Centuries von yamimaru ================================================================================ Kapitel 10: Kapitel 10 ---------------------- Zero wusste, dass er träumte. Die Realität verschwamm an den Rändern seines Gesichtsfeldes, die Geräusche waren gleichzeitig zu leise und hallten dennoch von unsichtbaren Wänden wider. Aber das war egal. Alles, was zählte, war der Mann unter ihm und ihre Körper, die sich in einem uralten Tanz vereinten. Seine Liebe stöhnte auf, die Hände um die Bettstreben gelegt und hielt sich daran fest, während Zero sich noch schneller in ihm zu bewegen begann. Unter dem Druck seiner Fingerkuppen rötete sich die zarte Haut Karyus Oberschenkel, als wären sie die Leinwand, auf der er seine Fingerabdrücke auf ewig hinterlassen durfte. Ein Schauer durchfuhr ihn, der sehnliche Wunsch, seine Zeichen auf dem schönen Körper könnten tatsächlich diese Traumwelt überdauern und auch im Licht des Morgens noch zu sehen sein. Schweiß schimmerte auf der leicht gebräunten Haut, ließ Karyu in seinen Augen nur noch schöner wirken. Unverhofft senkte er den Kopf, fing eine der Perlen mit der Zunge auf und noch eine, bis ihn der salzige Geschmack direkt zu Karyus Lippen führte. Ihr Kuss war flüchtig, immer wieder unterbrochen von ihren gepressten Atemzügen. „Karyu“, wisperte er, fühlte lange Finger, die sich in sein Haar krallten, ihn erneut gegen fordernde Lippen zogen. Nur zu gern ließ er sich küssen, sich erobern, gab sich vollends der Leidenschaft des Momentes hin. Der Leib unter ihm versteifte sich, ein Zittern rann durch ihn, das ihn erfasste und mit sich riss. Ihrer beider Stöhnen war laut, befreiend und so wenig aufzuhalten wie die Stille, die sie plötzlich umgab.   Zero öffnete die Augen, wusste nicht, wann er sie geschlossen hatte, und sah sich um. Seine Umgebung hatte sich drastisch verändert, glich in keiner Weise mehr Karyus Schlafzimmer. Um genau zu sein, glich sie nichts, was ihm bekannt war, denn nichts war es, das sie nun umgab. Seine Liebe und er standen in einem vollkommen schwarzen Raum, ohne Anfang, ohne Ende. Dennoch konnte er Karyus Gesicht erkennen, das unbeschwerte Lächeln, das er ihm schenkte.   „Komm“, sagte er und ergriff Zeros Hand. „Wir gehören hier nicht her.“   „Wie meinst du das?“   „Na, sieh uns doch an.“ Zero tat, wie sein Freund es von ihm verlangte und musterte erst Karyu, bevor er an sich selbst hinabsah. Sein Liebster hatte recht – sie passten tatsächlich nicht hierher. Sein Freund trug ein weißes, weichfließendes Gewand, das ihn vage an die Kleidung mittelalterlicher Königinnen erinnerte. Er selbst steckte in einer Rüstung samt Schwert und Schild, die aus so hellem Metall gefertigt waren, dass auch sie in der Dunkelheit ihrer Umgebung strahlend weiß wirkten. „Verstehst du nun?“   „Ich …“ Er zuckte mit den Schultern, was ein metallisches Kratzen und Schaben verursachte. “Nein, ich glaube nicht.“   „Das macht nichts. Noch ist Zeit.“ Wieder lächelte Karyu ihn an, beugte sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber nun komm, wir haben einen weiten Weg vor uns.“   Er erwiderte Karyus Lächeln, als sie sich in Bewegung setzten. Ihre Schritte klangen hohl und er hatte das Gefühl, Stunden unterwegs zu sein, bis sich vor ihnen mit einem Mal ein weißer Streif am endlosen Horizont zeigte.   „Was ist das?“, fragte er hauchend, erfasst von einer Ehrfurcht, die er sich nicht erklären konnte.   „Das ist unser Ziel.“   Je näher sie der Helligkeit kamen, desto schneller wurden Zeros Schritte. In seinem Nacken prickelte es und ihn beschlich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Eine nicht greifbare Bedrohung legte sich wie ein Band um seinen Brustkorb, machte ihm das Atmen schwer. Er wusste, dass sie in Sicherheit sein würden, sobald sie die Schwärze hinter sich gelassen hatten. Nur noch wenige Meter, nur noch ein paar Schritte …   „Karyu!“, rief er erschrocken aus, als sich die Hand seines Geliebten aus der Seinen löste. Er stolperte noch einen Schritt nach vorn, einen Fuß im Dunkel, den anderen in der Helligkeit, bevor er herumwirbelte. „Karyu.“ Mit Entsetzen sah er den Grund, weshalb sein Freund nicht mehr an seiner Seite war. Ein Mann, gekleidet im schwarzen Spiegelbild seiner eigenen Rüstung, hielt Karyu von hinten umfasst, ein Schwert gegen seinen Hals gepresst.   „So sieht man sich wieder, Dieb.“ In gleichem Maße, wie sich erschreckend vertraute Gesichtszüge aus dem vormals glatten Metall des Helmes formten, begann sich Karyus Erscheinung zu verändern. Zero blinzelte, als er in ihm erst seinen Danna, dann seinen Rebellenfürsten, dann Akemi und noch so viele mehr erkannte. An manche erinnerte er sich kaum noch, ihre gemeinsame Zeit nichts weiter als ein Wimpernschlag, andere waren mit so schmerzvollen Erlebnissen verknüpft, dass er sich nicht mehr erinnern wollte. Aber sie würde er nie vergessen können.   „Liebste“, wisperte er, als es nun das Antlitz seiner Prinzessin war, das ihm von Furcht erfüllt entgegensah. „Lass sie los!“, rief er, untermalt vom zufriedenstellenden Schaben, mit dem er sein eigenes Schwert aus der Scheide zog. „Stell dich mir, du Feigling!“   „Ich denke nicht.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung durchschnitt das schwarze Schwert den Hals der Prinzessin, während Zero nur fassungslos dabei zusehen konnte. Er hechtete nach vorn, die Arme ausgestreckt, um den kraftlosen Körper aufzufangen. Blut färbte das weiße Gewand in dunklem Rot und als er seinen starren Blick von der klaffenden Wunde lösen konnte, waren es Karyus schöne Augen, die ihm traurig entgegensahen. Sein Liebster wollte sprechen, doch das Leben floss so schnell aus ihm, dass ihm keine Gelegenheit dafür mehr blieb.   „Karyu“, hauchte er, als sich die Lider schlossen, der Leib in seinen Armen bewegungslos und schwer wurde.   „Du wirst es nie schaffen“, erklang die höhnische Stimme des Fürsten nah an seinem Ohr. „Du wirst immer zu langsam sein, deine Liebe nie retten können.“   ~*~   „Karyu!“ Er schreckte hoch, stemmte sich gegen das Etwas, das ihn nachdrücklich an Ort und Stelle hielt. Verdammt, er musste weg, musste seinen Liebsten erreichen, bevor er erneut zu langsam sein würde. „Oh, bitte, lass mich los, lass mich gehen“, flehte er der Dunkelheit entgegen, die ihn zu allen Seiten hin umgab und ebenso festzuhalten schien, wie der unsichtbare Griff um seine Schultern. „Ich muss zu ihm! Ich darf nicht wieder versagen.“ Tränen rannen ihm haltlos über die Wangen und die Panik dröhnte laut wie Hammerschläge in seinen Ohren, sodass er die Stimme, die geduldig auf ihn einredete, erst mit einiger Verspätung wahrnahm.   „Schsch, beruhig dich. Es ist alles gut. Du hast nur schlecht geträumt.“   „Ka… Karyu?“, hauchte er und fühlte, wie sich eine Hand von seiner Schulter löste. Es klickte leise, bevor er von der kleinen Lampe auf dem Nachttisch geblendet die Augen schloss.   „Ja.“ Karyu schenkte ihm ein schiefes Lächeln, das besser als alle Worte seine Unsicherheit zeigte. „Bin nur ich, der olle Karyu.“   „Oh, Gott“, hauchte er, schloss die Augen und ließ sich gleichzeitig zur Seite kippen, bis seine Stirn sacht gegen Karyus Brust lehnte. Tief atmete er ein und wieder aus. Als aber auch das nicht half, seiner Panik Herr zu werden, krallte er beide Hände in das übergroße Schlafshirt, das sein Liebster trug, um sein Gesicht im weichen, duftenden Stoff zu verbergen. Karyu war hier, lebendig. Er konnte sogar seinen Herzschlag hören, wenn er nur das Ohr ganz stark gegen den warmen Oberkörper presste. Karyu lebte, er war nicht zu spät … nicht schon wieder.   „Hey.“ Ein liebevolles Hauchen, mehr war dieses kleine Wort nicht gewesen, als er Lippen spürte, die sich gegen seinen Scheitel pressten. „Es ist alles gut, hörst du? Es war nur ein Albtraum.“ Karyu begann, leicht über seinen Nacken zu kosen, während Zero noch immer damit beschäftigt war, sich zu beruhigen. Karyus Worte waren wie ein Mantra, welches er innerlich so lange wiederholte, bis er endlich zu zittern aufhörte und auch sein Atem wieder ruhig und gleichmäßig ging. Die ganze Zeit über hatte sein Freund ihn gehalten, ihm kleine Nichtigkeiten zugeflüstert, bis Zero es schaffte, sich aufzurichten und wenige Zentimeter auf Abstand zu gehen.   „Tut mir leid, dass du das mitbekommen musstest.“   Wieder lächelte Karyu, doch seine Augen glänzten vor Mitgefühl. „Schon gut, dafür musst du dich nun wirklich nicht entschuldigen.“ Lange Finger strichen ihm einige seiner Zöpfe hinter die Ohren, bevor sie sanft über seine Wangen streichelten. „Willst du mir sagen, was passiert ist? In deinem Traum, meine ich. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht willst, aber vielleicht …“   Zeros Mundwinkel zuckten, als er den Finger hob und ihn Karyu auf die Lippen legte. „Pass auf, sonst stolperst du noch über deine eigenen Worte.“ Er sah noch, wie sich Karyus Augen weiteten, als er den Finger durch seine Lippen ersetzte, bevor ihm fast zeitgleich die Lider zuflatterten. Genau das brauchte er jetzt. Eine physische Bestätigung, dass es seinem Liebsten gut ging, dass er hier war, atmete, lebte.   ~*~   Am Ende hatte es nicht lange gedauert, bis Karyu ihn dazu gebracht hatte, ihm von seinem Traum zu erzählen. Mit jedem weiteren Detail war sein Liebster blasser geworden und hatte ihm so deutlich vor Augen geführt, dass es nicht fair war, Karyu mit diesen Dingen zu belasten. Aber war es nicht ebenso unfair, ihn weiterhin im Dunkeln tappen zu lassen? Um ehrlich zu sein, hatte Zero mittlerweile keine Ahnung mehr, was in dieser Situation noch richtig und was falsch war. Das Einzige, was er wusste, war, dass es unheimlich guttat, diese Dinge nicht länger immer nur für sich behalten zu müssen. Es war befreiender, als er sich jemals hätte vorstellen können, als sich Karyus Arme um ihn legten, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, und ihn einfach nur hielten. Es fühlte sich beinahe so an, als könnte er zum ersten Mal in seinem Leben schwach sein, ohne befürchten zu müssen, das Schicksal würde ihn sogleich für diese Schwäche bestrafen.   „Was, denkst du, hatte dieser Traum zu bedeuten? Meinst du, er hängt mit den Männern zusammen, die uns verfolgt haben?“   „Ich …“ Zero schluckte und richtete sich etwas auf, um Karyu ins Gesicht sehen zu können. Fast zögerlich tastete er nach der großen Hand des anderen und lächelte, als sein Freund sogleich ihre Finger miteinander verschränkte. „Ich glaube, der Traum war schlichtweg eine Manifestation der Angst, die ich um dich habe“, spielte er die Wahrheit herunter, die sich wie ein Klumpen Blei in seinen Magen gelegt hatte. „Ich weiß, dass ich gesagt habe, du sollst dir keine Sorgen machen, was die Männer angeht und dass wir das schon in den Griff bekommen, aber …“ Er schloss für einige Sekunden die Augen - ein feiger Versuch, dem anhaltenden Unbehagen, welches Karyu übers Gesicht geschrieben stand, auszuweichen. „Ich mache mir dennoch Sorgen.“   „Du glaubst also doch, dass ich in Gefahr bin?“   Eine lange Pause folgte, bevor er abgehakt nickte und beschämt den Kopf senkte. „Irgendwas braut sich zusammen, ich spüre es in meinen Knochen, aber ich hab keine Ahnung, was genau oder was ich überhaupt dagegen tun kann.“   „ Argh! Das ist so, so … ich begreife das alles einfach nicht.“ Karyu hatte die Lider fest aufeinandergepresst und rieb sich mit beiden Händen über die Schläfen. Für einen langen Moment blieb sein Gesicht hinter den Händen verborgen, bevor er sichtbar die Schultern straffte und Zero in die Augen sah. Okay … lass uns für einen Moment davon ausgehen, dass dein Traum nicht nur die Art deines Unterbewusstseins war, dich auf deine Angst aufmerksam zu machen. Dann bedeutet das doch, dass der Fürst nach all der Zeit persönlich hinter uns her ist, oder?“ Zero schluckte, erwiderte jedoch nichts auf die erschütternde Wahrheit, die sein Freund soeben ausgesprochen hatte. „Wieso das alles? Warum ausgerechnet jetzt?“   „Ich weiß es nicht.“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Bislang gab es nie eine derart greifbare Bedrohung. Es war immer viel diffuser, Dinge wie die Zeit, Krankheiten oder Katastrophen, die dich mir weggenommen haben. Und selbst, wenn andere gegen unsere Verbindung waren, ist alles immer so verdammt schnell gegangen. Ich war immer bis zu letzt ahnungslos, trotz der Erinnerungen an unsere früheren Leben. Ich konnte nur in jedem Leben nach dir suchen und alles dafür geben, dich nicht wieder zu verlieren.“ Zero rieb sich übers Gesicht. „Bislang ist die Bedrohung nie vom Fürsten selbst ausgegangen.“ Fest sah er Karyu in die Augen. „Ich habe nie vorher auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er uns über die Jahrhunderte hinweg folgen könnte.“   „So eine Scheiße“, zischte Karyu und fuhr sich durch die ohnehin vom Schlaf zerzausten Haare. „Nur weil dieser Typ ein menschenverachtender Tyrann war und meine Vorfahrin schlau genug, ihn zu verlassen, als sich ihr die Chance geboten hat, ist er jetzt auf Rache aus oder was? Wie geht das überhaupt? Das ist alles so unglaublich, das kann gar nicht real sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es einfach jedem möglich ist, auf diesen Wiedergeburtszug aufzuspringen. Stell dir doch mal eine Gesellschaft vor, in der es egal ist, ob man stirbt oder nicht, weil man ohnehin früher oder später dort weitermachen kann, wo man aufgehört hat. Das ist absurd, oder nicht?“ Karyus Augen waren wild, als er seinen Blick suchte, bevor er sich von ihm abwandte. „Vielleicht hört sich das aber auch nur für mich komplett verrückt an, weil ich der einzige Idiot hier bin, der sich noch immer an nichts erinnern kann!“   Karyu hatte sich in Rage geredet und war aufgestanden, um nun wie ein eingesperrter Tiger vor dem Bett auf und ab zu gehen. Obwohl Zero beim besten Willen nicht mit der Heftigkeit seiner Reaktion gerechnet hatte, konnte er es seinem Freund nicht verübeln, dem ganzen angestauten Frust auf diese Weise Luft zu machen. Hatte er selbst nicht auch vor wenigen Minuten festgestellt, wie unfair es wäre, sein Wissen vor Karyu weiterhin verborgen zu halten? Egal, wie unangenehm die Situation nun für ihn werden würde, Karyu hatte ein Recht darauf, endlich mehr, als nur Bruchstücke zu erfahren. Unwissenheit hatte ihm noch nie geholfen, das Leben seiner Liebe zu retten.   „Karyu“, sprach er leise, erhob sich ebenfalls vom Bett und stellte sich direkt vor ihn, um ihn am Auf- und Ablaufen zu hindern. „“Du bist kein Idiot und es ist auch nicht deine Schuld, dass du dich an nichts erinnern kannst, hörst du?“ Er hob die Rechte und als Karyu nicht vor ihm zurückwich, begann er, sanft über seine Wange zu streicheln. Karyus Kieferknochen zeichneten sich harsch unter der dünnen Haut ab, so stark presste er die Zähne auf einander, und in seinen Augen loderte ein Feuer, das Zero in die Knie gezwungen hätte, wüsste er nicht, dass sein Zorn nicht ihm galt. Ich konnte wenigstens schon in Erfahrung bringen, dass alles irgendwie mit meinem Versprechen an dich vor eintausend Jahren in Zusammenhang steht, und den Rest finde ich auch noch heraus, das verspreche ich dir“, wisperte er und trat noch einen Schritt näher an seinen Liebsten heran. „Ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um dem Schicksal diesmal eins auszuwischen. Diesmal wird uns nichts trennen. Keine Macht dieser oder einer anderen Welt wird dich mir noch einmal wegnehmen.“   Karyu blieb stumm, doch mit jedem Atemzug, der über seine Lippen kam, erkannte er, wie sich der größere Körper mehr und mehr entspannte. Irgendwann schloss sein Geliebter die Augen und ließ den Kopf nach vorn sinken, bis er sanft auf Zeros Schulter ruhte. „Ich fühle mich so dumm und unwissend. Ich will nicht, dass die ganze Last auf deinen Schultern liegt. Ich will nicht gerettet werden, verstehst du?“ Braune Augen fixierten ihn und die Entschlossenheit in ihnen war wie ein Schwall kalten Wassers, der über Zero hereinbrach. Sollte das etwa die Lösung ihrer Misere sein? War sein Fehler in der Vergangenheit nie der gewesen, dass er zu schwach, zu langsam gewesen war, sondern dass er seine Liebe unterschätzt hatte? Vielleicht war es nie nur allein an ihm gewesen, ihr Schicksal zum Guten zu wenden. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen und schluckte den Schmerz herunter, den ihm diese Möglichkeit verursachte. Verflucht, wenn sie beide nur mehr über die Agenda der Mächte wissen würden, könnte das ihr Jahrhunderte andauerndes Leid endlich beenden. Hizumi hatte ihm in den letzten Tagen bereits einige Einblicke in die Denkweise der Mächte gegeben, aber nun wurde es Zeit, dass er endlich Klartext sprach. Zero wusste zwar, dass der Engel bestraft werden würde, wenn er sich über den Willen seiner ‚Bosse‘ hinwegsetzte, aber darauf konnte er keine Rücksicht mehr nehmen. Er wusste bereits jetzt mehr, als in all seinen Leben zuvor, und diesmal würde er auch in der Lage sein, sein Wissen an seine Liebe weiterzugeben. Von einem überwältigenden Gefühl der Hoffnung erfüllt, legte er beide Hände an Karyus Wangen und zog seinen etwas überrumpelten Freund in einen langen, intensiven Kuss.   „Ehm, wofür war das gerade?“   „Brauche ich jetzt schon einen Grund, um meine Liebe zu küssen?“ Zufrieden stellte er fest, wie sich Karyus Wangen auf diese Aussage hin röteten und seinem bis eben noch so verhärmt wirkenden Gesicht jugendliche Frische zurückgaben. „Ich denke, ich hatte gerade einen Aha-Moment.“   „So, so. Und? Erzählst du mir davon?“   „Morgen. Ich … es gibt Dinge, die nicht an mir sind, sie dir zu erzählen, aber ich verspreche dir, dass ich dir morgen alles sagen werde, was ich weiß.“   „Es gibt also noch mehr?“   „Ja, leider … und ich befürchte, ich selbst verstehe nicht einmal einen Bruchteil davon.“   „Du warst also nicht ehrlich zu mir, obwohl wir die ganze Zeit über diesen Irrsinn gesprochen haben?“   „Was? Nein, Karyu, das verstehst du falsch.“   „Tue ich das?“   „Ja.“ Karyu hatte sich wieder auf das Bett gesetzt, den Rücken gegen das Kopfende gelehnt und die Decke über seine Beine gezogen. Erneut hatte sich die Stimmung zwischen ihnen verändert, aber diesmal bescherte sie ihm Bauchschmerzen. „Karyu?“   „Wir sollten schlafen. Mir brummt der Schädel und wir haben in ein paar Stunden ein Konzert zu geben.“   „Aber …“   „Nein, nicht jetzt, Zero, okay?“ Komm her. Ich will nicht mehr reden.“   Zero schluckte, tat jedoch, wie sein Liebster von ihm verlangte und schlüpfte ebenfalls unter die Decke. Einen Wimpernschlag später war das Zimmer erneut in Dunkelheit gehüllt, die ihm beinahe noch mehr Unbehagen bescherte, als Karyus Schweigen. Doch gerade, als er sich über den Wunsch seines Liebsten hinwegsetzen und doch noch einmal das Wort an ihn richten wollte, legten sich lange Arme um seine Mitte.   „Versuch zu schlafen.“ Ein sanfter Kuss suchte und fand seine Wange, bevor sich Karyu gegen ihn schmiegte und seine Wärme mit ihm teilte.   „Du auch“, wisperte er, tastete nach einer Hand des anderen, hauchte einen Kuss auf einen der Fingerknöchel, bevor er sie auf seinem Brustkorb ablegte. „Es ist nicht leicht für mich …“, wisperte er, ohne damit zu rechnen, dass Karyu ihm zuhören oder auf das Gesagte reagieren würde.   „Ich versuche, dich zu verstehen, ehrlich, aber für mich ist das auch nicht einfach.“   „Ach, Karyu“, seufzte er, plötzlich unendlich müde und drehte sich so, dass er sein Gesicht an der Brust des anderen verbergen konnte.   „Schlaf jetzt, wir müssen morgen fit sein.“   „Ich tu mein Bestes.“   ~*~   „Und du willst ihm also alles sagen, ja?“   „Ja.“ Zero presste die Lippen aufeinander und erwiderte Hizumis Blick so selbstsicher er konnte. Um sie herum herrschte reges Treiben, während die Männer und Frauen vom Staff die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Show trafen. Zeros Kopf ruckte zur Seite, als Karyus Gitarre plötzlich ein unangenehmes Schrillen von sich gab, bevor der Tontechniker es schaffte, die passende Frequenz einzustellen. Er verzog das Gesicht, jedoch nicht des durchdringenden Geräuschs wegen, sondern weil Hizumi ihn noch immer mit stoischer Miene musterte und so seine Entschlossenheit deutlich ins Wanken brachte. „Versteh mich nicht falsch“, lenkte er ein und verkniff sich ein geschlagenes Seufzen, das im vorherrschenden Tohuwabohu ohnehin untergegangen wäre. „Ich kann ihm sowieso nicht viel mehr sagen, als ich schon getan habe. Du hast mir das Versprechen abgenommen, deine ‚Besonderheiten‘ für mich zu behalten, und das werde ich tun, aber …“   „Aber du willst, dass ich mich Karyu offenbare, nicht wahr?“   Wieder musste Zeros Unterlippe dran glauben, als er abgehakt nickte. Wie er es hasste, auf den guten Willen anderer angewiesen zu sein. „Es ist wichtig, Hizumi, dass Karyu und ich so viel wie möglich über das erfahren, was hier vor sich geht, verstehst du nicht? Nur so haben wir eine Chance.“   „Ach, ja? Das sind ja ganz neue Töne. Was ist aus deiner bisherigen Einstellung geworden, dich von Karyu fernzuhalten, um ihn nicht zu gefährden?“ Hizumis rechte Braue wanderte in einer provokanten Geste ein Stück nach oben. „Mir ist aufgefallen, dass du zu ihm gefahren bist, kurz nachdem ich gegangen bin. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“ Zusammen mit den letzten beiden Silben verzog sich Hizumis Mund zu einem anzüglichen Grinsen, welches Zero ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte.   „Nicht nur, dass du unsere Lage nicht ernstzunehmen scheinst, jetzt spionierst du mir auch noch hinterher?“   „Glaub mir, Zero, ich nehme eure Lage ernster, als dir bewusst ist genau wie meinen Job. Und als dein ‚Schutzengel‘ …“ Hizumi malte Anführungszeichen in die Luft, was Zero nur unbeeindruckt schnauben ließ, „… ist es nun mal meine Pflicht, ein Auge auf dich zu haben. Dabei ist mir diese Kleinigkeit ebenso wenig entgangen wie die Tatsache, dass ihr vorhin gemeinsam hier angekommen seid.“   „Ich hatte Karyu versprochen, ihn mit dem Wagen mitzunehmen, das weißt du.“   „Ja~.“   Falls möglich, weitete sich Hizumis Grinsen nur noch mehr, aber wenigstens bestand er nicht auf eine Antwort. Stattdessen war es Zero, der fragend eine Augenbraue hob, bevor sie beide von einem lauten Scheppern aus ihrer nicht wirklich privaten Unterredung gerissen wurden.   „Alles in Ordnung?“, rief Hizumi über den allgemeinen Geräuschpegel hinweg und fixierte Tsukasa, der ungläubig einem seiner Becken hinterher sah.   „Ja, ja“, antwortete ihr Drummer sichtlich aus dem Konzept gebracht, erhob sich und dankte im Vorbeigehen seinem Techniker, der sich sofort pflichtschuldig um den kleinen Defekt bemühte. „Scheint nur nicht richtig festgeschraubt gewesen zu sein.“ Tsukasa fuhr sich durchs Haar, bevor er ihnen ein breites Lächeln schenkte. „Ich muss ja sagen, Leute zu haben, die für einen arbeiten, ist schon irgendwie cool, oder?“   „Definitiv.“ Zero erwiderte das Lächeln, obwohl er sich nicht entscheiden konnte, ob er froh oder genervt über Tsukasas Störung sein sollte. Eine Antwort auf seine Bitte hatte Hizumi ihm noch immer nicht gegeben und zu allem Überfluss winkte ihn nun Taka zu sich, um die Einstellungen seines Basses zu finalisieren. Mit einem letzten Blick auf ihren Sänger wandte er sich von seinen beiden Kollegen ab und ging mit wenig Elan auf den schon etwas in die Jahre gekommenen Techniker zu. Glücklicherweise gab es nicht mehr viel, was sie zu klären hatten, und so war es nicht verwunderlich, dass Zero mit den Gedanken nicht wirklich bei der Sache war. Stattdessen ertappte er sich immer wieder dabei, wie sich seine Aufmerksamkeit auf Karyu richtete und er seinen Bewegungen mit den Augen folgte. Vermutlich war es an der Zeit, auch ihren Kollegen reinen Wein einzuschenken und zuzugeben, dass sich sein Verhältnis zu ihrem Gitarristen in den letzten Tagen drastisch verändert hatte. Noch eine Sache, die er mit Karyu besprechen musste, sobald sich eine Möglichkeit dafür bot.   Er seufzte und winkte ab, als Taka ihn fragend musterte. Die Stimmung zwischen Karyu und ihm war gedrückt gewesen, als sie vor wenigen Stunden die Wohnung des anderen verlassen hatten. Das schlechte Gewissen, noch immer Dinge vor seinem Liebsten geheim zu halten, begann ihn innerlich aufzufressen. Für einen Augenblick schaute er sich nach Hizumi um, der noch immer mit Tsukasa etwas abseits des Trubels stand und sich unterhielt. Täuschte er sich oder ignorierte ihn der andere gerade? Sonst hatte Hizumi immer einen siebten Sinn dafür, wenn er angestarrt wurde. Zeros Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Verdammt, warum zierte sich der Engel so? Plötzlich hob Hizumi erschrocken den Kopf, während Zero in derselben Sekunde zu Karyu herumwirbelte. Er hätte nicht erklären können, was er soeben aus dem Augenwinkel gesehen hatte, aber was auch immer es war, das ungute Gefühl in seiner Magengegend sprach Bände. Noch bevor er verarbeiten konnte, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt ereignete, reagierte sein Körper. Mit drei langen Schritten war er an Karyus Seite, hebelte den deutlich Größeren mit der Schulter wie ein Rugbyspieler aus und brachte ihn so zu Fall. Hinter ihnen krachte es laut, während sich seine Rippen schmerzhaft zu Wort meldeten, als er hart auf seinem Freund zum Liegen kam. Beinahe glaubte er, den Einschlag heißer Glassplitter auf seinem Rücken fühlen zu können, als der von der Decke gefallene Scheinwerfer auf dem Bühnenboden in tausend Einzelteile zersprang. In Zeros Ohren rauschte es, während er Karyu, ohne zu blinzeln, aus schockgeweiteten Augen anstarrte. Sein Freund sah nicht minder erschrocken aus. Karyus Lippen bewegten sich, aber noch war Zero zu erschüttert, um irgendetwas um sie herum wahrnehmen zu können. Erst als sich die großen Hände des anderen an seine Schultern legten und er ihn mit sanftem Nachdruck auf Abstand schob, drangen aufgeschrecktes Stimmengewirr und die Geräusche hektischen Treibens an seine Ohren.   „… hätte böse ausgehen können, hätte Zero nicht so schnell reagiert.“ „… in Ordnung bei euch?“ „… du aufstehen?“   Es kam ihm vor, als würden alle Anwesenden gleichzeitig auf sie einreden, während er noch immer das Gefühl hatte, alles nur in Zeitlupe wahrzunehmen. Erst Karyus Stimme, die deutlich ruhiger zu ihm sprach, holte ihn ein Stück weit in die Realität zurück.   „Geht es dir gut? Hast du dich verletzt?“ Automatisch schüttelte er den Kopf, während sein Freund mit zitternden Fingern begann, seinen Rücken abzutasten.   „Und du? Ist mit dir auch alles in Ordnung?“, fragte er schlussendlich, als sie sich mit Hizumis und Tsukasas Hilfe aufgerichtet hatten und die beiden anderen sie vorsichtig von den restlichen Splittern befreiten.   „Ja, dank dir.“   „Du hast einige kleinere Schnitte im Nacken“, merkte Hizumi an, wischte ihm vorsichtig die Zöpfe über die Schultern und zupfte auch von dort die Splitter fort. Zero zischte kurz, als ein besonders hartnäckiges Exemplar mit einem unangenehmen Zerren an seiner Haut darauf reagierte. „Das sollten wir desinfizieren, bevor sich was entzündet.“ Er nickte nur erneut und ließ sich von Hizumi hinter die Bühne und in die Waschräume führen.   „Ich muss zurück zu Karyu“, murmelte er mit deutlicher Verspätung, weil sich sein Kopf noch immer wie in Watte gehüllt anfühlte. Was war das gerade gewesen? Ein Unfall? Ein Anschlag?   „Tsukasa ist bei ihm. Mach dir keine Sorgen, ihm ist wirklich nichts passiert.“ Hizumi feuchtete mehrere Papierhandtücher an und bedeutete ihm, sich gegen eines der Waschbecken zu lehnen. „Zieh kurz dein Hemd aus, nicht, dass noch Splitter im Stoff festsitzen.“ Zeros Gedanken rasten, seine Bewegungen waren jedoch schlafwandlerisch langsam, als er Hizumis Aufforderung folgeleistete. Er senkte den Kopf, beugte sich leicht vor, während der Sänger sich um seine Verletzungen kümmerte. „Das nenne ich mal Reaktionsfähigkeit, Hut ab.“   „Der Scheinwerfer … das war …“   „Mmmh.“ Hizumi brummte leise, während er aus einem Erste-Hilfe-Kasten ein Fläschchen mit Desinfektionslösung nahm und auf den kleinen Schnitten verteilte. Leicht verzog Zero das Gesicht, sagte jedoch weiter nichts. „Ich weiß, was du denkst.“   „Das war kein Zufall.“   „Ich hab nichts gesehen, was darauf schließen lässt, aber … an einen Zufall glaube ich auch nicht.“ Hizumi seufzte, warf das blutige Papiertuch in den Abfalleimer und sah ihm ernst in die Augen. „Ich werde Karyu sagen, was ich kann. Du hast recht, wir sollten jeden Vorteil für uns nutzen, den wir kriegen können. Je mehr Karyu weiß, desto sicherer wird er sein.“   „Danke.“ Zero schloss für einen Moment die Augen, spürte Erleichterung und anhaltende Panik gleichzeitig durch sein System rasen. „Danke, ehrlich“, wiederholte er und erwiderte erneut Hizumis Blick. „Ich hatte diese Nacht einen Traum“, murmelte er und schluckte, als sich die Bilder seines Albtraumes vor sein geistiges Auge schieben wollten. „Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass er mir gezeigt hat, was passieren wird.“   „Wirklich?“   „Freu dich nicht zu früh. Ich hab keine Ahnung, was genau das, was ich gesehen hab, zu bedeuten hat. Aber wer auch immer hinter Karyu her ist, egal, ob es der Fürst ist oder doch die Mächte, die die Strippen ziehen, wir müssen ihm zuvorkommen.“   „Du musst mir erzählen, was du geträumt hast. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Vielleicht …“   „Da seid ihr ja!“ Tsukasa hatte die Tür so schwungvoll geöffnet, dass sie laut gegen die Wand krachte und Zero zusammenfahren ließ. „Oh, tschuldigt, das wollte ich nicht. Ihr wart nur so schnell verschwunden …“   „Zero?“ Auch Karyu tauchte in der offenstehenden Tür auf und kam sogleich auf ihn zu. „Was ist mit dir?“   „Nichts, alles gut, mach dir keine Sorgen.“ Zero richtete sich auf, begutachtete sein Schirrt und schüttelte es vorsichtshalber einmal kräftig aus, bevor er es sich wieder überzog. „Es sind nur Kratzer. Wie geht es deinem Rücken? Den Rippen? Wirklich alles gut? Ich bin recht unsanft auf dir gelandet.“ Zero hob den Kopf, erwiderte Karyus musternden Blick nicht minder besorgt.   „Komm mit, Tsukasa“, hörte er Hizumi sagen und sah aus dem Augenwinkel, wie ihr Sänger den anderen mit Nachdruck aus dem Waschraum bugsierte. „Lass uns nachsehen, ob wir irgendwas helfen können.“   Ein Teil in Zero wollte Hizumi folgen, ihr Gespräch fortsetzen, aber der weitaus größere Teil hatte nur noch Augen für Karyu. Kaum war die Tür hinter ihren Kollegen ins Schloss gefallen und sie für den Moment allein, kam sein Liebster auf ihn zu. Zero seufzte, als sich lange Arme um ihn legten, und erwiderte die Geste, presste sein Gesicht gegen den warmen Oberkörper seines Freundes.   „Scheiße“, wisperte er und fühlte erst jetzt das zittern, das wie Wellen durch seinen Leib rann. „Ich darf gar nicht daran denken, was hätte passieren können.“   „Dann tu es nicht.“ Karyus Stimme klang noch immer ruhig, erstaunlich, bedachte man, dass der Große es war, der um Haaresbreite erschlagen worden wäre. „Denkst du, das war ein Unfall oder …?“   „Ich weiß es nicht.“ Zero hob den Kopf, brachte es jedoch nicht über sich, seine Vermutung auch Karyu gegenüber ehrlich zu äußern. „Ich weiß nur, dass der Sicherheitsbeauftragte der Halle sich warm anziehen sollte. Der kriegt was zu hören, darauf kannst du wetten.“ Er verengte die Augen und biss die Zähne fest zusammen, ein eher jämmerlicher und nicht gerade wirkungsvoller Versuch, seine Angst um Karyu in Wut umschlagen zu lassen.   „Hey.“ Lange Finger legten sich unerwartet sanft an seine Wange und dirigierten seinen Kopf so, dass Karyu seine Lippen mit den eigenen einfangen konnte. „Danke.“ Ein wohliger Schauer rann Zero über den Rücken, als die hauchzarten Berührungen über seinen Mund prickelten. „Hättest du nicht so schnell reagiert, wäre ich jetzt wohl …“   „Pscht“, zischte er leise und nun war es an ihm, zu verhindern, dass weitere Worte Karyus Mund verlassen würden. Seine Finger gruben sich in das brünette Haar seines Liebsten, hielten ihn an Ort und Stelle fest. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihr Kuss leidenschaftlicher. Hände strichen über störende Kleidung, Körper pressten sich aneinander, suchten Nähe, die ihnen vorhin beinahe für immer entrissen worden wäre. „Karyu“, keuchte er, vollends im Strudel der Gefühle für seinen Geliebten versunken. Vergessen war die unterschwellige Gefahr, die wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte. Vergessen war der alles andere als ideale Ort, an dem sie sich befanden und an dem sie jederzeit entdeckt werden konnten. Alles, was zählte, war der Mann in seinen Armen. „Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert“, wisperte er zwischen zwei Küssen, haschte nach Karyus Unterlippe und keuchte, als sich große Hände auf seinen unteren Rücken legten. Mit kurzen Küssen und neckenden Bissen suchte er sich einen Weg über Karyus Kiefer bis zum Hals, liebkoste auch dort die weiche Haut. „Ich liebe dich“, entkam es ihm, ohne dass er darüber hätte nachdenken oder es verhindern wollen. Und als wären seine Worte ein Schwall kalten Wassers gewesen, welcher Karyu in die Realität zurückholte, löste der Größere sich ein Stück von ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Zero konnte nicht anders – er murrte unwillig und schob die Unterlippe vor.   „Was hast du gerade gesagt?“, verlangte sein Liebster zu wissen, doch Zero hatte nur Ohren für die Art, wie diese wenigen Worte Karyus Mund verlassen hatten. Keuchend, schier außer Atem und daran war er, Zero, ganz alleine schuld.   „Gar nichts, hast du was gehört?“, flüsterte er, den Blick unverwandt auf seinem Gegenüber ruhend.   „Zero …“   Seine Mundwinkel zuckten, bevor sich ein kokettes Lächeln auf seine Lippen legte. Er umfasste eine Haarsträhne Karyus und begann sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu zwirbeln. „Was denn? Ist es meine Schuld, dass du mich nicht verstanden hast? Du solltest eben besser zuhören, wenn ich dir was zu sagen habe.“   „Ich hab dir zugehört. Ich weiß nur nicht, ob ich meinen Ohren trauen kann.“   „Wieso, was haben dir deine Ohren denn gesagt?“ Auf Karyus Wangen legte sich eine entzückende Röte, die es schaffte, Zero davon zu überzeugen, seinen Liebsten nicht länger zu necken. Lächelnd legte er beide Hände an Karyus Gesicht, streichelte über die definierte Linie seiner Wangenknochen. „Ich liebe dich“, wiederholte er flüsternd und wollte die schönen Lippen vor sich gerade noch einmal in Beschlag nehmen, als es an der Tür zum Waschraum klopfte.   „Kommt ihr?“   „Hizumi“, stöhnte Karyu derart resigniert auf, dass Zero nicht anders konnte, als zu lachen.   „Ja, Hizu, wir kommen sofort.“ Spielerisch drückte er Karyu noch einen Kuss auf die Nasenspitze und tätschelte seine Wange. „Schmoll nicht, Leader, immerhin sind wir hier, um ein Konzert zu spielen.“ Lächelnd umfasste er Karyus Hand, drückte einen Kuss auf die Fingerknöchel. „Ich pass auf dich auf, ja?“   Karyu nickte, schenkte ihm seinerseits noch einen viel zu intensiven Kuss und setzte sich in Bewegung. „Ich pass auch auf dich auf.“ Er lächelte und zwinkerte ihm zu. Zeros Herz erwärmte sich, weil er diese Geste als das erkannte, was sie war. Karyu versuchte, ihm und wohl auch sich selbst die Angst zu nehmen. „Und nach der Show reden wir, in Ordnung?“   „Ja.“   ~*~   Zero drückte die schwere Tür auf, die sie aus dem Konzerthaus und auf den Parkplatz brachte, und erschauerte, als ihm sogleich ein kalter Windstoß entgegenwehte. Trotz oder wegen der heißen Dusche, die er sich nach der Show genehmigt hatte, fing er sogleich an, ekelhaft zu frieren. Karyu, der in seinen dicken Parka gehüllt neben ihm ins Freie trat, sah plötzlich noch verlockender aus, als ohnehin schon. Und das lag für einmal nicht an dem lieben Lächeln, welches er ihm schenkte oder an der geöffneten Zigarettenschachtel, die er ihm einladend hinhielt.   „Willst du eine?“   „Ich würde mich gerade viel lieber zu dir in deine Jacke stehlen, aber danke“, stellte er mit einem kleinen Schmunzeln fest, zog eine der Zigaretten aus der Schachtel und klemmte sie sich zwischen die Lippen.   „Ich hab schon immer gesagt, dass dein Ledermantel keine anständige Jacke ist, aber mir soll es recht sein. Ich halte gern als deine lebendige Wärmflasche her.“   Ein liebevolles Augenrollen war alles, was Zero dazu zu erwidern hatte, bevor er sich auf den Weg zu seinem Wagen machte. „Wo bleiben Hizumi und Tsukasa eigentlich?“   „Sie kommen sicher gleich.“ Karyu zuckte mit den Schultern, bevor er damit fortfuhr, seine Jackentaschen abzutasten.   „Suchst du was?“   „Ja, mein Feuerzeug. Ich glaub, ich hab es Backstage liegenlassen. So ein Mist.“   „Hier.“ Er hielt Karyu sein eigenes Feuerzeug hin, aber der Große machte keine Anstalten, es anzunehmen.   „Danke, aber ich hänge an dem Teil. Geh doch schon mal vor, ich lauf nur schnell zurück und komm dann gleich nach, okay?“   „Klar.“ Zero erinnerte sich, dass sein Liebster kein schnödes Wegwerffeuerzeug verwendete so wie er, sondern schon seit er ihn kannte ein hübsches, silberfarbenes Zippo mit Gravur sein Eigen nannte. Kein Wunder, dass er es nicht zurücklassen wollte. Zero lächelte, fand die Gedanken, die er sich mal wieder über Karyu machte, gerade irgendwie amüsant. Im nächsten Moment jedoch gefroren ihm sämtliche Gesichtszüge.   „Was? Nein!“ Die Worte, der abgehakte Schrei, der ihnen folgte, waren eindeutig von Karyu gekommen. Er wirbelte herum. Obwohl er kaum drei Schritte von seinem Liebsten entfernt stand, fühlte er sich, als wären es unendliche Weiten, die sie voneinander trennten. Wie war das möglich? Er hatte Karyu doch nur für eine Sekunde aus den Augen gelassen. Die Tür, die zurück ins Konzerthaus führte, war genau dort, keine fünf Meter vor ihm. Wie hatten sich die gesichtslosen Männer nur zwischen sie drängen können, ohne dass er etwas bemerkt hatte?   „Karyu!“, rief er, wollte zu ihm eilen, konnte sich jedoch mit einem Mal nicht mehr bewegen. Die Luft um ihn herum schimmerte, verdichtete sich, bis er das Gefühl hatte, sie bestünde aus unnachgiebigem Glas. Er bekam keine Luft mehr, seine Lungen brannten und dennoch versuchte er, wieder und wieder nach seinem Liebsten zu rufen. Einer der Gesichtslosen schlug mit der geballten Faust gegen Karyus Schläfe, der sich bis eben mit Leibeskräften gegen die Hände gewehrt hatte, die ihn erbarmungslos festhielten. Nun jedoch sackte er bewusstlos in sich zusammen, kam unsanft auf dem geteerten Boden des Parkplatzes auf.   ‚Nein!‘, schrie alles in Zero, während der Sauerstoff in seinen Lungen zur Neige ging, der Druck hinter seinen Augen dafür immer unerträglicher wurde. Verdammt, wenn das so weiterging, würde er jämmerlich ersticken, während er wieder einmal nichts tun konnte, um Karyu zu helfen. Aber dem noch nicht genug, öffnete sich vor den Gesichtslosen plötzlich ein elektrisch knisterndes Oval, das in sämtlichen Spektralfarben zu erstrahlen schien. Geblendet hätte er die Augen zusammengekniffen, wäre er nicht zur Bewegungslosigkeit verdammt. Im selben Moment, als er mitansehen musste, wie sich der Kerl, der Karyu geschlagen hatte, den Großen mit Leichtigkeit über die Schultern wuchtete, schlug die Tür zum Parkplatz mit einem lauten Knall gegen die Hauswand. Die Umrisse eines geflügelten Wesens zeichneten sich im Licht des dahinterliegenden Konzerthauses ab, brachten Zeros rasenden Puls ins Stolpern. ‚Hizumi‘, dachte er mit einem Anflug der Hoffnung, der ihn nur noch mehr schwindeln ließ. Aus den Fingerspitzen des Engels sprühten blaue Blitze, trafen den einen, der sich schützend vor seinen Kumpanen und Karyu gestellt hatte. Zero glaubte, einen spitzen Schrei zu hören, der in röchelndes Gurgeln überging, als der Getroffene in sich zusammensackte und reglos auf dem schmutzigen Boden liegen blieb.   „Lass ihn gehen“, donnerte Hizumis außerweltliche Stimme über den Parkplatz, schien die erstarrte Luft um Zero vibrieren zu lassen. „Lass ihn gehen oder dich trifft dasselbe Schicksal.“   „Damit schreckst du mich nicht, Bote. Ich lebe nur, um zu dienen. Mein Leben ist nichts wert. Nimm es dir ruhig, wenn du dich traust.“ Der Gesichtslose begann zu lachen – ein Laut, der sich wie das Kratzen von Fingernägeln über eine Schiefertafel in Zeros Gehörgänge fraß. „Wenn du es wagst, den kleinen Menschen hier zu verletzen, versteht sich.“   Schwärze bedeckte mittlerweile nahezu Zeros komplettes Gesichtsfeld. Der Tunnel seiner Sehkraft fixierte sich auf Hizumis übermenschliches Gesicht, auf die Verzweiflung, die nur zu deutlich darauf geschrieben stand. Auch er erkannte das Dilemma, verstand, dass dem Engel die Hände gebunden waren, wollte er Karyu nicht verletzen. Dennoch flehte er innerlich, Hizumi würde seinen Liebsten retten können, während er gleichzeitig mitansehen musste, wie der Kerl durch das pulsierende Portal trat.   ‚Nein!‘, schrie er, doch in seinem Brustkorb befand sich keine Luft mehr, die den Schall nach außen hätte tragen können. Er wehrte sich mit allem, was er hatte gegen den Zauber, der ihn gefangen hielt und zu seinem grenzenlosen Erstaunen schien sein Gefängnis erste Risse zu bekommen. Ob es daran lag, dass der verbleibende Gesichtslose nicht über genügend Macht verfügte, um gleichzeitig Zero in Schach und das Portal geöffnet zu halten oder ob Hizumi seine übernatürlichen Finger im Spiel hatte, wusste er nicht. Um ehrlich zu sein, war es ihm auch herzlich egal. Alles, was in diesem Augenblick zählte, war freizukommen und Karyu zu erreichen. Das reglose, blasse Gesicht seines Geliebten spornte ihn an, mobilisierte Kräfte, von denen er nicht geglaubt hatte, dass er sie noch aufbringen konnte. Um ihn herum knirschte und knackte es, als würde Glas unter enormem Druck wieder in seine ursprünglichen Elemente pulverisiert werden. In einem Schauer aus funkelndem Sand brach er frei, gönnte sich nicht einmal die Zeit, Luft zu holen, sondern stürzte sogleich auf das Portal zu, in dem der Gesichtslose und Karyu soeben verschwunden waren.   Das Oval wurde rasend schnell kleiner – Himmel, er musste es erreichen! Aus dem Augenwinkel erkannte er Hizumi, der genau wie er nach vorn preschte. Zero spürte die Kälte, die von dem Zugang ausging, als sein Oberkörper in den Regenbogen aus Farben eintauchte. Als würde ihn von der anderen Seite jemand packen, wurde er in den Strudel aus Licht gezogen. Zero versuchte, sich herumzudrehen, eine Hand nach Hizumi auszustrecken, aber der Sog war zu stark. Das einzige, was er noch spürte, war ein stechender Schmerz an seinem Handgelenk, bevor ihn das Portal verschluckte. Der Engel hatte ihm noch irgendetwas zugerufen, doch durch das ohrenbetäubend laute Rauschen um ihn herum hatte er ihn nicht verstehen können. Er wusste nur, dass Hizumi es nicht geschafft hatte, ihm zu folgen. Er war auf sich allein gestellt. Gerade, als sich diese Erkenntnis wie ein schweres Gewicht in seinem Magen breitmachte, wurde er unsanft auf der anderen Seite des Portals ausgespuckt. Er landete hart auf einem Steinboden – Marmor, wie ihn sein Hirn unwichtigerweise informierte – und keuchte. Er fühlte sich schwach wie ein Neugeborenes, das erst einmal lernen musste, wie es atmete. Seine Umgebung war in schummriges Licht getaucht, roch modrig und rief Erinnerungen an Ereignisse wach, die er lieber vergessen wollte. Röchelnd versuchte er, sich aufzurappeln, stützte sich mit den Händen ab und stemmte sich hoch. Sein Blick viel auf sein Handgelenk, das sich noch immer schmerzhaft, beinahe heiß anfühlte. „Was zum …“, krächzte er, als er die Handfläche nach oben drehte und genau über seinem Puls das stilisierte Bildnis eines Engels erkannte. „Hizu?“ Obwohl er den Sinn dieses Brandmales nicht verstand, begann sich sein zitternder Atem plötzlich zu beruhigen. Vielleicht war er doch nicht so allein, wie er angenommen hatte. Und apropos allein – wo waren Karyu und der Gesichtslose abgeblieben? Blinzelnd begann er sich umzusehen und sich einen Überblick über seine Lage zu verschaffen. Doch noch bevor er hätte zuordnen können, wo genau er sich befand, Explodierte ein grausamer Schmerz in seinem Kopf. Gepeinigt keuchte er, sackte zurück auf den Boden, wo er reglos liegen blieb. „Fesselt ihn und bringt ihn in den Audienzsaal“, hörte er eine leise, beinahe melodische Stimme sagen. „Der Meister wird sich freuen, dass uns gleich beide Vögelchen ins Netz gegangen sind.“ Zeros letzter Gedanke galt Karyu, bevor ihm endgültig die Sinne schwanden.     ~*~ Come on, come on and let me in The bruises on your thighs like my fingerprints And this is supposed to match The darkness that you felt I never meant for you to fix yourself Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)