Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 39: Trümmerbruch ------------------------ „Du willst das also wirklich durchziehen?“ Die Frage kam von Jo, der mit mir und den anderen zusammen auf dem Pausenhof saß. Wir aalten uns in der Sonne und mein bester Freund kommentierte abwechselnd die vorbeigehenden Mädchen oder regte sich über unseren Deutschlehrer auf. Kafka und Jo würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden. „Ja, will ich“, antwortete ich und meinte es so, wie ich es sagte. Die hinter mir liegenden Tage waren die Hölle gewesen und so langsam hielt ich die Spannung nicht mehr aus. Morgen hatte Christopher Geburtstag. Er würde erst gegen Mittag kommen, weil er mit seinen Freunden reinfeierte. Bis dahin würde ich mich gedulden müssen, auch wenn mir das zunehmend schwerer fiel. Ich konnte jetzt verstehen, was Benedikt gemeint hatte, als er sagte, er habe nicht mehr lügen wollen. Es zu tun, war eine Sache. Aber es im vollen Bewusstsein zu tun, dass es falsch war, zerrte an meinen Nerven. Es war somit wohl nicht weiter verwunderlich, dass mich am Mittwoch wieder meine altbekannten Kopfschmerzen heimgesucht hatten. Dummerweise hatte das meine Mutter wieder auf die Spur gebracht. Im allgemeinen Trubel um Feriengäste, Haus und Hof hatte sie übers Wochenende glücklicherweise vergessen, noch einmal nach dem Anruf bei der Ärztin zu fragen. Dass ich größtenteils vermieden hatte, ihr über den Weg zu laufen, und nur zu den Mahlzeiten in ihrem Blickfeld erschienen war, hatte sicherlich sein Übriges dazu getan. Als ich jedoch nach einer Kopfschmerztablette gefragt hatte, hatte sie sich wieder daran erinnert, dass meine Ergebnisse noch ausstanden. „Sie hat gesagt, es ist nur Migräne“, gab ich zur Antwort. „Kann man nicht viel machen. Ich soll das mal beobachten und ein Kopfschmerz-Tagebuch führen. Dann können wir über eine eventuelle Therapie sprechen.“ Diese Antwort hatte meiner Mutter genügt; besonders nachdem ich ihr versichert hatte, dass die Schmerzen schon weniger geworden waren. Letzteres war ausnahmsweise keine Lüge gewesen. Trotzdem hatte sich die Erleichterung, die ich meiner Mutter dadurch verschaffte, nicht wirklich gut angefühlt. Mehr wie ein Ersatz. Ein Placebo, das nur Wirkung zeigte, weil sie daran glaubte. Glauben wollte vielleicht. Ich wusste es nicht, denn ich hatte vermieden sie anzusehen, als ich es ihr erzählt hatte. Ich hatte Angst gehabt, dass sie sonst die Wahrheit erkennen würde. Nun war die Stunde, in der ich diese verkünden würde, immer näher herangerückt und ich zitterte ihr entgegen wie eine Jungfrau der Hochzeitsnacht. „Ich würde mir da nicht so einen Kopf machen.“ Leon lümmelte neben mir auf der Bank. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. „Sie werden vielleicht erst ein bisschen erstaunt sein, aber im Endeffekt: Was wollen sie denn machen? Dich in ein Umerziehungscamp schicken? Ich glaube, so was gibt es hier gar nicht.“ „Stimmt, das haben nur die Amis“, pflichtete Jo ihm bei. „Tatsächlich ist die Konversionstherapie erst seit kurzem in Deutschland gesetzlich verboten“, ließ sich da ein ein wenig ungewöhnlicher Gast in unserer Runde vernehmen. Anton richtete seinen Blick auf Jo und setzte hinzu: „Homosexualität wurde auch erst im Jahr 1992 aus der von der WHO veröffentlichten internationalen Klassifikation psychischer Störungen entfernt. Somit ist mittlerweile allerdings auch wissenschaftlich anerkannt, dass es sich dabei nicht um eine Geisteskrankheit handelt.“ Jo grinste breit. „Na dann wäre ja geklärt, dass unsere beiden Spezis hier nicht verrückt sind.“ „Idiotie wird jedoch weiterhin geführt“, fuhr Anton ungerührt fort und erntete dafür ein amüsiertes Prusten von Benedikt. Auch Leon lachte auf, während Phillip versuchte, nur unauffällig in sein Pausenbrot zu grinsen. Jo, der inzwischen mitbekommen hatte, dass der Spaß auf seine Kosten ging, plusterte sich auf. „Du brauchst gar nicht so geschwollen daherzureden, Brillenschlange. Als wenn ich keine Fremdwörter könnte.“ „Deine Leistungen in Latein ließen mich das in der Tat in Erwägung ziehen“, gab Anton zurück und erntete dafür einen Rempler von Benedikt. „Hör auf zu stänkern.“ Benedikts bester Freund sagte daraufhin gar nichts mehr und lächelte nur sphinxhaft vor sich hin. Ich schickte Benedikt einen dankbaren Blick, denn die Pausen glichen momentan mehr als sonst einem Drahtseilakt. Zwar kam es nicht zu offensichtlichen Feindseligkeiten zwischen ihm und Jo, aber so richtig grün waren sich die beiden immer noch nicht. Dass Benedikt Anton mit in die Runde gebracht hatte, verkomplizierte das Ganze noch, aber ich war nicht in der Position, ihm das Hiersein zu verbieten. Und ich wollte es auch gar nicht. Ich fand es gut, so wie es war. Ein kleines Stück vom ganz normalen Leben. Oder eben nicht normal. Je nachdem, wie man es betrachtet. Der Gedanke brachte mich dazu, mich zu fragen, was wohl passiert wäre, wenn mich meine Eltern tatsächlich zu so einem Umerziehungs-Guru geschleppt hätten. Ob ich ihm nicht ebenso auf den Leim gegangen wäre wie viele andere? Immerhin hatte ich den Fakt, dass ich schwul war, lange genug vor mir selbst geheimgehalten. Hätte mir jemand gesagt, dass ich mir aussuchen konnte, auf was ich stand, ich hätte ihm vielleicht sogar zugehört. Aber inzwischen nicht mehr. Oder doch? Es war ein sinnloses Gedankenexperiment und ich wusste es. Die Frage, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich doch hetero wäre, hielt mich trotzdem gefangen. Ich wäre wohl immer noch mit Mia zusammen, hätte am Wochenende Pläne mit meinen Freunden und nicht so einen Stein im Magen, weil ich mich vor meiner Familie outen wollte. Andererseits wäre ich vielleicht nie mit Mia zusammengekommen, wenn Benedikt nicht gewesen wäre. Immerhin war er es gewesen, der mir geholfen hatte, meine Furcht davor, Mia anzusprechen, zu überwinden. Oder hätte ich diese Furcht gar nicht gehabt, wenn ich nicht schwul wäre? Vielleicht hätte ich mich nie mit ihm angefreundet, wäre heute mit irgendeinem anderen Mädchen zusammen und … Stopp! Ich wusste, dass diese Grübelei nichts brachte. Ich musste wirklich aufhören, mich immer wieder in diese Strudel ziehen zu lassen, die mich herum und herum wirbelten, ohne jemals zu einem Ergebnis zu kommen. Am Ende fühlte ich mich doch nur wieder schlecht, hatte ein schlechtes Gewissen und Benedikt musste mich erneut aus meinem Loch holen. Das war unfair und ich wollte nicht, dass er diese Rolle innehatte. „Aber ich hab damit kein Problem“, sagte er ein ums andere Mal. Ich hingegen war mir sicher, dass es früher oder später eins werden würde. Und schon hatte ich Futter für eine neue Gedankenspirale. Es war zum Verzweifeln. Wie von selbst glitt meine Hand zu meiner Hosentasche. Ich fühlte den kleinen, harten Knubbel, der von dem Gegenstand herrührte, den ich darin trug. Es war die kleine Muschel, die Reike mir zum Abschied im Zeltlager geschenkt hatte. Sie erinnerte mich daran, dass ich stark bleiben musste. Gedanken kommen und gehen, versuchte ich mich an einem Mantra, das ich irgendwo im Internet gefunden hatte. Dieser ganze spirituelle Kram war eigentlich nicht mein Ding, aber wenn so viele darauf schwörten, konnte es ja vielleicht nicht ganz falsch sein. Ich brauche jemanden, der mir dabei hilft. Und um den zu bekommen, muss ich meinen Eltern die Wahrheit sagen. Es ist die einzige Möglichkeit. Zumindest wenn ich davon absah, von zu Hause auszuziehen und ab jetzt mein Leben ohne meine Familie zu verbringen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte … ich wusste nicht, was ich wollte und das war wohl das Problem. Benedikt hatte gesagt, ich solle mir überlegen, was mich hinterher erwartete. Ich vermochte mir das nur einfach nicht vorzustellen. Was war denn dann? Du kannst Benedikt zu dir einladen und sie werden wissen, dass er dein Freund ist. Du kannst ihn ansehen oder berühren, ohne Angst zu haben, dich zu verraten. Du wirst einen weiteren Ort haben, an dem du sicher bist. Der Gedanke fühlte sich gut an. Mir vorzustellen, dass es bei mir zu Hause so sein konnte, wie bei Benedikt, erschien mir zwar utopisch, aber vielleicht auch … machbar. Es würde wahrscheinlich dauern. Und vielleicht würde ich mehr Geduld beweisen müssen, als ich glaubte aufbringen zu können, aber am Ende würde es gut ausgehen. Ich musste nur daran glauben. Und wenn nicht, kann ich immer noch auswandern, versuchte ich mich zu trösten und erhob mich, weil es zum letzten Unterricht dieser Woche klingelte. In noch nicht einmal 24 Stunden war es so weit. Dann würde ich mich daran machen, mein Leben endgültig umzukrempeln. Die restliche Zeit bis zu Christophers Ankunft zog sich wie Kaugummi. Zum ersten Mal war ich froh, dass meine Eltern mich mit so vielen Aufgaben überschütteten, dass ich sie unmöglich alle schaffen konnte. Als ich am Freitagabend doch in einem unbedachten Moment darüber murrte, lachte meine Mutter. „Sieh es als Geburtstagsgeschenk für deinen Bruder an. Dann muss er am Wochenende nicht so viel mitanpacken.“ Ich lächelte die Bemerkung, die mir dazu auf der Zunge lag, weg und freute mich insgeheim lieber darüber, dass Katja nun doch nicht mitkommen würde. Stattdessen hatte mein Bruder angekündigt, bereits vor dem Abendessen wieder zurückzufahren, um den Abend mit ihr allein zu verbringen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Vor allem aber erhoffte ich mir, dass er deswegen nicht allzu spät kommen würde. So würde genug Zeit bleiben, um mit ihm zu sprechen. Tatsächlich sollte ich recht behalten. Bereits kurz vor halb elf rollte Christophers Auto auf den Hof, wo er von mir und unseren Eltern in Empfang genommen wurde. Es folgten die üblichen Glückwünsche, ein Umschlag, der einen sicherlich nicht unerheblichen Geldbetrag enthielt, wechselte den Besitzer und Christopher erstattete Bericht, wie es um Studium und Liebesleben bestellt war. Danach stand meine Mutter auf, um das Mittagessen vorzubereiten. Auch mein Vater entschuldigte sich, um vor dem Essen noch einmal nach den Tieren zu sehen. Normalerweise hätte mein Bruder ihn wohl begleitet, doch dieses Mal blieb er mit mir zusammen im Wohnzimmer sitzen. Im Hintergrund hörte man unsere Mutter in der Küche werken. Neugierig sah Christopher mich an. „Na, dann schieß mal los“, forderte er mich auf. Augenblicklich verdoppelte sich mein Herzschlag. Die ganze Szenerie vorher hatte ich nur so halb mitbekommen, weil ich mich die ganze Zeit vor diesem Zeitpunkt gefürchtet hatte. Nun war er gekommen und ich wünschte ihn mir noch ungefähr drei Wochen weit weg. Oder drei Jahre. Hauptsache weg. „Wir … wir sollten vielleicht hochgehen“, antwortete ich vorsichtig. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie er reagieren würde. Daher wollte ich vermeiden, dass unsere Eltern in Hörweite waren, wenn er es erfuhr. „Na, du musst ja was Schlimmes ausgefressen haben“, erwiderte Christopher lachend, stand aber auf und machte sich auf den Weg, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen. Ich folgte ihm und fühlte mich seltsam fremd in meinem Körper. War das wirklich ich, der jetzt die Tür schloss, während mein Bruder sich auf mein Bett setzte und mich von dort aus aufmerksam betrachtete. „Ich rate mal“, sagte er, nachdem ich mich immer noch nicht gerührt hatte. Ich bekam meine Hand einfach nicht von der Türklinke weg. „Es geht um die Tabletten.“ Im ersten Moment wusste ich nicht, wovon er redete. Als es mir einfiel, hätte ich beinahe gelacht. Dieses Geheimnis erschien mir jetzt so lächerlich. „Ich hab es wirklich nur gut gemeint, als ich Mama davon erzählt habe“, fuhr mein Bruder fort. „Die Dinger sind nicht so harmlos, wie man meinen sollte. Auf die Dauer können dadurch Leberschäden entstehen. Ich denke, bei den Mengen, die du da gebunkert hattest, war auch dir klar, dass das nicht so ganz normal ist.“ Ich nickte wie betäubt. Natürlich war mir das klar gewesen. Ich hatte nicht umsonst immer verschiedene Apotheken aufgesucht, um mir meinen Vorrat zu besorgen. „Es geht nicht darum“, brachte ich irgendwie hervor, obwohl alles an mir danach schrie, den Ausweg zu nutzen, den er mir unwissentlich geboten hatte. „Oder auch, aber nicht in der Hauptsache. Es ist … ein bisschen komplizierter.“ „Komplizierter?“ Christoper hob fragend die Augenbrauen. Ein Schmunzeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Was hast du gemacht? Hast du die Dinger vertickt, oder was?“ „Nein, ich …“ Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich hatte mir Stunde um Stunde den Kopf zermartert, wie ich es meinem Bruder am besten beibringen konnte. Doch jetzt, wo es soweit war, war das Ding auf meinen Schultern wie leergefegt. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und immer noch krampften sich meine Finger um die Türklinke. „Ich fasse also mal zusammen“, sagte mein Bruder, meine Verfassung vollkommen ignorierend. „Du hast kein Kind gezeugt und keine Drogen verkauft. Was dann? Hast du jemanden umgebracht?“ Ich wollte gerade antworten, dass das ausgemachter Blödsinn war, doch in diesem Moment ging mir auf, dass Christopher in gewisser Weise recht hatte. Ich hatte jemanden getötet. Den Bruder, den er kannte, gab es so nicht mehr. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben. Er war nur eine Maske gewesen. Eine Figur, die ich gespielt hatte, bis ich mich selbst darin verloren hatte. Jetzt war ich aus meiner Kulisse getreten. Ich hatte die Rolle geschmissen, die ich mir selbst auf den Leib geschneidert hatte; so eng, dass mir keine Luft mehr zum Atmen geblieben war. Jetzt war ich bereit sie abzustreifen und alles, was ich dafür tun musste, war, die Wahrheit zu sagen. Doch wie würde das Publikum reagieren? „Nichts von alldem“, sagte ich schließlich und riss mich von der Tür los. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging ich zu meinem Schreibtisch. Der Drehstuhl mit dem anthrazitfarbenen Bezug stand bereit, aber ich setzte mich nicht. Ich wollte meinen Untergang lieber stehend erleben. „Ich … war beim Arzt. Wegen meiner Kopfschmerzen.“ „Und?“ „Sie hat gesagt, dass es wohl was Psychisches ist. Ich … ich überlege, eine Therapie deswegen zu machen.“ Für einen Moment war es still im Zimmer. Ich hörte draußen die Vögel zwitschern und Sommergeruch wehte durch das geöffnete Dachfenster herein. „Wissen unsere Eltern das schon?“ „Nein, ich … ich habe es ihnen noch nicht gesagt. Denn da ist noch mehr.“ Ich schloss die Augen und meine Finger tasteten nach der Lehne des Bürostuhls. Ich brauchte jetzt etwas, um mich festzuhalten. „Noch mehr?“, echote Christopher. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber ich wusste, wie er aussah. Es war das Gesicht, das mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte. Nur das meines nicht ganz so perfekt war. Nicht ganz der Adonis aus der Sagenwelt, der alle mit seinem Aussehen entzückte. Benedikt hätte mir sicherlich widersprochen, aber … Ich lächelte, als ich an meinen Freund denken musste. Die Vorstellung, wie er jetzt neben mir stand und mir lächelnd zunickte, mir versicherte, dass alles gut werden würde, gab mir den Mut weiterzumachen. Mit diesem Vorsatz drehte ich mich zu Christopher um. Er saß immer noch auf dem Bett. Zwischen uns waren gut drei Meter Platz. Genug, um zu flüchten. Aber ich werde nicht flüchten. Ich werde nicht wieder weglaufen. Wie, um mich selbst am Verlassen des Zimmers zu hindern, nahm ich mir jetzt doch den Stuhl und setzte mich. Erst danach merkte ich, wie sehr meine Knie zitterten. „Also los, nun spuck’s schon aus“, forderte Christopher mich auf. Ich konnte sehen, dass er langsam ungeduldig wurde. Das hier dauerte schon viel zu lange. „Es … es ist nicht so ganz einfach. Ich hab ein bisschen Angst davor, was du dazu sagen wirst“, gab ich zögernd zu. „Was ich wozu sagen werde?“ „Dazu, dass ich festgestellt habe, dass ich …?“ Christopher begann zu grinsen. „Dass du was? Rockstar werden willst? Auf Volksmusik stehst? Gerne Frauenkleider trägst?“ „Dass ich schwul bin.“ In dem Moment, in dem ich es aussprach, stockte mir der Atem. Die Aufzählung meines Bruders war so lächerlich gewesen, dass mir mein Geständnis dagegen fast schon harmlos vorkam. Gleichzeitig hätte ich wohl nichts Schlimmeres sagen können. „Du bist … WAS?“ Mein Bruder riss die Augen auf und sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dann begann er zu lachen. „Ich glaub’s ja nicht“, prustete er. „Jetzt hättest du mich fast soweit gehabt, dass ich dir das abkaufe. Du solltest Schauspieler werden.“ „Christopher“, versuchte ich zu ihm durchzudringen, aber er war so mit Lachen beschäftigt, dass er mir gar nicht zuhörte. „Also wirklich“, japste er immer noch mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. „Die Show ist echt bühnenreif. Das musst du unbedingt nachher nochmal machen. Unsere Eltern werden tot umfallen.“ Als ich nicht reagierte, wurde er langsam wieder ernster. „Was?“, machte er und setzte an, sich zu erheben. „Du hast doch wohl nicht gedacht, dass ich dir das wirklich abkaufe.“ „Aber es stimmt“, sagte ich leise. Ich hatte mit vielen gerechnet, aber nicht damit, dass er mich auslachte. „Theodor“, sagte er und klang dabei wie unser Vater, als er mir erklärt hatte, dass die Vögel, die ich aus Papier gebastelt hatte, nicht weiter fliegen würden, als ich sie werfen konnte. Ich hatte das natürlich gewusst, aber es war doch nur ein Spiel gewesen. „Theodor, du kannst gar nicht schwul sein. Du hast eine Freundin.“ Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich mit Mia Schluss gemacht hatte, aber ich kam gar nicht dazu. Christopher redete bereits weiter. „Und überhaupt, wo soll das denn auf einmal herkommen? Ich meine, ja, da ist dieses Foto mit den Strumpfhosen, aber das war doch wirklich nur ein Spaß von mir. Du musst dir das doch nicht so zu Herzen nehmen.“ Ein schmales Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Ich wusste nicht, was es da wollte. Es gab keinen Anlass fröhlich zu sein. Offenbar war mein Bruder felsenfest der Meinung, dass ich nicht schwul sein konnte. Ich wusste nicht, ob ich das dumm oder tragisch finden sollte. „Es ist kein Witz“, sagte ich. „Mia und ich sind nicht mehr zusammen. Ich habe jetzt einen Freund.“ Mein Bruder hörte auf zu lachen. Für einen Moment kehrte Stille ein. Irgendwo hörte man eine Tür klappen. Vielleicht mein Vater, der aus dem Stall kam. „Das ist kein Scherz?“, fragte Christopher nach. Anscheinend schien ihm so langsam zu dämmern, dass ich es wirklich ernst meinte. „Du meinst, dass du wirklich mit einem Typen …?“ „Sein Name ist Benedikt. Wir sind zusammen in einem Jahrgang.“ Immer noch regte sich kein Muskel in Christophers Gesicht. Es war, als wäre mein Spiegelbild eingefroren. Woher würde der Hammer kommen, um es zu zerschlagen? „Das glaube ich nicht.“ Der Satz, den er mir entgegenschleuderte, prallte gegen meine Brust und brachte mich ins Wanken. „Hast du einen Sockenschuss? Das geht überhaupt nicht. Du kannst nicht schwul sein.“ Wieder dieses Wort. Wieder die Feststellung, dass es nicht sein konnte. Warum eigentlich nicht? „Warum nicht?“, fragte ich und sah meinen Bruder herausfordernd an. „Sag mir einen vernünftigen Grund, warum ich nicht schwul sein kann.“ Mein Bruder schnaubte und wandte den Kopf ab. „Was weiß ich. Da gibt es tausend Gründe. Schon allein, weil du zwei Jahre lang eine Freundin hattest. Das gibt man doch nicht einfach so auf. Ich hab euch doch gesehen. Ihr wart glücklich.“ Jetzt war es an mir zu lächeln. „Tja, vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich wirklich Schauspieler werden. Immerhin war ich so gut, dass ich diesbezüglich sogar mich selbst angelogen habe.“ Mein Bruder sah mich immer noch nicht an, trotzdem redete ich weiter. „Ich hab es auch lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Ich hab gedacht, dass es wieder weggeht, dass es nur eine Phase ist oder irgendwas. Aber es ist nicht weggegangen. Stattdessen habe ich mich verliebt. In Benedikt. Wir sind glücklich miteinander.“ „So glücklich wie mit Mia?“ Die Frage kam mit so viel Bitternis und Spott, dass ich schlucken musste. Mein Bruder lächelte nachsichtig. „Siehst du? Du kannst gar nicht wissen, ob das jetzt das ist, was du willst. Wie lange seid ihr denn überhaupt zusammen?“ „Drei Wochen?“ Ich mochte nicht, wie zögernd meine Stimme klang. Und natürlich sprang Christopher auf den Zug auf. „Na siehst du. Das ist nichts. Ich weiß ja nicht, was dich geritten hat, dich ausgerechnet auf diesen Benedikt einzulassen, aber das kommt vor. Schwule sind ja auch nette Typen. So verständnisvoll. Vielleicht hat er dich getröstet, als du wegen Mia unglücklich warst. Ihr habt ein bisschen rumgemacht. Kann ja sein. Aber deswegen bist du doch noch lange nicht schwul.“ Er sah mich jetzt wieder an und hinter seiner fröhlichen Heiterkeit erkannte ich noch etwas anderes. Es ähnelte dem, was ich bei Jo gesehen hatte, und war doch vollkommen anders. Das hier war persönlicher. „Wie kommst du darauf?“, fragte ich tonlos. Ich wusste, dass das, was er mir antworten würde, eine Lüge sein würde. „Ist nem Kumpel von mir passiert“, entgegnete er lapidar, als wäre es wirklich so. Nichts verriet ihm. „Er hatte gesoffen, nachdem mit seiner Freundin Schluss war und am nächsten Morgen ist er im Bett von diesem Kerl aufgewacht. War ne einmalige Sache und ist seit dem nicht wieder vorgekommen.“ „Woher weißt du das?“ „Ich weiß es einfach.“ Lüge! Es stand in Leuchtbuchstaben über seinem Kopf, aber ich sprach es nicht aus. Wenn er es nicht wahrhaben wollte, war es nicht mein Problem. Christopher hatte jedoch kein Recht, mir meine Wahrheit abzusprechen. „Nun, dann geht es deinem Kumpel anders als mir. Ich hab inzwischen verstanden, was ich bin. Wer ich bin. Und ich werde nicht damit aufhören, nur weil es nicht in dein Weltbild passt.“ Christopher wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment rief unsere Mutter uns zum Essen. „Wir sollten gehen“, sagte er statt dem, was er eigentlich hatte sagen wollen. „Papa wartet nicht gerne.“ Damit erhob er sich und ging aus dem Zimmer. Ich blieb zurück und war wie vor den Kopf geschlagen. Mein Bruder, mein eigener Bruder, nahm mir mein Outing einfach nicht ab. Er tat es als Witz ab. Als geschmacklosen Scherz. Als etwas, das nicht sein konnte. Wie betäubt ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Ich konnte dort jetzt nicht runtergehen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Meine Welt war gerade zusammengebrochen und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie wieder kitten sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)