Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 41: Was am Ende bleibt ------------------------------ „Nachdem wir nun die Hauptperson beleuchtet haben, wollen wir uns einmal der zweiten Figur der Erzählung zuwenden. Grete Samsa, Gregors jüngere Schwester. Was erfahren wir über sie?“   Tatsächlich hoben sich auf Erichs Frage hin einige Hände. Er tat uns allen den Gefallen, Sandra dranzunehmen, die trotz der frühen Stunde schon voller Tatendrang war. Während sie aufzählte, was uns Kafka zu diesem Mädchen zu sagen hatte, lehnte ich mich zu Benedikt hinüber. „Sie erinnert mich immer ein bisschen an Hermine aus dem ersten Film.“   Benedikt grinste und ich lächelte befriedigt, bevor ich mich wieder dem Unterricht zuwandte. Jo auf der anderen Seite sah ungefähr so wach aus, wie ich mich fühlte. Wer auch immer beschlossen hatte, die Woche mit einer Doppelstunde Deutsch anfangen zu lassen, hatte bestimmt diebische Freude dabei empfunden. Zumal Erich die Angewohnheit hatte, die kurze Pause zwischen den ersten beiden Stunden einfach zu überhören und durchzuarbeiten, sodass wir mittlerweile seit über einer Stunde in den Abgründen der kafkaschen Erzählung herumwühlten, wie der darin vorkommende Käfer in einem Misthaufen.   „Zum Schluss sieht Grete ihren Bruder nur noch als Tier an. Sie bezeichnet ihn als ein Es und möchte ihn loswerden. Als er schließlich stirbt, ist sie wie alle anderen Familienmitglieder erleichtert.“   Sandra klappte ihren Mund wieder zu und sah unseren Lehrer beifallheischend an. Erich nickte jedoch nur leicht.   „Oooch, nur fünf Punkte für Gryffindor“, raunte ich Benedikt zu, der wiederum grinste. Ich wollte gerade noch etwas sagen, als der Blick unseres Deutschlehrers auf mich fiel und mich förmlich auf meinen Stuhl pinnte.   „Von Hohenstein! Was sagen Sie denn dazu?“   Ich schluckte, als ich merkte, dass ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, worum es ging. In meiner Verzweiflung trat ich die Flucht nach vorn an.   „Äh … wie war nochmal die Frage?“   Kichern war zu hören und jemand rief „Guten Morgen!“ in die Klasse hinein. Erich hingegen starrte mich aus durchdringenden, wasserblauen Augen weiterhin an. Seinen Stirn glich dem Marianengraben. „Ich sagte, ich wüsste gerne, wie Sie Gregors Beziehung zu seiner Schwester charakterisieren würden.“   Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, was ich am gestrigen Tag über mehrere Stunden hinweg erfolglos versucht hatte, in meinem Kopf zu bekommen. Die Ereignisse vom Samstag hatten alles überschattet und so hatte ich irgendwann meinen Kopf ab- und den Fernseher angeschaltet. Die bewegten Bilder waren eine hervorragende Ablenkung gewesen, nur Kafka hatten sie mich nicht näher gebracht. Stotternd begann ich zu antworten. „Tja, also … er sieht seine Schwester als … Kind. Jemand, der nicht zu arbeiten braucht und nur seinen Vergnügungen nachgeht.“ „Und wie bewertet er das?“   Ich blinzelte ein paar Mal. „Wie meinen Sie das?“   Erich hob jetzt die eben noch streng gefurchten Brauen und öffnete die Hände zu einer abwägenden Geste. „Findet er das gut oder schlecht. Denkt er, dass seine Schwester faul und nutzlos ist oder findet er es in Ordnung, dass sie nichts zum Erhalt der Familie beiträgt?“   Ich überlegte fieberhaft. Irgendwo in meinem Kopf musste die Antwort zu finden sein, aber ich bekam sie einfach nicht herausgekitzelt. Zum Glück ließ mich Jo nicht im Stich. „Er steht auf sie“, verkündete mein Freund ohne sich zu melden. Sofort ruckte Erichs Kopf herum wie der eines Raubvogels, der eine neue Beute erspäht hatte. „Ach nein. Meinert hat also auch schon ausgeschlafen. Wie schön! Dann erzählen Sie uns doch mal, was unser Knabe im lockigen Haar offenbar schon wieder verdrängt hat.“   Jo ließ geräuschvoll die Luft entweichen. „Na ja, da steht, er will ihr nahe sein, ihren Hals küssen und dass sie für ihn Musik macht. Wobei sie ja auch die Einzige ist, die sich um ihn kümmert. Wahrscheinlich so ne Art Stockholm-Syndrom.“ Erichs Züge, die zunächst leichte Begeisterung gezeigt hatten, fielen jetzt wieder in sich zusammen. Er seufzte. „Wischnewsky? Wären Sie so freundlich, diese Ahnungslosen mal aufzuklären?“   Anton, der sich offenbar die ganze Zeit gemeldet hatte, nahm seinen Arm herunter.   „Es gibt zwar Hinweise auf eine inzestuöse Hinwendung Gregors zu seiner Schwester, in erster Linie ist sie ihm jedoch eine Freundin und Verbündete. Indem er ihr den Wunsch nach dem Violinenunterricht im Konservatorium erfüllen will, lehnt er sich gleichzeitig gegen seinen Vater auf, da dieser eine solche Ausgabe nicht dulden würde. Ihr Verrat trifft ihn daher besonders tief, ebenso wie Kafka der Verrat durch seine eigene Schwester getroffen hat. Die Tatsache, dass Kafka die Erzählung in dem Jahr verfasst hat, in dem sich seine Schwester von ihm abwandte und auf die Seite des gemeinsamen Vaters stellte, unterstützt diese These. Auch Gregors Schwester erlebt eine Verwandlung von der Alliierten zur Feindin, die schließlich durch die Vernachlässigung und gleichzeitige Weigerung, irgendjemand anderen zu Gregors Pflege zuzulassen, seinen Tod herbeiführt.“   „Ich dachte, der starb an einem Apfel im Rücken“, warf Jo wiederum ein, ohne sich zu melden. Anton bedachte ihn mit einem nachsichtigen Blick. „Die Verletzung durch den vom Vater geworfenen Apfel hätte Gregor bei guter Pflege überleben können, nicht jedoch den Nahrungsentzug, dem ihn seine Schwester ausgesetzt hat.“   Jetzt kam ein Nicken in Erichs Kopf. Er entfernte sich wieder von unserem Tisch, um an der Tafel mit schnellen, leicht schräg stehenden Strichen ein Schaubild zu erstellen. „Wir haben also einen distanzierten, herrischen Vater, eine schwächliche Mutter und eine Schwester, die nur vorgibt eine freundliche Person zu sein. Wie denken Sie, sind die Motivationen der einzelnen Personen dafür?“   Während die anderen sich bemühten, eine Antwort auf Erichs Frage zu finden, rutschte ich in meinem Stuhl ein wenig nach unten. „Das ist ja toll gelaufen“, wisperte ich Benedikt gerade zu, als mich schon wieder Erichs starrer Blick traf. „Von Hohenstein! Wenn Sie noch weiter herumschwätzen, werde ich Sie und ihr Liebchen in Zukunft auseinandersetzen. Also los, zeigen Sie mal, dass nicht nur Holzwolle in Ihrem hübschen Köpfchen steckt. Was ist der Grund, aus dem Grete Samsa ihrem Bruder beisteht?“   Wie erwartet richteten sich erneut alle Blicke auf mich. Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Trotzdem bemühte ich mich um eine gelassene Körperhaltung. „Nun ja“, sagte ich gedehnt, um ein wenig Zeit zu schinden. „Am Anfang wird sie vermutlich noch aus Zuneigung gehandelt haben. Vielleicht auch, um ihre Mutter vor dem Käfer zu schützen, die ja sonst die Pflege hätte übernehmen müssen.“   „Und woran machen Sie diese These fest?“ „Äh …“   Ich überlegte noch, als Benedikt sich plötzlich meldete. Auf ein Nicken unseres Deutschlehrers hin erklärte er:   „Sie fragt am Anfang besorgt nach seinem Befinden und bemüht sich, dem Käfer Nahrung zu geben, die ihm schmeckt.“   Wieder ein Nicken und Erich notierte diesen Punkt an der Tafel.   „Und wie geht es dann weiter? Von Hohenstein?“   Ich zuckte zusammen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, noch einmal aufgerufen zu werden. Herr Kästner schien sich heute morgen mal wieder in meine Waden verbeißen zu wollen. Da half nur eines: ein gutes Ergebnis abliefern.   Ich räusperte mich. „Da Gregor kein Geld mehr verdient, muss die Familie arbeiten gehen. Grete nimmt eine Stelle als Verkäuferin an und ist zusätzlich für die Pflege des Käfers verantwortlich. Ich nehme an, dass ihr das auf Dauer einfach zu viel wurde und sie deswegen ihren Bruder loswerden wollte.“   Offenbar zufrieden wandte sich unser Deutschlehrer wieder der Tafel zu und notierte das Wort „Überforderung“ neben Gretes Namen. Während er nun dazu überging, den Rest der Klasse nach den weiteren Motiven der Schwester zu befragen, blieb ich an diesem Wort hängen. Die weißen Buchstaben auf dunkelgrünem Grund schienen förmlich aufzuleuchten, aus den anderen herauszutreten und mir zuzuraunen, dass sie wichtig waren. „Persönliche Aufwertung“ und „Respekt und Fürsorge den Eltern gegenüber“ gesellten sich dazu und plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht die Familienaufstellung Gregor Samsas zu betrachten, sondern meine eigene mit mir als merkwürdigem Käfer in der Mitte.   War es Christopher ebenso ergangen wie Grete? War auch ihm die Aufgabe, auf seinen Bruder aufzupassen, irgendwann über den Kopf gewachsen? Warum hatte er dann nicht einfach damit aufgehört? Immerhin war ich inzwischen erwachsen. Ich brauchte niemanden mehr, der mir Händchen hielt.   Aber sich verändern ist schwer.   Wenn jemand das wusste, dann ich. Viel zu lange hatte ich mich im Kreis gedreht, weil ich zu feige gewesen war, aus dem Karussell auszusteigen, in das ich mich selbst gesetzt hatte. Ich hatte weiter und weiter gemacht und wenn Benedikt nicht gewesen wäre, würde ich vermutlich immer noch darin feststecken.   Am Ende habe ich es dennoch geschafft, mich daraus zu befreien.   Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Unterschiede zwischen mir und Gregor Samsa wurden deutlich. Mochte ja sein, dass ich mich am Anfang ebenso verhalten hatte wie er. Ich hatte mich zurückgezogen und versucht, mein Geheimnis zu verbergen. Den Schein zu wahren und nur nichts von der Wahrheit durchsickern zu lassen. Ich hatte die Augen verschlossen und gehofft, dass sich alle Probleme von selbst in Wohlgefallen auflösen würden. Doch Gregor Samsa war an diesem Punkt stehengeblieben. Er hatte die Chance, die sich ihm durch seine Verwandlung geboten hatte, nicht genutzt. Ich hingegen war weitergegangen.   Außerdem haben meine Eltern nie aufgehört, einen Menschen in mir zu sehen. Sie haben sich nicht von mir abgewendet.   Noch während ich darüber nachdachte, wie viel Glück ich doch hatte, dass mein Umfeld so viel verständnisvoller war als das dieses Käfers, klingelte es. Herr Kästner vorn an der Tafel beendete die letzten Kreidestriche und legte das angefangene Stück in den dafür vorgesehenen Kasten auf dem Lehrerpult.   „Das nächste Mal beschäftigen wir uns mit den in 'Die Verwandlung' verwendeten Stilmitteln. Bereiten Sie sich also darauf vor!“, rief er noch in den allgemeinen Tumult hinein. Danach schnappte er sich seine Aktentasche, klemmte sie sich unter den Arm und floh vom Ort des Geschehens.     „Ich finde Kafka wirklich faszinierend“, sagte Anton, während wir auf dem Weg zur Pausenhalle waren. „Seine komplexe und doch einfache Satzstruktur, die Verwendung von Alliterationen, Parenthesen und Polyvalenzen, die …“   „Poly-was?“, unterbrach Jo ihn und wandte sich anschließend an Benedikt. „Hält dieses wandelnde Lexikon eigentlich auch mal die Klappe? Wie hältst du das nur aus?“   Anton, der Jos zweiten Einwurf geflissentlich überhört hatte, erklärte gewissenhaft: „Polyvalenz bedeutet, das etwas mehrere Anwendungsmöglichkeiten hat. Ein Fußballspieler beispielsweise, der auf verschiedenen Positionen ohne große Verluste einsetzbar ist, wäre ein Beispiel dafür. Du würdest vielleicht den Begriff 'Allrounder' benutzen.“   Jo guckte fast eine volle Minute dumm aus der Wäsche, bis er offenbar begriff, dass er Antons Erklärung tatsächlich verstanden hatte. Der jedoch referierte bereits weiter über Kafkas epochenprägenden Schreibstil und erging sich in noch mehr Fremdwörtern. Dabei blieb seine Miene weitestgehend ausdruckslos, nur die leichte Modulation seiner Stimmlage zeigte an, dass er in höchsten Maße begeistert war.   Mit Erstaunen bemerkte ich, dass mir das überhaupt auffiel. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Benedikt plötzlich. Wir hatten inzwischen unsere Ecke der Pausenhalle erreicht und entledigten uns einer nach dem anderen unserer Taschen und Rucksäcke. „Ja, alles okay. Ich bin nur noch ein wenig geschafft vom Wochenende.“   Benedikt lächelte und ich wusste, dass ich keine weiteren Worte brauchte. Stumm ließ ich mich neben ihn auf einem der Tische nieder. Unsere Oberschenkel berührten sich. Wie von selbst glitt mein Blick zu seinem Gesicht und ich versank in diesen dunklen, blauen Augen wie in dem Meer, an das sie mich immer erinnerten. Noch einmal glaubte ich, den Geruch des Salzwassers riechen zu können, den Wind in meinen Haaren zu spüren und den Geschmack seiner Lippen auf meinen wahrzunehmen. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte die Zeit zurückdrehen können, um all das wieder gutzumachen, was ich angerichtet hatte. Ich war wirklich ein riesengroßer Idiot gewesen, dass ich mich so lange dagegen gewehrt hatte.   „Wenn ihr euch noch weiter gegenseitig mit Blicken auszieht, könnt ihr auch gleich einen Anschlag ans Schwarze Brett machen“, unkte plötzlich eine Stimme dich neben mir. Ein Blick in ihre Richtung eröffnete mir die Aussicht auf Jos süßsauren Gesichtsausdruck. „Mal ehrlich, Mia hast du nie angeglotzt wie so ein Mondkalb. Wenigstens nicht, wenn wir dabei waren.“   Jo moserte und meckerte noch eine ganze Weile lang vor sich hin, aber ich hörte ihm schon nicht mehr zu. Die Erwähnung meiner Exfreundin hatte mich daran erinnert, dass es noch jemanden gab, den ich durch meine Selbstverleugnung verletzt hatte. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre Mia jetzt vielleicht mit jemandem zusammen gewesen, der sie aufrichtig liebte. Stattdessen hatte ich dafür gesorgt, dass sie in allgemeine Ungnade fiel, und sie dann im Stich gelassen. Ich wusste, dass es in dem Moment das Richtige gewesen war, aber vielleicht … vielleicht war es an der Zeit, diesen Zustand zu beenden.   Ich richtete mich auf und suchte die Pausenhalle ab. Mia stand am Rand unserer Jahrgangsgruppe, wo sie sich mit Anne unterhielt. Sie lächelte und der Anblick tat mir gut. Er ließ mich hoffen, dass mein Plan funktionieren konnte.   Ohne ein Wort zu Benedikt und den anderen zu sagen, erhob ich mich und schob mich zwischen den Leuten hindurch, bis ich direkt hinter Anne stand. Als sie es bemerkte drehte sie sich herum. Sofort wurde ihr Gesicht finster. „Was willst du?“, fragte sie und es war ihr anzusehen, dass sie sich in die weibliche Version von Stefan Hentschel zu verwandeln drohte, wenn ich die falsche Antwort gab. „Ich will nur mit ihr reden“, gab ich zurück. Anne rückte widerwillig ein Stück zur Seite und im nächsten Moment stand ich vor Mia. Mein Mund wurde trocken. „Hi“, sagte ich und sie grüßte ebenso zurück. Mit der Hand strich sie sich die Haare hinter das Ohr. Sie hatte sie ein ganzes Stück gekürzt. Einige der Strähnen lösten sich und fielen ihr erneut ins Gesicht. „Du hast eine neue Frisur.“   Unnützer Smalltalk, aber ich wusste nicht so wirklich, wie ich ihr sagen sollte, was ich zu sagen hatte.   „Ja, ich … ich dachte, es wäre mal Zeit für was Neues.“ Sie senkte den Blick, als ihr offenbar klar wurde, wie verräterisch und doppeldeutig diese Aussage war. „Mia, ich … ich wollte dir nochmal sagen, wie leid mir das alles tut.“   Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ist schon gut. Es ist nicht deine Schuld.“   Ich atmete tief durch. „Ich weiß. Aber ich … ich hab das Gefühl, dass ich dir mehr weggenommen habe, als nur den Freund.“   Jetzt blickte sie auf und in ihren Augen stand etwas Vertrautes. Eine ungläubige Hoffnung und sehnsüchtiges Verlangen. Es war dieser Ausdruck, der mich dazu brachte, weiterzureden. „Weißt du, wir … wir konnten doch immer über alles reden. Und ich … also ich weiß nicht, ob es dafür zu früh ist, aber ich würde gerne wissen, ob du denkst, dass wir vielleicht …“ „Freunde sein könnten?“   Hätte Mia in diesem Moment abfällig geklungen oder gar verletzt, wäre ich sofort gegangen. Sie hatte ein Recht darauf, von mir in Ruhe gelassen zu werden. Ihr Ton allerdings legte die Vermutung nahe, dass es ihr ebenso ging wie mir. Doch, um mir sicher zu sein, musste ich es aussprechen. „Du bist mir einfach als Mensch sehr wichtig“, versuchte ich in Worte zu fassen, was ich dachte. „Und das ist nicht einfach nur irgendein Spruch. Ich vermisse unsere Gespräche und ich …“   Ich brach ab, als ich sah, dass Mia Tränen in den Augen hatte. „Ich auch“, hauchte sie und wischte sich im nächsten Moment hektisch über das Gesicht.   „Oh Himmel, jetzt flenne ich auch noch rum“, rief sie und lachte, während sie geräuschvoll die Nase hochzog. Wenn ihre Mutter das gehört hätte, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen.   „Die Antwort ist Ja.“   Mia strahlte mich an. Mein Blick glitt zu Anne, die demonstrativ aufstöhnte. „Na meinetwegen. Ich denke zwar, dass das ne schlechte Idee ist, aber Mia ist schon ein großes Mädchen. Sie muss wissen, auf was sie sich einlässt. Ihr wart ja immerhin lange genug zusammen.“   Ein Grinsen, das so schnell nicht wieder weggehen würde, bemächtigte sich meines Gesichts. Anne stöhnte. „Jetzt grins nicht auch noch so blöd. Du bekommst sowieso immer alles, was du willst. Das Mädchen, den Jungen und vermutlich würden sie dir auch noch Pferde und Schlösser nachschmeißen, wenn du nur darum bitten würdest. Von halben Königreichen mal ganz zu schweigen.“ „Also kommt ihr mit rüber?“, hakte ich nach und wurde mit einem weiteren Stöhnen und einem Strahlen von Mia belohnt. „Ja, gerne.“     Als wir zurückkamen, sah Jo aus, als stände er kurz vor dem Herzstillstand.   „Was wird das denn jetzt? Plant ihr ne Orgie?“   „Maximal eine Orgie der Freundschaft“, gab ich zurück und fühlte mich gut wie schon lange nicht mehr. Ich nahm Mias Hand und führte sie zu dem Tisch, auf dem Benedikt saß. Er sah zuerst mich und dann Mia an. „Hey!“, machte er in ihre Richtung. „Alles klar bei dir?“   Mia nickte. „Ja, und selbst?“ „Ach, muss ja.“   Ich verkniff mir ein Lachen und sah nach unten. Auch das Verhältnis zwischen Mia und Benedikt würde sich erst langsam aufbauen müssen. Ob es klappen würde?   „Du hast einen guten Männergeschmack“, sagte Mia plötzlich und ließ sowohl Benedikt wie auch mich erstaunt die Augen aufreißen. „Äh, ja … danke“, stammelte Benedikt wenig eloquent. Mia brach in ein glockenhelles Lachen aus. „Ach, nun kommt schon. Ich weiß, dass das komisch ist, aber wenn wir die ganze Zeit versuchen, das Thema zu vermeiden, tun wir uns damit auch keinen Gefallen. Also lasst euch gesagt sein, dass es okay für mich ist. Ich freu mich für euch.“ Dabei lächelte sie mich und Benedikt an und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Mia nahm das zum Anlass, sich neben Benedikt auf den Tisch zu setzen und sich mit den anderen zu unterhalten, als hätte sie nie etwas anderes getan. Es war sicherlich immer noch ein wenig gezwungen, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir es hinkriegen würden. „Du siehst glücklich aus.“   Benedikt hatte sich halb erhoben und stand jetzt direkt vor mir. „Bin ich auch“ erwiderte ich und meinte es so, wie ich es sagte. Sicherlich würden noch einige Berge und vor allem Täler auf mich zukommen, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich nicht so an, als würde der Weg immer nur nach unten führen. „Ich wäre jetzt gern ein bisschen mit dir allein“, wisperte Benedikt und ich wusste sofort, was er meinte. Mein Herz begann zu klopfen. „Warum allein?“, fragte ich trotzdem zurück und erhielt einen leicht verschämten Blick. „Na, ich … ich würde dich jetzt gerne küssen.“   Ich spürte die Schläge, die gegen meinen Brustkorb hämmerten. Sie brachten etwas in mir zum Erklingen und ließen mich schneller atmen. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Ich wollte Benedikt anfassen, ihn berühren, ihn schmecken. Sofort. „Dann tu’s doch“, sagte ich und bemühte mich, meine Aufregung nicht allzu sehr an die Oberfläche kommen zu lassen. Benedikts Augenbrauen schossen nach oben. „Hier?“   Ich lächelte leicht, obwohl meine Hände zitterten. „Warum nicht?“   Er lachte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und senkte den Kopf, bevor er mich von unten herauf ansah.   „Na weil … weil es dann alle sehen. Ist es das, was du wirklich willst?“   Ich verstand, warum er zögerte. Wenn wir das taten, gab es kein Zurück mehr. Für keinen von uns. Der Gedanke verdoppelte meinen Pulsschlag noch einmal. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Gleichzeitig wollte ich jubeln und tanzen und singen. In meinem Kopf drehte sich alles. „Ja“, stieß ich hervor. „Ja, das will ich. Ich will mich nicht mehr verstecken. Keine Angst mehr haben. Ich … ich will einfach, dass die Leute sehen, dass wir zusammengehören.“   Ich weiß nicht, was genau es war, das den Ausschlag gab, aber plötzlich begann Benedikt zu lächeln.   „Du willst also so richtig ein Paar sein mit allem drum und dran.“ „Ja!“   Ich lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „War dir das denn nicht klar?“   Er hob leicht die Schultern. „Weiß nicht. Es hätte ja sein können, dass …“   Ich schnitt ihm das Wort ab, indem ich auf ihn zutrat und meine Arme um seinen Hals schlang. Ernst blickte ich ihm in die Augen.   „Benedikt, ich …. ich empfinde unheimlich viel für dich. Mehr, als ich je für jemanden empfunden habe. Und auch wenn ich viel zu lange gebraucht habe, um es einzusehen, war dich zu küssen eine der besten Ideen, die ich je gehabt habe.“   Benedikt grinste. „Also eigentlich war das ja meine Idee.“   Ich verdrehte die Augen. „Wie auch immer. Fakt ist, dass ich … ich …“   Ich stockte. Die Worte wollten einfach nicht herauskommen. Obwohl ich genau wusste, was ich sagen wollte, aber es kam mir so plump vor. So dämlich. So …   „Äh … was macht ihr beide denn da?“   Benedikt und ich drehten die Köpfe zur Seite und sahen uns Mia-Sophie gegenüber. Zweitschönstes Mädchen des Jahrgangs und Lästermaul Nummer Eins, wenn es um Schulklatsch und Tratsch ging. „Wonach sieht’s denn aus?“, fragte Benedikt zurück. „Wir unterhalten uns.“   „Ja, aber T …?! Warum hast du deine Arme um seinen Hals gelegt. Du bist doch nicht schwul.“   Ich blinzelte kurz, sah Benedikt an und dann wieder Mia-Sophie.   „Doch bin ich“, antwortete ich und grinste. „Und falls du mir nicht glaubst, hier ist der Beweis.“   Mit diesen Worten drehte ich mich wieder zu Benedikt herum, lehnte mich vor und drückte meinen Mund so fest auf seinen, wie ich nur konnte. Hinter mir hörte ich Mia-Sophie zuerst nach Luft schnappen und anschließend kreischen.   „OH MEIN GOTT! Die küssen sich. T und Benedikt küssen sich!“   Gemurmel brandete auf, Tische und Stühle wurden gerückt, ungläubige Stimmen wurden laut. Jeder wollte sehen, ob es stimmte oder ob Mia-Sophie einfach nur übergeschnappt war.   Ich kümmerte mich nicht darum, sondern konzentrierte mich voll auf Benedikt, auf seine Lippen an meinen und das Gefühl in seinen Armen zu liegen. „Du bist ja verrückt,“ flüsterte er mir ins Ohr, nachdem wir den Kuss beendet hatten. „Verrückt nach dir“, gab ich ebenso leise zurück. Ich drückte ihn noch einmal an mich, bevor ich ihn endgültig losließ und mich der tobenden Meute stellte, aus der inzwischen Pfiffe und Klatschen zu uns vordrangen. Mindestens drei Dutzend neugierige Augen, die uns allesamt anstarrten. Aber es machte mir nichts aus. Ich hatte keine Angst mehr.   Denn es mochte der Kopf sein, der für uns die Entscheidungen traf. Der uns vor echten oder eingebildeten Monstern beschützte, uns half, Wissen anzusammeln, kreativ zu sein und das, was in uns drinsteckte, in eine Sprache zu fassen, damit wir gehört wurden. Der Kopf sicherte unser Überleben und ich hatte ihn weiß Gott lange genug entscheiden lassen, was ich tat. Doch am Ende, wenn alle Worte gesagt und die Musik verstummt war, war es das Herz, das dafür sorgte, dass wir glücklich waren.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)