Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 9: Rescue me... from warm, fuzzy feelings ------------------------------------------------- Neujahr. Joey lag die ganze Nacht wach, weil ihn eine Hitze verfolgte, die er einfach nicht wieder los wurde. Dieser Kuss hatte ihn vollkommen eingenommen und alles verändert. Es fühlte sich absolut natürlich an, genau richtig, genau wie es sein sollte, als sie sich küssten. Es riss ihm den Boden unter den Füßen weg und er konnte an nichts anderes denken als an eisblaue Augen, die sein Verlangen noch verstärkten.   Und dann waren seine Freunde gekommen. Seine dummen, bescheuerten, idiotischen Freunde. Sie hatten ihn gefragt, was passiert war, aber er konnte nichts antworten. War mit seinen Gedanken noch immer so völlig bei diesem Mann, der ihn durch seine heißen Küsse so in Besitz genommen hatte. Und er wollte es wieder, Gott, er würde alles dafür tun, ihn wieder so berühren zu können, den Sturm in seinen Augen wahrzunehmen, und noch tiefer in den Strudel aus Verlangen und Leidenschaft zu fallen.   Es war zwecklos, er würde kein Auge mehr zubekommen. Die Party ging bis vier Uhr, und im Rausch der Endorphine tanzte Joey mit seinen Freunden bis zum Schluss. Von Kaiba fehlte seit ihrem Kuss jede Spur, und jede einzelne Sekunde davon fühlte sich an wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut. Wieder einmal musste er sich fragen, was der Drache da mit ihm anstellte. War das alles Teil seines Plans, ihn von seinem eigenen abzubringen, einfach nur Teil des Deals? Aber würde er diese Begierde wirklich spielen können? Er wusste, Kaiba konnte skrupellos sein, aber sowas? Das wäre wirklich eine ganz andere Liga, und Joey konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er sich das nur eingebildet hatte. Kaibas Augen sagten ihm immer, was in dem Braunhaarigen wirklich vorging, und er hatte sie gesehen, dieselbe Sehnsucht, die er auch verspürte.   Er sah auf sein Handy, es war kurz nach zehn Uhr morgens. Um elf Uhr sollte es Frühstück geben. Damit jeder nach der langen Nacht einigermaßen Schlaf finden konnte, hatten sie sich auf eine spätere Zeit als üblich geeinigt, und es würde wohl eher auf eine Art Brunch hinauslaufen. Joey konnte sich kaum vorstellen, überhaupt einen Bissen runterzubekommen, schon gar nicht, wenn Kaiba mit im Raum war.   Er musste raus, musste auf andere Gedanken kommen. Er wusste, er würde diese eisblauen Augen nicht aus seinem Kopf bekommen, oder das Brennen von seiner Haut, von seinen Lippen, aber er würde es dennoch auf einen Versuch ankommen lassen. Hastig zog er sich seine Sportklamotten an, schnappte sich seinen MP3-Player und machte sich auf in Richtung Kaiba-Park. Es war ein kalter Januarmorgen, dennoch schien die Sonne gnadenlos auf die Erde und ließ Joey ein paar Mal blinzeln, als er ins Freie trat. Und dann rannte er los, rannte, als wenn es um sein Leben ginge. Er musste an sein Limit gehen. Er wusste nicht, wie lange er rannte, aber als er wieder kurz vor der Tür zum Haus stand, war alle Luft aus seinen Lungen gewichen, und er genoss dieses Gefühl. Er nahm seine Kopfhörer aus den Ohren und hockte sich für einen Moment auf den Boden, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er die Treppen zurück in den ersten Stock und in sein Apartment nehmen wollte. Gedankenverloren sah er vor sich auf den Boden und beobachtete die feuchte Luftwolke, die sich vor seinem Gesicht bildete, jedes Mal, wenn er ausatmete. Die kühle Luft war Balsam für seinen erhitzten Körper.   Nach wenigen Minuten des Erholens stand er auf, er war noch ungefähr zehn Meter von der Eingangstür entfernt - und da sah er ihn. Er hatte die Tür geöffnet und lehnte mit der Hüfte dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt. Und trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag, war es für Joey nicht schwer zu erkennen, wie unverschämt gut der Braunhaarige aussah. Er musste gerade geduscht haben, seine Haare waren noch nass und hingen ihm strähnchenweise ins Gesicht. Joey hatte das Gefühl, bei seinem Anblick würde sein Herz für einen Moment stehen bleiben. Wie hatte er ihn überhaupt gefunden? Oder anders: Woher hatte er gewusst, dass er hier war? Na ja, das war immer noch Seto Kaiba, der wusste entweder alles oder wusste, wie er es rausfinden konnte. Hieß das, er wollte ihn finden? Hatte er ihn gesucht? Eindeutig zu viele Gedanken auf einmal.   Er nahm allen Mut zusammen. Er wollte ihm ja gar nicht aus dem Weg gehen, aber er war so nervös, als er auf ihn zuging, weil er nicht wusste, wie Kaiba fühlte, wie er zu ihrem Kuss gestern Nacht stand. Würde er es bereuen? Er wäre verloren, wenn es so wäre. Das würde ihm komplett den Boden unter den Füßen wegziehen. Nein, Joey mochte versucht haben, sich dagegen wehren - aber er wusste, es gäbe kein Zurück mehr, nicht nach dem, was sie gestern Nacht geteilt hatten. Er musste rausfinden, ob Kaiba das genauso sah.   In langsamen Schritten ging er auf ihn zu. Kaiba hatte noch kein Wort gesagt, ihn nur mit diesem mysteriösen Blick angestarrt. Joey musste schlucken, je näher er ihm kam, desto größer wurde sein Verlangen, sich erneut in dessen Augen zu verlieren. Aber er musste irgendwie bei klarem Verstand bleiben. Hilfe…   “Morgen”, sagte Joey mit erstickter Stimme, als er nur noch ungefähr einen Meter von Kaiba weg stand. “Hey”, erwiderte der kalt. Bereute er es doch? Sofort erfasste ihn eine Welle des Schmerzes, die ihm fast die Beine wegzog. Tatsächlich war ihm für einen Moment schwindelig und er hatte das Gefühl zu fallen. Er musste für einen Augenblick die Augen schließen und tief durchatmen - als er plötzlich eine Hand an seiner Wange spürte. Als er aufsah, blickte er in eisblaue Augen, die ihn sorgenvoll anschauten. “Ist alles in Ordnung, Hündchen?” Seine Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. Er wusste, sie waren allein und unbeobachtet, sonst würde Kaiba sich nicht so weit vorwagen.   “Ich weiß nicht… ist alles in Ordnung, Kaiba?” Eine stumme Träne lief ihm über die Wange, und Kaiba wischte sie mit einer raschen Bewegung des Daumens weg. Alle Stellen, die er berührte, kribbelten auf seiner Haut. Diese Augen machten Joey wahnsinnig, aber er war doch nicht im Stande, seinen Kopf wegzubewegen. Plötzlich änderte sich etwas in Kaibas Augenfarbe, und er sah Schmerz. Schmerz? Kaiba ließ von ihm ab, aber Joey konnte das noch nicht. Er brauchte das jetzt.   Er hielt ihn am Ärmel fest, sein Blick flehend, obwohl er gar nicht wusste, wofür er eigentlich so bettelte. Kaiba sah ihn wieder intensiv an, aber der Schmerz war noch da. Dann fragte der Größere, wenn auch zögerlich: “Bereust du es?”   “Was?!” Joey konnte überhaupt nicht glauben, was er da gerade hörte. Moment, hatte der große Seto Kaiba etwa… Selbstzweifel?   Joey überwand die Distanz, die mittlerweile wieder zwischen ihnen stand, und schlang seine Arme um Kaiba. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen, oder er würde sich in ihnen verlieren, aber er musste sagen, was er zu sagen hatte, denn wenn er es jetzt nicht tat, hatte er das Gefühl, würde er es nie tun.   “Niemals. Nicht eine Sekunde. Wie kannst du sowas nur für einen winzigen Augenblick glauben? Be-… bereust du es etwa?”   Kaiba hob Joeys Kopf ein wenig an, sodass sie nun Stirn an Stirn standen. “Nein, nicht auch nur für einen Atemzug.” Oh Gott. Joey zitterte wie Espenlaub, und er musste sich weiter an Kaiba festhalten, sonst wäre er umgefallen. Alle Endorphine strömten zurück in seinen Körper, denn das war alles, was er wissen wollte. Es war dumm von ihm zu glauben, Kaiba könnte Zweifel haben, aber noch dümmer war es von Kaiba, auch nur einen Moment zu befürchten, Joey würde es bereuen. Das würde niemals passieren, niemals.   Sie standen einige Minuten so da, dann hob Joey den Kopf und sah Kaiba an. “Wieder okay?”, fragte Kaiba ihn sanft, und Joey nickte. Und auch wenn er genau sehen konnte, dass auch Kaiba die Berührung nicht beenden wollte, so wusste er, dass das unausweichlich war. Wann würde das nächste Mal sein? Warum war es noch nicht so weit? Seine Sehnsucht vereinnahmte ihn schon jetzt vollständig.   “Es gibt gleich Essen, aber du willst sicher vorher noch schnell duschen, oder?”   “Mhm, wenn das okay ist?”   “Natürlich. Du kommst ja sowieso immer zu spät, was macht da schon ein Tag mehr.” Bei diesen Worten lächelte Kaiba ihn an, wenn auch nur ein kleines bisschen. Joey war so froh darüber, weil es die Situation ein wenig auflockerte. Die ganze Anspannung der Nacht und des Morgens verflogen mit diesem einen Lächeln. Wusste Kaiba eigentlich, wie viel Macht er über ihn hatte?   Als Joey unter der Dusche stand und das heiße Wasser seine schlaffen Muskeln erhitzte, verfolgten ihn noch immer diese eisblauen Augen. Aber er war glücklich, glücklich, dass auch Kaiba es nicht bereute, und dass sie das so schnell klären konnten. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch Schicksal, dass sie sich an diesem Morgen getroffen hatten, vielleicht auch von Kaiba geplant, aber was auch immer es war, er fühlte nichts als Dankbarkeit.   Seine Haare waren zwar immer noch leicht nass, aber er wollte nicht zu sehr zu spät kommen. Also zog er sich schnell an und machte sich auf den Weg zum Esszimmer. Natürlich war er der Letzte, und als er den Raum betrat, sog Kaiba für einen kleinen Moment scharf die Luft ein. Joey musste sich beherrschen, er wollte nicht, dass die anderen was ahnten, erst mal mussten die beiden unter sich ausmachen, was das alles zu bedeuten hatte.   “Morgen, zusammen!”, rief Joey und versuchte, ein gut gelauntes Lächeln aufzusetzen.   “Morgen, Joey”, hörte er Mokuba gähnen, und auch Serenity und seine Mum stiegen in ein Gähnen ein. Da war er wohl nicht der Einzige gewesen, der eine kurze Nacht hatte. Das ließ ihn schmunzeln, während er gleichzeitig bemerkte, dass Kaiba ihn nicht aus den Augen ließ.   Dennoch kamen ein paar gute Gespräche zustande. Alle waren begeistert von der Party gestern gewesen. Mokuba war eben ein ziemlich genialer Partyplaner, das musste Joey anerkennend zugeben. Er wusste, was es hieß, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Davon könnte sich sein großer Bruder mal eine Scheibe abschneiden, stelle Joey grinsend fest. Es war schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Kaiba-Brüder waren. Der eine quirlig und mitteilsam, der andere verschlossen und distanziert. Aber Joey würde es nicht anders haben wollen.   “Hey, Kaiba”, hörte er seine Mum dann sagen. “Leider müssten wir heute Abend nach Hause fliegen. Serenity hat in ein paar Tagen wieder Schule, und ich muss leider auch in zwei Tagen wieder arbeiten und wir müssen noch einiges vorbereiten. Ich glaube, ihr habt doch auch demnächst wieder Schule, oder?”   Kaibe nickte. “Selbstverständlich, ich lasse den Flieger vorbereiten. Bitte gebt Bescheid, wenn ihr bis dahin noch irgendwas braucht.” Vielleicht war Kaiba doch kein so schlechter Gastgeber wie Joey dachte, einfach nur… anders als Mokuba.   “Müsst ihr wirklich schon wieder los, Mum?”, fragte Joey wehmütig. Er wollte nicht, dass sie schon gingen, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er überhaupt nicht daran gedacht hatte. Der Einzige, der die letzten Stunden seine Gedanken dominiert hatte, war der Mann mit den eisblauen Augen ihm gegenüber gewesen.   “Ich fürchte ja, Joey. Aber wir sehen uns bestimmt bald mal wieder.” Sie lächelte, doch Joey wusste, das wäre unwahrscheinlich. Immerhin hatten sie ihr eigenes Leben in Amerika und konnten ja wohl auch nicht ständig Kaibas Privatjet in Anspruch nehmen. Er hoffte dennoch, dass es nicht wieder zehn Jahre dauern würde, bis sie sich wiedersahen.   “Komm, Serenity, wir sollten so langsam unsere Sachen packen.” Serenity folgte ihr mit gesenktem Blick, und schon waren sie verschwunden.   Am späten Nachmittag stand er an der Straße, wo der Chauffeur gerade die Koffer von seiner Familie in die Limousine packte. Seine Mum kam auf ihn zu und hatte Tränen in den Augen, und auch Joey konnte seine eigenen nicht verbergen. “Mein Junge, pass gut auf dich auf. Ich hab dich so lieb, hörst du? Wir telefonieren ganz viel, okay? Bitte, sei nicht traurig.”   Sie wischte Joey ein paar Tränen von den Wangen. “Ich werd’ euch so vermissen, Mum, Serenity.” Alle drei umarmten sich innig, und Joey wollte nicht loslassen, aber er wusste, es war unvermeidbar.   “Kaiba”, setzte seine Mum wieder an, und ihm war gar nicht aufgefallen, dass dieser plötzlich neben ihm stand. “Wir möchten uns bei dir für deine Gastfreundschaft bedanken. Dass ich meinen Jungen nach so vielen Jahren endlich wiedersehen konnte, ist mit Geld gar nicht zu bezahlen. Wenn wir mal irgendwas für dich tun können, lass es uns bitte wissen. Ihr seid uns jederzeit willkommen, ihr beide, und Mokuba natürlich auch.”   Kaiba nickte und Joey bewunderte, wie sehr er die Fassung bewahrte. “Genauso wie ihr hier. Meine Türen stehen euch stets offen.” Wow, seit wann war Kaiba so ein Gentleman? Er war so überaus höflich, und es erwärmte ihm das Herz zu sehen, wie einfühlsam er mit seiner Familie umging. Joey war sich sicher, das lag daran, dass Kaiba den Wert von Familie zu schätzen wusste, und er war dankbar dafür, dass sie auch das zu ihren Gemeinsamkeiten zählen konnten.   Die Drei umarmten sich noch ein letztes Mal, dann stiegen Serenity und ihre Mum ein und fuhren in der Limousine davon. Joey winkte ihnen noch nach, dann konnte er die Flut an Tränen nicht mehr zurück halten.   “Joey, sieh mich an”, sagte Kaiba. Sie standen mitten auf dem Gehweg, also hielt er sich mit Berührungen zurück, aber die Tatsache, dass er seinen Vornamen benutzt hatte, unterstrich die Sanftheit seiner Worte. Joey sah hoch und blickte in sorgenvolle, blaue Augen. “Ich habe gemeint, was ich gerade sagte. Sie können jederzeit wiederkommen, jederzeit. Du brauchst nur ein Wort zu sagen und ich schicke den Flieger los. Du wirst sie wiedersehen, hörst du?”   Joey platzte fast das Herz. Er hatte recht, er würde sie wiedersehen. Ganz im Gegensatz zu Kaiba, der seine Eltern für immer verloren hatte. Da fasste Joey einen Entschluss - was immer es brauchte, was immer nötig war, er würde versuchen, die Familie für ihn herzustellen, die er verdammt noch mal verdient hatte. Er war so wunderbar mit seiner Mum und seiner Schwester umgegangen, und Joey wollte unbedingt etwas zurückgeben. Kaiba war so unheimlich großzügig, dass es Joey kaum aushielt. Womit hatte er das denn verdient?   “Ich… ich danke dir. Wirklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es ist einfach so…”   “Du brauchst überhaupt nichts sagen. Familie ist das Wichtigste, und du solltest nicht das Gefühl haben, keine zu haben, nur weil sie nicht hier sind. Weil sie es immer sein können, wann immer du es sagst.”   Noch immer kullerten Joey dicke Krokodilstränen die Wangen hinunter, als er Kaiba ansah. Er wollte ihn so gern berühren, aber er wusste, es ging hier nicht. Aber seine blauen Augen verrieten ihm, dass es ihm genauso ging. Kaibas Mundwinkel zogen sich ganz minimal in die Höhe, und wer nicht direkt vor ihm stand, würde es gar nicht bemerken, aber Joey sah es. Und er sah ihn, so wie nur er ihn sehen konnte.   “Es tut mir leid, ich muss leider heute ein bisschen arbeiten. Wahrscheinlich sogar das ganze Wochenende.” Joey sah in die schuldbewussten Augen des Größeren und schüttelte den Kopf. “Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast so viel für mich getan, und ich stehe so tief in deiner Schuld. Wenn ich irgendwas tun kann, um dir auch nur ansatzweise was zurückzugeben, dann lass es mich bitte wissen. Bitte.”   Sanfte Augen schauten auf ihn, und Kaiba nickte. Dann gingen sie gemeinsam wieder ins Haus und jeder ging mehr oder weniger seiner Wege.   Am Abend klopfte Joey vorsichtig an Kaibas Bürotür und steckte den Kopf hinein. Ihm war bewusst, dass er ihn wahrscheinlich nicht so oft sehen würde die nächsten Tage, da war es das Mindeste, ihm einen Kaffee vorbeizubringen - er wusste, dass Kaiba diesen auch am Abend trank, wenn er noch viel zu tun hatte. Nicht, dass das auch nur im Ansatz aufwiegen würde, was Kaiba für ihn getan hatte, aber wenn es ihm auch nur eine Sekunde Freude brachte, wäre der Anfang zumindest schon mal gemacht.   Joey trat mit der Tasse heißen Gebräus - mit einem Schluck Milch, natürlich - ein. Kaiba hatte ein Headset auf und war offensichtlich gerade in einem Meeting. Er sah gestresst aus und Joey wollte ihn auch gar nicht lange stören. Er stellte die Tasse vor ihm auf dem Schreibtisch ab und legte den Zettel dazu, den er vorbereitet hatte. Auf diesem Stand einfach nur ‘Danke’, zu mehr war er nicht imstande gewesen, aber so hatte Kaiba es wenigstens schwarz auf weiß.   Joey wollte sich gerade auf den Rückweg machen, da hielt Kaiba ihn am Arm fest. Er wusste, er war mitten in einem Arbeitsmeeting, dennoch nahm Kaiba für einen kurzen Moment seine Hand und drückte sie. Joey verlor sich schon wieder in seinen Augen und schenkte ihm ein beseeltes Lächeln. Und Kaiba erwiderte es. Joeys Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass er der Einzige war, der dies jetzt sehen konnte.   ~~~~   Die Tage nach Neujahr vergingen relativ schnell, allein schon der Tatsache geschuldet, dass Kaiba in Arbeit erstickte und zum Teil bis nachts noch ausbügeln musste, was seine Mitarbeiter vergeigt hatten. Außerdem hatte mittlerweile auch die Schule wieder angefangen, und Joey ging nun wieder seinem Nebenjob nach. Sie sahen sich meist nur zum Frühstück, und auch wenn sie in dieselbe Klasse gingen, hielten sie dort Abstand. Kaiba musste zugeben, dass er den Kleineren vermisste, seine Berührungen, seine Blicke. Seine ganze Welt hatte sich verändert, seit sie sich geküsst hatten. Wann immer er nicht arbeitete und so Ablenkung fand, nahmen Joeys Augen und die Erinnerungen daran, wie er sich angefühlt, wie er geschmeckt hatte, sein ganzes Wesen ein. In der Öffentlichkeit konnte er die Fassung bewahren und benahm sich wie immer, aber wenn er abends in seinem Bett lag, allein, da fühlte er diese tiefe Sehnsucht nach seinem Hündchen.   Es war schon fast Mitte Januar, es war ein Mittwochabend und Joey würde heut erst wieder spät von der Arbeit kommen. Kaiba saß an seinem Schreibtisch in der KaibaCorp. und würde vermutlich noch viel später nach Hause kommen als der Blonde. Seufzend nahm er sein Handy und tippte eine Nachricht an Joey.   ‘Hey, Hündchen, das Klavierkonzert ist in zwei Tagen. Bleibt es dabei, dass du mitkommst?’   Dann wartete er. Eine Minute, dann zwei, dann fünf… er hasste Warten und tippte ungeduldig mit seinen Fingern auf seinem Schreibtisch. Dann, endlich, nach zehn Minuten, summte sein Handy auf.   ‘Hey, sorry, viel los heute. Natürlich bin ich dabei, außer natürlich, du hast es dir anders überlegt…?’   Kopfschüttelnd stellte er fest, dass sein Hündchen unbedingt an seinem Selbstbewusstsein arbeiten musste. Hatte er denn keine Ahnung, was für eine Wirkung er auf ihn hatte? Wie sehr er ihn vermisste, wenn sie sich nicht sahen?   ‘Wen sollte ich sonst dabei haben wollen, Hündchen?’   ‘Weiß nicht, deine… Freundin?’   Der Kaffee, den er sich gerade gemacht hatte, um seine Konzentration für den Abend zu stärken, quoll nun aus Mund und Nase. Fluchend wischte er mit einem Papiertuch den Schreibtisch ab. Wo zur Hölle kam das denn nur her? Was für Hirngespinste hatte der Blonde? Er hatte definitiv eine viel zu blühende Fantasie.   Kurz überlegte er, was er antworten sollte, dann tippte er seine Nachricht:   ‘Verdammt, Joey, wenn du nicht gerade eine Geschlechtsumwandlung gemacht hast, wüsste ich nicht, von wem du da sprechen solltest. Ich will dich, nur dich, dabei haben, verstanden?’   War das zu viel? Seine Nachricht implizierte ja schon, dass sie sowas wie eine… ja, wie eine Beziehung hatten? Aber war es so, nach gerade mal einem Kuss? Keine Ahnung, war ja nicht gerade Kaibas Fachgebiet. Er hatte eher andere Kompetenzen. Aber irgendwas fühlte sich richtig an, es so zu schreiben. Und ob sie das jetzt Beziehung nannten oder nicht, war eigentlich auch egal. Das änderte nichts daran, wie er sich fühlte, wenn er auch nur eine Sekunde an ihn dachte.   Sein Handy vibrierte, und er wusste nicht, ob er die Nachricht lesen wollte oder nicht. Was, wenn Joey ganz anders fühlte? Er nahm das Handy in die Hand - er würde es nur wissen, wenn er die Nachricht las.   Ein Bild? Er öffnete es, und analysierte es genauer. Joey lehnte vornübergebeugt auf einer Theke, den Kopf mit einem Ellenbogen abgestützt, mit der anderen Hand betätigte er offensichtlich den Auslöser seiner Kamera am Handy. Hinter ihm schien die Küche zu sein. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und eine weinrote Schürze über allem. Und er lächelte, wie nur er es konnte. Seine Augen waren wie flüssiger Honig, und seine Haare lagen ein wenig durcheinander, sodass Kaiba das große Bedürfnis hatte, ihm durch die Haare zu streicheln und Ordnung zu schaffen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, doch dann vibrierte das Telefon wieder, und er sah, dass es erneut eine Nachricht von Joey war.   ‘Hättest du dir vor wenigen Monaten vorstellen können, dass ausgerechnet du, du reicher, arroganter, herrischer Schnösel, Mr. Eisklotz in Person, mal deinen Erzfeind Joey Wheeler zum Lächeln bringst? Tja, hier ist der Beweis. Ich hoffe, du kannst mit dieser Schuld leben. ;-) ‘   Nur Joey schaffte es, eine Beleidigung wie ein Kompliment klingen zu lassen. Kaiba musste lächeln, und er hoffte, Joey noch viele, viele Male dieses Lächeln ins Gesicht zaubern zu können.   Zwei Tage später kam er geschafft aus der Firma und war froh, dass er Joey heute endlich mal wiedersehen würde. Er musste sich ein bisschen beeilen, damit er noch genug Zeit hatte, um zu duschen und sich ein Outfit rauszusuchen. Zurück in der Villa ging er zielstrebig in Richtung seines Apartments. Dort angekommen zog er sich das Hemd aus, als es klopfte. Wer konnte das denn sein? Er öffnete die Tür einen Spalt, und sah sein Hündchen nervös von einem Bein aufs andere hüpfen.   “Hey, Kaiba, sorry für die Störung. Ich ähm… könnte ich dich kurz was fragen?” Verlegen blickte Joey ihm in die Augen, und Kaiba benötigte jede Faser an Selbstkontrolle, um nicht laut aufzulachen.   “Klar, komm rein.” Er öffnete die Tür und ließ den Blonden rein, und erst, als er ihn scharf einatmen hörte, wurde er sich wieder darüber bewusst, dass er oberkörperfrei vor ihm stand. Oh, dieses berauschende Gefühl gefiel ihm, daran könnte er sich gewöhnen. Als Joey die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte Kaiba sich gegen einen Sessel und grinste ihn süffisant an. Wie er es liebte, sein Hündchen aus der Reserve zu locken. Würde er davon jemals genug bekommen?   “Was gibt’s, Hündchen?”   Joey musste hart schlucken, bevor er antworten konnte. “Na ja, ich… war noch nie auf so einem Konzert. Hab’ keinen Plan, was ich anziehen soll. Mokuba konnte mir auch nicht helfen, also…”   Quälend langsam ging Kaiba auf Joey zu, der seinen Blick nicht von ihm lösen konnte, genauso wenig, wie Kaiba dieses dämliche Grinsen aus seinem Gesicht bekam. “Also, was, Joey?” Er erinnerte sich an die Situation, als er diesen Satz das letzte Mal benutzt hatte, und ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken.   Joeys Atmung war beschleunigt und er hatte rosige Wangen. Kaiba war überrascht, als er antwortete, er schien wohl doch noch etwas Körperbeherrschung zu haben. “Also wollte ich dich fragen, was ich anziehen könnte. A-aber ich kann auch einfach irgendwas nehmen, wenn du keine Zeit hast.”   Zärtlich strich Kaiba ihm mit dem Daumen über die Wange, dann für einen Moment über seine Lippe, was dem Kleineren einen wohligen Seufzer entlockte. Dieser Abend war jetzt schon mehr als vielversprechend…   “Willst du mir helfen, ein Outfit auszusuchen? Vielleicht hilft dir das als Inspiration.”   Dann ließ er von Joey ab und ging in sein Ankleidezimmer. Alles war ordentlich sortiert, wie immer. Er drehte sich zu Joey um und fragte: “Und, was wäre dein Vorschlag?”   Dieser zuckte nur mit den Schultern. “Weiß nicht, deswegen bin ich ja hier. Ist das eher ein formeller Anlass? Ich stelle es mir ein bisschen so vor. Dann auf jeden Fall ein Hemd. Irgendwie glaube ich, ein Anzug wäre zu formell, oder? Hm, vielleicht ein Sakko… aber keine Krawatte. Aber bei der Hose bin ich unsicher. Geht eine dunkle Jeans? Ich hab’ auch keine schicken Schuhe, da müssen meine schwarzen Sneaker reichen, aber die sind noch recht neu, sollte gehen.”   Kaiba kam aus dem Staunen gar nicht raus. Wahnsinn, wie viele Gedanken sich der Blonde gemacht hatte. “Klingt nach dem, was ich auch auswählen würde. Hemd, Sakko, dunkle Jeans, und die Schuhe sind egal, da schaut sowieso keiner hin. Also, was würdest du für mich aussuchen?”   Joey blickte sich im Raum um. Er schien gefunden zu haben, was er suchte, weil er zielstrebig auf die Hemden zuging. Er zog ein hellblaues heraus und wählte dazu ein dunkelblaues Sakko, dazu eine dunkelblaue Jeans. Das Outfit sah perfekt aus, das musste Kaiba zugeben.   “Blau also, ja?”   Joey trat verlegen auf der Stelle und musste den Blick senken, ehe er antwortete: “Ja, blau steht dir am besten. Es… betont deine Augen und deine Haare kommen dann sehr gut zur Geltung.”   Kaiba trat nahe an ihn heran. Gott, was würde er dafür geben, dass Joey ihn berührte - noch immer stand er ohne Oberteil vor ihm. Dicht an sein Ohr gelehnt, flüsterte Kaiba: “Dann zieh’ ich es an, nur für dich.” Ein kurzes Stöhnen entwich Joeys Kehle, und Kaiba musste sich sehr beherrschen. Was machte der Kleinere nur mit ihm?   Joey hob sanft den Kopf an und sah ihm tief in die Augen. “Okay, ich weiß jetzt genau, was ich anziehen will. Danke, Drache. Wann und wo treffen wir uns?”   “Wie wäre es, wenn ich dich abhole, sagen wir, in einer Stunde?”   “Okay, dann bis in einer Stunde.” Und als Joey an ihm vorbei ging, streifte seine Hand seinen nackten Oberkörper. Wer es nicht besser wüsste, würde das für einen Zufall halten, aber er kannte sein Hündchen mittlerweile besser - das war pure Absicht, und er wollte, dass es wieder passierte, und dann wieder, und dann nochmal, und dann wieder von vorn.   Eine Stunde später stand er an Joeys Tür, und zum ersten Mal, seit sie zusammen wohnten, klopfte er, statt einfach seine Schlüsselkarte zu benutzen. Als Joey die Tür öffnete, konnte er das Erstaunen darüber in seinen Augen sehen, und amüsierte sich sehr darüber.   “Fertig?”, fragte Kaiba den Blonden. “Mhm, geht das so?”   Joey stand mit den Armen in den Hüften vor ihm. Auch er trug eine dunkle Jeans, ein weißes Hemd und ein schwarzes Sakko. Er sah einfach perfekt aus. “Wunderschön... “, murmelte Kaiba und musterte ihn weiter mit ziemlich verklärtem Blick. Joey lächelte ihn sanft an. “Gut, dann können wir los.”   Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sie machten sich auf den Weg nach draußen, wo schon die Limousine auf sie wartete.   Das Konzert würde in einer Bar stattfinden, etwa eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. Während der gesamten Autofahrt redete niemand ein Wort, nur ihre Fingerspitzen berührten sich leicht, während beide in unterschiedliche Richtungen nach draußen schauten, in die Dunkelheit dieses Abends.   “Mr. Kaiba, Mr. Wheeler, guten Abend. Ihre Plätze sind vorbereitet.” Höflich wurden sie begrüßt und diskret an einen Tisch geführt, der auf einer oberen Tribüne stand, isoliert von allen anderen Tischen unter ihnen. Sie waren allein, offenbar hatte Mokuba dafür gesorgt, dass sie ungestört waren, und Kaiba dankte ihm in einem kurzen, stillen Gebet dafür. Joey nahm sich Zeit, sich genau umzuschauen.   “Irgendwie habe ich bei Konzert an eine riesige Halle oder so gedacht. Das hier hat ja schon, keine Ahnung, irgendwie eine intime Atmosphäre, findest du nicht? Ich meine, da unten haben doch vielleicht noch 50 Menschen platz, und hier oben sind wir ganz allein.”   “Bist du enttäuscht darüber?”, fragte Kaiba ehrlich interessiert nach. Doch Joey schüttelte den Kopf. “Nein, überhaupt nicht, ist nur einfach anders, als ich es erwartet habe. Mir gefällt es so aber eigentlich viel besser.” Und da waren sie wieder, diese goldbraunen Augen, die ihn anstrahlten, als wenn es nichts außer ihn gäbe. Sie waren hier oben unbeobachtet, sodass er ein wenig näher rutschen konnte. Die Kellner würden diskret sein - er war nicht das erste Mal hier und wusste, dass diese Bar einen exzellenten Ruf genoss. Er wusste auch, dass er sie mit einem Anruf zerstören könnte, wenn auch nur irgendwas nach außen drang - und dessen waren sich die Angestellten hier wohl auch sehr bewusst. Kaibas Ruf eilte ihm voraus, und er musste dafür sorgen, dass das so blieb.   Man servierte ihnen ihre Getränke, dann wurden sie allein gelassen. Mit einem Blick ermahnte er den Kellner, dass er wünschte, nicht gestört zu werden, der das mit einem verstehenden Nicken quittierte. Endlich war er allein mit seinem Hündchen, und da begann auch schon das erste Stück.   Joey hörte genau hin, beobachtete den Klavierspieler intensiv. Kaiba konnte seinen Blick nicht von ihm lösen. Der Blonde wurde mitgerissen von den Klängen der Musik, die alle möglichen Emotionen in ihm auslöste. Joey kam ihm früher immer wie ein starker Junge vor, den nichts so leicht erschüttern konnte. Und er sah natürlich noch immer die Stärke in ihm, aber er sah auch seine sensible Seite, die Emotionen, die ihn beschäftigten. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass er der Einzige war, der ihn so sah. Er versuchte es mit allen Mitteln, vor allen anderen zu verstecken, und in weiten Teilen gelang ihm das sicherlich. Aber vor ihm würde er sich nicht verstecken können, nicht mehr. Und das musste er auch nicht. Er wollte ihn, und zwar genauso, wie er war.   Als Beethovens 14. Sonate gespielt wurde, konnte er sehen, wie Tränen Joeys Wangen runterliefen. Er war so tief berührt, dass es Kaiba bis ins Mark erschütterte. Er nahm Joeys Hand unter dem Tisch und drückte sie fest, aber er schien weiterhin so tief in Gedanken. Für einen Moment schloss der Blonde die Augen, dann öffnete er sie erneut und wurde sich wieder Kaibas Präsenz bewusst. Kaiba rutschte noch ein Stück näher und flüsterte ihm ins Ohr: “Woran denkst du, mein Hündchen?”   Er wollte ihn nicht so traurig sehen. Ihn so bewegt, so voller Emotionen zu sehen, bescherte ihm eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß.   Joey schluchzte kurz auf, aber dann antwortete er mit einem Flüstern. Ihre Köpfe waren sich ganz nah, damit sie sich gut hören konnten. “Ich… ich fühl mich so blöd, Kaiba. Was ich denke, ist so dumm, ich…”   “Joey, nichts ist dumm, was du fühlst. Bitte, erzähl mir davon.”   Kaiba nahm nun beide Hände von Joey in seine eigenen und wandte sich ihm noch mehr zu. Joey atmete noch einmal tief durch, dann sprach er weiter. “Ich dachte nur, wie vergänglich alles ist. Ich musste an deine Eltern denken, die viel zu früh gestorben sind. Sie hätten euch aufwachsen sehen sollen. Dann hättest du nicht durch die Hölle gehen müssen.”   “Hündchen…”, flüsterte Kaiba, doch Joey setzte erneut an. “Mir geht es ja ähnlich. Hätten sich meine Eltern nicht getrennt, wäre vielleicht noch immer alles gut. Und ich hätte all die Jahre nicht in Gewalt leben müssen. Und dann die letzten zwei Monate - da ist so viel Freude und Dankbarkeit in mir, aber das kann so schnell vorbei sein. Einfach so. Von jetzt auf gleich. Es gibt für Glück keine Garantie. Und ich frage mich, was kann ich tun, um dieses Glück zu erhalten? Ich will nicht, dass es vorbei geht. Ich habe Angst davor. Ich…”   Joey sah ihn erneut an, und sein Blick war so intensiv, dass Kaiba zunächst nichts sagen konnte. Dann fuhr Joey fort: “Ich weiß, das klingt vermutlich total bescheuert. Du hast mal gesagt, wir sind die, die wir sind durch die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Du bist nur du, weil du ertragen musstest, was du ertragen musstest. Und verdammt, Kaiba, du bist gut so wie du bist. Und ich hasse mich dafür, so zu denken, weil um so zu werden, hast du so viel durchmachen müssen. Was für ein Leben hättest du führen können, wären deine Eltern nicht gestorben? Du hättest ein so viel besseres Leben verdient, auch wenn du dann vielleicht anders wärst als du heute bist, und dennoch will ich nicht, dass du anders bist. Und ich fühle mich so mies, weil ich so denke…”   Kaiba konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Er konnte nicht darüber nachdenken, was er sagte, bevor er es sagte, weil alle Gefühle in ihm die Kontrolle übernahmen. “Deswegen bist du noch lange kein schlechter Mensch, Joey. Neben Mokuba bist du der beste Mensch, den ich kenne. Und es gibt nichts, was du sagen könntest, das meine Meinung dazu ändern könnte. Sieh mich an.” Er nahm sein Kinn und drehte es so, dass er ihn ansehen musste. Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass er schon Joeys Atem an seinen Lippen spüren konnte.   “Es gibt ein Sprichwort, ‘Jeder ist seines Glückes Schmied’, und daran glaube ich fest, mein Hündchen. Du hast Angst davor, dass Glück vergänglich ist, und das ist es. Aber du hast es in der Hand. Und ich werde da sein, immer, ob du mich nun brauchst oder nicht, und dafür sorgen, dass du so viel Glück in deinem Leben hast wie du ertragen kannst. Das ist ein Versprechen.”   “Ich brauche dich, immer. Immer.” In Joeys Worten klang so viel Bitten, so viel Flehen mit, dass Kaiba es kaum ertragen konnte. “Ich bin da. Immer.” Und während im Hintergrund die ersten Klänge von Debussys Claire de Lune ertönten, küssten sie sich. Es war anders als beim ersten Mal. Es gab kein Fordern, kein Drängen, stattdessen Ruhe und eine gewisse Sanftheit. Es war ein zärtlicher Kuss, so voller Vertrauen ineinander, und beide steckten all ihre Hoffnungen, Träume und Wünsche hinein. Und die Gewissheit, dass alles zu schaffen war, wenn sie nur zusammen waren.   Als sie sich mit verklärtem Blick wieder voneinander lösten, erklang das Ende des Stücks und läutete damit auch das Ende des Konzerts ein. Von unten erklang enthusiastisches Klatschen, und auch Joey stand nun auf und klatschte energisch mit. Kaiba konnte sich kaum bewegen, konnte nur ihn beobachten und war so fasziniert von der Tatsache, was für ein offenes Buch der Blonde war. Warum war ihm das nur vorher nicht aufgefallen? Wahrscheinlich wurde er noch vor ein paar Monaten von der Fassade geblendet, die Joey stets versuchte, aufrecht zu erhalten. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.   Als auch das Klatschen zu Ende war und die Gäste sich langsam auf den Weg nach Hause machten, fragte Kaiba Joey: “Willst du noch irgendwas machen?” Dieser sah ihn an und lächelte. Kaiba war froh, dass er sich wieder beruhigen konnte, und hoffte, dass er was damit zu tun hatte. “Nein”, begann Joey, “lass uns einfach zurück fahren, okay?”   Draußen wartete schon die Limousine auf sie. Da jetzt wieder einige Menschen um sie herum waren, hielten sie ein bisschen Abstand, aber ihr Blickkontakt war noch genauso hingebungsvoll wie einige Minuten zuvor. In der Limousine berührten sich wieder leicht ihre Fingerspitzen, während die beiden Männer raus in die Nacht schauten.   “Kaiba?”   “Hm?”   “Können wir, wenn wir zurück sind, noch ein bisschen in eurem Park spazieren gehen? Nur für ein paar Minuten?”   “Alles, was du willst, mein Hündchen.”   Joey sah verlegen auf und legte ein bisschen mehr von seinem Zeigefinger auf Kaibas. Er fuhr eine dunkle Scheibe hoch, die sie vom Fahrer abschottete, die Seitenfenster waren ebenfalls so getönt, dass man zwar raus, aber nicht reinschauen konnte. Sobald sie sicher waren, zog er Joey in seine Arme und küsste ihn, nahm jede Empfindung in sich auf, seinen Geruch, seinen Geschmack, die Töne, die er von sich gab. Er würde niemals genug davon bekommen, dessen war er sich sicher.   Zurück in der Villa, nahmen sie direkten Kurs auf den Park. Ihre Hände in den eigenen Taschen vergrabend, gingen sie schweigend nebeneinander her und genossen einfach, dass sie zusammen waren. Es war eine sternenklare Nacht. Je weiter sie sich vom Haus entfernten, desto weniger Licht fiel auf sie, wenn man mal vom Mond und den Sternen absah. Sie liefen vorbei an Alleen von Bäumen, die mittlerweile alle ihre Blätter abgelegt hatten, an Büschen und an Hecken. Hinter einer solcher Hecke blieb Joey stehen und schaute sich ausführlich um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein waren. Dann nahm er Kaibas Hände in seine und schaute ihm intensiv in die Augen.   “Danke, Kaiba. Dass du mir zeigst, wer du bist. Und dass du mir zeigst, wer ich bin, und wer ich sein kann, wenn ich es will.” Dann zog er ihn zu sich runter und küsste ihn zärtlich, und während der klägliche Rest seiner Selbstkontrolle schmolz, wurde er sich bewusst, wie sehr das, was er da sagte, auch für ihn galt.   In der Nacht lag Kaiba lange wach und ließ den wunderschönen Abend Revue passieren. Er müsste Mokuba noch mal danken, ohne ihn hätten sie das heute gar nicht erlebt. Und er wollte wieder dafür sorgen, dass es schöne Momente zwischen ihnen gab. Er nahm sein Handy hervor und schaute noch mal das Foto an, das Joey ihm geschickt hatte. Dieser blonde Junge mit der Kellnerschürze war so wunderschön, dass ihm die Spucke weg blieb. Was nur, was konnte er tun, um ihn wieder zum Lachen zu bringen? Wieder und wieder, und immer wieder?   Und da hatte er den Einfall, auf den er gewartet hatte. Mit flinken Fingern tippte er eine Nachricht an Mokuba:   ‘Hey, Mokuba, brauche morgen deine Hilfe. Ich plane da etwas, vielleicht könntest du mir dabei helfen?’   Er war sich sicher, Mokuba wäre nicht mehr wach, aber er würde es direkt am Morgen sehen. Er wusste, mit Mokuba würde das ein tolles Erlebnis für Joey werden. Er musste nur dafür sorgen, dass dieser nichts davon mitbekam.   Bevor er nun doch in den Schlaf fand, vibrierte sein Handy. War Mokuba doch noch wach? Doch dann sah er eine Nachricht von Joey.   ‘Kann ich ein Bild von dir haben? Wäre nur fair, wo du doch schon eins von mir hast und so…’   Er musste grinsen. Er sah vermutlich total müde aus, mit dicken Ringen unter den Augen, aber er war auch verdammt glücklich. Er mochte Fotos von sich selbst nicht, aber wenn es Joey so wichtig war, würde er es tun. Er hatte ein T-Shirt angezogen, damit er in der Nacht nicht fror, und schoss ein Bild von oben, sodass man sah, dass er schon im Bett lag. Er versuchte, ein wenig zu lächeln, aber es war eine so ungewohnte Situation, dass er nicht wusste, ob ihm das wirklich gelang. Immerhin war das hier keines der sonst so professionell einstudierten Pressefotos. Er schickte es ab, ohne noch mal drauf zu schauen.   ‘Wenn das jemand anderes sieht als du, bist du ein toter Mann’, schrieb er noch hinterher, aber er wusste, Joey würde das niemandem zeigen, genauso wenig wie er vor hatte, irgendjemandem das Bild von Joey zu zeigen.   ‘So wunderschön… süße Träume, mein Drache.’   Er würde von ihm träumen, das tat er schon jetzt. Und hoffte, dass es wirklich Realität war, und nicht nur ein Traum. Friedlich glitt er in den Schlaf, und goldbraune Augen verfolgten ihn die ganze Nacht. Hosted by Animexx e.V. 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