, natürlich tat er das. Seine Königin, sein Danna, sein Rebellenfürst, Akemi, sie alle waren hier, alle Leben, die Karyu je gelebt hatte, standen ihm bei. „Du hast es verdient, endlich Frieden zu finden.“ Die Arme des Engels legten sich von hinten um ihn, gaben ihm den Halt, von dem Zero bis eben nicht gewusst hatte, dass er ihn so dringend brauchte. Auch über seine Wangen rannen nun Tränen, so verzweifelt und heiß, dass sie ihn zu versengen drohten. Der geisterhafte Schemen seiner Königin hob den Kopf, sah zu ihm auf, als könnte sie ihn tatsächlich sehen.   Zero konnte nicht hören, was sie sagte, aber er erkannte die Bewegungen ihrer Lippen, ein Mantra, das sie unaufhörlich wiederholte. „Geh nicht, lass uns nicht allein.“   Er drehte sich weg, vergrub das Gesicht gegen Hizumis Brust und weinte. Er war des Lebens so müde, wollte seinen Frieden, wollte sich ausruhen. Der Engel hielt ihn fest, summte eine leise Melodie, die ihn ebenso wie das sanfte Streicheln über seinen Nacken nach und nach beruhigte. Zero hörte sein eigenes Herz hart und langsam schlagen, viel zu langsam, und wusste, dass ihm kaum noch Zeit blieb. Er atmete ein, atmete aus, wieder und wieder, bis sich die Wogen seiner schmerzenden Seele glätteten, die Ruhe brachten, nach der er sich so sehr sehnte.   Zögernd hob er den Kopf, sah in diese überirdisch blauen Augen, in denen ein Quell an Zuneigung ruhte, die er dem anderen gar nicht zugetraut hatte. Er hatte nie mit Sicherheit gewusst, was er für Hizumi war. Ob der Engel in ihm nur einen Auftrag sah, den er zu erfüllen hatte, oder ob die Distanz zwischen ihnen einzig und allein seine Schuld war, weil er ihn nie ganz an sich herangelassen hatte. Aber diese Dinge lagen nun in der Vergangenheit, waren unwichtig geworden. Er sah es in Hizumis Blick, das Versprechen, dass er Karyus Seele für immer vor den Mächten beschützen würde, und gleichzeitig erkannte er die Trauer, die der Engel trotz seiner Worte nicht verbergen konnte. Hizumi würde ihn vermissen, würde er nun gehen. Genau wie Tsukasa es tun würde und …   „Karyu“, wisperte er und sah zu Boden, wo sein Liebster noch immer so qualvoll um ihn trauerte. „Bring mich zurück zu ihm. Lass mich ein letztes Leben mit ihm leben.“   Auf Hizumis Gesicht hatte sich ein wunderschönes Lächeln gelegt, als Zero sich ihm wieder zuwandte. Der Engel nickte und küsste seine Stirn. „Ich bin froh, dass du dich so entschieden hast“, murmelte er gegen seine Haut, dann wurde es schwarz um ihn.   Zero stöhnte, als er ruckartig in seinem Körper erwachte. Die Leichtigkeit seiner geisterhaften Existenz war verschwunden und hatte Platz für unendlichen Schmerz gemacht.   „Zero!“ Karyus Stimme klang erschrocken und hektisch gleichermaßen. „Zero, oh Gott, du lebst.“ Er blinzelte, die Welt um ihn herum ein chaotisches Kaleidoskop aus Formen und Farben, die sich hinter dichtem Nebel verbargen.   „Hast du ihn geheilt?“ Tsukasas Stimme, auf seiner anderen Seite, dann Hizumis über ihm, der verneinte.   „Du weißt, dass das nicht in meiner Macht liegt. Ich habe den Fluss der Zeit um seine Verletzung herum verlangsamt, aber er muss schleunigst in ein Krankenhaus.“   „Du hast was?“ Wieder Karyu. „Nein vergiss es, erklär es mir später. Tsukasa, hilf mir, schaffen wir ihn hier weg.“ Zero keuchte schmerzerfüllt auf, als er bewegt wurde. Wieder wurde ihm schwarz vor Augen, diesmal jedoch nur kurz, bevor die Welt um ihn herum endlich wieder in den Fokus rückte. „Es tut mir leid“, wimmerte Karyu, streichelte über seine Wange. „Du hast es gleich geschafft, versprochen.“   „Schon gut.“ Er versuchte zu lächeln, bevor sein trüber Blick den des Engels fand. „Hizumi“, flüsterte er kaum vernehmlich, doch der andere hatte ihn gehört und beugte sich zu ihm. „Das Mädchen.“   Die blauen Augen verdunkelten sich und Schmerz lag unverkennbar in ihnen, als Hizumi langsam den Kopf schüttelte. „Wir können nichts mehr für sie tun.“   Zero schloss die Augen, nickte. Er hatte es gewusst, niemand konnte ohne Seele leben, und doch hatte er gehofft. Als er die Lider wieder hob, vollführte der Engel eine komplizierte Handbewegung in der Luft, bevor sich mit einem Reißen, als hätte er das Gefüge des Universums selbst durchtrennt, ein leuchtender Spalt vor ihm öffnete.   Im selben Moment begann die Halle wie unter Dutzenden Donnerschlägen zu erbeben. Steinbrocken groß wie Autos krachten von der Decke und die mystische Apparatur gab ein klägliches Knarren und Knirschen von sich.   „Uns bleibt keine Zeit mehr, hier bricht gleich alles zusammen!“, schrie Hizumi und scheuchte sie hektisch in Richtung des Portals.   Gerade als Tsukasa und Karyu mit ihm den Spalt durchschreiten wollten, ertönte eine donnernde, körperlose Stimme, brachte die Welt um sie herum noch mehr zum Erbeben.   „Hizumi! Du hast dich unserem Willen zum letzten Mal widersetzt!“   Zero sah mit Entsetzen, wie der Körper des Engels von einer Feuersäule verschlungen wurde, hörte Tsukasas Aufschrei, als der Drummer aus dem Spalt sprang und zu ihm eilte.   „Tsukasa!“, schrie Karyu entsetzt auf, bevor sie das wirbelnde Portal fortriss. „Oh mein Gott“, hörte er seine Liebe noch wispern, dann gab sein Körper den Kampf gegen seine Verletzungen endgültig auf und stürzte ihn in undurchdringliche Dunkelheit.     ~*~ 'Cause we could be immortals, immortals Just not for long, for long Live with me forever now Pull the blackout curtains down Just not for long, for long We could be immortals Immortals ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)