Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 30: Bergab ------------------ Die dicht gepackten Buchreihen mit den alphabetisch geordneten Schildern blickten stoisch auf uns herab, während wir die vormals herausgezerrten Schätze wieder an den dafür vorgesehenen Plätzen verstauten. Ich hatte mich bereit erklärt, Anton und Benedikt dabei zu helfen, was mir einen zweifelnden Blick von Jo eingebracht hatte und eine Frage von Leon, ob er mir was aus der Mensa mitbringen sollte.   „Nein danke, ich hab“, hatte ich geantwortet und war mit Benedikt zusammen in Richtung Bibliothek abgeschoben. Jetzt ordneten er und ich Stapel um Stapel in die kaum einen Meter auseinander stehenden Regale, während Anton uns vom anderen Ende des Ganges aus kritisch überwachte.   „Halt, das ist falsch“, meckerte er prompt, als Benedikt gerade ein paar Bücher auf eines der oberen Regalbretter schieben wollte. „'Die Physiker' kommt erst nach 'Der Besuch der alten Dame'.“   „Wie Euer Hochwohlgeboren befehlen“, antwortete Benedikt lachend und legte die Bücher an die richtige Stelle, bevor er sich von mir das zweite Werk Dürrenmatts reichen ließ. Anton nickte wohlwollend und begab sich anschließend zum Bücherei-Computer, um weiter die Liste einzupflegen, auf der vermerkt war, wer von uns welches Buch aus den heiligen Beständen mit nach Hause genommen hatte.   Benedikt trug derweil die Trittleiter weiter zu Abteilung „B“. Geschickt kletterte er die drei Stufen nach oben und sah von dort aus zu mir herab.   „Gibst du mir mal 'Mutter Courage' hoch?“ „Klar.“   Ich griff nach dem entsprechenden Stapel und reichte ihn in die Höhe. Ganz obenauf lag das Exemplar, das ich für meine Buchpräsentation hatte verwenden wollen. Herr Kästner hatte es mir mit den Worten „Sie nehmen dieses hier“ wieder abgenommen und achtlos auf den Haufen zurückgeworfen. Danach hatte er mir ein kleines, rotes Büchlein in die Hand gedrückt, das bis dahin auf seinem Pult gelegen hatte. In weißen Lettern hatte der Einband verkündet, dass es sich dabei um den vielgefragten „Faust“ handelte.   „Warum das?“, hatte ich gefragt und Herrn Kästner erstaunt angesehen. Er hatte ohne zu blinzeln zurückgestarrt.   „Weil ich Ihnen zutraue, es nicht vollkommen zu versauen“, hatte er geantwortet und sich dann Ben und Sandra zugewandt, die sich über „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ in die Haare bekommen hatten. Ich hingegen hatte jetzt sein höchstpersönliches Faust-Exemplar in meinem Rucksack und wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte.   „So, das war’s“, verkündete Benedikt in diesem Augenblick und stieg wieder von der Leiter. Ich nahm sie ihm ab und räumte sie wieder in die hinterste Ecke. Danach gingen wir beide nach vorne zu Anton.   „Na, wie weit bist du?“, wollte Benedikt wissen. Er spähte Anton über die Schulter.   „Fast fertig“, gab der zurück ohne aufzusehen. „Die Literaturauswahl ist wirklich interessant. Ich freue mich schon auf die Präsentationen.“   Ich wusste, dass er selbst sich für „Der Prozess“ entschieden hatte, obwohl wir uns im Unterricht schon „Die Verwandlung“ antun durften. Anscheinend konnte Anton tatsächlich nicht genug von Kafka kriegen.   „Ich mag den Einfluss von Schopenhauer und Nietzsche, den man in seinen Werken sehen kann“, hatte er erklärt. „Seine Gedankengänge sind äußerst erquicklich.“   Mir hatte die Frage auf der Zunge gelegen, was daran erquicklich war, wenn jemand in einen riesigen Käfer verwandelt und von seiner Familie misshandelt wurde, sodass er am Ende eines einsamen Todes starb, aber vielleicht hatte Anton einfach eine etwas andere Auffassung von Humor als ich.   Statt also Antons Literaturgeschmack infrage zu stellen, sah ich mich noch einmal in der Bücherei um. Abgesehen vom Nebenraum, in dem der Großteil der Bücherregale stand, gab es noch einen Empfangstresen und den in eine Ecke gequetschten Computer-Arbeitsplatz, der zwischen noch mehr Regalen eingepfercht war. Alles in allem war es ziemlich trostlos und abgesehen vom rieselnden Staub, den es natürlich nicht gab, weil Anton pingelig auf Sauberkeit achtete, waren das einzig Lebendige hier wir drei. Selbst in einem Museum wäre mehr los gewesen.   „Hier warst du also, wenn du mal wieder unauffindbar warst“, murmelte ich halb in Benedikts Richtung. Er hatte mir gestanden, dass er öfter hierherkam, um mit Anton zu quatschen oder einfach in Ruhe zu lesen. Besonders dann, wenn das Wetter die Pausenhalle zum Bersten füllte oder gewisse hartnäckige Mitschüler ihn nicht in Ruhe lassen wollten.   „Immerhin war ich mir hier sicher, dass du nicht herkommen würdest“, sagte Benedikt und grinste dabei. Sein Grinsen wurde zu einem warmen Lächeln, als er sah, wie ich das Gesicht verzog.   „Du liest wohl nicht gerne?“   „Doch“, gestand ich und gab damit etwas zu, das ich seit Jahren zu verstecken versuchte. „Nur halt nicht unbedingt Goethe und Schiller.“   „Dann hast du jetzt ja das richtige Buch bekommen“, erwiderte Benedikt lachend. „Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass Erich dir echt seinen 'Faust' gegeben hat.“   „Oh doch, hat er“, bestätigte ich und setzte den Tonfall unseres Lehrers imitierend hinzu: „Aber wenn Sie mir auch nur ein Eselsohr hineinmachen, dann mache ich Ihnen auch eines und zwar an eine Stelle, die weniger angenehm ist.“   „Er hält große Stücke auf dich“, warf Anton ein. Er tippte noch drei Buchstaben und hämmerte dann auf die Entertaste, bevor er sich zu mir herumdrehte. „Ich denke, dass er ein großes Talent in dir schlummern sieht. Jetzt versucht er, es wachzurütteln.“   „Ein Talent?“ Ich lachte. Das klang so unglaublich, dass mir nicht mehr dazu einfiel. Anton sah mich ungerührt an.   „Du wolltest doch Deutsch als Leistungskurs nehmen. Warum?“   Ich fragte nicht, woher er das wusste. Als Quelle kam dafür nur Benedikt infrage und die Tatsache, dass er das nicht nur gewusst, sondern auch Anton erzählt hatte, sagte mir einiges. Trotzdem zuckte ich auf dessen Frage hin nur mit den Achseln.   „Weiß nicht. Irgendwas musste ich ja nehmen und es erschien mir eine gute Idee. Ich beschäftige mich gerne mit Sprache. Außerdem … mag ich Gedichte.“   Antons Augenbrauen hoben sich einige Zentimeter, während Benedikts Grinsen breiter wurde.   „Er schreibt sogar selbst welche“, sagte er und fing sich dafür von mir einen warnenden Blick. Nur weil Anton Benedikts Freund war, hieß das noch lange nicht, dass er alles von mir wissen musste.   „Das ist interessant. Welche Art von Gedichten?“   Ich senkte den Blick.   „Keine besonderen. Einfach nur, was mir so durch den Kopf geht. Außerdem sind es auch keine Gedichte. Es sind Songs. Ich … singe manchmal.“ „Ach ja. Du spielst ja Gitarre. Benedikt hat mir davon erzählt.“ Anton sagte das in einem Tonfall, in dem er auch „Ach ja. Du sammelst ja Glitzersticker.“ hätte sagen können. Der Stellenwert wäre wohl etwa der gleiche gewesen. Ich schluckte die Erwiderung hinunter, dass es nicht nur Gitarre sondern noch ein paar Instrumente mehr waren. Ihm den Unterschied zwischen normaler und Bassgitarre zu erklären, wäre vergebene Liebesmüh gewesen. Er hielt Musik vermutlich ebenso für eine brotlose Kunst wie mein Vater. Daran war nichts Handfestes, nichts Wissenschaftliches. Nichts, was sich greifen und ein Haus darauf bauen ließ. Musik das war … nur ein Hobby.   Während Antons Blick weiterhin auf mir ruhte, wuchs mein Gefühl der Unzulänglichkeit. Ich gehörte nicht hierher und Benedikts bester Freund ließ mich das gerade mehr als deutlich spüren. Das hier war sein Reich. Er war der Herr über diese Bücherei und ich nur ein Eindringling, den er geduldet hatte, solange ich ihm nützlich war. Vielleicht auch seinem Freund zuliebe. Jetzt, da ich meinen Soll erfüllt hatte, war ich nicht mehr als ein störendes Objekt in seiner geliebten Ordnung.   Mit einem tiefen Atemzug stieß ich mich vom Tresen ab.   „Ich muss dann mal wieder. Wenn ich mich in der Pause nicht blicken lasse, wird Jo noch misstrauisch.“   Benedikt machte Anstalten, mich aufzuhalten.   „Du musst nicht gehen. Wir könnten auch über was anderes reden.“ „Nein, schon okay. Ich … wir sehen uns nachher bei Sport.“   Mit diesen Worten drehte ich mich um und flüchtete aus der Bibliothek. Wenn mich jemand dabei beobachtet hätte, hätte er vermutlich gelacht. Noch während ich auf dem Weg nach unten war, vibrierte das Handy in meiner Hosentasche.   'Tut mir leid' stand in Benedikts Nachricht. Ich blieb stehen und seufzte.   'Schon okay', schrieb ich zurück. 'Ich wollte sowieso los.'   Benedikt ahnte vermutlich, dass das eine Lüge war, aber er ließ es auf sich beruhen und schickte mir keine weitere Message. Seine Statusanzeige zeigte ihn als offline.   Nachdenklich drückte ich die Zurück-Taste und sah mir meine Chatliste an. Da waren verschiedene Verläufe, teilweise noch mit ungeöffneten Nachrichten. Belangloser Kram, den ich ignoriert hatte, weil ich nicht in der Stimmung gewesen war. Vermutlich ein Affront, aber ich konnte es nicht ändern. Mir fehlte gerade die Lust, um mich zu Kommentaren zum hundertundelften Tittenbild aufzuraffen. Ganz unten befand sich der Chat mit Mia und noch darunter einer mit Christopher.   Einen Moment lang überlegte ich tatsächlich, meinem Bruder eine Nachricht zu schreiben. Ihm zu erzählen, was hier gerade abging und in welche Scheiße ich mich schon wieder geritten hatte. Allerdings wusste ich nicht, wie ich das hätte formulieren sollen. Bei ihm drehte sich seit seinem Auszug alles nur noch ums Studium. Um Lehrpläne und Vorlesungen, Kommilitonen und Praktika. Da war kein Platz mehr für seinen kleinen, nervigen Bruder, der neuerdings festgestellt hatte, dass er auf Jungs stand. Der sogar einen Freund hatte. Was Christopher wohl dazu sagen würde? Wahrscheinlich würde er mir gar nicht glauben.   Plötzlich sehnte ich mich nach Benedikts Nähe zurück. Nach seinem Lachen, seiner Umarmung. Seiner Zuversicht, dass alles irgendwie gut werden würde, solange wir nur uns beide hatten. Ich fühlte es, wenn ich bei ihm war. Aber sobald die Wärme seiner Berührung sich verflüchtigte, wurde mir nur umso bewusster, wie allein ich war. Dass da niemand war, mit dem ich teilen konnte, was mich bewegte. Und jetzt hatte ich gerade erfahren, dass es auch in Benedikts Nähe Grenzen gab. Sicherlich war es nur unterschwellig, aber mir war durchaus bewusst, dass Anton nicht viel von mir hielt. Wie auch? Ich hatte mich ja nicht unbedingt auf Gebieten hervorgetan, die er als erstrebenswert betrachtete. Er musste mich zwangsläufig als nicht gut genug erachten.   Aber er hat gesagt, dass er damit einverstanden ist, dass Benedikt und ich zusammen sind, versuchte ich die kleine Stimme in meinem Kopf zu beruhigen. Das musste doch etwas wert sein. Das musste doch heißen, dass es funktionieren konnte. Und irgendwie würde ich das auch mit Jo hinkriegen. Ich würde ihm nur zeigen müssen, was Benedikt für ein toller Kerl war, dann würde er … dann würde er bestimmt …   Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Wem versuchte ich eigentlich gerade etwas vorzumachen? Jo würde es nie akzeptieren. Sobald er erfuhr, dass Benedikt und ich ein Paar waren, würde er sich von mir abwenden. Er würde gehen und Leon und die anderen mitnehmen. Weil es nicht cool gewesen wäre, wenn sie sich auf meine Seite schlugen.   Nein, das stimmt nicht. So ist es nicht. Es ist nichts falsch daran, was ich fühle. Das mit mir und Benedikt ist etwas Gutes. Etwas Schönes. Jo wird es verstehen. Er wird …   „Theo?“   Die Stimme ließ mich aufschrecken. Ich riss die Augen auf und starrte die Gestalt an, die da ein paar Stufen unter mir im Treppenhaus stand. Klare, blaue Augen musterten mich aufmerksam.   „Mia.“   Ihr Name und mein Keuchen hallten von den steinernen Wänden wieder.   „Was tust du hier?“, fragte sie und stieg noch eine Stufe nach oben. Sie hatte einige Bücher in der Hand.   „Ich war bei Anton und Benedikt in der Bücherei. Wir haben Bücher wegsortiert.“   Was ich da sagte, klang lächerlich. Wie eine Ausrede.   „Ich wollte auch noch ein paar Sachen wegbringen. Hab ich im letzten Jahr vergessen.“   Ich nickte, doch ein Blick auf ihren Arm verriet mir, dass das, was sie da trug, aktueller Lehrstoff war. Ich atmete tief durch.   „So schlimm?“, fragte ich und nickte zu den Büchern. Sie lächelte, als sie verstand, dass ich sie beim Schwindeln erwischt hatte.   „Die Gerüchteküche brodelt. Favorit ist momentan, dass ich dich betrogen habe. Wobei am lustigsten eigentlich war, als Corinna wissen wollte, ob ich tatsächlich unser Kind gegen deinen Willen zur Adoption freigegeben hätte.“   Für einen Moment war ich versucht, in Gelächter auszubrechen. Ich hatte nicht gedacht, dass die Reaktionen so fies sein würden. Und dass sie schon so weite Kreise gezogen hatten. Corinna war nicht einmal mehr in unserem Jahrgang. Kein Wunder, wenn sie wirklich so dumm war, dass sie so etwas glaubte. Gleichzeitig sah ich, dass Mia hinter der heiteren Fassade verletzt war. Die anderen schienen sich darauf eingeschossen zu haben, dass unsere Trennung ihre Schuld war. Wie auch immer sie darauf kamen. Und nur, weil Mia mich schützte, konnte sie sich nicht dagegen zur Wehr setzen. Es war einfach nicht richtig.   Ich seufzte. „Ach Mia.“   Ohne zu überlegen überwand ich die letzten vier Stufen zwischen uns. Ich fragte nicht, ob ich sie in den Arm nehmen durfte. Ich tat es einfach und sie schmiegte sich an mich, wie sie es früher schon getan hatte.   „Und du?“, murmelte sie leise. „Was treibt dich ins Treppenhaus?“   „Anton“, gab ich zurück. „Ich glaube, er mag mich nicht.“   „Wie kommst du darauf?“   Ich seufzte leise.   „Weiß nicht. Ich bin halt … ich bin nicht gut in der Schule, dafür hab ich 12 Punkte in Sport. Für jemanden wie ihn ist das Grund genug, mich nicht zu mögen.“   Sie lachte, bevor sie sich halb aus meiner Umarmung losmachte und mich ansah.   „Wenn das stimmt, ist Anton gar nicht so schlau, wie immer alle sagen“, erklärte sie bestimmt. „Du bist ein toller Mensch, Theo. Du bist großherzig und zuverlässig und hast einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Du stehst für die ein, die dir wichtig sind. Das bewundere ich an dir.“   Noch bevor ich ihr sagen konnte, dass ich diese Bewunderung ganz bestimmt nicht verdient hatte, öffnete sich über uns die Tür ins Treppenhaus. Ich ließ Mia los und trat schnell einen Schritt zurück, doch es war zu spät. Benedikt hatte uns bereits gesehen.   „Benedikt“, rief ich und wollte ihm erklären, was hier gerade passiert war, als sich auf einmal auch die Tür eine Treppe tiefer öffnete.   „Ich guck mal, wo er bleibt“, rief Jo über die Schulter hinweg. Er wandte sich um und entdeckte mich und Mia auf der Treppe. Ein Laut der Verblüffung entwich ihm.   „Ach hier bist du. Ich dachte, du hilfst den Schwachmaten beim Bücher stapeln.“   Mein Blick irrte zu Benedikt. Der hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst und sein Gesichtsausdruck ließ meine Alarmglocken Sturm läuten. Ich musste etwas tun, sonst würde das hier in einer Katastrophe enden.   „Halt die Klappe, Jo“, blaffte ich und versuchte meinen Freund daran zu hindern, zu mir herauf zu kommen. Er war allerdings bereits auf dem Treppenabsatz und grinste mich breit und zufrieden an.   „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier Versöhnung mit Mia feierst, hätte ich Champagner mitgebracht.“   „Das ist nicht …“, begann ich, doch ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Benedikt hatte sich auf dem Absatz herumgedreht und schickte sich an, wieder aus dem Treppenhaus zu verschwinden. Das musste ich verhindern.   „Benedikt! Benedikt, warte!“   Ich wollte ihm nachlaufen, aber Jo hielt mich am Arm fest.   „Ach lass doch den Spinner. Der versteht doch eh nicht, worum es hier geht.“   Wütend fuhr ich zu Jo herum und machte mich von ihm los.   „Nein! Du bist es, der nicht versteht“, herrschte ich ihn an.   „Klar tue ich das“, antwortete er immer noch grinsend. „Du knutscht hier heimlich mit Mia rum, während wir noch alle rätseln, warum ihr euch so verkracht habt. Als wenn Mia sich wirklich einen anderen suchen würde.“   „Wir haben uns aber nicht verkracht“, schrie ich vollkommen außer mir. „Und Mia hat auch keinen Neuen, sondern ich.“   Dieser Aussage folgte eine Stille, die sich über die Szene legte wie Pulverdampf über ein Schlachtfeld. Wir waren noch nicht einmal wieder alle daraus aufgetaucht, als Jo plötzlich loslachte.   „Oh ja, guter Witz“, höhnte er. „Du hättest mir doch erzählt, wenn du ne neue Schnalle am Start hättest.“   „Du hast mir nicht zugehört“, sagte ich tonlos. Ich wusste, dass es vollkommen falsch war. Dass es schiefgehen musste. Dennoch redete ich weiter. „Ich sagte, dass ich jemand Neues habe, aber ich sagte nicht, dass es ein Mädchen ist.“   Jos Mund stand ein Stück weit offen, während er zwischen mir, Mia und dem oberen Treppenabsatz hin und her blickte. Er lachte schwach.   „Ist dir klar, was du da sagst?“ „Ja, vollkommen.“   Jo sah mich an. Er schüttelte ungläubig den Kopf.   „Was soll das heißen?“, wollte er wissen. Seine Stimme klang ärgerlich. „Dass du jetzt neuerdings schwul bist, oder was?“   „Nicht neuerdings“, antwortete ich leise. „Sondern schon immer.“   Ich klang viel zu schwach, viel zu entkräftet. Ich hatte Jos Zorn, der jetzt heiß und leuchtend aufflackerte, nichts entgegenzusetzen.   „Alter! Hör auf mich zu verarschen! Das kann gar nicht sein.“   In seiner Not wandte er sich an Mia. Als die jedoch nur bestätigend nickte, wurde Jos Gesicht fahl. Sein Unglauben bekam Risse und fiel Stück für Stück von ihm ab wie alte Farbe von einem Gemälde. Das, was darunter zum Vorschein kam, erschreckte mich. Er schnappte noch einmal nach Luft.   „Du … du kannst gar nicht schwul sein. Das glaube ich nicht.“   Ich lächelte schwach.   „Dann glaube es nicht. Aber es ist so.“   Ich wollte es ihm erklären. Wollte ihm sagen, wie es zu all dem gekommen war, doch das Klingeln zur nächsten Stunde schnitt mir das Wort ab. Bewegung entstand hinter der Glastür und gleich darauf öffnete der erste Schüler sie und trat ins Treppenhaus. Ich hörte Leons Stimme nach uns rufen. Eilig machte ich einen Schritt auf Jo zu.   „Jo, bitte lass uns …“   „Vergiss es“, zischte er und in seinem Blick stand pure Verachtung. „Sag mir einfach, wenn du dich wieder eingekriegt hast. Ich weiß echt nicht, was da gerade in deinem Kopf vorgeht. Aber solange du glaubst behaupten zu müssen, dass du auf Schwänze stehst, brauchst du nicht mehr mit mir zu reden. Melde dich, wenn du wieder klar denken kannst.“   Damit wirbelte er herum und rannte auf seinem Weg nach unten fast Leon über den Haufen, der gerade die letzten Stufen erklomm. Er rief Jo nach, aber der hörte nicht, sondern stob durch eine weitere Tür des Treppenhauses nach draußen. Hinter ihm schloss sich der Schülerstrom, der von außen herein und über die Treppen in die verschiedenen Klassenräume quoll. Mia, Leon und ich standen wie Felsen mittendrin und wurden von den Massen umspült.   Ich sah wie gebannt hinter meinem besten Freund her und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Ein Blick nach oben verriet mir, dass auch Benedikt nicht mehr da war. Es war alles umsonst gewesen.   „Theo?“ Mias Stimme war vorsichtig. Sie tastete sich an mich heran, aber ich wich vor ihr zurück. Ich hatte es nicht verdient. Nichts hiervon.   „Ich … ich kann nicht“, stammelte ich und folgte dem gleichen Weg, den Jo gerade genommen hatte.   Auf dem Pausenhof sah ich mich um. Ich konnte meinen besten Freund nirgendwo entdecken. Stattdessen kamen zwei Mitschüler, die ich bereits von früher kannte, auf mich zu. Wir waren damals nicht eng befreundet gewesen und nach meinem Klassenwechsel war der Kontakt abgebrochen. Jetzt wollten sie ihn anscheinend wieder aufleben lassen. Ich konnte mir schon denken, warum. Sie wollten wissen, was bei mir und Mia los war. Ein Haufen Aasgeier, nur darauf aus, dem nächsten Opfer beim Sterben zuzusehen.   „Kein Kommentar“ schmetterte ich ihre Fragen ab, noch bevor sie sie gestellt hatten. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte. Mein Ziel war klar. Ich wollte Jo finden und ihn zur Rede stellen.   Er stand auf dem Parkplatz der Schulleitung und starrte in den Himmel. Kurz bevor ich ihn erreichte, rief ich ihn an. Er drehte sich nicht um.   „Verschwinde!“, schnauzte er. „Ich will dich nicht sehen.“   „Jo“, versuchte ich es wieder. „Du musst mir glauben …“   Er fuhr herum.   „Dir glauben?“, fauchte er. „Was soll ich dir denn glauben? Dass du schwul bist?“   „Ja.“   Er verzog den Mund und für einen Augenblick glaubte ich, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde.   „Aber … das kann ich nicht.“ Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden. „Denn wenn ich das glaube, dann war unsere Freundschaft eine einzige Lüge.“   „Warum?“   Ich wusste, was kommen würde. Trotzdem trafen mich seine Worte wie eine Ohrfeige.   „Weil ich nicht mit so jemandem befreundet sein kann.“   Ich fühlte, wie das Blut aus meinem Gesicht zu Boden stürzte. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und an den Rändern meines Gesichtsfeldes flimmerten dunkle Punkte.   „Deswegen kann ich es nicht glauben“, fuhr Jo ungerührt fort. „Ich will es nicht glauben. Also hör auf, so eine Scheiße zu labern und komm wieder zur Vernunft. Sag mir einfach, dass es nur ein Witz war, und wir vergessen die ganze Sache.“   Ich wollte etwas erwidern. Wollte ihn beschwichtigen. Aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Stumm starrte ich Jo an und konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Mitleidslos sah er mich an.   „Alles klar. Du hast dich entschieden“, sagte er nur, bevor er sich umdrehte und zur Schule zurück stapfte. Er verschwand durch den diesseitigen Eingang und ließ mich allein auf dem Parkplatz zurück.   Ich stand da und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte gerade meinen besten Freund verloren. Mia war bei der gesamten Oberstufe in Ungnade gefallen und Benedikt war vermutlich der Meinung, dass ich den Schwanz eingezogen hatte und wieder zu meiner Freundin zurückgerannt war. Konnte es noch schlimmer werden?   Das ist alles meine Schuld.   Ich sah zu dem Schulgebäude hinauf, hinter dessen Fenstern sich bereits die ersten Schüler versammelten. Da waren die Kunsträume im ersten Stock, die noch leer waren, weil die entsprechende Lehrkraft die Tür noch nicht aufgeschlossen hatte. Darüber die Physikräume, die ich zum Glück jetzt nicht mehr von innen sehen musste, wenn wir nicht gerade in einem der anderen Fächer einen Film gezeigt bekamen, und noch darüber die Klassenräume, in denen ich in der fünften Stunde Mathe haben würde. Ein weiterer Quell des Versagens, der mich erwartete. Ich war es müde zu kämpfen. Müde, mich zu bemühen. Müde, immer wieder diesen unbezwingbaren Berg emporzusteigen, nur um auf der anderen Seite wieder herunterzupurzeln und vor einem neuen Berg zu stehen. Ich hatte es so satt. Ich würde nie gut genug sein. Nie.   Vielleicht wäre es gut, wenn es einfach enden würde, dachte ich und erging mich einen Moment in der Vorstellung. Natürlich würde ich es niemals tun, aber der Gedanke, nicht mehr kämpfen zu müssen, war so verlockend, dass ich für einige Augenblicke daran festhielt, bevor ich ihn wieder weit von mir schob. Das war keine Lösung und ich wusste es. Es würde nichts ändern und diejenigen, die ich schützen wollte, nur umso verzweifelter zurücklassen. Das konnte ich ihnen nicht antun. Keinem von ihnen. Ich würde einfach weitermachen müssen.     Bleigewichte zerrten an meinen Gliedern, während ich den gleichen Weg zurück nahm, auf dem ich gekommen war. Sicherlich würde ich einen Tadel von unserem Sportlehrer bekommen, weil ich zu spät war. Ich würde dafür sorgen müssen, dass die anderen aufhörten, Mia zu belästigen, und ich würde Benedikt erklären müssen, warum ich Mia im Arm gehabt hatte, obwohl ich doch mit ihr Schluss gemacht hatte. So viele Aufgaben und eine wog schwerer als die andere. Mein Kopf begann zu dröhnen und mit jedem Schritt wurde das Hämmern hinter meiner Stirn schlimmer. Magensäure kletterte meinen Hals empor und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.   Es wird gut werden. Es wird alles irgendwie gut werden, sagte ich mir immer wieder, aber meine Stimme verklang in dem lärmenden Wummern, das von irgendwo her meine Ohren verstopfte.   Ich überquerte den Pausenhof nicht, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. Auf der anderen Seite brannte bereits Licht in den bodentiefen Fenstern der Turnhalle. Vermutlich liefen die anderen dort schon ihre Runden zum Warmwerden. Wenn ich mich beeilte, würde ich vielleicht noch um eine Rüge herumkommen. Aber ich ging nicht. Stattdessen nahm ich die Rampe, die zum Fahrradkeller hinab führte. Ich wollte nur noch weg von hier. Als ich jedoch beim Öffnen der Schlosses merkte, wie sehr meine Hände zitterten, wurde mir klar, dass ich nicht würde fahren können. Also ließ ich mich einfach neben dem Fahrradständer zu Boden sinken. Ich setzte mich neben die Säule in meinem Rücken und legte den Kopf auf die Knie. Während ich so dasaß, versuchte ich mir eine plausible Erklärung einfallen zu lassen, warum ich dem Sportunterricht ferngeblieben war. Mein Kopf war und blieb jedoch leer und so beschränkte ich mich irgendwann darauf zu warten, dass der graue Betonboden sich öffnete und mich verschluckte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)