Centuries von yamimaru ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel 8 -------------------- Der Duft kühler Morgenluft vermischt mit dem vertrauten Geruch einer brennenden Zigarette kitzelte seine Nase und holte ihn sanft, aber nachdrücklich aus der Schwärze eines traumlosen Schlafs. Einen langen Moment blieb er regungslos liegen, atmete ruhig ein und wieder aus, während er in der nahezu überwältigenden Freude schwelgte, für einige Stunden tatsächlich geschlafen zu haben. Richtiger, echter Schlaf – keine Albträume, keine grausamen Erinnerungen – und er wusste, wem er dieses Glück zu verdanken hatte. Nach und nach nahm er die Geräusche der erwachenden Großstadt wahr und als er blinzelnd die Augen öffnete, begrüßte ihn gräuliches Dämmerlicht, das durch das kleine Fenster in den Raum fiel. Eine schlanke Gestalt verdeckte das meiste des hellen Rechtecks und würde ihr Gesicht nicht hin und wieder durch das rote Aufglühen des Zigarettenendes erhellt, wäre sie nicht von den sie umgebenden Schatten zu unterscheiden. Zero lächelte, als selbst dieses Bild eine Welle der Vertrautheit und Geborgenheit mit sich brachte. Karyu wirkte nachdenklich, wie er dort auf seinem Kühlschrank saß, ein Bein angezogen, das andere entspannt herabhängend, und den Rauch aus dem geöffneten Fenster ziehen ließ. Leise erhob er sich, konnte den Blick für keinen Augenblick von seinem Freund nehmen, und ging auf ihn zu.   „Kannst du nicht mehr schlafen?“   „Nein, mir schwirrt der Kopf zu sehr, um Ruhe zu finden.“   „Das kann ich verstehen.“ Er trat noch näher an ihn heran, stellte sich zwischen seine Beine und streichelte über seinen bloßen Oberarm. Ein Lächeln schlich sich auf Zeros Lippen, als er die Gänsehaut spürte, die dieser Berührung folgte und die den anderen leicht erschauern ließ. „Du machst dich nur verrückt, wenn du versuchst, alles zu analysieren.“   „Wem sagst du das.“ Karyu seufzte und zog an seiner Zigarette. „Weißt du, was eigenartig ist?“ Er schüttelte den Kopf, verschränkte seine Finger mit denen Karyus freier Hand und drückte einen kurzen, aufmunternden Kuss auf den Handrücken. „Ich dachte immer, Konzepte wie Wiedergeburt oder die Erinnerung an frühere Leben wären nichts weiter als die überaktive Fantasie von esoterisch interessierten Menschen oder Leuten, die es mit ihrer Religion etwas zu genau nehmen. Ein Teil in mir will das noch immer glauben, will das, was du mir erzählt hast, als reine Fiktion abtun, aber gleichzeitig weiß ich, dass es wahr ist. Das Wissen ist so unumstößlich in mir wie die Tatsache, dass der Himmel blau und das Gras grün sind. Und trotz all dem erinnere ich mich an absolut nichts.“   Karyus Augen wirkten fiebrig und erst jetzt bemerkte Zero, wie erschöpft er aussah. Sein Herz schmerzte bei diesem Anblick und gleichzeitig schien es die Liebe, die es für diesen Menschen empfand, kaum noch in sich halten zu können.   „Dein Geist kann sich vielleicht nicht an unsere Verbindung erinnern, aber ich hab den starken Verdacht, dass deine Seele es kann. Möglicherweise ist ja sie es, die dir die Sicherheit gibt, mir glauben zu können.“ Es fühlte sich komisch an, so etwas zu sagen, und gleichzeitig spürte er, dass es die Wahrheit war. Es waren ihre Seelen, dieses wunderschöne und doch nicht greifbare Licht, die sich vor Jahrhunderten gefunden und aneinandergebunden hatten, und die nun langsam wieder begannen, sich miteinander vertraut zu machen. „Du hast mir so gefehlt“, wisperte er, ohne es bewusst beeinflussen zu können, und lächelte, als sich Karyu aus seinem lockeren Griff befreite, nur um ihm sanft über die Wange zu streicheln und ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn zu drücken.   „Du mir auch.“ Karyu erwiderte sein Lächeln schief, bevor er beinahe verschämt den Blick senkte. „Ich dachte in den letzten Jahren immer, dass dieses Verlangen, bei dir sein zu wollen, stärker und stärker geworden ist, weil du unerreichbar für mich warst. Wie eine Obsession, die mir manchmal echt Angst gemacht hat.“ Zero verzog das Gesicht, aber noch bevor er aussprechen konnte, wie leid es ihm tat, dass sein Freund diese Ungewissheit und Selbstzweifel so lange mit sich hatte herumtragen müssen, fuhr er fort: „Jetzt jedoch weiß ich, dass es wahre Sehnsucht war, die ich empfunden habe. Ich denke, meine … Seele wollte einfach ihr Gegenstück wiederhaben.“ Das Lächeln auf Karyus Lippen wirkte ebenso verlegen wie die leichte Röte auf seinen Wangen, als er die Hand sinken ließ und die Finger erneut mit den seinen verschränkte. „Das war ein wenig dick aufgetragen, was?“   „Geringfügig.“ Er grinste und küsste Karyus Nasenspitze. „Aber nach allem, was sich in den letzten Stunden für dich geändert hat, sei dir das verziehen.“   „Du bist so großmütig.“   „Ich weiß.“ Zero zwinkerte seinem Gegenüber neckend zu, bevor er wieder ernster geworden fortfuhr: „Außerdem … Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mir das, was du gerade gesagt hast, nicht unglaublich gutgetan hat.“   „Dann hab ich es gern gesagt.“ Noch immer lächelnd zog Karyu erneut an seiner Zigarette, bevor er sie ihm fragend hinhielt. „Willst du auch?“   Zero nickte, aber statt lediglich den gerollten Tabak entgegenzunehmen, schloss er schmunzelnd die Lippen um den Filter und zog daran, ohne Karyu aus den Augen zu lassen. Die Lippen seines Freundes teilten sich, während ihn die warmen, braunen Augen so durchdringend musterten, dass sein Magen aufgeregt zu flattern begann. Langsam entließ er den Rauch und bemerkte mit einer nicht zu verachtenden Vorfreude, wie ihm Karyu immer näher kam, bis er schlussendlich seine Lippen in einem fordernden Kuss vereinnahmte. Himmel, hatte er wirklich vergessen, wie schnell ihn seine Liebe um den Verstand bringen konnte, wenn sie es darauf anlegte? Offensichtlich, denn binnen Sekundenbruchteilen fühlten sich seine Knie an, als könnten sie sein Gewicht nicht mehr tragen, während sein Kopf in herrlicher Leere schwamm und sich sein Körper nach mehr verzehrte.   ‚Oh, Karyu‘, dachte er, bevor sich seine Lippen für die Zunge seines Liebsten teilten, der zielsicher sein Gegenstück zu umgarnen begann. Beide Finger in Karyus Schopf grabend lehnte er sich stärker gegen ihn und seufzte auf, als eine große Hand über seinen Rücken fuhr, bis sie ihr Plätzchen auf seinem Hintern gefunden hatte. Seine Lider waren ihm bereits bei der ersten Berührung ihrer Lippen zugefallen und wäre Karyu nicht plötzlich zusammengezuckt, hätte er sich womöglich für immer so von ihm küssen lassen.   „Au.“   „Was denn?“ Verwirrt schaute er erst seinem Gegenüber ins Gesicht, dann auf die Finger, die Karyu fast vorwurfsvoll anstarrte.   „Die Kippe ist zu weit runtergebrannt.“ Er folgte dem empört wirkenden Wink zum Spülbecken, wo der Rest der Zigarette kläglich vor sich hin dampfte.   „Komm her“, murmelte er und musste sich ein Schmunzeln verkneifen, während er gleichzeitig den Stummel löschte, im Abfalleimer entsorgte und Karyus angesengte Finger unter den Wasserstrahl dirigierte. „Wenn du Glück hast, gibts keine Blase.“   „Warum passiert so was immer mir?“   „Was meinst du?“   „Na, solche Peinlichkeiten.“   Zeros Mundwinkel zuckten verräterisch und dennoch versuchte er, keine Miene zu verziehen, während er Karyus Mund für einen kurzen Kuss noch einmal für sich eroberte. „Ich spar mir jetzt einfach einen Kommentar, geh duschen und du legst dich am besten noch mal hin, mh? Wir haben noch genug Zeit, bis wir im Studio sein müssen.“   „Ich würde viel lieber mit dir duschen.“   Karyus Blick brannte regelrecht auf ihm, aber er konnte … wollte für keine Sekunde wegsehen. Sein Freund stand noch immer vornübergebeugt, die Finger unter dem laufenden Wasserstrahl, und für einen Sekundenbruchteil verschwand der müde Zug um seine Augen. An seine Stelle trat der freche, etwas anzügliche Gesichtsausdruck, der so typisch für ihren Gitarristen war, und der ihm schon viel zu oft weiche Knie beschert hatte. Er schluckte, ließ sich den Aufruhr in seinem Inneren jedoch nicht anmerken und zauberte stattdessen ein feines Schmunzeln auf seine Lippen.   „Hättest du wohl gern.“ Neckend drückte er Karyus Kinn mit spitzem Zeigefinger nach oben, bis er erneut nach der so reizvollen Unterlippe haschen konnte. Für einen Moment ließ er ihn seine Zähne spüren, bevor er kosend über dieselbe Stelle leckte. „Leider ist meine Dusche so eng, dass wir uns entweder beim Versuch, beide in die Kabine zu passen, etwas zerren oder gleich alle Knochen brechen. Tut mir leid“, wisperte er nah an Karyus Mund, drückte ihm einen letzten Kuss auf und drehte sich um. „Leg dich noch mal hin, in Ordnung?“   „Mach ich, weil du es bist.“   „Brav.“   ~*~   Dieses feine, fast verblüfft anmutende Lächeln schien sich permanent auf seine Lippen gelegt zu haben, denn selbst, als er in seinem winzigen Bad angekommen in den Spiegel sah, war es noch immer dort.   „Nicht zu fassen“, wisperte er seiner Reflexion entgegen und versuchte, den müden, vielleicht auch gelangweilt wirkenden Gesichtsausdruck wiederzufinden, der in den letzten Jahren zu einer Art Markenzeichen für ihn geworden war. Unnötig zu erwähnen, dass seine Bemühungen fruchtlos blieben. Als das heiße Wasser über seinen Körper rann und er sich tatsächlich dabei ertappte, wie er ein uraltes Liebeslied zu summen begann, schob er seiner mentalen Unzurechnungsfähigkeit jedoch nachdrücklich einen Riegel vor. Natürlich wünschte er sich seit einer Ewigkeit nichts sehnlicher, als endlich glücklich zu sein, aber das ging nun eindeutig zu weit. Obwohl er zugeben musste, dass sich eine Dusche noch nie derart entspannend angefühlt hatte und er darüber beinahe die Zeit vergessen hätte.   Als er mit einem Handtuch um den Hüften in den Hauptraum seiner Behausung zurückkehrte, schien nicht nur die Morgensonne durch das Fenster, sondern auch Karyu war tief und fest eingeschlafen. Er lächelte und warf einen schnellen Blick auf die Uhr, um erleichtert festzustellen, dass ihnen noch zwei Stunden blieben, bis sie im Studio eintreffen mussten. Gut so, schließlich wollte er nicht dafür verantwortlich sein, dass ihr Leader zu spät zu ihren Terminen erschien, das wäre ein schlechter Start für ihre Beziehung. Abrupt hielt Zero in jeder Bewegung inne und der Lange Lederrock mit den zahlreichen Verzierungen aus Metall, den er sich gerade aus der Schublade seiner Kommode gezogen hatte, viel geräuschvoll klappernd auf den Boden. Was hatte er da gerade gedacht? Eine Beziehung? Das ging doch ein wenig schnell für seinen Geschmack. Besonders, weil er Karyus Einstellung zu so einer tief greifenden Entscheidung noch nicht einmal kannte, war es ein wenig sehr anmaßend von ihm, einfach davon auszugehen, dass sich sein Freund fest binden wollte. Sie lebten schließlich nicht mehr in der Vergangenheit, wo eine Verbindung zwischen Mann und Frau erst dann legitim war, wenn sie einen Trauschein in Händen hielten, und gleichgeschlechtliche Beziehungen im besten Fall einfach totgeschwiegen wurden. Japan war, was Letzteres anging, zwar noch nicht das, was er als ideal bezeichnen würde, aber nun ja, sie hatten zumindest Spielräume, die vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wären. Und er sprach hier aus Erfahrung. Zero seufzte unhörbar. Vermutlich überdachte er alles wieder einmal nur viel zu intensiv. Er rieb sich über die Stirn, hob den Rock vom Boden auf und begann sich anzuziehen. Himmel, so wirr wie er gerade im Kopf war, konnte er von Glück reden, dass sie heute lediglich für ihren Auftritt am Wochenende probten und nichts Wichtigeres anstand.   Langsam ging er auf seinen Futon zu, auf dem es sich Karyu bäuchlings gemütlich gemacht hatte. Die Decke war bis über seine Mitte herabgerutscht und gab einen verführerischen Blick auf seinen nackten Rücken preis. Nicht, dass Zero länger als nötig hingesehen hätte, aber als er sich hinkniete, um das im Schlaf so friedlich, beinahe zart wirkende Gesicht seines Freundes näher betrachten zu können, hatte sich eine gewisse Hitze in seinem Magen angesammelt. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde er heute den ganzen Tag über keinen vernünftigen Gedanken zustande bringen. Nicht, wenn Karyu in seiner Nähe war, zumindest. Trotz dieser erneuten Erkenntnis beugte er sich so leise wie möglich vor und begann, Küsse auf der nackten Haut zu verteilen. Genießend schloss er die Augen und erinnerte sich an die vielen Zärtlichkeiten zurück, die sie spät in der Nacht – oder war es schon früh am Morgen gewesen? – ausgetauscht hatten. Karyus Hände hatten sich so gut angefühlt, während sie über seinen Körper streichelten und ein Teil in ihm wünschte sich auch jetzt noch, dass sie weiter gegangen wären. Aber trotz seiner … ihrer Sehnsucht hatte die Vernunft gesiegt, wobei er sich nicht sicher war, ob er diesen Umstand nun nicht lieber verfluchen wollte. Plötzlich zuckte der schlafwarme Körper unter ihm zusammen und Karyu zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als hätte er sich erschreckt. Verständnislos blinzelte Zero auf seinen Freund herab, der sich ein Stück weit aufgerichtet hatte und nun aus kleinen Augen zu ihm nach hinten blinzelte.   „Was ist da so kalt und nass?“   „Bitte?“   „An meinem Rücken?“   „Oh.“ Zero begann zu lachen, als sein Blick auf das fiel, was Karyu so unsanft aus seinem Schlummer gerissen hatte. Einige seiner Zöpfe waren über seine Schultern gerutscht und lagen nun teilweise auf Karyus Rücken. Dieselben Zöpfe, deren Enden beim Duschen nass geworden waren und nun munter feuchte und kalte Spuren auf Karyus Haut hinterließen. „Tut mir leid, mir ist nicht aufgefallen, dass sie nass geworden sind.“ Er grinste auf seinen Freund herab, der sich umgedreht hatte, um ihn nun übertrieben vorwurfsvoll zu mustern. „Aber du musst sowieso aufstehen.“   „Soll das deine Entschuldigung sein?“   „Welche Entschuldigung? Hättest du eine hören wollen?“, fragte er neckend und begann, herzhaft zu lachen, als er sich von einer auf die andere Sekunde unter Karyu wiederfand. Noch während sein Liebster ihn bemüht tadelnd musterte, zuckten seine Mundwinkel, bis auch er ein Lächeln nicht mehr zurückhalten konnte.   „Ich glaube, ich hab dich noch nie so lachen hören. Klingt schön.“ Zero verstummte und schloss die Augen, als ein warmer Finger begann, seine Gesichtszüge nachzuzeichnen, als würde Karyu sie sich einprägen wollen. „Nur, weil ich das gerade gesagt habe, musst du nicht damit aufhören.“ Wieder fanden weiche Lippen seine Haut, diesmal am Hals, knapp unter seinem Ohr, und entlockten ihm einen leisen Laut, der sich eindeutig genießend anhörte.   „Ich weiß“, murmelte er und haschte nach den Lippen seines Liebsten, ohne sie sehen zu müssen, und schwelgte in der wohligen Gänsehaut, die ihm über den Rücken rann.   „Mh=“, brummte es gegen seine Haut und ließ ihn erneut erschauern.   „Du solltest dich jetzt herrichten, sonst kommen wir heute definitiv nicht mehr aus der Wohnung.“   „Forderst du gerade mein Pflichtbewusstsein heraus?“   „Nein, das würde mir im Leben nicht einfallen.“ Blinzelnd öffnete Zero die Augen wieder, als er spürte, wie Karyu ein Stück auf Abstand ging. Der Blick, mit dem er nun gemustert wurde, wärmte einen Teil seines Herzens, den er längst für tot gehalten hatte … dann seufzte Karyu so abgrundtief, als wäre er in den letzten Minuten um Jahre gealtert und brach damit den Zauber.   „Ich mag es nicht, wenn du das tust.“   „Was denn?“   „Recht haben.“   Er sagte nichts darauf, lachte nur leise in sich hinein, während er seinem Freund beim Aufstehen zusah und sich ebenfalls erhob. „Kann ich dich mit einem Kaffee wieder aufmuntern?“   „Wenn es einen Kuss dazu gibt, vielleicht.“   „Mh, das sollte sich einrichten lassen.“   ~*~   „Woran denkst du gerade?“   Die tief stehende Herbstsonne blendete ihn und er musste die Augen zusammenkneifen, um Karyu, der neben ihm herging, mustern zu können. Sie waren bereits ein wenig spät dran, dennoch hatten sie entschieden, zu Fuß ins Studio zu gehen. Der Weg war nicht allzu weit, führte sie geradewegs durch einen hübsch angelegten Park, und auch das Wetter schien dies für eine gute Idee gehalten zu haben. Bis eben noch hatten sie sich ungezwungen unterhalten und Zero hatte sich mehrmals dabei erwischt, wie er seine Fingerspitzen flüchtig gegen die seines Liebsten hatte streifen lassen, nur um sicher zu sein, dass Karyu auch wirklich hier war. Jedes Mal hatte sein Freund ihn angelächelt, die Geste verstohlen erwidert, obwohl sie nahezu allein unterwegs waren. Aber in den letzten Minuten war Karyu verstummt und hatte auch nicht auf seine Berührung reagiert. „Karyu?“   „Mh?“   „Ist was nicht in Ordnung?“   „Wie? Oh … nein, nein, ich … Mir schwirren nur so viele Fragen im Kopf herum.“   „Fragen, die du mir stellen könntest?“   „Mh, ich denke schon, ein paar zumindest.“   „Dann schieß mal los.“ Er schenkte seinem Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln und setzte sich wieder in Bewegung, nachdem er stehen geblieben war, um sich besser unterhalten zu können.   „Diese ganze Sache mit unseren früheren Leben …“ Karyu zuckte mit den Schultern, als würden ihm die richtigen Worte fehlen, um das auszudrücken, was ihm auf der Seele brannte. „Erzählen wir den anderen davon? Ich meine, die halten uns doch für komplett durchgedreht.“   Von Karyu unbemerkt verzog Zero das Gesicht. Ganz offensichtlich wäre es nun an der Zeit, ehrlich zu sein und zuzugeben, dass zumindest Hizumi schon Bescheid wusste. Aber wenn er erst damit anfing, musste er zwangsläufig auch erzählen, wer oder was Hizumi war und es war eindeutig nicht an ihm, die Geheimnisse des Schutzengels auszuposaunen. Verdammt, er musste unbedingt eine ruhige Minute finden, um mit ihrem Sänger darüber zu reden. Am besten noch, bevor sie morgen ihre große Abschlussshow gaben.   „Zero?“   „Mh? Tschuldige, ich hab nur gerade darüber nachgedacht, was du gesagt hast.“   „Und?“   „Wir sollten auf jeden Fall einen passenden Moment abwarten, um es ihnen zu erzählen.“   „Denkst du wirklich, sie würden uns das abkaufen?“   „Wir reden hier von Tsukasa und Hizumi, natürlich würden sie das.“ Er versuchte sich an einem nonchalanten Lächeln, das wohl überzeugend wirkte, denn die steile Sorgenfalte auf Karyus Stirn glättete sich, bis sein Freund deutlich entspannter aussah. Innerlich atmete er erleichtert aus. Wenigstens diese Hürde hatte er für den Moment umschifft, auch wenn er ahnte, dass in nächster Zeit noch so einige auf ihn zukommen würden. „Willst du mich noch etwas fragen?“   Karyu nickte und umfasste plötzlich so selbstsicher seine Hand, als hätte er vergessen, dass sie hier, so allein sie auch waren, dennoch jederzeit jemand sehen konnte. Aber ihm sollte es recht sein und wenn man von dem Kribbeln in seinem Magen ausging, war auch der Rest seines Körpers sehr zufrieden mit den derzeitigen Entwicklungen.   „Was passiert, wenn du über Überbleibsel unserer Vergangenheit stolperst? Also, ich meine, das ist jetzt vielleicht ein wenig sehr morbide, aber es muss doch schlimm sein, plötzlich vor seinem eigenen Grab zu stehen oder einen Ort wiedergefunden zu haben, der mal ein Zuhause war, oder nicht?“   Karyu wirkte erneut unheimlich verlegen, sodass er ihn am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Stattdessen ging er entspannt weiter, brummte nur leise, um Deutlichzumachen, dass er die Frage verstanden hatte, und gönnte sich einige Augenblicke des Nachdenkens.   „Ich finde die Frage nicht morbide oder zu persönlich, mach dir da mal keine Sorgen.“ Für einen Wimpernschlag erwiderte Karyu seinen Blick aus großen Augen, als würde es ihn ernsthaft überraschen, dass ihm sein Unbehagen quer übers Gesicht geschrieben stand. „Es fällt mir nicht leicht, über all das zu reden. Nicht, weil es mir unangenehm ist. Es ist nur so verdammt ungewohnt, mit jemandem … mit dir darüber reden zu können.“ Er lachte leise auf und fuhr sich über die Zöpfe, bevor er Karyu spielerisch anrempelte. „Willst du mal eines unserer Gräber sehen?“   „W… was?“, kiekste sein Freund und schüttelte den Kopf. „N… nein, das ist nicht … ich meine … lass mal lieber gut sein.“   „Das war ein Scherz, Karyu.“ Zero konnte nicht mehr an sich halten und lachte herzhaft auf. „Dein Gesichtsausdruck gerade war wirklich Gold wert.“   „Ha, ha.“   „Nimm es mir nicht übel“, bat er schmunzelnd, doch Karyu verschränkte im Gehen die Arme vor der Brust und schaute ihn von der Seite her schmollend an. Beinahe hätte er diesen Gesichtsausdruck erwidert, nachdem der angenehme Kontakt ihrer Finger so rüde unterbrochen worden war, aber glücklicherweise besaß er noch so etwas wie ein Fünkchen Selbstbeherrschung. Also begnügte er sich damit, seine kalten Pfoten in die Tasche seiner Jacke zu stopfen und Karyu einen frechen Seitenblick zuzuwerfen. „Bin ich froh, dass du ein deutlich besserer Gitarrist als Schauspieler bist, sonst hätten wir es wohl nie geschafft, Konzerte zu geben, bei denen wir nicht draufzahlen müssen.“   „Eh, das war gemein.“   „Ehm, nein, eigentlich war das ein Kompliment, aber gut.“ Zero grinste und stippte seinem Freund so lange in die Seite, bis dieser sein gekünsteltes Schmollen aufgab und leise lachend wieder neben ihm herlief. „Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich fast nie an Details unserer früheren Leben.“ Zero knabberte auf seiner Unterlippe herum, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden und sich von Karyus nahezu bohrend interessiertem Blick nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich bin noch nie in die Verlegenheit gekommen, mich plötzlich vor einem unserer Gräber wiederzufinden oder an einem Ort zu sein, der einmal ein Zuhause war. Ich bin mir nicht einmal zu hundert Prozent sicher, ob wir immer in Japan gelebt haben. Es scheint zwar so zu sein, aber wirklich wissen tue ich es nicht.“ Erneut verstummte er, schaute für einen Moment auf seine Füße und lauschte dem gleichmäßigen Geräusch ihrer Schritte, die über den Kiesweg knirschten. „Was diese ganze Wiedergeburtssache angeht, scheint das eine Wissenschaft für sich zu sein, von deren Regeln und Gesetzen ich noch immer erschreckend wenig verstehe.“ Er seufzte und versuchte, das schlechte Gewissen Karyu gegenüber zu ignorieren, welches diese Erkenntnis soeben mit sich gebracht hatte. „Ich erinnere mich nur an ein Leben genauer als an all die anderen und …“   „Oh, nein“, hauchte Karyu plötzlich und unterbrach somit seinen Gedankengang. Erschrocken sah er direkt in das blass gewordene Gesicht seines Freundes und versuchte mit wildem Blick herauszufinden, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte.   „Karyu? Was ist denn?“   „Die Männer … sie sind wieder da. Hinter dir. Dreh dich um und sag mir bitte, dass du sie auch siehst.“   Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er Karyus Bitte nachkam und sich umdrehte. Zunächst sah er nichts, nur den Ausgang des Parks und den Spielplatz gleich in der Nähe, wo zwei Mädchen lachend auf den Schaukeln hin und her schwangen, während sich ihre Mütter lebhaft unterhielten. Gerade, als er erleichtert ausatmen und seinem Freund sagen wollte, dass er sich geirrt haben musste, verzerrte sich jedoch das Bild vor seinen Augen, als würde die Luft in der Hitze flirren. Wo bis eben noch ein leerer Weg zu sehen war, standen nun zwei Männer, beide in schwarzen Anzügen gekleidet und eindeutig in ihre Richtung sehend.   „Ich seh sie“, wisperte er tonlos, die Lippen taub vor Angst und mit der Rechten nach Karyus Hand tastend. Kaum schlossen sich die eiskalten Finger um die seinen, wirbelte er herum und rannte davon. Ihm war egal, wer diese Kerle waren oder was genau sie von Karyu wollten. Er blickte sich nicht um, wollte gar nicht wissen, ob sie verfolgt wurden. Weg, weg, einfach nur weg, war das Einzige, woran er gerade denken konnte. Erst als Karyu den Griff um seine Hand spürbar verstärkte, zog sich die Panik ein wenig zurück.   „Warte, wohin laufen wir eigentlich?“   „Ich weiß nicht? Raus aus dem Park. Irgendwohin, wo wir unter Menschen sind.“   Das Grün der Bäume und Büsche um sie herum vermischte sich mit dem Braun der Wege zu einer verschwommenen Einheit und erst, als diese dem kalten Grau der Stadt wich, schien Zero einen dringend nötigen Atemzug nehmen zu können. Sie waren beinahe wieder den gesamten Weg zurück zu seiner Wohnung gerannt und würden es nicht mehr rechtzeitig zu den Proben schaffen, aber das war ihm gerade herzlich egal. Noch immer krallten sich ihre Finger in die Hand des jeweils anderen, als hätten sie beide gleichermaßen Sorge, sie könnten sich verlieren. Zero wagte es nicht, sich umzusehen, herauszufinden, ob sie die Fremden abgeschüttelt hatten oder nicht. Er machte sich nichts vor. Die Männer waren eindeutig von der übernatürlichen Sorte und hatten mit Sicherheit Mittel und Wege, sie einzuholen. Dennoch fuhr eine Welle der Erleichterung durch seinen Körper, als sie die Treppen der U-Bahnstation seines Viertels hinuntereilten und sich mit einem Mal inmitten von Stimmengewirr und eindeutig menschlichen Körpern wiederfanden, die hektisch von einem Ort zum anderen eilten.   „Oh, Gott“, keuchte Karyu neben ihm und erst jetzt bemerkte er, dass er mindestens ebenso außer Atem war wie sein Freund.   „Lass uns die nächste Bahn in Richtung Stadtmitte nehmen und von dort aus mit dem Bus zum Studio fahren. Ich riskier es heute nicht noch einmal, zu Fuß unterwegs zu sein.“   „In Ordnung.“ Ohne, dass sie sich absprechen mussten, suchten sie automatisch die belebtesten Wege, die sie zum richtigen Bahnsteig führen würden. Es war zwar nicht nett, sich durch die Menschenmassen zu quetschen, aber irgendeinen Tod mussten sie sterben. Zero verzog das Gesicht, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, und verfluchte nicht zum ersten Mal seinen angeborenen Pessimismus. „Hast du dein Handy dabei?“   „Ja, aber der Akku ist leer.“   „Du stehst mit dem Ding eindeutig auf Kriegsfuß, was?“ Er versuchte sich an einem Lächeln, während sie sich in die Traube der Berufstätigen einreihten, die ebenso wie sie beide den Zug in die Stadt nehmen wollten.   „Ist das ein Wunder? Wenn ich telefonieren möchte, soll das Ding gefälligst funktionieren. Aber nein. Entweder es gibt kein Netz oder es ist nicht aufgeladen. Schlimmer als ein Haustier, sag ich dir.“   „Na, dann bleibt zu hoffen, dass du dich um ein Haustier deutlich besser kümmern würdest als um dein armes Handy.“   „Wo ist deines denn, wenn du schon so schlaue Sprüche klopfst, mh?“   „Zu Hause vergessen.“ Zero grinste verschmitzt und rieb sich über den Nacken, als ihn Karyus erst ungläubiger Blick streifte, bevor er inbrünstig mit den Augen rollte. Eine so typische wie auch herzerwärmende Geste, dass er für eine Sekunde sogar die Misere vergaß, in der sie sich gerade befanden. So lange jedenfalls, bis sein Blick auf zwei Männer fiel, die lässig an die Wand der U-Bahnstation gelehnt dastanden und sie zu beobachten schienen. Männer in schwarzen Anzügen … und … ohne Gesichter. Schnell sah er weg und quetschte sich mit Karyu in den Zug, der soeben eingefahren war. Verflucht, er hatte geahnt, dass sie nicht weglaufen konnten.   ~*~   „Und … die beiden hatten tatsächlich keine Gesichter?“   Hizumis Stimme klang nervtötend ruhig, als er ihn das fragte, und Zero musste sich zusammenreißen, ihn nicht anzufahren. Seine Hände waren zu festen Fäusten geballt, seine Zähne gruben sich wieder und wieder in seine Unterlippe, während sein starrer Blick auf Karyu gerichtet blieb. Sein Freund war noch immer blass um die Nase, aber ansonsten war ihm nichts von dem Schrecken des Morgens anzumerken, während er einige Meter von ihnen entfernt mit Tsukasa herumalberte. Sie waren ohne weitere Vorkommnisse im Studio angekommen und hatten sogleich mit den Proben begonnen. Dank ihrer Verspätung war bis jetzt keine Zeit gewesen, den anderen von den Ereignissen zu erzählen, aber sobald ihr Leader zu einer kurzen Pause gerufen hatte, hatten sie das nachgeholt. Nun gut, um genau zu sein, hatte Karyu nur grob erzählt, was passiert war, und war dann sichtbar erleichtert gewesen, als Tsukasa es sich zur Aufgabe machte, ihn auf andere Gedanken bringen zu wollen. Zero hingegen hatte sich ihren Sänger geschnappt und ihm die wirklich beängstigenden Details erzählt. Und obwohl er zugeben musste, dass er die ganze Sache am liebsten verdrängt und vergessen hätte, schwelte die Hoffnung in ihm, dass sich der Schutzengel nun wenigstens einen Reim auf alles würde machen können und wichtiger noch, dass er wusste, was sie gegen diese Männer unternehmen konnten.   „Zero?“   „Ja“, zischte er, bis er sich daran erinnerte, dass er, wenn er Antworten von Hizumi wollte, ihn lieber nicht verärgern sollte. „Ich meine … Anfänglich dachte ich, sie würden Masken tragen und nein, ich hab mich nicht gewundert, warum das keiner der Passanten auf dem Bahnsteig eigenartig fand, weil … Ja weil ich selbst gesehen hab, dass die Kerle sich quasi unsichtbar machen können. Also …“ Er fuhr sich über die Zöpfe, ärgerte sich, dass er allem Anschein nach nicht zum Punkt kommen konnte, aber sein Hirn fühlte sich an, als hätte sich eine Horde Hornissen dort eingenistet. „Es waren auf jeden Fall keine Masken, die ich gesehen habe. Es sah so aus, als hätte jemand ihre Gesichtszüge einfach wegradiert oder … als hätte irgendwer vergessen, ihnen ein Gesicht zu geben. Verstehst du, was ich meine?“   „Leider nur zu gut.“   Hizumi rieb sich übers Kinn, als hätte er einen Bart, den es zu zwirbeln galt. Ein äußerst verstörender Gedanke, der perfekt zu seinem bisherigen Tag passte. Zero hätte am liebsten das Gesicht hinter den Händen vergraben und dem kindlichen Irrglauben gefrönt, dass er sicher war, solange man ihn nicht sehen konnte.   „Wie meinst du das?“, brachte er es schließlich doch über sich, nachzuhaken, als Hizumi auch nach mehreren Augenblicken nicht weitergesprochen hatte.   „Ich kenne diese Art von … Wesen. Es sind Agenten der Gegenseite. Späher, wenn du so willst. Ihr einziger Existenzgrund ist der, Informationen zu sammeln, zu überwachen und Bericht zu erstatten. Im Regelfall sollte von ihnen also keine Gefahr für Karyu ausgehen.“   „Im Regelfall!?“ Zero war vom Sofa aufgesprungen und funkelte Hizumi aus zusammengekniffenen Augen wütend an. „Was soll das heißen, im Regelfall? Und was, wenn der Regelfall NICHT eintritt?“   „Hey, alles okay bei euch?“ So schnell seine Wut aufgekommen war, fiel sie in sich zusammen, als er sich mit Karyus besorgtem Blick konfrontiert sah. Ganz der Leader hatte ihr Gitarrist wie immer einen Riecher dafür, wenn Situationen zu eskalieren drohten, und schob dem Ganzen allein durch seine Anwesenheit einen Riegel vor.   „Ich hab Zero nur gerade gesagt, dass ich nicht glaube, dass von diesen Männern in Schwarz eine echte Gefahr für dich ausgeht.“ Hizumi lächelte Karyu schwach an. „Dennoch bin ich der Meinung, dass du mit dem Management sprechen solltest.“   „Wie? Warum das denn?“   „Mh, mir wäre einfach wohler, wenn wir morgen während des Konzerts ein oder zwei Security-Leute hätten, die ein Auge auf uns haben.“ Langsam setzte sich Zero wieder und schaute mit einer Mischung aus Erstaunen und Neid dabei zu, wie Hizumi es mit wenigen gezielten Worten schaffte, Karyu sichtbar zu beruhigen.   „Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt, wenn du in nächster Zeit weder zu Fuß noch öffentlich unterwegs bist?“ Nur, um auf Nummer sicher zu gehen“, schaltete sich nun auch ihr Drummer ein und Zero musste zugeben, dass das keine schlechte Idee war. „Wenn du dem Management alles erklärst, kannst du mit Sicherheit den Van nutzen.“   „Ich kann dich fahren.“ Plötzlich lagen alle Blicke auf ihm, als wäre ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Tsukasa hatte sogar seinen Drumstick fallen lassen, der klappernd auf dem Boden aufgekommen war. Eilends jagte er dem Holzstäbchen hinterher, das ein Eigenleben entwickelt und wohl beschlossen hatte, unter das Sofa rollen zu wollen. „Jetzt schaut nicht so“, murrte Zero, „ich bin schließlich der Einzige von uns, der ein Auto hat.“   „Eine sündhaft teure Sportkarosse, deren Unterhalt mehr kostet, als wir im Monat zusammen verdienen.“   „Danke, Hizumi, für die korrekte, wenn auch nicht wirklich empathische Darstellung meiner Finanzlage“, knurrte er.   „Arbeitest du deswegen noch immer im Konbini und wohnst in dieser Schuhschachtel von Appartement?“ Mittlerweile hatte auch Tsukasa seine Jagd nach dem Stöckchen erfolgreich beendet und hockte sich neben ihm auf die Sofalehne.   „Nicht, dass euch das was angeht, aber ja.“   „Ich dachte immer“, hakte nun auch Karyu ein, „dass du dich mit deinem Flitzer nur ungern durch den Stadtverkehr quälst?“   „Tu ich auch.“   „Und trotzdem würdest du mich fahren?“   „Siehste mal.“   Karyus Wangen nahmen plötzlich eine gesunde Röte an, sodass er sich abwenden musste, um seine Verlegenheit nicht ganz so offensichtlich zur Schau zu stellen. Damit war auch diese Diskussion erfolgreich im Keim erstickt und Zero war nur froh, dass sich die Stimmung zwischen ihnen in den letzten Minuten wieder etwas aufgelockert zu haben schien. Während Hizumi also ankündigte, sich einen Tee holen zu gehen und Tsukasa augenscheinlich nur darauf gewartet hatte, ihn begleiten zu können, atmete Zero zum ersten Mal seit gefühlten Stunden erleichtert aus, als sich Karyu neben ihn setzte und einen Arm um seine Schultern legte. Ohne darüber nachzudenken, lehnte er sich gegen seine Seite und schloss für einen Moment die Augen.   „Es ist süß von dir, dass du mich fahren willst.“   „Erzähl es keinem“, brummte er und nun war es an ihm, seinen Körper davon überzeugen zu müssen, die Durchblutung in seinen Wangen nicht über die Maßen anzuregen. So, wie Karyu ihn jedoch musterte, schien ihm das nicht wirklich zu gelingen. „Ich will nur, dass dir nichts passiert, da ist so ein bisschen Chauffeur spielen nun wirklich keine große Sache“, versuchte er sich zu erklären, um sich nicht ganz so anmerken zu lassen, wie verlegen ihn dieser ehrlich dankbare Blick machte. Und tatsächlich war sein Freund so zuvorkommend und beließ es dabei, nur ein gewispertes Danke und einen kleinen Kuss musste er noch über sich ergehen lassen, was er natürlich angemessen schrecklich fand – nicht.   „Du hattest übrigens recht“, wechselte sein Lieblingsgitarrist schlussendlich das Thema, wofür er ihm äußerst dankbar war.   „Ich hab meistens recht“, scherzte er und lächelte, als Karyu daraufhin schnaubte, ihm jedoch erneut einen Kuss auf die Schläfe drückte. „Verrätst du mir auch, womit ich recht hatte?“   „Dass es eine gute Idee war, Hizumi und Tsukasa von der ganzen Sache heute Morgen zu erzählen. Mir sitzt der Schrecken zwar immer noch in den Knochen, aber irgendwie fühle ich mich … sicherer, jetzt wo sie es wissen. Ist das seltsam?“   „Mh“, brummte Zero überlegend. Das war tatsächlich eine gute Frage. Hatte er selbst sich auch sicherer gefühlt, nachdem er mit Hizumi hatte sprechen können? Erleichterter vielleicht, weil er nichts mehr hasste, als Geheimnisse mit sich herumzuschleppen – ein Paradoxon seiner Existenz – aber sicherer? Ja, ein wenig zumindest, weil er wusste, dass Hizumi nicht nur ein Mensch war, wie der Rest von ihnen, aber davon wusste Karyu nichts. „Seltsam finde ich das nicht, ich bin eher froh, dass es dir damit jetzt besser geht.“ Er lächelte und tastete nach Karyus Hand, bis er ihre Finger miteinander verschränken konnte. „Ich bin kein Fan davon, noch mehr Geheimnisse vor den anderen haben zu müssen, verstehst du das?“ Für einen langen Moment kehrte Stille zwischen ihnen ein, während Karyu ihn mit derart viel Mitgefühl im Blick musterte, dass ihm seine Kehle eng zu werden drohte. „Schau nicht so.“ Er lächelte und lehnte sich erneut gegen die Seite seines Liebsten.   „Aber ich …“   Zero schüttelte den Kopf. „Lass uns nicht jetzt darüber reden, in Ordnung?“   „Okay.“   „Du, Karyu?“   „Ja.“   „Weißt du, warum es noch gut war, mit den anderen zu reden?“   „Nein, wieso?“   „Weil wir jetzt wissen, dass Hizumis Kopf tatsächlich zu mehr gut ist, als nur dafür zu sorgen, dass ihm bei Regen das Wasser nicht in den Hals läuft.“   „Du kannst so herrlich gemein sein“, stellte Karyu feixend fest, aber sein Lachen war nicht von langer Dauer. Als Zero den Kopf hob, um seinem Freund ins Gesicht sehen zu können, hatte sich ein nachdenklicher Ausdruck auf seine Züge gelegt.   „Was ist denn?“   „Sollen wir ihnen … das mit uns auch sagen?“   ‚Das mit uns.‘ Zero musste sich zusammenreißen, nicht dümmlich vor sich hin zu grinsen, als dieser kleine Satz sein Herz wie eine Decke einhüllte und wärmte. „Das überlasse ich ganz dir.“   „Ehrlich? Du hättest nichts dagegen?“   „Nein, warum sollte ich? Früher oder später kriegen sie es sowieso raus, dafür sind die zwei einfach viel zu neugierig.“   „Auch wieder wahr. Mmmh, vielleicht sagen wir es ihnen noch nicht gleich … Ich meine …“   „Alles gut.“ Er lächelte, streichelte Karyu über die Wange und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich hab auch nichts dagegen, dich noch eine Weile ganz für mich allein zu haben.“ Wieder zierte diese hübsche Röte Karyus Wangen, bevor sie auf Abstand gehen mussten, weil sich Schritte dem Studio näherten.   „Ich hab euch Kaffee mitgebracht“, trällerte Tsukasa, noch bevor Hizumi die Tür vollständig aufgeschoben hatte und Zero fragte sich nicht zum ersten Mal, woher ihr Drummer all diese übersprudelnde Energie nahm.   „Danke“, murmelte er, nahm im Aufstehen den Becher entgegen und musterte die drei Männer, die ihm in den letzten Jahren zu einer Familie geworden waren. Er hatte vorhin nicht gelogen, er hasste es tatsächlich, vor ihnen Geheimnisse zu haben, und als ihm dieser Umstand nun wieder so deutlich bewusst wurde, stach und zwickte das schlechte Gewissen in seinem Magen. Nun da nicht nur Hizumi Bescheid wusste, fragte er sich, wie lange sie Tsukasa noch im Dunkeln tappen lassen konnten. War es ihm gegenüber nicht unfair, weiterhin zu schweigen? Natürlich wusste Karyu noch kaum etwas von dem, was hier Übernatürliches vor sich ging, verdammt, selbst er wusste erst einen Bruchteil, aber Tsukasa? Er sah von dem Becher in seiner Hand auf und musterte ihren Drummer.   Im nächsten Moment passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Als hätte Tsukasa bemerkt, dass er ihn beobachtete, hob er den Kopf. Die dunklen Augen richteten sich genau auf die Seinen, hielten seinen Blick wie in einem Schraubstock gefangen, aus dem er sich nicht befreien konnte. Gleißend helles Licht blendete ihn, als seine Sicht mit Erinnerungsfetzen geflutet wurde. Jedes seiner Leben flammte für eine Sekunde auf und jedes von ihnen nahm einen kleinen Teil seines Schmerzes mit sich, als es wieder erlosch. Zero hatte das Gefühl, Stunden wie paralysiert dazustehen, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Schlussendlich sah er Karyu, bleich und aufgewühlt vor ihrem Van stehen, nachdem sie kurz davor beinahe mit dem Lkw zusammengestoßen waren. Erneut Karyu, diesmal sein ängstliches Gesicht, kurz nachdem der Aufzug stecken geblieben war, obwohl er wusste, dass es so dunkel gewesen war, dass er ihn gar nicht hatte erkennen können. Und schließlich die Männer von heute Morgen, die ein Gefühl der Angst und Panik in ihm hochkommen ließen, das so stark war, dass es ihn in die Knie gezwungen hätte, hätte sich nicht eine warme, starke Hand haltend auf seine Schulter gelegt.   „Hey, alles in Ordnung mit dir?“   Er blinzelte, seine Augen brannten und fühlten sich an, als wollten sie ihm jeden Moment aus den Höhlen fallen. „W… was? J… ja, alles gut.“ Die Hand gehörte zu Tsukasa und das Lächeln, das ihm sein Freund und Bandkollege schenkte, ließ ihn unwillkürlich erschaudern. Was war das gerade gewesen? Was war passiert? War überhaupt etwas passiert? Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, als er sich zu erinnern versuchte.   „Bist wohl wieder einmal zu schnell aufgestanden, was?“   „Ja, das wird es gewesen sein“, murmelte er geistesabwesend und heillos überfordert mit der Situation. „Kennst mich und meinen tollen Kreislauf doch.“   „Du musst wirklich besser auf dich achtgeben.“ Tsukasas Finger drückten seine Schulter leicht, eine Geste, die er unter anderen Umständen als beruhigend empfunden hätte, die ihm jetzt jedoch eigenartig übergriffig vorkam. Himmel, was hatte sein Hirn nun wieder für ein Problem?   „Tsukasa, kommst du?“ In Hizumis Stimme schwang ein angespannter Unterton mit und als er den Blick auf ihren Sänger richtete, erkannte er einen verkniffenen Zug um seinen Mund. „Karyu hat uns noch was zu sagen, habt ihr ihn nicht gehört oder was?“   „Was? Nein, tschuldige, mir war gerade schwindlig und …“   „Hey, wieder alles gut?“ Jetzt war es Karyu, der auf ihn zukam, und hätte er sich in diesem Moment nicht einen Ruck gegeben und sich wieder gerade hingestellt, hätte ihn sein Freund wohl in die Arme geschlossen. Er versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln und folgte ihrem Leader zum Besprechungstisch in der Ecke, während Hizumi noch irgendetwas mit Tsukasa zu besprechen hatte. Ihr Sänger schien aus irgendeinem Grund wütend zu sein und obwohl Zero nicht lauschen wollte, schnappte er einige Gesprächsfetzen auf, aus denen er jedoch auch nicht schlau wurde.   „… musst besser aufpassen …“ „… blutiger Anfänger …“ „… tut mir leid …“ „… Hunger …“   Er schüttelte den Kopf und wandte sich endgültig Karyu zu, der ihm ganz Gentlemanlike den Stuhl vom Tisch weggezogen hatte. Zeros rechte Braue wanderte gen Haaransatz, als er sich schmunzelnd setzte und seinem Freund zuraunte, dass er froh sein konnte, dass ihre Kollegen das gerade nicht gesehen hatten. Verschmitzt grinsend rieb sich Karyu über den Nacken, was seine kleinlaute Entschuldigung alles andere als glaubwürdig machte.   „Lausebengel.“ Er stippte Karyu in die Seite, bevor sein Blick unwillkürlich erneut auf Hizumi und Tsukasa fiel. „Was ist denn mit Hizu los?“   „Weiß nicht. Vielleicht ist er wieder einmal nur neugieriger als die Polizei erlaubt und ärgert sich, dass ihr zwei nicht gleich angelaufen kamt, als ich meinte, ich müsste euch noch was Wichtiges sagen.“   „Klingt ganz nach ihm.“ Diesmal fühlte sich das Lächeln auf seinen Lippen spröde an, während er erneut darüber nachdachte, was eigentlich gerade passiert war. War ihm wirklich schwindlig gewesen? Er glaubte nicht, aber welche Erklärung gäbe es sonst? Sein beschränkter, menschlicher Verstand hatte keine Chance, hatte längst begonnen, Tsukasas seltsames Verhalten und seine eigenen Reaktionen darauf zu rationalisieren, und als der Rest ihrer Truppe an den Tisch kam, hatte er bereits vergessen, was er überhaupt zu begreifen versucht hatte. Nur eine eigenartige Wärme hielt sich nachdrücklich in seinem Körper und schien die scharfen Kanten seiner beständigen Angst um Karyu abgemildert zu haben. Beinahe wie ein Schmerzmittel … oder eine Droge, was so ein irrwitziges Konzept war, dass er es sogleich wieder verwarf.   „Dann mal raus mit der Sprache, Leader, was gibt es denn so Interessantes zu erzählen?“   Nur zu gern ließ er sich von Hizumis fordernder Stimme aus seinen Gedanken reißen. Wenn er ehrlich war, war er mittlerweile auch ziemlich gespannt, was Karyu ihnen zu sagen hatte, aber ihr Gitarrist ließ sich bitten. Für einen langen Augenblick musterte Karyu ihren Sänger nur, bevor seine eiserne Kontrolle brach und er sie plötzlich übers ganze Gesicht grinsend anstrahlte.   „Also …“, begann er und Zero spürte förmlich, wie sehr sein Liebster es genoss, dass ihm die Aufmerksamkeit aller sicher war. Auch er hing sprichwörtlich an Karyus Lippen, obwohl dieser Umstand in seinem Fall noch einen ganz anderen Grund hatte. Karyu hatte schöne Lippen, war es ihm da zu verübeln, dass er sie gerne ansah? Vor allem jetzt, wo er das ganz offiziell auch durfte. Er lächelte und bemerkte im letzten Moment, dass seine Gedanken abzudriften drohten, also trank er einen Schluck seines Kaffees und zwang sich, sich zu konzentrieren. „Ich hatte vor unserer Tour noch ein langes Gespräch mit dem Management …“   „Wissen wir“, quäkte Tsukasa und grinste frech, als ihn der strafende Blick des Leaders traf.   ‚Wie die Kinder‘, dachte Zero mit einem Gefühl, das man mit viel gutem Willen als mütterlich bezeichnen könnte.   „Auf jeden Fall haben wir bei diesem Gespräch nicht nur beschlossen, dass unser Konzert morgen gefilmt und wenn alles gut geht als Konzert-DVD auf den Markt gebracht wird, sondern …“   „Jetzt spann uns nicht so auf die Folter.“ Diesmal war es Hizumi, der ihren Leader unterbrach und der sichtlich aufgeregt auf der Kante seines Stuhls hin und her rutschte. Karyu indes schien die Spannung zu genießen, die seine länger und länger andauernde Pause in ihnen auslöste, bis selbst Zero keine Geduld mehr hatte.   „Karyu“, brummte er lang gezogen und machte eine scheuchende Handbewegung.   „Na, schön“, murmelte so Aufgeforderter beinahe etwas eingeschnappt und fuhr fort. „Wenn wir unsere Sache morgen richtig, richtig gut machen, dann … werden wir Ende Oktober zwei Shows in Europa geben!“     ~*~ 'Cause we could be immortals, immortals Just not for long, for long Live with me forever now Pull the blackout curtains down Just not for long, for long   We could be immortals Immortals ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)