Centuries von yamimaru ================================================================================ Kapitel 9: Kapitel 9 -------------------- Die Müdigkeit hing an ihm wie ein Mantel aus Blei, der ihm die Schultern nach unten drückte. Mit fahrigen Fingern schob er den Wohnungsschlüssel ins Schloss und betrat seine Behausung. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, unterlegt mit dem verblassenden Duft eines Parfums, das ihn unwillkürlich an Karyu erinnerte. Wie angewurzelt blieb er stehen, schloss seine brennenden Augen und gab sich für einen Moment der Illusion hin, sein Freund würde in der Dunkelheit der Wohnung auf ihn warten. Wie sehr er sich wünschte, Karyu wäre nun wirklich hier.   Zeros Armbanduhr zeigte 05:38 Uhr an, als er den Fehler machte, darauf zu sehen. Wie er es hasste, während der ohnehin nie enden wollenden Nachtschicht im Konbini auch noch Überstunden machen zu müssen, nur weil seine Kollegen allesamt die Unzuverlässigkeit in Person waren. Seine schlurfenden Schritte hatten ihn ins Bad geführt, wo er sich kurz Wasser ins Gesicht schöpfte, die Zähne putzte und seine Kleidung unachtsam auf den Boden warf. Für Ordnung konnte er später auch noch sorgen. Wieder zurück im Hauptraum steuerte er auf die Steckdose neben seinem Kühlschrank zu und nahm das Handy vom Strom. Das kleine Display leuchtete auf, als er das Gerät entsperrte und sogleich piepte es leise, zeigte an, dass eine Nachricht auf ihn wartete. Zero lächelte, als er die Nummer ihres Leaders erkannte und überflog den überraschend kohärenten Text.   03:41 » Hizumi und Tsukasa haben mich heil nach Hause gebracht. Ich glaube, sie fühlen sich schon wie meine Bodyguards. Schade, dass du nicht mitkommen konntest. Die Bar, die Tsukasa ausgesucht hat, war wirklich speziell. Sie hätte dir gefallen. Steht dein Angebot noch, mich morgen abzuholen? Gute Nacht, Zero, und … ich vermisse dich. «   Wärme hatte sich in seinem Magen ausgebreitet und Vertrieb für einen Moment den trägen Schleier, der seine Gedanken einhüllte. Er hätte es wohl nie laut ausgesprochen, aber er fand Karyus Geste unheimlich lieb. Nicht nur, dass sein Freund weitsichtig genug war, ihm Bescheid zu geben, dass er heil von seiner Kneipentour mit den anderen wieder zu Hause angekommen war, auch der letzte Satz vermochte es, sein Herz höherschlagen zu lassen.   05:49 » Ich bin froh, dass deine Hobby-Bodyguards einen guten Job gemacht haben. Natürlich steht mein Angebot noch. Ich bin um drei bei dir. Schlaf gut, Karyu. «   Zero schickte die Nachricht ab und noch während er überlegte, ob er nicht lieber noch einen Satz der Zuneigung ergänzen sollte, verfinsterte sich seine Miene. Er atmete tief ein, rümpfte die Nase, während sich seine Augen zu schmalen Schlitzen verengten.   „Hat dir noch niemand gesagt, dass es unhöflich ist, sich ohne Einladung in der Wohnung eines anderen breitzumachen?“ Zero legte das Handy beiseite und drehte sich herum, den Blick starr auf eine Zimmerecke gerichtet, deren Schatten tiefer wirkten als der Rest.   „Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das übernatürliche Wesen ist.“ Die Schatten waberten, als wären sie lebendig, bis sich eine große, geflügelte Gestalt aus ihnen schälte. Die Katzenaugen des Engels reflektierten das wenige Licht im Raum und sahen dadurch beinahe so aus, als würde blaues Feuer hinter ihnen lodern. „Deine Beobachtungsgabe ist herausragend gut. Was hat mich verraten?“   „Nächstes Mal solltest du weniger trinken, deine Bierfahne ist unverkennbar. Also spar dir dein Lob und sag mir lieber, womit ich deinen unverhofften Besuch verdient habe. Aber mach schnell, ich bin nicht in der Stimmung für Small Talk.“   „Spielverderber.“ Der Engel breitete seine Schwingen aus, deren Enden die Wände seiner kleinen Wohnung berührten. Nicht zum ersten Mal war Zero froh darüber, kaum etwas herumstehen zu haben, denn Hizumi hätte jede Dekoration zweifellos in ihre Einzelteile zerlegt. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass Tsukasa und ich unseren Leader ohne Zwischenfälle nach Hause gebracht haben. Aber das scheint er bereits selbst erledigt zu haben.“   „Und weiter?“, erkundigte sich Zero, dem jetzt erst bewusst wurde, dass er seinem ungebetenen Besucher in nichts weiter als seiner Boxershorts gegenüberstand. Vielmehr genervt denn peinlich berührt ging er die wenigen Schritte zu seiner Schlafstätte hinüber, bückte sich nach der dünnen Decke und schlang sie sich um die Schultern. Mit einem leisen Seufzen auf den Lippen setzte er sich und machte eine einladende Handbewegung in Richtung seines Kühlschranks. „Ich gehe davon aus, dass das nicht der einzige Grund ist, warum du hier bist. Wenn du also was trinken willst, schau selbst nach, was ich dahabe. Ich bin zu müde, um Gastgeber zu spielen.“   „Mh.“ Hizumi brummte – ein Laut, der sowohl Zustimmung als auch Unwillen hätte ausdrücken können – bevor er mit einem leisen Rascheln seiner Schwingen zu seinem menschlichen Erscheinungsbild zurückkehrte. Zero stopfte ein Kissen zwischen Rücken und Wand, lehnte sich dagegen und beobachtete seinen Kollegen aus halb geschlossenen Augen. Mit mäßigem Interesse hockte Hizumi vor seinem Kühlschrank und nahm dessen mageren Inhalt in Augenschein. „Kann ich das letzte Bier haben?“   Zero brummte zustimmend und musste sich zusammenreißen, nicht hier und jetzt einzuschlafen. Nicht, dass er seinem übernatürlichen Freund etwas unterstellen wollte, aber Hizumi hatte sicherlich die frühen Morgenstunden nicht nur deswegen in seiner Wohnung verbracht, um sich nun für seinen erfolgreichen Bodyguard-Job loben zu lassen. „Verrätst du mir jetzt, warum du wirklich hier bist?“ Das Zischen, mit dem die Kohlensäure aus der frisch geöffneten Dose entwich, erinnerte Zero daran, wie durstig er selbst war. Träge tastete er nach der Flasche neben seinem Futon, trank einen Schluck des schalen Wassers, während er versuchte, aus Hizumis unbewegter Miene schlau zu werden. „Also?“                  „Es braut sich was zusammen“, antwortete der Engel vage, setzte sich im Schneidersitz vor ihn und leerte die Dose in einem Zug bis zur Hälfte. Zeros Magen sackte ihm in die Beine und beinahe hätte er das Wasser wieder ausgespuckt, so schlecht war ihm plötzlich geworden.   „Was meinst du damit?“, krächzte er, „ich dachte, diese Späher sind mehr oder weniger harmlos?“   „Sind sie auch, aber es gibt einen Grund, weswegen sie Karyu ins Visier genommen haben. Dieser Grund ist es, der mir Sorgen bereitet. Ich hab mich umgehört, obwohl mir das, wie du weißt, von höchster Stelle untersagt ist. Doch, meine Insubordination mal beiseite, das, was ich herausgefunden habe, ist alles andere als beruhigend. Ich kann dir nicht alles sagen, aber …“   „Bitte?“ Zero fuhr hoch und war seinem Kollegen im nächsten Moment so nahegekommen, dass er Hizumis ruhige Atemzüge auf seinem Gesicht fühlen konnte. „Vor wenigen Stunden sagtest du noch, Karyu wäre nicht in Gefahr und nun so was? Willst du mich verarschen?“ Wut loderte durch seine Adern und auch wenn er wusste, dass nicht Hizumi sein Gegner war, konnte er sich kaum noch beherrschen. „Ich werde nicht zulassen, dass Karyu etwas passiert. Nicht noch einmal.“, zischte er, die Hände zu festen Fäusten geballt, um sich davon abzuhalten, sie um Hizumis dünnen Hals zu legen. „Also hör auf mit deinen kryptischen Andeutungen und halb garen Informationen und red endlich Klartext. Was hast du herausgefunden. Sag es mir, Hizumi!“   „Das kann ich nicht und du weißt das.“ Mit nervtötender Ruhe legte der Engel die Hand auf seine Schulter und drückte ihn sanft, aber unnachgiebig zurück in eine sitzende Position. „Es ist wahr, dass von den Spähern selbst keine Gefahr ausgeht, aber denk nach, Zero, irgendwer muss sie beauftragt haben.“   Hizumis Blick war derart durchdringend, dass sich Zero auch ohne den Druck seiner Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, wie versteinert fühlte. Eine stählerne Faust schien sich um sein Herz gelegt zu haben, drückte zu und raubte ihm beinahe die Fähigkeit, Atem zu holen. „Aber du sagtest …“, wisperte er durch taube Lippen hindurch und starrte ausdruckslos in das mitfühlende Gesicht seines Gegenübers. „Du hast gelogen.“   „Nein, das hab ich nicht.“ Hizumis Miene verfinsterte sich und die warme Schwere seiner Hand verschwand. Erst jetzt bemerkte Zero, wie sehr sie ihm ein Anker gewesen war, und beinahe hätte er gewimmert, den anderen gebeten, ihm erneut Halt zu geben. Er fühlte sich, als würde ihm sein Leben, das Leben Karyus durch die Finger rieseln wie feiner Sand, den nichts aufzuhalten vermochte. „Vorhin im Probenraum wart ihr beide vollkommen aufgelöst. Wie hätte ich dir unter diesen Umständen mehr sagen können, ohne dass Karyu noch größere Angst bekommt? Ich hab dich nicht angelogen. Solange wir ein Auge auf Karyu haben, können die Späher nichts weiter tun, als ihn zu beobachten und Bericht zu erstatten. Er ist in Sicherheit, aber wir müssen wachsam sein, verstehst du?“   Zero nickte, bevor er das Gesicht hinter beiden Händen verbarg. „Was kann ich tun? Wer ist hinter ihm her und warum?“ Er schaute auf, dem Engel direkt in die Augen. „Warum das alles? Ich konnte bisher nie verhindern, dass er stirbt, aber warum nun diese Bedrohung? Wieso jetzt?“   „Überleg, Zero, du kennst die Antwort.“ Wenn möglich wurde der Blick seines Freundes noch bohrender, doch so sehr Zero sich auch bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schüttelte den Kopf, was ein resigniertes Seufzen seines Gegenübers zur Folge hatte. „Vor bald eintausend Jahren warst du ein Dieb und deine Liebe der größte Schatz, den du je gestohlen hast“, begann Hizumi und erzählte ihm damit nichts Neues. Dennoch wurden seine Hände feucht und sein Atem beschleunigte sich, als kannte sein Körper bereits die Wahrheit, vor der sein Geist sich noch immer verschloss. „Als sie getötet wurde, hast du deine Seele an die ihre gebunden, eure Schicksale miteinander verknüpft. Etwas, das einem Menschen nicht möglich sein sollte und dennoch ist es geschehen.“ Hizumi zuckte zweimal hintereinander kurz zusammen und verzog das Gesicht, als würden ihn Schmerzen plagen. Aber seine Augen blieben starr auf die Zeros gerichtet, erwiderten seinen Blick, als wolle er weitaus mehr sagen, als ihm mit Worten möglich war. „Die Mächte haben es zugelassen, fanden Spaß daran, die Irrungen und Wirrungen eurer vielen Leben zu verfolgen … aber ihre Nachlässigkeit hatte … hatte … Konsequenzen … fuck.“ Hizumi krümmte sich, als ihn ein trockener Husten schüttelte, der sich in Zeros Ohren unglaublich qualvoll anhörte.   „Hizu!“ Erschrocken hatte er sich auf die Knie hochgerappelt und hielt seinen Freund an beiden Schultern aufrecht. „Verflucht, was kann ich tun?“ Hizumis Finger der rechten Hand krallten sich plötzlich schmerzhaft fest in seinen Oberarm und erneut loderte in seinen Augen das blaue Feuer, als er Zeros Blick erwiderte.   „Hör zu … Karyu und dich verbindet ein Licht, so hell, dass es selbst die Zeit überstrahlt. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten, das ist das Gesetz des Seins, verstehst du? Dich leitet die Liebe zu Karyu und all seinen Inkarnationen, führt dich durch jedes eurer Leben, aber ihn treibt nichts als Hass. Hass auf dich und auf alles, was du verkörperst. Er will euch vernichten … und spielt damit der Gegenseite direkt in die Hände.“ Hizumis Körper wurde von gewaltsamen Krämpfen geschüttelt, seine Augen rollten in den Höhlen nach hinten, bis nur noch das Weiß zu sehen war. „Du hast … noch nicht begriffen … wie wichtig …“ Der Engel wurde von erneutem Husten geschüttelt, Blut rann ihm übers Kinn, bevor er nach vorn sackte. „Wie wichtig … ihr seid.“   „Hizumi!“ Schlagartig hörte das Zucken auf, genau wie das Zittern, als sein Freund das Bewusstsein verlor. Zero hatte die Arme um Hizumis Oberkörper geschlungen, in seiner ungünstigen Sitzposition jedoch Mühe, ihn zu halten. Aufkeimende Panik und die Angst um seinen Freund ließen kaum einen klaren Gedanken zu, dennoch schaffte er es, den anderen vorsichtig auf den Futon zu betten. „Himmel, nein“, wisperte er und tastete mit zitternden Fingern nach Hizumis Puls. Für einen schrecklichen Moment glaubte er, dass da nichts war, bevor ihm beinahe die Tränen kamen, als er doch ein unruhiges Flattern unter seinen Fingerspitzen spüren konnte. Er hatte keine Ahnung, ob der Engel überhaupt sterben konnte, aber verdammt, für ihn hatte das gerade sehr danach ausgesehen. Er sank in sich zusammen, lehnte für einen schwachen Moment die Stirn gegen die Brust des anderen, die sich ganz leicht hob und wieder senkte. „Ich hasse das alles so sehr. Diese selbstgerechten Schweine. Wieso haben sie dich überhaupt zu mir geschickt, wenn sie dich jedes Mal dafür bestrafen, wenn du mir hilfst?“ Er hob den Kopf, rieb sich übers Gesicht und erhob sich, um eine kalte Kompresse für seinen Freund zu holen.   Als er in den Hauptraum zurückkehrte, lag Hizumi noch immer unverändert da. Resigniert versuchte er, es ihm so bequem wie möglich zu machen, und schob ihm das Kissen unter den Kopf. Vorsichtig wischte er ihm das bereits trocknende Blut vom Kinn und legte die Kompresse auf seine Stirn. Auch Zero zitterte, was jedoch mehr dem Schock als der Raumtemperatur zuzuschreiben war. Leise ächzend setzte er sich neben seinen Freund, schlang erneut die Decke um sich, die ihm irgendwann von den Schultern gerutscht sein musste, und betrachtete das nun friedliche Gesicht des Engels. Seine Gedanken rasten, drehten sich immer und immer wieder um das, was Hizumi ihm offenbart hatte, bis er es nicht mehr aushielt und sich erneut erhob. Es ratschte leise, als er das Feuerzeug betätigte und die kleine Flamme an seine Zigarette hielt. Durch das geöffnete Fenster strömte noch kühle Morgenluft ins Innere und brachte das helle Zwitschern erwachender Vögel mit sich, das in seinen Ohren viel zu fröhlich klang. Der Rauch brannte in seinen Lungen, aber er begrüßte das unangenehme Kratzen im Hals. Alles war besser als die unendliche Qual, die die Erinnerungen mit sich brachten, welche Hizumis Worte an die Oberfläche seines Bewusstseins getrieben hatten.   Sein Körper stand in Flammen, gezeichnet von den Schlägen und dem Hunger, dem er seit einer Ewigkeit ausgesetzt war. Fieber pflügte durch seine Adern, erhitzte seine Zellen, bis er das Gefühl hatte, sie würden jeden Moment zerbersten. Sein Atem ging stoßweise, eine quälende Notwendigkeit, die er so gerne eingestellt hätte. Aber der Funke seines Lebens wollte nicht verlöschen, obwohl er schon so oft kurz davor gestanden hatte. Jedes Mal, wenn er ihn flackern fühlte, die Dunkelheit ihre zärtlichen Finger nach ihm ausstreckte, flehte er ihn an, endlich aufzugeben. Doch jedes Mal erstrahlte er aufs Neue und der Kreislauf seines Leidens begann von vorn. Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, erinnerte sich kaum noch an das Licht der Sonne oder die Wärme, die sie auf seiner Haut hinterlassen hatte. In diesem Verlies war es stets dunkel, kalt und feucht. Trotz des tobenden Fiebers überzog eine permanente Gänsehaut seinen Körper, schien zu seiner Normalität geworden zu sein. Seine Finger waren blau und steif, zu nichts zu gebrauchen, ebenso wie sein Geist. In jeder Sekunde, in der es ihm möglich war, zu denken, versuchte er, sich an sich selbst zu erinnern, stellte sich Fragen, auf die er jedoch nie eine Antwort fand. Wer war er? Warum war er hier? Wer hasste ihn so sehr, dass er ihn hier gefangen hielt? Wer waren die Männer, die ihn schlugen? Wem gehörte das höhnische Lachen, das von den Wänden widerhallte, wenn er seine Schmerzen nicht mehr stumm ertragen konnte? Er wusste es nicht. Nur ein einziger Gedanke war so klar in seinem Geist wie eine scharfkantige Scherbe, die tiefe Wunden in seine Seele schnitt. Er hatte sie verloren. Für immer verloren. Sie und ihr gemeinsames, noch ungeborenes Kind. Er hatte mitansehen müssen, wie sie getötet wurden, und war machtlos gewesen, ihnen zu helfen. Das musste der Grund für sein Leid sein, der Grund für seine anhaltende Existenz, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als diese Welt zu verlassen, um wieder bei ihnen zu sein. Aber er verdiente es, zu leiden … er hatte sie nicht retten können.   „Willst du sterben?“ Eine gehässige Stimme riss ihn unsanft in die Realität zurück, während eine Klinge gleichzeitig schmerzhaft in sein Fleisch schnitt. „Natürlich willst du sterben.“ Dieses Lachen, das er so oft schon gehört hatte. „Aber das werde ich nicht zulassen. Du hast mir mein Schönstes genommen und dafür wirst du so lange büßen, wie ich Gefallen daran finde.“   Wieder ein Schnitt, tiefer diesmal, doch der Schmerz war nichts gegen die Verzweiflung, die die Worte des Fremden in ihm auslösten. Er wollte flehen, um Gnade bitten, doch seine Stimme war ebenso vertrocknet wie seine Tränen. Mit unendlicher Anstrengung gelang es ihm, die verkrusteten Augen zu öffnen, in das hassverzerrte Gesicht seines Peinigers zu sehen. Und plötzlich erinnerte er sich, erinnerte sich an alles. Er erkannte ihn, den Fürsten und Mörder seiner Liebe. Hass wusch für einen glorreichen Augenblick über ihn, verlieh ihm Stärke und ließ alle Schmerzen hinter einem Schleier aus Rot verschwinden. Er wusste nicht, woher er plötzlich die Kraft nahm, sich aufzurichten, oder woher die Wucht seines Armes kam, als er dem Edelmann die Faust zielsicher ins Gesicht rammte. Er spürte ein zufriedenstellendes Knacken, als das Nasenbein seines Peinigers brach und der Schwall Blut, der ihm ins Gesicht spritzte, war beinahe so warm, wie ein Kuss seiner Liebe es früher gewesen war. Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, das selbst dann nicht verblasste, als Hände nach ihm griffen, ihn auf den kalten, rauen Steinboden niederdrückten und Schläge seinen ausgelaugten Körper erneut zu quälen begannen.   Als seine Foltermeister diesmal von ihm abließen, war der Funke seines Lebens nur noch ein schwaches, flackerndes Ding. Er lag auf dem Rücken, die Augen nur einen winzigen Spalt geöffnet. Sein Atem rasselte in seiner Brust, seine Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht und würden nie wieder zu gebrauchen sein. Schmerzen spürte er schon lange nicht mehr nur eine unendliche Leere. Vielleicht würde es diesmal endlich soweit sein. Vielleicht würde er seinen Frieden finden, mit seiner Liebe im Tode vereint.   „Erinnere dich an mich.“ Er zuckte zusammen, als er die Worte hörte, die leise wie ein Windhauch durch das Gemäuer seines Gefängnisses wehten. „Erinnere dich an mich, über die Jahrhunderte hinweg.“   „Liebste?“, formten seine Lippen, ohne jedoch ein Geräusch zu machen. Er drehte den Kopf und traute seinen Augen kaum. Da stand sie, seine Königin, so wunderschön wie in der Nacht, als er ihr zum ersten Mal gegenübergetreten war. Sie lächelte ihn an, eine Hand auf ihrem vorgewölbten Bauch ruhend. „Ich werde dich nie vergessen“, versprach er, seine Stimme kaum lauter als ein Lufthauch. Aber sie hatte ihn verstanden, kam auf ihn zu, kniete sich vor ihn und legte eine Hand auf sein geschundenes Gesicht.   „Dann geh, mein Liebster, lass dieses Leben los, das nur noch Leid für dich bereithält. Ich warte auf dich. Du wirst mich finden.“ Sie küsste seine Stirn und zum ersten Mal, seit einer Ewigkeit durchströmte ihn wahre Wärme.   „Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht retten konnte. Ich werde dich nie wieder verlieren, dich immer beschützen, das schwöre ich dir.“   „Ja, das wirst du“, flüsterte sie und presste ihre warmen, weichen Lippen auf seinen zerschlagenen Mund. „Ich warte auf dich … immer“   Goldenes Licht hüllte sie ein, so rein und strahlend wie die Unschuld selbst. Ein letztes Ausatmen kam ihm über die Lippen. Er fragte sich nicht, ob ihre Erscheinung nur eine Illusion seines sterbenden Geists war, viel zu sehnlich hatte er sich gewünscht, sie ein letztes Mal noch erblicken zu dürfen. Seine Glieder wurden schwer, so schwer, und unter dem Blick ihrer gütigen Augen hieß er den Tod willkommen.   Ein leises Stöhnen und das Rascheln von Stoff rissen ihn aus seinen Erinnerungen. Hizumi hatte sich aufgerichtet, die Augen noch immer geschlossen und hielt seinen wohl schmerzenden Kopf in beiden Händen.   „Mach langsam“, riet Zero ihm, nahm einen letzten Zug seiner unbeachtet verdampften Zigarette und drückte den Rest im Spülbecken aus. „Kann ich dir was bringen? Wasser? Eine Schmerztablette?“   „Wasser, bitte“, krächzte sein Freund, die Stimme so rau und dünn, dass Zero ernsthaft befürchtete, sie würden ihr Konzert heute Abend absagen müssen. Ruhiger als er sich fühlte, holte er ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es mit Wasser und trug es zu seinem Freund hinüber.   „Hier“, murmelte er, wartete, bis ihm Hizumis Griff um das Glas sicher erschien und hockte sich vor ihm auf die Knie. „Geht es wieder?“   „Es wird … du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.“   „Mh“, brummte er nicht wirklich überzeugt, auch wenn sich Hizumi bereits wieder lebendiger anhörte als eben noch. Zero machte sich ernsthafte Sorgen um seinen Freund und dennoch konnte er die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, keinen Moment länger für sich behalten. ES ist der Fürst, der hinter Karyu her ist, nicht wahr?“ Hizumi hob den Blick und obwohl er keine Miene verzog, erkannte Zero die Zustimmung in den nun vollkommen menschlich wirkenden Augen. „Wie ist das möglich?“, fragte er, vielmehr sich selbst als den Engel, und rieb sich über die Stirn, hinter der sich Kopfschmerzen anbahnten. „Du sagtest, einem Menschen sollte es nicht möglich sein, seine Seele an die eines anderen zu binden. Wie also hat er es geschafft, die Jahrhunderte zu überdauern?“ Noch immer sagte Hizumi nichts, aber eine weitere Erinnerung kratzte an den Innenwänden Zeros Schädels.   „Es gibt zwei Seiten, hell und dunkel, schwarz und weiß, wie die Spielfelder eines Schachbretts.“   Er wusste nicht mehr, wann oder zu welcher Gelegenheit Hizumi versucht hatte, ihm den Aufbau des Universums mit diesem Vergleich zu erklären, aber er erinnerte sich daran, wie wenig Sinn diese Worte für ihn ergeben hatten. Jetzt jedoch waren sie wie eine Offenbarung, wie ein Schleier, der weggezogen wurde und endlich das erkennbar machte, was schon immer da gewesen war.   „Gleichgewicht“, wisperte er, beinahe ehrfürchtig, und blickte seinem Freund direkt in die Augen. „Ich habe durch mein Handeln irgendetwas aus dem Gleichgewicht gebracht und das ist nun der Versuch der Mächte, wieder alles ins Lot zu bringen.“   „Nah dran“, gab Hizumi zu und lächelte. „Gut gemacht.“ Sein Freund erhob sich, war noch sichtlich wacklig auf den Beinen, aber wirkte deutlich fitter als noch vor wenigen Minuten. „Für mich wird es Zeit, zu gehen, wenn wir heute Abend eine anständige Show auf die Beine stellen wollen.“   „Aber …“ Zero stand ebenfalls auf und hielt seinen Freund an der Schulter zurück.   Hizumi schüttelte den Kopf und befreite sich mit einem kleinen Schritt zur Seite aus seinem Griff. „Ich hab dir alles gesagt, was ich konnte, du hast es selbst miterlebt.“   Zero biss sich auf die Unterlippe. Sein schlechtes Gewissen verlangte von ihm, seinen Freund endlich in Ruhe zu lassen, nicht noch einmal ungewollt dafür zu sorgen, dass Hizumi Schmerzen erleiden musste. Aber die Angst um Karyu trieb ihn an, ließ ihn seine nächsten Worte aussprechen, bevor er sich bewusst dafür entschieden hatte.   „Warte bitte, nur noch eine Sache.“ Zero presste beide Handballen gegen seine Schläfen, übte Druck aus, im Versuch, seine panisch wirbelnden Gedanken zu sortieren. „Vor einigen Tagen sagtest du, wir wären nicht unbedeutend, dass Karyus Seele für beide …“ Hier stockte er, denn Hizumi hatte damals nicht weitergesprochen, nicht weitersprechen können, weil seine Meister ihn auf gleiche Weise wie gerade eben bestraft hatten. „Ich vermute, du wolltest mir sagen, dass beide Parteien gleichermaßen Interesse an seiner Seele haben?“ Zero wurde übel bei dem Gedanken, was seine Worte implizierten. Als wäre so etwas Kostbares wie Karyus Seele etwas, worum man feilschen konnte. Hizumi hatte noch immer nichts gesagt, doch in seinen Augen glaubte er, so etwas wie Hoffnung zu erkennen. Hoffnung, dass Zero endlich auch ohne Worte begreifen würde, was er ihm mitteilen wollte.  „Sie wollen seine Seele wiederhaben, nicht wahr? Und ich habe das mit meinem Versprechen vor eintausend Jahren verhindert.“ Hizumis Hand schoss vor, Finger schlossen sich beinahe schmerzhaft um sein Handgelenk, eine stumme Zusicherung, dass er auf dem richtigen Weg war. „Aber warum?“, flüsterte er, „was unterscheidet Karyus Seele von den Milliarden anderer auf dieser Welt?“   „Sie gehört nicht hierher, das unterscheidet sie.“ Durch Hizumis Körper rann ein Beben, aber noch schien er seine Grenzen nicht überschritten zu haben. „Es ist ein Spiel, Zero. Alles, was die Mächte tun können, um der Routine ihrer nie endenden Existenz zu entfliehen, ist zu spielen.“ Hizumis Kieferknochen zeichneten sich harsch unter seiner Haut ab, so stark presste er die Zähne aufeinander. „Jedes Spiel fordert einen Einsatz und manche Einsätze sind mehr wert als andere.“   „Willst du damit sagen …“, hauchte er und fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. „Seelen. Der Einsatz für ihre Spiele sind Seelen?“ Hizumis Lider schlossen sich für einen langen Moment. Er nickte nicht, gab auch sonst kein Zeichen der Zustimmung oder Verneinung, aber als er die Augen wieder öffnete, wusste Zero, das er recht hatte.   Der Moment seines Schwurs kehrte in seine Gedanken zurück, der Augenblick seines Todes, in dem ihn der goldene Schein seiner Liebe umfangen hatte. Er erinnerte sich an das Gefühl der Reinheit und Unschuld, das ihn erfüllt hatte, den Trost, den es ihm gespendet hatte.   „Manche Einsätze sind mehr wert als andere“, klangen Hizumis Worte in ihm nach, wie Puzzleteile, die plötzlich zusammenpassten.   „Je reiner eine Seele ist, desto mehr Wert hat sie für die Mächte, nicht wahr?“ Zero erwartete keine Antwort, hatte sich längst von Hizumi losgemacht, um wie ein eingesperrter Tiger im Raum auf und ab zu gehen. „Aber warum sagtest du, dass seine Seele nicht hierher gehört?“   „Was tun die Menschen mit ihren wertvollsten Besitztümern?“, beantwortete Hizumi seine Frage mit einer Gegenfrage, die wie ein Schwall kaltes Wasser über Zero hereinbrach.   „Sie sperren sie weg“, flüsterte er durch taube Lippen hindurch. „Karyus Seele war eingesperrt und ist ihnen entkommen.“ Es waren nur Vermutungen, die er anstellte, aber etwas sagte ihm, dass er mit ihnen nicht falschlag. „Mein Schwur hat verhindert, dass die Mächte ihren Einsatz wiederbekommen, nachdem sie … sie …“ Das totenblasse Gesicht seiner Liebe schob sich in seinen Geist, ließ seine Augen feucht werden. „Gestorben war.“   Hizumi lächelte dünn, mitfühlend. Zero war zu betäubt, um sich auch nur im Ansatz darüber zu freuen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, sich einen ersten, kleinen Teil der Wahrheit zu erarbeiten. Ihm war vorher schon klargewesen, dass die Mächte grausame Wesen waren, aber das hier? ‚Karyu, oh Gott, wie konnten sie dir das nur antun?‘   „Ich werde jetzt gehen, das ist das Beste für uns beide“, schnitt Hizumis Stimme durch seine wirbelnden Gedanken und holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.   „Ich …“ für einen Moment wollte er protestieren, verlangen, dass ihn der Engel endlich in alles einweihte – jetzt wo er so kurz davor stand, zu verstehen. Dann schloss er jedoch den Mund und nickte. „Du hast recht.“   Er begleitete seinen Freund zur Wohnungstür, den Kopf voll mit dröhnenden Gedanken, die nur mehr Fragen aufzuwirbeln schienen.   „Wir alle werden ein Auge auf Karyu haben. Du, ich, selbst Tsukasa. Ihm passiert nichts.“ Hizumis Hand auf seiner Schulter war warm, als sie aufmunternd zudrückte, bevor er die Tür öffnete. „Versuch, noch etwas zu schlafen, sonst kriegst du deine Augenringe nachher gar nicht abgedeckt.“   „Wofür gibt es schwarzen Lidschatten?“, merkte er trocken an und das Lächeln, welches Hizumi ihm daraufhin schenkte, erreichte sogar seine Augen.   „Auch wieder wahr.“   Hizumi verließ seine Wohnung, doch noch bevor er den Treppenabsatz erreichte, rief ihm Zero gedämpft hinterher: „Pass auf dich auf, hörst du?“   „Dito.“ Der Engel hob die Hand zum Gruße, bevor er sich mit einem Bocksprung über das Geländer katapultierte und lautlos im schwarzen Auge des Treppenhauses verschwand.   „Angeber“, brummte Zero, ein Schmunzeln im Mundwinkel und schloss die Tür hinter sich.   Für zwei, drei lange Atemzüge lehnte er sich gegen die geschlossene Tür, versuchte, seine wirbelnden Gedanken in so etwas wie Ordnung zu bringen – ohne nennenswerten Erfolg. Resigniert ließ er die Schultern hängen und stieß sich ab. Er sollte besser Hizumis Beispiel folgen und sich aufs Ohr legen. Seine Schritte führten ihn zurück zum Kühlschrank, genauer gesagt zu seinem Handy, welches vergessen auf der Arbeitsplatte daneben lag. Der Plan war gewesen, sich einen Wecker zu stellen und sich dann hinzulegen, obwohl er bezweifelte, dass er nach allem, was er soeben in Erfahrung gebracht hatte, auch nur eine ruhige Minute finden würde. Allerdings machte ihm die Nachricht, die mit einer kleinen Eins am oberen, rechten Rand des Displays um seine Aufmerksamkeit buhlte, seinem Vorhaben fürs Erste einen Strich durch die Rechnung. Stirnrunzelnd wählte er den Menüpunkt an und seine Verwunderung steigerte sich noch mehr, als es erneut eine Mitteilung seines hochgewachsenen Freundes war, die auf ihn wartete. Bevor er zu lesen begann, verglich er den Zeitstempel der Nachricht mit seiner Armbanduhr und musste feststellen, dass Karyus Antwort bereits fünf Minuten, nachdem er ihm geschrieben hatte, eingetroffen war.   „Ach Karyu, du solltest doch schon längst schlafen“, murmelte er in die Stille seiner Wohnung und begann zu lesen.   05:54 » Bist du eben erst nach Hause gekommen? Ich dachte, deine Schicht ist um vier zu Ende. Überstunden? «   Schmunzelnd schüttelte Zero den Kopf, zog eine Zigarette aus der beinahe leeren Schachtel und steckte sie sich an, bevor er einen kurzen Text tippte.   06:20 » Ja, musste Überstunden schieben … nichts Neues. Aber was machst du so früh noch wach, Leader, solltest du nicht ein Vorbild sein? «    Er drückte auf senden, lehnte sich gegen den Kühlschrank und schloss die Augen. Auf der Leinwand seiner Lider spielten sich die letzten Minuten wie in einem Zeitraffer ab, während seine wirbelnden Gedanken den Soundtrack seines persönlichen Kinofilms lieferten.   „Es braut sich was zusammen …“, hörte er Hizumi erneut sagen. „Vor bald tausend Jahren warst du ein Dieb und deine Liebe der wertvollste Schatz, den du je gestohlen hast.“ Wieder zog er an der Zigarette, doch selbst der beißende Geschmack des verbrannten Tabaks konnte ihn nicht aus seinem Gedankenkarussell reißen. „Ihn treibt nur der Hass.“ „Du hast noch nicht verstanden, wie wichtig ihr seid.“ „Jedes Spiel fordert einen Einsatz und manche Einsätze sind wertvoller als andere.“ Eine dicke Gänsehaut rann ihm über den Rücken, die nicht von dem kühlen Windstoß herrührte, der den Weg durch das geöffnete Fenster gefunden hatte und über seine nackte Haut streichelte. Beinahe glaubte Zero, wieder die Schmerzen seines gefolterten und dem Hungertod nahen Körpers fühlen zu können, obwohl diese Agonie bereits beinahe ein Millennium zurücklag. Er lächelte bitter, als er die Augen öffnete und die Hand, deren Finger nicht um den Filter seiner Zigarette gelegt waren, vor sein Gesicht hielt. Nicht einmal sein Körper war derselbe – als Dieb hatte er keine Schwielen an den Fingern von stundenlangem Bassspielen gehabt. Sein Kopf schmerzte, wie immer, wenn er seine unkonventionelle Existenz näher zu beleuchten, auch nur im Ansatz zu verstehen versuchte.   Karyu Seine reine Seele. Die Mächte. Der Fürst.   Zero schreckte auf, als das Handy auf der Ablage neben ihm kurz, aber erstaunlich laut vibrierte. Eigenartig, er erinnerte sich nicht einmal daran, es aus der Hand gelegt zu haben.   „Es wird wirklich Zeit, dass ich ins Bett komme“, nuschelte er um den Filter herum und rieb sich über den verspannten Nacken. Noch einmal strömte der bittere Rauch in seine Lunge, bevor auch diese Zigarette den Tod im Spülbecken fand. Gähnend streckte er sich, bevor er erleichtert über die Störung, die ihn am weiteren Grübeln hinderte, die eingegangene Nachricht aufrief.   06:27 » Ich würde gern mit gutem Beispiel vorangehen, aber ich wälze mich schon seit Stunden nur hin und her. Mir geht zu viel im Kopf herum. «   „Na, da sind wir schon zwei“, murmelte Zero, ein selbstironisches Lächeln auf den Lippen. Während er gelesen hatte, hatte das Gerät in seiner Hand erneut vibriert und unter Karyus Nachricht war eine weitere erschienen.   06:28 » Ich wünschte, du könntest jetzt hier bei mir sein, vielleicht könnte ich dann endlich schlafen. «   Wärme flutete sein Herz und so schön diese Empfindung auch war, sie war so stark, dass sie ihm den Atem raubte. Er keuchte, die Augen geschlossen und am ganzen Leib zitternd. Wie oft waren ihm in einsamen Nächten solche oder so ähnliche Szenarien durch den Kopf gegangen? Seine Finger bebten, als er nur wenige Tasten drücken musste, um seiner Liebe eine passende Antwort zukommen zu lassen.   06:31 » Gib mir zwanzig Minuten. «   Plötzlich hellwach ging er zu seiner Kommode, zog wahllos Kleidungsstücke aus ihr hervor und begann sich anzuziehen. Wenn er sich die Zeit nehmen würde, seine überhastete Reaktion näher zu betrachten, würde ihm klar werden, dass er gerade nur vor seinen Sorgen zu fliehen versuchte. Aber da Karyu der Inhalt seiner Sorgen war und er im Begriff war, zu ihm zu fahren, waren derartige Analysen seines Verhaltens unnötig. Zumindest redete er sich das ein und, hey, warum auch nicht?   Auf dem Weg die Treppen nach unten in die Tiefgarage hatte sein Handy erneut vibriert und er schmunzelte jetzt noch, als er bereits in seinem Wagen saß.   06.32 » Was? Wie meinst du das? «   Zero sparte es sich, Karyu erneut zu antworten. Der Große würde schon früh genug sehen, was er damit meinte. Der Motor seines Sportwagens gab ein zufriedenstellendes Röhren von sich, während er mit höherer Geschwindigkeit, als es angemessen war, die Rampe der Tiefgarage nach oben fuhr.   Der morgendliche Verkehr hielt sich noch in Grenzen und so war er früher vor Karyus Wohnblock angekommen, als er anfänglich vermutet hatte. Und als hätte das Universum bemerkt, dass es einiges gutzumachen hatte, fand er einen Parkplatz unweit des Eingangs. Manchmal musste eben selbst er Glück im Leben haben. Mit einem Elan, den er nicht hätte beschreiben können, flog er die Stockwerke bis zu Karyus Appartement regelrecht hinauf, bis er vor der Tür angekommen zweimal kurz anklopfte. Würde sein Atem nicht so gehetzt gehen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er schon mal fitter gewesen war – hätte er die Schritte, die sich der Tür näherten, vermutlich gehört. So jedoch war es sein Name, der an seine Ohren drang.   „Zero?“   „Ja, wie angekündigt.“ Unruhig wippte er von den Fersen auf die Zehenballen und wieder zurück und musste sich tatsächlich ein breites Grinsen verkneifen, während er hörte, wie Karyu die Sicherheitskette beiseiteschob. Im selben Maße, wie die Tür aufgezogen wurde, fing sein Herz schneller zu schlagen an, beinahe so, als hätte er den anderen eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. „Hey“, murmelte Zero lahm, als er seinem Freund endlich gegenüberstand, und fühlte sich nun endgültig wie ein pubertierender Teenager.   „Hey.“   Karyu trug nichts weiter als eine Boxershorts und ein übergroßes T-Shirt und das Vogelnest auf seinem Kopf zeugte davon, dass er sich tatsächlich stundenlang im Bett hin und her gewälzt haben musste. Eine Welle der Zuneigung schwappte über Zero hinweg und nahm die Befangenheit mit sich, die unsinnigerweise in ihm hochgestiegen war.   „Darf ich reinkommen?“   „J… ja, natürlich.“ Er lächelte, als Karyu beiseitetrat und ihn hereinwinkte. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, hörte er die Tür ins Schloss fallen und spürte lange Arme, die ihn von hinten an einen warmen Körper zogen. „Du bist wirklich gekommen““, flüsterte der Große und sein Atem kitzelte herrlich an Zeros Hals, bescherte ihm eine wohlige Gänsehaut.   „Kennst du mich denn nicht schon lange genug, um zu wissen, dass ich keine Scherze mache?“ Das Lächeln schien auf seinen Lippen festgewachsen zu sein, als er Karyus Rechte von seiner Hüfte zog und sie anhob, um einen sanften Kuss auf die Knöchel zu drücken. Im nächsten Moment drehte er sich herum und legte nun selbst die Arme um seinen Freund. Leise seufzend presste er sein Gesicht gegen Karyus Brust, atmete tief durch und fühlte, wie endlich ein Teil seiner Anspannung von ihm abfiel. Trotz allem, was heute passiert war, trotz seines Gesprächs mit Hizumi, den Erkenntnissen, die drohten, ihn in den Wahnsinn zu stürzen, würde er weiter über sie nachdenken, und seiner schmerzhaften Erinnerungen, die sich noch immer zu roh und frisch anfühlten, war er unendlich glücklich. Karyu war hier bei ihm und in Sicherheit.   „Eigentlich schon“, hörte er seinen Freund flüstern, bevor er einen Kuss auf seinem Scheitel fühlte. Zero hob den Kopf, reckte sich dem deutlich Größeren entgegen und seufzte zufrieden, als weiche Lippen sogleich die seinen fanden. Seine Arme wanderten höher, legten sich um Karyus Hals, während er sich rücklings den Flur hinunterdrängen ließ. Erst als er die Kante eines Bettes an den Waden spürte, löste er sich und grinste neckend zu seiner Liebe hinauf.   „Entweder bist du unglaublich müde oder dich treiben unlautere Gedanken an.“ Auf Karyus Lippen legte sich ein vielsagendes Grinsen, das seinen Magen wilde Purzelbäume schlagen ließ.   „Wieso muss es das eine oder das andere sein?“   „Mh, muss es nicht, wenn es nach mir geht.“   Lachend ließ Zero sich auf die Matratze fallen, rutschte nach hinten und machte Karyu mit lockendem Zeigefinger deutlich, dass er nicht länger auf ihn warten wollte. Sein Freund ließ sich nicht bitten, schob sich über ihn und erneut fanden warme Lippen die Zeros, ließen ihn leise seufzen. Oh ja, genau das brauchte er nun. Karyus Gewicht auf seinem Körper, seine vereinnahmende Präsenz, die ihn einhüllte und mit ihrem Licht die Schatten der Vergangenheit vertrieb.   ~*~ Some legends are told Some turn to dust or to gold But you will remember me Remember me, for centuries And just one mistake Is all it will take We'll go down in history Remember me for centuries ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)