Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: Loslassen --------------------- Rauschen. Beständiges, weißes Rauschen, durch das nur wie durch dicke, weiße Watte das weit entfernte Wummern meines eigenen Herzschlags zu hören war. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken. Nichts beschrieb auch nur ansatzweise, wie ich mich gerade fühlte. Ich selbst hätte es nicht sagen können, denn es war, als würde mein Körper nicht mehr zu mir gehören. Als würde ich neben mir stehen und mich selbst dabei beobachten, wie ich das erste Mal seit Benedikts Weggang blinzelte.   Er war in mich verliebt.   Gewesen, verbesserte ich mich schnell. Ich war wirklich ein noch viel größerer Idiot, als ich angenommen hatte. Wenn ich das nur gewusst hätte. Geahnt wenigstens. Wenn ich nur irgendwie …   Wieder unterbrach ich mich gedanklich. Das war überhaupt kein Grund, so durchzudrehen. Denn selbst wenn es so gewesen war, änderte das doch überhaupt nichts an der jetzigen Situation. Jo war auch in Mia verschossen gewesen, trotzdem war ich jetzt mit ihr zusammen. Weil sie einfach kein Interesse an ihm gehabt hatte. Nur weil Benedikt und ich … Es änderte nichts. So überhaupt gar nichts. Außerdem hieß das doch, dass es vorbeigehen würde. Es war … Neugier gewesen. Genau wie er gesagt hatte. Nichts als reine Neugier. Ich mochte ihn, mehr nicht.   Nichtsdestotrotz ließ der Gedanke, dass er auch etwas für mich empfand oder wenigstens empfunden hatte, meine Mundwinkel völlig ohne mein Zutun nach oben wandern. Immer wieder versuchte ich mir zu sagen, dass es mir nur schmeichelte. Dass seine Aufmerksamkeit und Bewunderung mein Ego streichelten und sonst gar nichts. Er betonte doch oft genug, für wie eitel und von mir selbst überzeugt er mich hielt. Also musste es das sein, was mich jetzt dazu brachte zu lächeln. Was mich vielleicht überhaupt erst in seine Richtung hatte blicken lassen.   Er war in mich verliebt.   GEWESEN, herrschte ich mich selbst an. Er war es nicht mehr. Das war Geschichte. Jetzt musste ich nur noch meine Gefühle wieder unter Kontrolle kriegen und alles wäre wieder in Ordnung. Alles wäre wieder normal.     Wie lange ich noch dort an der Feuerstelle gesessen hatte, vermochte ich im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Auch wie ich in mein Bett gekommen war, entzog sich meiner Kenntnis. Alles war so verschwommen, als hätte ich vergessen, meine Brille aufzusetzen. Dabei saß sie direkt auf meiner Nase. Ich wusste es, denn ich spürte ihr Gewicht deutlich, obwohl sie so leicht war. Es war, als hätte man mir die Haut abgezogen und die empfindliche Schicht darunter freigelegt. Alles war heute viel intensiver als sonst.   „Hey Theo! Weißt du auch nicht, was du nehmen sollst?“   Ich blinzelte und blickte in ein fröhliches Kindergesicht. Kurt grinste mich von unten herauf an.   „Also ich esse ja am liebsten Nutella, auch wenn meine Mama behauptet, dass das der reinste Zucker ist. Aber Oma sagt immer, dass Zucker gut fürs Gehirn ist. Irgendwie haben wohl beide recht.“   Ich sah zu, wie Kurt sich ein Brötchen und ein Nutella-Päckchen nahm.   „Wollen wir zusammen frühstücken?“   Aus dem Gefühl heraus, keine Wahl zu haben, folgte ich Kurt. Ich sah zu, wie er genau den Platz ansteuerte, von dem ich bereits beim ersten Hinsehen geahnt hatte, dass er ihn nehmen würde. Auf der anderen Seite war noch ein Stuhl frei, den er wohl für mich vorgesehen hatte. Im Prinzip kein Problem, wenn es nicht bedeutet hätte, dass ich am gleichen Tisch wie Benedikt sitzen würde. Genauer gesagt ihm schräg gegenüber.   „Ich glaube, ich gehe lieber woanders hin“, murmelte ich und packte meinen Teller fester.   „Ach was, komm zu uns“, rief Kilian lachend. Er nahm seine Jacke von dem freien Stuhl und klopfte auffordernd auf die Sitzfläche. Meine Augen klebten jedoch immer noch an Benedikt, der nach wie vor nicht reagiert hatte. Erst jetzt, da ich immer noch keine Anstalten machte mich zu setzen, blickte er auf.   Er maß mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, bevor er anfing zu lächeln.   „Na los, setz dich schon.“   Mit einem Nicken deutete nun auch er auf den Platz auf meiner Seite des Tisches. Ich atmete noch einmal tief durch und ließ mich endlich nieder.   Es ist alles in Ordnung. Es ist alles normal.   Wie in Zeitlupe begann ich, mein Brötchen aufzuschneiden. Ich konzentrierte mich ganz auf die Aufgabe, während Kurt vor sich hin plapperte. Ich glaube, er erzählte mir etwas, aber in meinen Ohren rauschte es schon wieder. Ich bekam kein Wort von dem mit, was er sagte. Die ganze Zeit hämmerte ein einziger Satz durch meinen Kopf. Es war so albern. So dämlich. So …   „Theo? Sag mal, träumst du?“   Kilian sah mich fragend an. Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.   „Ja, ich … ich hab die Nacht nicht gut geschlafen.“   Eigentlich fast gar nicht, aber das würde ich Kilian bestimmt nicht auf die Nase binden.   „Dann hol dir auf jeden Fall noch einen Kaffee, bevor ihr nachher loslegt. Sonst muss Benedikt dich ja den ganzen Tag lang durch die Gegend schleppen.“   Der Gedanke setzte ein merkwürdiges Kribbeln in meinen Bauch. Wieder lächelte ich.   „Das wäre nun wirklich zu viel verlangt.“   Ich warf einen vorsichtigen Blick auf die andere Seite des Tisches. Benedikt schien leicht amüsiert. Obwohl ich nicht wusste, warum er lächelte, erwiderte ich es. Er runzelte ganz kurz die Stirn, doch dann wurde sein Lächeln breiter.   „Genau gönn dir einen Kaffee. Ich weiß zwar nicht, wie ihr das Zeug trinken könnt, aber wenn es hilft.“   Kilian lehnte sich zu mir hinüber und flüsterte mir verschwörerisch ins Ohr: „Benedikt trinkt nämlich nur Kakao.“   Er grinste, während Benedikt ihm einen bösen Blick zuwarf.   „Was?“, machte Kilian und grinste noch breiter. „Darf das etwa keiner wissen?“   Benedikt schnaubte belustigt.   „Doch. Ist ja kein Geheimnis. Aber wenn du das so sagst, klingt es, als wäre ich vier.“   Kilian riss die Augen auf.   „Du bist älter? Ich hatte ja keine Ahnung!“   Benedikt schüttelte nur lachend den Kopf.   „Du bist so ein Quatschkopf.“ „Einer muss es ja machen.“   Ich fiel in das allgemeine Gelächter mit ein, aber aus den Augenwinkeln beobachtete ich nur Benedikt, der sich jetzt vom Frühstückstisch erhob.   „Ich geh schon mal. Wir sehen uns später.“   „Spätestens beim Mittagessen“, bestätigte Kilian und stopfte sich das letzte Stück seines Wurstbrötchens in den Mund. Ich selbst hatte immer noch nichts gegessen, aber bei Kilians Abschiedsgruß war mir eine Idee gekommen. Eine Idee, wie ich den Tag vielleicht einigermaßen überstehen würde.   „Sag mal, hast du nicht Lust mit mir zu tauschen?“, meinte ich möglichst beiläufig, während ich nach der Margarine griff. „Ich würde mir gerne mal angucken, was Reike so mit den Kindern macht. Das sah interessant aus.“   „Die Wichtel? Ja, war schon cool, was die Kinder sich da zurechtgeschnitzt haben, aber heute wollten sie, glaube ich, in den Wald um Material zu sammeln.“ „Das klingt doch perfekt. Ich würde da gerne mitgehen.“   Kilian sah mich für einen Augenblick zweifelnd an, bevor er mit den Schultern zuckte.   „Soll mir recht sein. Dann scheuche ich mit Benedikt zusammen die LaKis durch die Gegend. Gell, Kurt? Wir machen es uns nett hier.“   „Logisch“, stimmte der Knirps zu und biss noch einmal in sein Nutellabrötchen, dass die Schokolade ihm fast bis zu den Ohren reichte. Ich hingegen konnte im Stillen nur daran denken, dass ich es geschafft hatte, Benedikt wenigstens am Vormittag aus dem Weg zu gehen. Ich brauchte erst noch ein bisschen Zeit, um mir zu überlegen, wie ich jetzt weiter verfahren würde. Allein die Vorstellung, noch mehr oder gar längere Situationen wie die gerade mit ihm zu überstehen, ließ das dumpfe Pochen, das bereits seit dem Aufstehen durch meinen Kopf pulsierte, um zwei Stufen ansteigen. Wahrscheinlich würde mein Schädel einfach irgendwann platzen und sich quer über das Rührei verteilen und es würde nicht einmal jemandem auffallen.   Ich aß, ohne zu schmecken, was ich eigentlich zu mir nahm, und machte mich dann gegen neun auf den Weg zum Lagerplatz, wo sich Reike und Sönke schon eingefunden hatten, um ihre Kinder für den bevorstehenden Waldbesuch einzunorden.   „Wenn wir im Wald sind, möchte ich, dass ihr Rücksicht nehmt. Im Wald leben Tiere, die wir durch unseren Aufenthalt nicht stören wollen. Außerdem werden keine Äste oder Blätter abgerissen. Wir sammeln nur, was man einfach so mitnehmen kann. Also seht euch um und schaut, was ihr Besonderes entdecken könnt. Und jetzt ab mit euch.“   Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, wobei Sönke kräftig voranschritt und die Gruppe sich somit lang und länger zog, mit mir und Reike als Schlusslicht. Für einen Moment überlegte ich, zu Sönke aufzuschließen, aber dann ließ ich es doch bleiben und wanderte lieber neben Reike her, die heute mit einem schwarzen Top und einer weiten, grünen Stoffhose noch alternativer aussah als an den Tagen zuvor.   Ich versuchte, meine Überlegungen zu Reikes Kleidungsstil beiseitezuschieben und mich wieder auf mein Problem mit Benedikt zu konzentrieren. Doch so sehr ich auch grübelte und grübelte, es wollte mir einfach nicht einfallen, wie ich mich verhalten sollte. Vielleicht hatte ich es mir am Ende sogar nur eingebildet, dass er mir dieses Geständnis gemacht hatte? Weil ich mir vorgestellt oder sogar gewünscht hatte, dass er es tat? War das alles nur ein Traum gewesen? Aber wenn es nur eine Wunschvorstellung gewesen wäre, hätte die dann nicht anders aussehen müssen? Aber wie? Hätte ich gewollt, dass er mir gestand, dass er jetzt noch in mich verliebt war? Wie hätte ich reagiert? Gab es überhaupt einen „richtigen“ Weg darauf zu reagieren? Und wäre ich in der Lage gewesen, das durchzuziehen? Hätte ich mit den Konsequenzen leben können? Und wie sahen diese Konsequenzen aus? Wohin führte dieser Weg? Was lag hinter den vielen Windungen und Kurven? Wollte ich überhaupt dorthin? Und was würde ich dafür aufgeben müssen?   Ich merkte, wie bei dieser Vorstellung meine Luftröhre eng wurde. Die Gedanken fingen an, mich erdrücken zu wollen. Plötzlich fühlte sich jeder Schritt an, als würde ich einen unmöglich großen Stein einen Berg hinaufrollen. Ich würde es nicht schaffen. Irgendwann würde es kippen und mich unter sich begraben. War es da nicht besser, wenn ich gleich hierblieb? War das nicht sicherer?   „Theo? Ist alles in Ordnung?“   Reike sah mich forschend an. Ich war wohl immer langsamer geworden und schließlich sogar stehengeblieben. Vor meinen Augen flimmerte es.   „Ja ich … ich bin okay“, erwiderte ich, obwohl der Schweiß auf meiner Stirn eine andere Sprache sprach. „Mir war nur kurz schwindelig.“   „Hast du heute genug getrunken?“   Nein. Nein, hatte ich nicht! Ich hatte mir ja noch einen Kaffee holen wollen, doch das hatte ich dann irgendwie vergessen.   „Ich glaub nicht.“   Reike schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge.   „Dann nimm die hier. Ich hab genug mit.“   Sie zog den Rucksack von ihrer Schulter und reichte mir eine Trinkflasche. Nachdem sie mir gezeigt hatte, wie man den Verschluss öffnete, setzte ich an und trank in gierigen Zügen. Ich hatte tatsächlich riesigen Durst. Erst nach ein paar Schlucken merkte ich, dass das Getränk irgendwie eigenartig schmeckte. Nach Kräutern und parfümierten Zitrusfrüchten.   „Das ist Zitronenmelisse“, klärte Reike mich auf, als ich ihr die Flasche wiedergab. Anscheinend hatte sie meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt. „Ist gut für die Nerven.“   „Na, das kann ich brauchen“, entgegnete ich, ohne darüber nachzudenken. Reike schenkte mir einen fragenden Blick.   „Ach, nur Spaß. Komm, die anderen warten schon.“   Mein Versuch, mich aus der Affäre zu ziehen, war nicht besonders elegant, aber da Sönke und die meisten der Kinder bereits das vor uns liegende Waldstück erreicht hatten, sagte Reike nichts mehr, sondern verstaute lediglich ihre Flasche, bevor sie mir in gemessenem Tempo folgte.     Am Waldrand angekommen, wurden die Kinder noch einmal daran erinnert, möglichst auf den Wegen zu bleiben und nicht zu weit ins Unterholz vorzudringen. Danach stürmten sie allesamt los, um sich die interessantesten Stücke unter den Nagel zu reißen. Keine zwei Meter weiter entbrannte bereits der erste Streit um einen großen Stock. Zwei Jungen brüllten sich wütend an.   „Ich hab den zuerst gesehen.“ „Nein, ich.“ „Lass los!“ „Nein du!“ „Nun streitet euch nicht. Der Wald ist voll mit Stöcken.“   Sönkes Einwurf wurde nicht weiter beachtet, bis einer der Kontrahenten eine vielversprechende Wurzel entdeckte und sein Fundstück freigab, sodass der Sieger mit seinem neugewonnenen Wanderstock von dannen ziehen konnte.   Sönke sah ihnen nach und schüttelte den Kopf.   „Kinder! Wenn wir zurück sind, dürfen wir übrigens nicht vergessen, sie nach Zecken abzusuchen“ „Ja, das stimmt. Am besten abends beim Duschen. Theo kann dir dann ja helfen.“   Ich brauchte einen Augenblick, bis ich die Information verarbeitet hatte.   „Wir suchen die Kinder ab?“, fragte ich und klang dabei ein wenig panischer, als ich gewollt hatte.   „Meist machen die Kinder das untereinander, aber wir müssen schauen, dass sie es richtig machen und nicht nur husch-husch.“, erklärte Sönke bereitwillig. „Aber wenn du nicht willst, mach ich das mit den Jungs auch alleine.“   „Ja bitte“, rutschte es mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. Die Vorstellung erweckte in mir irgendwie gemischte Gefühle. Fast so, als würde ich etwas Falsches, etwas Verbotenes tun.   „Kein Problem. Wenn eine Zecke entfernt werden muss, machen das eh meist Annett oder Kilian.“   Ich nickte nur und spürte auf einmal so ein komisches Kribbeln im Nacken. Als ich mich umsah, entdeckte ich Reike, die mich sehr seltsam anblickte. Ich versuchte, es zu ignorieren, doch das Gefühl blieb auch als wir schließlich in den Wald gingen und begannen, den Boden nach Material für die Bastelstunde abzusuchen.   Auf einer kleinen Lichtung schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich drehte mich zu ihr herum.   „Was ist los?“, fragte ich sie geradeheraus.   Sie sah mich mit ihren merkwürdig großen Augen an, bevor sie einen Schritt auf mich zumachte und den Kopf ein wenig schräg legte.   „Das frage ich dich, Theodor.“   Beim Klang meines vollen Namens rann mir ein Schauer über den Rücken. Momentan nannte mich nur Benedikt so. Es war vermutlich verrückt, aber ich wollte nicht, dass Reike es auch tat. Das gehörte nur ihm.   Sie runzelte die Stirn und ihre Augen wurden schmaler. Ein grüblerischer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als versuchte sie etwas zu sehen, was gar nicht da war. Etwas, das irgendwo in mir lag. Für einen Moment fürchtete ich, dass sie das tatsächlich konnte. Dass sie sehen würde, dass etwas mit mir nicht stimmte. Hatte ich mich verraten? Wusste sie es? Panik griff mit Spinnenfingern nach mir und wollte mir schon wieder die Luft abschnüren. Schnell bemühte ich mich um ein neutrales Gesicht.   Reikes Mund zuckte, dann wandte sie sich ab, ohne etwas zu sagen. Statt mit mir zu reden, ging sie zu einem der Bäume. Dicht davor blieb sie stehen und legte die Hand auf die glatte Rinde.   Eine Buche, sagte mir mein vergrabenes Wissen aus dem Heimat- und Sachkundeunterricht. Die meisten Bäume um uns herum waren Buchen. Ich hatte die Bucheckernschalen auf dem Boden gesehen.   „Weißt du, warum ich Tischlerin geworden bin?“   Ich verneinte. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Baum zuwandte.   „Weil ich es liebe, mit Holz zu arbeiten. Zuerst wollte ich in einer Baumschule anfangen, aber dann habe ich mich doch für einen Beruf entschieden, in dem ich auch meine künstlerische Neigung ausleben kann. Dabei ist Holz ein ganz besonderer Werkstoff. Weißt du, warum?“   Wieder antwortete ich mit Nein. Sie lächelte.   „Weil Holz einmal gelebt hat. Jedes Stück Holz, das du in die Hand nimmst, war einmal Teil eines lebenden und atmenden Organismus.“   Sie strich mit der Hand über den Stamm und schloss die Augen. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich. Stand ich jetzt wirklich neben Reike, die gerade einen Baum umarmte?   „Alles fließt“, sagte sie und atmete tief ein. „Man kann es spüren, wenn man ganz genau hinhört.“   Meine Zweifel waren mir wohl anzusehen, denn als Reike die Augen wieder öffnete, lächelte sie und trat von dem Baum zurück.   „Du findest das komisch, oder?“ „Na ja“, antwortete ich gedehnt. „Schon etwas.“ „Kein Problem. Nicht jeder ist dafür empfänglich. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Theo. Du wirkst nicht glücklich.“ „Was?“   Völlig aus dem Konzept gebracht vergaß ich meine Höflichkeit. Sogar mein Lächeln kam mir abhanden. Reike trat auf mich zu. Wieder musterte sie mich ernst. Sie hob die Hände.   „Darf ich?“, fragte sie und ich nickte zögerlich.   Reike legte ihre Hände zuerst auf meine Brust, dann an die Seiten meines Halses. Mit geschlossenen Augen tastete sie verschiedene Stellen hinter meinen Ohren ab. Anschließend umschloss sie sie mit ihren Händen. Die Umgebungsgeräusche wurden leiser und gleichzeitig schärfer, so als würde ich sie durch einen Trichter hören. Als ich schon dachte, dass sie fertig sei, legte sie noch eine Hand gegen meine Stirn, als wolle sie fühlen, ob ich Fieber hatte. Ihre Finger waren schmal und kühl und ich schloss unwillkürlich ebenfalls die Augen. Es dauerte einen Moment an, bevor sie sich wieder von mir zurückzog. Als ich meine Augen wieder öffnete, musterte sie mich ernst.   „Du machst es dir gerade sehr schwer“, sagte sie, während sie mich unverwandt ansah. „Du hältst an etwas fest, dass dich nicht glücklich macht. So sehr, dass deine Energie fast vollkommen zum Erliegen kommt. Vielleicht aus Angst vor dem, was passiert, wenn du loslässt.“   „Aber …“, wollte ich einwenden, doch Reike unterbrach mich mit einer sanften Handbewegung. Sie lächelte leicht.   „Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Denk einfach mal darüber nach. Vielleicht tust du das, was ich dir gesagt habe, als für dich nicht passend ab. Dann ist das deine Entscheidung und auch das ist in Ordnung. Aber vielleicht hilft es dir dabei, einen neuen Weg zu finden. Einen Weg, der dich dorthin bringt, wo du sein willst, anstatt dorthin, wo du glaubst, sein zu müssen.“   Sie lächelte noch einmal, bevor sie sich umdrehte und mich mit meinen Gedanken allein zurückließ. Ich sah ihr nach, wie sie nahezu lautlos zwischen den Zweigen des Dickichts verschwand. Es war fast so, als wäre sie nie hier gewesen. Nur ihre Worte blieben zurück wie Sternenstaub, der um mich herum auf der Lichtung flimmerte.   Was sollte das denn jetzt gewesen sein? Reike kannte mich doch überhaupt nicht. Sie wusste nichts über mich. Wie wollte sie mir da Ratschläge geben, wie ich mein Leben zu leben hatte. Noch dazu mit irgendwelchem verschrobenen Kram über Energieflüsse und was weiß ich noch. Das war mir alles zu abgehoben. Ich glaubte doch nicht an die heilende Kraft von Steinen oder solchen Unsinn. Am Ende sollte ich mir noch einen Traumfänger aus Tierknochen und Vogelfedern basteln, um böse Geister fernzuhalten. Das war absolut lächerlich.   Noch während ich das dachte, vibrierte auf einmal mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Mia bekommen. Sie erkundigte sich, wie es mir ging und ob ich Spaß im Camp hatte. Ich blickte auf ihre Zeilen und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Stattdessen hielt ich das Handy nur in der Hand und starrte auf das kleine Foto, das oben im Chat neben Mias Namen prangte. Mit einem kurzen Tippen vergrößerte ich es. Das Bild zeigte sie und ihre beste Freundin Anne, die beide eine Grimasse in die Kamera schnitten.   Du hältst an etwas fest, das dich nicht glücklich macht, glaubte ich wieder Reikes Stimme zu hören.   Ob sie Mia damit meinte? Nein, das war Unsinn. Sie kannte Mia ja gar nicht und ich liebte meine Freundin. Sie war … toll. Vertraut. Ich hätte hunderte von Dingen aufzählen können und trotzdem nur die Hälfte dessen beschrieben, was sie so wunderbar machte. Ihr bezauberndes Lächeln zum Beispiel, bei dem sie manchmal die Nase krauszog wie ein Baby-Cockerspaniel. Ihre Klugheit und die Cupcakes, die sie kreierte und die aussahen, als wären sie aus einem Fotoband geklaut. Die Tatsache, dass man wunderbar mit ihr herumalbern, aber auch ernste Themen besprechen konnte. Dass sie es liebte, mit mir zusammen romantische Komödien anzusehen, von denen ich einige sogar ganz gut fand, was ich jedoch nie zugab und stattdessen immer so tat, als würde ich das alles nur ihr zuliebe ertragen. Sie aß ihr Popcorn ausschließlich süß und konnte Knoblauch nicht ausstehen. Dafür mochte sie den Winter und war immer noch traurig, dass die Eishalle, in der sie früher immer zum Schlittschuhlaufen gewesen war, vor ein paar Jahren dichtgemacht hatte. In der kalten Jahreszeit vergaß sie ständig ihre Handschuhe und verlangte dann, dass ich ihre Hände wärmte, und obendrein hatte sie alle Geburtstage meiner Freunde im Kopf. Diese Liste ließ sich unendlich fortsetzen. Ein Leben ohne Mia konnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen.   Noch während ich das feststellte, musste ich an Benedikt denken. An das, was zwischen uns gewesen war. Es war nur ein Bruchteil dessen, was ich mit Mia erlebt hatte. Ein Jahr lang hatten wir quasi keinerlei Zeit außerhalb des Unterrichts miteinander verbracht. Er war wütend auf mich gewesen und ich war auch ohne ihn gut klargekommen. Hatte ich zumindest gedacht. Aber wenn ich ehrlich war …. wenn ich wirklich ehrlich war, dann war er immer da gewesen. Irgendwo in meinen Träumen, in der Zeit zwischen Schlafen und Wachen, hatte ich an ihn denken müssen. Ich hatte mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn er plötzlich vor meiner Tür stände. Wie wir uns irgendwo begegneten, wo uns niemand sehen konnte. Irgendwo in einer Disko in einer fremden Stadt oder im Geräteraum der Turnhalle, wenn schon alle gegangen waren. Manchmal hatte ich mir gewünscht, dass es echt war. Manchmal hatte ich mich dafür gehasst, dass ich es mir gewünscht hatte. Meistens hatte ich gehofft, dass es wieder weggehen würde, wenn ich es ignorierte.   Das Engegefühl, das sich bei diesen Gedanken den Weg um meine Kehle legte, drohte mich zu ersticken. Ich wusste, dass es nicht wieder weggehen würde. Ich hatte es versucht. Ich hatte es so sehr versucht. Aber mit jedem Versuch war es nur umso heftiger wieder zurückgekehrt. Manchmal war es so schlimm gewesen, dass nichts anderes mehr mein Denken beherrschte. Dann hatte ich mich eingeschlossen und hatte mir erlaubt, was ich für zu schrecklich hielt, um es mit irgendwem zu teilen.   Dabei ist es doch gar nicht schrecklich. Es ist doch … gut, jemanden zu lieben. Du hast doch selbst immer wieder gesagt, dass es egal ist. Dass du kein Problem damit hast. Dass man es sich nicht aussucht. Dass einen keine Schuld daran trifft. Warum also tust du dir das hier an? Warum stehst du nicht endlich dazu?   Die Antwort war ebenso einfach wie kompliziert. Ich hatte zu viel Angst. Davor, was die anderen sagen würden. Meine Freunde, meine Eltern, Mia. Aber vielleicht … vielleicht mussten sie es ja erst mal noch gar nicht erfahren. Vielleicht reichte es ja, wenn ich erst einmal mit jemandem darüber sprach, dem es ebenso ging wie mir.   Ich dachte an Benedikt und daran, wie er wohl auf so eine Eröffnung reagieren würde. Vermutlich nicht besonders positiv. Er würde sich zu recht verarscht vorkommen, wenn ich jetzt damit herausrückte, dass ich … also, dass ich möglicherweise …   „Dass ich schwul bin.“   Ich hatte es nur ganz leise gesagt. Kaum mehr als ein Flüstern. Es klang so seltsam aus meinem Mund. Ich hatte es noch nie ausgesprochen. Nicht einmal wirklich gedacht und wenn, dann nur, um innerlich ebenso abfällig darüber zu reden, wie Jo es getan hatte. Ich hatte es sogar versucht vor mir selbst zu verstecken. Mit dem Ergebnis, dass ich den einzigen Menschen von mir gestoßen hatte, den ich mir jetzt an meine Seite wünschte. Ich hatte es gründlich vermasselt.   „Du bist ein Idiot“, sagte ich zu mir selbst. „Ein schwuler Riesenidiot.“   Ich musste lachen, während ich das sagte, und gleichzeitig spürte ich Tränen meine Wangen hinablaufen. Noch mehr als zuvor wünschte ich mir, dass jetzt irgendjemand da wäre, der mich auffing. Aber da war niemand, und so musste ich mich am Riemen reißen. Ich musste die Maske wieder anlegen, von der ich mir jetzt erst bewusst wurde, dass ich sie die ganze Zeit aufgehabt hatte. Es fühlte sich falsch an und trotzdem wusste ich, dass es sein musste. Ich musste noch ein bisschen durchhalten und dann würde ich hoffentlich endlich irgendwann loslassen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)