Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 17: Freunde ------------------- Ich sah Benedikt an diesem Abend nicht wieder. Erst beim Bettfertigmachen tauchte er plötzlich auf, als wäre er nie weg gewesen. Ich versuchte kurz, seinen Blick einzufangen, aber er war offenbar so damit beschäftigt, die Gummibärchen in Reih und Glied zu halten, dass er mich nicht bemerkte.   Ein wenig enttäuscht wandte ich mich ab. Natürlich hatte ich nicht erwartet, dass er mir vor versammelter Mannschaft in die Arme fiel; trotzdem war dieses vollkommene Ausbleiben einer Reaktion ziemlich … unbefriedigend. Wenn er mir gesagt hätte, dass er kein Interesse hatte, wäre das zwar hart gewesen, aber ich hätte wenigstens gewusst, woran ich war. So jedoch tappte ich weiterhin im Dunkeln. War ihm das Ganze zu kitschig gewesen? Zu albern? Zu aufdringlich? Oder war er vielleicht gar nicht wegen des Liedes gegangen? Vielleicht hatte er sich nur an einem nicht ganz durchgebratenen Würstchen den Magen verdorben und deswegen fluchtartig den Platz verlassen. Konnte doch sein.   Wen willst du damit eigentlich überzeugen?   Ich schnaubte leise, als ich an diesen Spruch denken musste, den Mia mir während der Klausurvorbereitungen geschickt hatte. „Solange der letzte Strohhalm, an den man sich klammert, in einem Cocktail steckt, geht’s eigentlich.“ Den Strohhalm hatte ich schon mal, nur der Cocktail fehlte noch. Leider konnte ich mir den nicht so einfach herbeilügen.   Ich könnte jetzt wirklich was zu trinken vertragen.   Ich merkte, wie ich mit dem Gedanken spielte, mir von Susanne unter einem Vorwand die Autoschlüssel zu borgen, um mir tatsächlich an irgendeiner Tankstelle Alkohol zu besorgen. Natürlich würde ich es nicht tun. Wenn das irgendwer mitbekam, würde ich mit Sicherheit rausfliegen und meine Eltern würden davon erfahren. Ebenso Benedikt. Die Meinung, die er sich dann über mich bildete, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Jetzt war ich wenigstens nur jemand, der ihm ein schnulziges Liebeslied vorgesungen hatte. Das war … nicht so schlimm, wenn man es genau betrachtete. Im Grunde genommen war es sogar besser, dass er nicht reagierte. Das hieß doch, dass wir so weitermachen konnten wie bisher. Wir konnten immer noch Freunde bleiben.   Jetzt muss ich es nur noch hinkriegen, nicht mehr in ihn verliebt zu sein.   Mit diesem Gedanken schlief ich ein und erwachte damit am anderen Morgen. Meine Nacht war von vielen, kleinen Unterbrechungen gezeichnet gewesen. Geträumt hatte ich nicht. Trotzdem war mein Schlafsack nassgeschwitzt und mein T-Shirt klebte unangenehm an meiner Haut. Ich fühlte mich zerschlagen und dreckig.   „Ich geh mal duschen“, murmelte ich Stephan zu und verließ das Zelt, bevor er mich aufhalten konnte. Mit gesenktem Kopf schlich ich durch das Lager und ignorierte die Kinder um mich herum. Die schienen bereits zu dieser frühen Stunde mit unendlicher Energie gesegnet, wenn man dem fröhlichen Treiben Glauben schenken durfte.   Hoffentlich finde ich die nach der Dusche auch wieder.   Momentan fühlte ich mich eher wie eine Marionette mit ausgeleierten Fäden. Ich zog und zog, aber nichts passierte. Noch einmal versuchte ich mir zu sagen, dass es alles nicht so schlimm war, aber ich merkte deutlich, dass es nicht so recht klappen wollte.   Jetzt reiß dich mal zusammen, herrschte ich mich selbst nach einem Blick in den Spiegel an. Es ist nicht das Ende der Welt. Steht er eben nicht auf dich. Auch nicht schlimm. Es wird vorbeigehen.   Der kleinen Stimme, die dagegen aufbegehren wollte, stopfte ich eine dreckige Socke in den Mund. Sie würde mich womöglich noch dazu bringen, irgendetwas Unüberlegtes und wirklich Peinliches zu tun. Benedikt direkt danach fragen zum Beispiel. Solange ich es nicht genau wusste, konnte ich mich wenigstens in der Illusion ergehen, dass er nur aus reiner Höflichkeit nichts sagte. Ich konnte mein Gesicht wahren und darauf kam es doch an.   Mit diesem Gedanken streifte ich meine verschwitzte Kleidung ab und ging duschen. Das warme Wasser brachte tatsächlich die erhoffte Erleichterung und ich spürte, wie das Spannungsgefühl, das sich um meinen Kopf gelegt hatte, etwas abebbte.   Es ist weniger geworden, dachte ich, während ich Liter um Liter erhitztes Nass über mich hinwegrauschen ließ. Zu Hause hätte ich sicherlich schon längst wieder eine Schmerzattacke gehabt, doch hier im Lager war ich wirklich lange davon verschont geblieben.   Liegt vielleicht an der vielen frischen Luft.   Die Erklärung knackte und knirschte zwar an allen Ecken und Enden, aber es war die beste, die ich zur Hand hatte. Die Hauptsache war doch, dass es mir besser ging. Vielleicht war es wirklich nur der Prüfungsstress gewesen, der jetzt langsam von mir abfiel. Also keine Müdigkeit vorschützen und weitermachen. Immerhin hatten wir heute als Abschluss der Wikinger-Woche das große Drachenbootrennen geplant. Da musste ich fit sein.   Ich wusch gerade das Shampoo wieder aus meinen Haaren, als ich ein Wirrwarr aus hellen Stimmen näherkommen hörte. Im nächsten Moment betraten die ersten Kinder den Waschraum. Ich überlegte nicht lange, sondern drehte mich sofort mit dem Gesicht zur Wand. Es war ja nicht so, dass ich etwas Verbotenes tat. Es war allerdings auch nicht gerade angenehm, der einzig Nackte im Raum zu sein. Anders als Kilian hatte ich da keinerlei exhibitionistische Veranlagung.   „Guten Morgen, Theo!“   Das war Kurt. Ich erwiderte seinen Gruß und wollte mich nicht weiter darum kümmern, als ich hörte, dass einige der Kinder fragten, ob sie auch duschen dürften. Daraufhin antwortete eine andere, weitaus tiefere Stimme:   „Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Also los, Zähne putzen und dann ab.“   Benedikt. Verdammt! Natürlich musste ausgerechnet er derjenige sein, der mit den Kids hierher kam. Warum konnte es nicht Sönke sein? Oder Thies oder Stephan? Meinetwegen auch Kilian. Aber nein, das Schicksal hatte anscheinend Spaß daran, mir immer wieder Knüppel zwischen die Beine zu werfen und dann noch einmal nachzutreten, wenn ich schon am Boden lag. Zumal in diesem Moment auch noch die Dusche über mir verstummte. Ich schluckte und überlegte.   Eigentlich war ich sauber. Es war also an der Zeit, mich abzutrocknen. Leider hatte ich mein Handtuch auf dem Waschtisch liegen lassen, statt es an einen der Haken in der Nähe der Duschen zu hängen. Um es zu bekommen, würde ich also zwischen den Kinder hindurchspazieren müssen. Alternativ konnte ich den Druckknopf der Dusche nochmal und nochmal betätigen, bis mir hier drinnen Schwimmflossen gewachsen waren, und hoffen, dass es niemandem auffiel. Da ich so viel Glück vermutlich nicht haben würde, blieb wohl nur, in den sauren Apfel zu beißen und meinen walk of shame anzutreten.   Gerade als ich mich umdrehen und loslaufen wollte, durchfuhr mich der nächste Schreck. Ich hatte vergessen, frische Sachen mitzunehmen. Das hieß, dass ich auch noch nur mit dem Handtuch bekleidet zurück zum Zelt würde gehen müssen. Am liebsten hätte ich den Kopf ein paar Mal gegen die Fliesen geschlagen. Wenn ich dann bewusstlos zusammenbrach, blieb mir wenigstens die Peinlichkeit erspart, halbnackt durch die Gegend zu laufen. Nur mit Turnschuhen an den Füßen und einem Handtuch vor den wichtigsten Körperstellen. Noch lächerlicher ging es nun wirklich nicht. Dann schon lieber auf einer Trage rausgebracht werden. Auf der würde man mich wenigstens vollständig bedecken.   „Hier, Theo, dein Handtuch.“   Kurts Stimme holte mich wieder aus meinen Tagträumen von Rettungswagen und hübschen Assistenzärzten, die Benedikt erstaunlich ähnlich gesehen hatten. Mit einem strahlenden Lächeln hielt mir der Knirps das hellblaue Stück Frottee entgegen.   „Danke“, entschlüpfte es mir verblüfft. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich endlich in der Lage war zuzugreifen, um ihm das Handtuch auch abzunehmen.   „Benedikt hat es mir gegeben“, sagte Kurt immer noch voller Begeisterung. „Er hat gemeint, du würdest hier drinnen sonst noch Wurzeln schlagen.“   Ich erwiderte Kurts Lächeln mit einem Grinsen.   „Ach schade. Dabei wollte ich doch eigentlich noch ein bisschen für meinen Freischwimmer üben.“ „Was ist das?“ „Ein Schwimmabzeichen.“ „Echt? Cool. Ich hab schon fast Seepferdchen.“ „Das ist klasse.“   Während ich mich mit Kurt unterhielt, war es mir beinahe gelungen auszublenden, was er am Anfang gesagt hatte. Dass Benedikt ihm das Handtuch gegeben hatte. Als der Gesprächsstoff versiegte, drängte der Gedanke sich jedoch wieder in den Vordergrund. Hieß das, dass Benedikt mich beobachtet hatte? Dass er meine Zwangslage bemerkt und mir deswegen geholfen hatte?   Ich wagte einen Blick in seine Richtung, aber er schien mich nicht zu beachten. Ich seufzte leise.   Interpretier lieber nicht zu viel hinein, gemahnte ich mich selbst, während ich mir das Handtuch möglichst fest um die Hüften wand. Er ist nicht interessiert. Lass einfach die Finger davon.   „Soll ich dir eine Zahnbürste machen?“, wollte Kurt wissen.   „Ich kann das schon selber“, wollte ich sagen, aber dann nickte ich nur. Mit einem leichten Lächeln verfolgte ich, wie Kurt sich abmühte, aus meiner fast leeren Tube noch etwas herauszuquetschen. Ich würde mir wohl …   „Hier, nimm meine“, hörte ich plötzlich Benedikt sagen. Er reichte Kurt seine Zahnpasta und der lud gleich einen Riesenberg des blauen Gels auf die weißen Borsten.   „Äh, danke, das reicht“, rief ich eilig und nahm die Bürste vom Waschtisch, bevor sie noch umkippen konnte. Ich murmelte ein Danke in Benedikts Richtung und steckte mir das überquellende Ding in den Mund. Frischer Pfefferminzgeschmack mit einer leichten Süße flutete meine Geschmacksknospen. Zwar hatte ich Schwierigkeiten, die schiere Menge an Zahnpasta sinnvoll zu verteilen, aber während ich das tat, konnte ich die ganze Zeit an nichts anderes denken, als dass das hier in meinem Mund Benedikts Zahnpasta war. Der Gedanke ließ irgendwas in meinem Magen merkwürdig kribbeln.   Das kann nur peinlich werden, echote es in meinem Kopf und so beeilte ich mich, überall ein wenig herumzuschrubben, bevor ich das Wasser andrehte um auszuspucken. Ein dickes „HALT!“ von Kurt hielt mich auf.   „Man muss mindestens zwei Minuten putzen“, erklärte er mit gewichtiger Miene. „Hat meine Mama gesagt. Sonst wirkt die Zahnpasta nicht.“   Ich wünschte Kurt mitsamt seiner Mutter auf den Mond, steckte aber gehorsam die Bürste wieder in den Mund und putzte weiter.   „Darf ich jetzt ausspülen“, fragte ich undeutlich und drehte mich zu Kurt um. Dabei traf sich mein Blick mit Benedikts. Er wandte sich hastig ab und begann, seine Siebensachen zusammenzusammeln. Und ich? Ich stand da, nur mit einem Handtuch bekleidet, die Zahnbürste in der Hand, den Mund voller Schaum und kam mir dumm vor. Gleichzeitig hatte die kleine Stimme in meinem Hinterkopf anscheinend ihren Socken ausgespuckt und versuchte mich darauf hinzuweisen, dass er mich schon wieder beobachtet hatte.   Hat er?, fragte ich zweifelnd zurück. Ich bekam keine Antwort. Stattdessen tat Kurt mir hoheitsvoll kund, dass ich jetzt meine Morgentoilette beenden durfte. Ich tat es, war aber nicht bei der Sache. War da nun etwas gewesen oder nicht? Der Gedanke machte mich ganz kirre. So sehr, dass ich sogar vergaß, dass ich mich eigentlich hatte rasieren wollen. Das fiel mir erst auf, als ich nun endlich mit meinem Handtuch um die Hüfte die Flucht antrat. Fast wäre ich in der Tür stehen geblieben und hätte mich wieder umgedreht, doch da das nur umso peinlicher gewesen wäre, ließ ich es bleiben. Würde ich eben einen auf Wikinger machen oder zumindest so tun.   Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein, summte es in meinem Kopf und ich fühlte ein Lachen meine Kehle hinaufwandern. Das war so dämlich, dass ich darüber beinahe meinen Aufzug vergaß. Er kam mir jedoch schnell wieder ins Bewusstsein, als ich fast in Ronya hineinrannte. Ihre Augen glitten an meinem Oberkörper hinab, bevor sie sie schnell wieder in Richtung meines Gesichts schnappen ließ. Ich kam mir nackt vor.   „Äh, hi“, grüßte sie und schien ungefähr so verlegen, wie ich mich fühlte. „Du, äh … hast das Frühstück verpasst. Ich soll dir von Susanne ausrichten, dass sie dir ein Brötchen in den Kühlschrank gelegt hat. Sie, äh, geht gleich einkaufen.“   „Ah, ja, danke.“ antwortete ich und überlegte gerade, ob es unhöflich wäre, mich nun einfach aus dem Staub zu machen, als Ronya schon wieder den Mund auftat.   „Ich fand dein Spiel gestern toll. Das Lied von Lea. Ich mag die total.“ „Ja, äh, ich … also meine Freundin auch.“   Ronya lächelte wieder.   „Bei der zweiten Strophe hast du dich aber im Text geirrt. Im Original heißt es …“   „Ich weiß“, unterbrach ich sie schnell. Die ersten Gummibärchen waren gerade an mir vorbeigekommen und ich wollte nun wirklich nicht mit Ronya ausgerechnet die Textstelle diskutieren, während Benedikt es mitbekam. Selbst wenn ein kleiner Teil von mir darauf brannte, ihm das noch mal unter die Nase zu reiben, um sicherzugehen, dass er auch wirklich nicht interessiert war.   „Ich hab die geändert, weil … weil das mit dem Lippenstift so albern gewesen wäre, wenn ich es singe.“ „Ja, aber …“ „Ronya, bitte sei mir nicht böse, aber ich muss mir jetzt echt was anziehen. Du entschuldigst mich?“ „Äh, ja klar. Sorry!“   Sie grinste noch ein wenig verlegen, während ich mich nun endgültig auf den Weg ins Zelt machte. Dabei hatte ich das Gefühl, sämtliche Blicke auf mich zu ziehen. Vermutlich war das nicht weiter verwunderlich. Ich trug immerhin nur ein Handtuch. Und Turnschuhe.   Mit tiefgehender Erleichterung schlüpfte ich kurz darauf endlich in meine Sachen, bevor ich mich mit einem Umweg über das versprochene Brötchen auf den Weg zur Betreuerversammlung machte. Immer noch kauend traf ich dort ein. Wolfgang und Sönke fehlten, da sie mit Susanne zum Einkaufen gefahren waren. Dementsprechend übernahm Stephan als ältester Betreuer den Vorsitz.   „So, das Wochenende ist überstanden, heute geht es wieder in die Vollen. In einer halben Stunde kommen die vom Kanuverein und liefern die Boote. Pro Boot haben bis zu 18 Kinder Platz plus einen Trommler. Außerdem bekommt jedes Boot einen Betreuer, der das Steuern übernimmt. Die Gruppen sollten möglichst gemischt sein, da die kleineren sich sicherlich nicht so kräftig in die Riemen legen können. Am besten löst ihr das, indem ihr die Kinder Lose ziehen lasst. Wir bekommen insgesamt fünf Boote, also lasst ihr sie einfach die Zahlen 1-5 aus dem Hut ziehen. Noch Fragen?“   „Was gibt’s zum Mittag?“   Kilian erntete einige Lacher, während ich nur die Augen verdrehte. Anscheinend wollte er diesen Witz zum Running Gag ausbauen.   „Wie sieht’s mit Schwimmwesten aus?“   Eine sinnvolle Frage, die dieses Mal von Benedikt kam.   „Hat der Kanubetreiber alles dabei. Die liefern dafür ein Rundum-Paket. Ihr müsst nur schauen, dass die Kinder die Westen auch richtig anlegen.“   Zufrieden nickend nahm Benedikt das zur Kenntnis. Ich hätte an so was vermutlich nicht gedacht. Dabei wusste ich doch, dass einige der kleineren Kinder noch nicht sicher schwimmen konnten. Der Gedanke, dass vielleicht Kurt ins Wasser fallen und einfach untergehen konnte, weil ich zu leichtsinnig gewesen war, ließ das gerade erst gegessene Brötchen in meinem Magen zu Stein werden. Erfolglos versuchte ich, meine Gedanken wieder von diesem dunklen Loch fortzuziehen. Anscheinend empfand irgendwas in meinem Kopf geradezu makabere Freude daran, mir eine kurtgroße Wasserleiche vorzustellen. Ich schluckte, als mein Mageninhalt sich wieder von mir verabschieden wollte.   „Ist dir nicht gut? Theo? Hallo? Hörst du mich?“   Reikes sanfte Stimme und ihre Hand auf meiner brachte mich wieder zurück in die Realität. Sie musterte mich besorgt. Auch der Rest der Truppe sah mich merkwürdig an.   „Ich … äh … ja. Mir geht’s gut. Die Jagdwurst war vielleicht nicht mehr ganz frisch.“   Reike sah mich noch einen Augenblick lang zweifelnd an, bevor sie sich wieder Stephan zuwandte, der die Einteilung der Betreuer zu den verschiedenen Stationen vornahm. Es überraschte mich nicht, dass ich in einem der Boote landete.   „Kriegst du das hin?“, fragte mich Reike auf dem Weg nach draußen. Anscheinend war meine schauspielerische Leistung in Bezug auf meinen Zustand nicht besonders überzeugend gewesen.   „Ja, klar. Ich war vorhin nur ein bisschen neben der Spur.“ „Und warum?“   Tja, warum? Eine gute Frage. Ich hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wo diese kalte Strömung hergekommen war, die mich da erwischt und einfach nach unten gezogen hatte. Gerade noch hatte ich gedacht, dass alles okay war, da passierte so was. Unschlüssig hob ich die Achseln.   „Keine Ahnung. Ich hab nicht so gut geschlafen heute Nacht.“ „Wenn du möchtest, mache ich dir heute Abend einen Tee. Der hilft, den angestrengten Geist zu beruhigen.“ „Äh, ja danke.“ „Gerne.“   Ich bezweifelte zwar stark, dass mich irgendwelche mit heißem Wasser überbrühten Blätter zum Schlafen bringen würden, aber schließlich hatte man früher auch Weidenrinde ausgekocht, um daraus den Vorläufer von Kopfschmerztabletten zu machen. Vielleicht half es also doch, wenn man daran glaubte.     Nach dem Mittagessen und einer verkürzten Mittagsruhe brachen wir zusammen mit den Kindern auf zur Anlegestelle des Sees, wo bereits einige der Betreuer sowie der Kanuverleiher mit den bereitgestellten Drachenbooten wartete. Kaum, dass wir angekommen waren, legte der Typ mit dem Vollbart und der gelben Schirmmütze auch schon los.   „Na gut, alle mal herhören. Ihr habt ja diese Woche schon eine ganze Menge über Wikinger gelernt. Ihr habt gejagt, gekocht, gebacken, Waffen, Werkzeuge und Kleidung hergestellt. Aber das, was Wikinger natürlich am allerbesten konnten, war …? Na, wer weiß es?“   Unzählige Hände schossen nach oben und eines der größeren Mädchen antwortete, als sie drangenommen wurde: „Sie waren Seefahrer.“   „Richtig“, röhrte die Schirmmütze und ihr Bauch wackelte beim Lachen. „Sie sind zur See gefahren. Nun haben wir zwar kein wild tosendes Meer vor der Tür, aber einen prima Binnensee und auf dem wollen wir heute mal ausprobieren, wie seefest ihr seid. Dazu muss man wissen, dass die Boote, die wir heute benutzen, nicht aussehen wie die der Wikinger damals. Die wurden ja von großen Männern gesegelt und nicht von so kleinen Butschern wie euch. Ich habe euch daher heute einen Bootstyp mitgebracht, der ursprünglich aus China stammt. Deswegen sehen die kleinen Drachen, die vorne an der Spitze befestigt sind, auch aus wie aus dem Chinarestaurant. Aber das soll uns nicht stören, schwimmen tun sie allemal. Also los! Alle Mann in die Boote!“   Dieser Aufforderung folgte ein wildes Gedränge. Jeder der Betreuer, die selbst mitfahren würden, hielt ein Tuch in einer der Farben der Drachenboote hoch. Ich schwenkte somit ein rotes Fähnchen über meinem Kopf, während sich um mich alle diejenigen versammelten, denen die Zahl drei zugelost worden war. Reike sammelte in grün die Vieren, Benedikt in blau alle Einser, Thies in weiß die Zweier und die gelben Fünfer landeten bei Kilian. Nacheinander wurden die Boote beladen. Sie waren schmal und sahen ein bisschen aus wie überlange Kanus. Auf den insgesamt neun Bänken konnten immer zwei Kinder nebeneinander sitzen. Am Heck gab es noch einen Platz für den Steuermann, während am Bug des Bootes eine Art Klappstuhl und eine große Trommel angebracht worden waren. Damit würde später beim Rudern eines der Kinder den Takt angeben.   „Blaues Boot los“, gab die Schirmmütze bekannt und schon begann wildes Gepaddel, das erst einmal dazu führte, dass die eine Seite des Bootes vom Steg wegdriftete, während die andere dagegen schlug.   „Halt, halt, ihr müsst alle gemeinsam paddeln“, erklärte die Schirmmütze noch einmal. „Alle zusammen im gleichen Takt. Nur so kommt ihr voran.“   Die Mannschaft des blauen Bootes probierte es erneut und dieses Mal legte das Boot tatsächlich vom Steg ab. Auch bei Thies’ Mannschaft gab es wenig Probleme. Unser Team war als Nächstes dran.   „Einer nach dem anderen und nicht so wackeln“, rief ich, während ich beim Einstieg half. Zum Glück wurden die Boote an beiden Enden festgehalten, sodass sie nicht abdriften und jemand in der entstandenen Kluft verschwinden konnte. Trotzdem atmete ich hörbar auf, als alle im Boot waren.   „So, Lena, fertig. Du kannst den Takt vorgeben.“   Lena grinste mich an.   „Na, dann mal los.“   Gleichmäßig begann sie, mit den dicken Schlägeln die Trommel zu bearbeiten. Die Kinder hoben und senkten im Takt dazu ihre Paddel in kurzen, dreieckigen Bewegungen, ganz so wie es der Kanuverleiher es uns gezeigt hatte. Dabei wurde schnell deutlich, dass die größeren Kids besser mit den etwa ein Meter langen Paddeln zurechtkamen. Ich zählte allein vier oder fünf Kinder, bei denen ich mir schon ausrechnen konnte, dass sie innerhalb der nächsten Minuten die Segel streichen würden. Trotz dieser Leerläufer bewegte sich das Boot immerhin in die richtige Richtung. Kaum waren wir allerdings ein Stück auf den See hinausgeschippert, kreischte ein Mädchen plötzlich los.   „Eine Schlange! Eine Schlange!“   Sofort war der Teufel los. Zwei der Bootsinsassen ließen ihre Paddel fallen, einige versuchten aufzustehen, andere gar aus dem Boot zu klettern. Einer sogar, um die Schlange zu fangen. Es herrschte ein heilloses Durcheinander.   „Seid ihr verrückt“, schrie ich. „Im Wasser ist doch die Schlange. Also hinsetzen, sonst fallt ihr rein.“   Die Warnung wirkte. Sofort setzten sich alle wieder auf ihre vier Buchstaben und hielten sogar den Mund. Dadurch konnte man umso deutlicher das Gelächter von Kilians Mannschaft hören, die noch am Ufer stand.   „Beruhigt euch mal!“, rief er zu uns rüber. „Das ist nur ne Ringelnatter. Die tut nichts.“   Jetzt sah auch ich den schmalen Strich, der in einiger Entfernung durch das Wasser glitt und schließlich im Schilfgürtel verschwand. Auf genau den steuerten jetzt auch die verlorenen Paddel zu.   „Wartet, wir geben sie euch rüber“   Reikes Boot war mittlerweile gestartet und eines der Mädchen sammelte die Paddel ein. Geschickt steuerte Reike das Riesenkanu an unsere Längsseite und meine Mannschaft bekam ihre Paddel zurück.   „So, und jetzt schön festhalten“, sagte Reike noch, bevor sie wieder ablegten. Bei ihr sah das total leicht aus. Wir jedoch drehten uns irgendwie im Kreis, obwohl ich das Steuer total gerade hielt.   „Ihr müsst mal gleichmäßiger paddeln“, rief ich und besah mir meine Mannschaft zum ersten Mal genauer. Täuschte ich mich oder hatte ich tatsächlich besonders viele kleine Kinder dabei? Ronyas Zelt schien sich beinahe vollständig in meinem Boot versammelt zu haben. Ein Blick auf Kilians wild grölende Horde bestätigte mir, was ich mir schon fast gedacht hatte. Er hatte ungewöhnlich viele der großen Jungs dabei.   „Wer von euch hat seinen Zettel getauscht?“   Einige Hände erhoben sich zögerlich. Ich seufzte leise. Es war so klar gewesen.   „Na gut, ist nicht schlimm. Dabei sein ist schließlich alles. Ihr horcht jetzt einfach auf den Takt, den Lena vorgibt, und in dem paddelt ihr. Und ich versuche dann, dass wir die richtige Richtung treffen.“   „Aye, Aye, Käpt’n!“, rief Nils, einer der Gummibärchen. Beim Versuch zu salutieren schlug er seinem Nebenmann fast sein Paddel um die Ohren. Ich stöhnte innerlich. Das konnte ja heiter werden.     Entgegen meiner ersten Befürchtungen machten sich die Kinder jedoch ganz gut. Wir kamen zwar als Letzte durchs Ziel der ausgewiesenen Rennstrecke, die sich vom diesseitigen Ufer bis zur Badestelle des Lagers erstreckte, aber es fiel niemand ins Wasser und es tauchten auch keine weiteren Schlangen auf. Trotzdem war ich froh, endlich wieder festen Grund unter den Füßen zu haben. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Gefühl bekam, der Steg würde schwanken.   „Ist normal“, meinte der Kanuverleiher und grinste. „Bist wohl nicht so recht seefest.“   „Nein, wohl nicht“, gab ich ein wenig irritiert zurück.   „Was ist denn los?“, wollte jetzt ausgerechnet Benedikt wissen. Er und seine Mannschaft waren knapp hinter Reike als Dritte ins Ziel gegangen.   „Er ist landkrank“, gab der Mützenmann zur Auskunft. „Am besten stützt du ihn ein bisschen, damit er nicht ins Wasser fällt.“   „Haha, sehr witzig“, fauchte ich und ließ sowohl ihn wie auch Benedikt einfach stehen. Das fehlte mir gerade noch, dass ich jetzt wie ein Kleinkind vom Steg geführt wurde, damit ich nicht hinfiel. Als ich jedoch fast die Stufe übersah, die wieder auf den Sandstrand hinunterführte, war ich froh um die Hand, an der ich mich festhalten konnte. Ich sah auf und Benedikt genau in die Augen.   „Äh, danke“, sagte ich und wusste nicht, ob ich jetzt wieder wegsehen und weitergehen oder das Gespräch mit ihm suchen sollte.   „Keine Ursache“, gab er in ähnlich bedächtigem Tonfall zurück. „Geht’s … geht’s dir gut?“ „Ja, alles bestens.“ „Gut.“ „Gut.“   Das „Gespräch“ wäre sicherlich noch in jede Menge Schweigeminuten übergegangen, doch glücklicherweise rief uns Stephan, damit wir beim Aufladen der Boote auf den Hänger des Bootsverleihers halfen. Zu viert wuchteten wir die langen Dinger in ihre Halterungen. Am Ende sahen wir aus, als wären wir in den See gefallen.   „Das üben wir aber nochmal“, meinte der Mützenmann grinsend, bevor er sich daran machte, die Boote zu vertäuen. Ich seufzte, während ich an mir herabschaute.   „Ich würde sagen, da ist Umziehen angesagt.“   Ich blickte rüber zu Benedikt, der genauso durchnässt war wie ich.   „Kommst du mit?“   Für einen Moment zögerte er, doch dann nickte er zur Bestätigung.   „Kilian hat gemogelt“, sagte ich, als wir ein Stück des Weges gegangen waren. Wie ich feststellte, waren wir ganz allein.   „Mhm, ich glaube, das waren eher die Ratten. Die haben sich die gleichen Nummern ertauscht.“ „Was für Ratten!“   Benedikt sah mich einen Moment lang komisch an, dann begann er zu grinsen. Ich grinste zurück und wusste, dass es von jetzt an wieder besser laufen würde. Nicht zusammen, nicht als Paar, aber immerhin wieder auf der gleichen Wellenlänge. Als Freunde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)