Aus der Dunkelheit von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 12: Wozu Flügel gut sind -------------------------------- Der Shinkansen flog geradezu über die Gleise, und während sich Touristen und Familien begeistert an die Fenster drückten, um die schnell vorbeirauschende Landschaft zu bewundern, saßen Geschäftsleute und Pendler schlafend in ihren Sitzen oder beugten sich desinteressiert über Laptops und Tablets, um noch schnell eine Präsentation oder einen Bericht fertig zu schreiben. Auch Eijiro Kirishima, bisher einer von denen, die sich die Nasen am Fenster plattdrückten, gehörte diesmal zur zweiten Gruppe. Nicht, weil er die Strecke zu seinem Praktikumsplatz in Osaka inzwischen gut genug kannte, als dass seine Bewunderung für den Schnellzug und die Landschaft nachlassen würde. Aber Ektoplasma hatte mit einem hart benoteten Mathetest am Tag nach der Praktikumswoche gedroht, und Amajiki-Senpai hatte angeboten, ihm während der Fahrt Nachhilfe zu geben. Da der ältere Schüler sonst kaum davon abzubringen war, die ganze Fahrt zu verschlafen, nahm Kirishima das Angebot natürlich mit aller gebotenen Dankbarkeit an, auch wenn ihm schon nach wenigen Minuten der Kopf rauchte. „Wenn du also zwei Türen hast, und hinter einer davon ist die Geisel, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass du auf Anhieb die richtige Tür öffnest?“ Versuchte Amajiki es gerade mit einem möglichst einfachen Beispiel. Kirishima blickte ihn aus großen Augen an. „Äh… fünfzig zu fünfzig?“ „Ganz genau. 50:50, oder 50%.“ Tamaki Amajiki atmete erleichtert auf, da ging ja doch etwas. „Versuchen wir es mit drei Türen. Wie sind da die Chancen, auf Anhieb die Geisel zu finden?“ Kirishima überlegte. Es sah nach harter Arbeit aus, und der Kampf verlief nicht gerade zu seinen Gunsten. „Hinter den anderen Türen sind tödliche Fallen?“, fragte er nochmal nach, „Das ist nicht gut, oder?“ „Es geht nur um die Chancen, Kirishima. Wie hoch ist die Chance, dass du Glück hast und die richtige Tür erwischst?“ „Nicht so gut, glaub ich. Wenn zwei von drei falsch sind, dann ist das eine, ähm…“ „Eine von dreien ist richtig. Wenn du wissen willst, wie viel Prozent das sind, musst du rechnen. Drei Türen sind Hundert Prozent, also ist eine Tür hundert durch drei, oder?“ „Das… geht aber nicht auf“, stellt Kirishima fest. Er schwitzte. „Du kannst das Ergebnis auch runden“, lenkte Tamaki ein, „oder wir nehmen vier Türen, dann ist es leichter.“ „Aber dann sind die Chancen ja noch schlechter, dass es die richtige Tür ist!“ „Genau! Du hast es verstanden!“ Tamaki war ehrlich erleichtert. Sie saßen schon seit eineinhalb Stunden in dem Zug, der sie bis kurz vor Fatgums Büro in der Kansai-Region bringen würde, und endlich sah es so aus, als würde sich Kirishimas Gehirn einen Spalt breit öffnen, um das Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechnung hinein zu lassen. Und das war dringend nötig, wenn der Erstklässler den angedrohten Test überleben wollte. „Bei vier Türen sind es fünfundzwanzig Prozent“, stellte Kirishima mit einem Blick auf seinen Taschenrechner fest, „also ein Viertel? Und bei drei Türen ist es ein Drittel, da haut der Rechner mir nur dreier raus.“ „Das liest sich dreiunddreißig Komma Periode drei“, wusste Tamaki, „aber Ekto dreht dir sicher keinen Strick draus, wenn du 33% oder 1/3tel schreibst.“ „Oh, das Komma hab ich gar nicht gesehen…“ „Verlass dich bitte nicht nur auf den Taschenrechner, da vertippt man sich zu leicht. Zahlen unter hundert solltest du schon im Kopf rechnen können…“ „So klug bin ich leider nicht.“ „Das hat mit Klugheit nichts zu tun, das ist nur Übung“, rügte Tamaki, „Also red dich nicht raus, sowas kannst du.“ Er war es gewohnt, Mathe in einfachen Worten erklären zu müssen, Mirio stellte sich oft keinen Deut besser an als Kirishima. Immerhin war es heute kein neuer Stoff, den er Idiotengerecht erklären musste, sondern der von vor zwei Jahren, was die Sache erheblich einfacher machte. „Du bist nicht dumm, Kirishima. Also stell dich nicht so an, sondern versuch es wenigstens.“ Auf einer Heldenakademie wie der UA wegen Mathe durchzufallen war nicht einfach, aber extrem peinlich für jeden, der es dennoch schaffte. Tamaki würde sein Möglichstes tun, damit Kirishima nicht nur die kommende Prüfung schaffte, sondern auch die am Jahresende. Wahrscheinlichkeitsrechnung war nun wirklich nicht so schwer, wie sie sich manchmal anhörte... „Nehmen wir doch mal ein Beispiel mit mehr Optionen“, schlug er vor, „Du hast wieder vier Türen, hinter einer ist die Geisel, die du retten willst. Zwei bergen tödliche Fallen, und hinter der letzten ist der Schurke, der die Geisel entführt hat. Wie stehen jeweils die Chancen?“ Endlich war das bekannte Funkeln in Kirishimas Augen zurück. „25%, dass ich die Geisel gleich finde. 50% für den sicheren Tod in einer Falle, und nochmal 25%, dass ich den Schurken treffe, richtig?“ „Perfekt!“ „Damit hab ich wieder eine 50:50 Chance, dass ich es lebend raus schaffe!“ „Auch richtig, vorausgesetzt, der Schurke ist so schwach, dass du ihn mit hundertprozentiger Sicherheit besiegst.“ „Ui. Stimmt ja, da kann man auch Chancen ausrechnen. Wenn der Schurke ungefähr so stark wäre wie ich, dann hab ich eine fünfzig Prozentige Chance, ihn zu besiegen, oder? Kann ich das mit einrechnen?“ „Ja. Das wäre die Hälfte von den 25%, mit denen du ihm begegnest. Das sind 12,5%. Die teilst du auf, einmal zu den 25%, dass du gleich die Geisel findest, und einmal zu den 50%, in den Fallen zu sterben.“ „Also überlebe ich zu 37,5%, und sterbe mit einer Wahrscheinlichkeit von 62,5%. Irgendwie glaub ich, ich sollte da lieber mit Verstärkung reingehen.“ „Dann wird die Rechnung aber noch komplizierter“, warnte Tamaki. „Ja, so wie die im Buch…“ Kirishima hob das Lehrwerk, in dem eine Textaufgabe markiert war. Es war eine ziemlich lange Aufgabe mit vielen Möglichkeiten, und der arme Schüler sollte anhand der errechneten Wahrscheinlichkeiten die sinnvollste Strategie unter den drei Antworten auswählen. „Das bekommen wir schon hin“, meinte Tamaki zuversichtlich, „Gehen wir mal Schritt für Schritt vor.“ Als der Zug fast eine Stunde später sein Ziel erreichte, hatte Kirishima immerhin die erste Beispielaufgabe des Buches erfolgreich gelöst. Es war noch nicht viel, aber ein Fortschritt, mit dem er sich eine Pause verdient hatte. Fatgum erwartete seine Praktikanten am Bahnhof mit einem breiten Grinsen. Er sah erschreckend schlank aus und schien überglücklich, die beiden Jungen zu sehen. „Gut, dass ihr da seid!“, rief er, „Ihr seht es sicher schon, ich hatte heute Morgen einen heftigen Kampf mit einem Schurken und bin ganz ausgebrannt, dabei hab ich gleich den nächsten Auftrag…“ „Worum geht es?“, fragte Tamaki, die Hand fest am Koffer, in dem sein Heldenkostüm lag. „Eine Geiselnahme in einem Kaufhaus. Zieht euch schnell um, ich geb euch die Details unterwegs.“ Also nichts mit erstmal gemütlich Essen gehen und die Schurken durch Präsenz abschrecken, wie sie es sonst immer taten, wenn sie frisch hier ankamen. Fatgum sah abgemagert aus, er musste sein komplettes Fett in Energie verwandelt haben, um seinen letzten Kampf zu gewinnen. Normal brauchte er mindestens eine Woche, um sich wieder so viel Gewicht anzufuttern, dass er seine Fattadsorbtionsmacke sinnvoll einsetzen konnte. Tamaki und Kirishima zogen sich gleich im Bahnhofsklo um, warfen die Koffer mit ihren Zivilklamotten in Fatgums Kofferraum und ließen sich an den Ort des Geschehens fahren. „Eine Kindergartenbetreuerin ist ausgerastet“, erklärte der Profiheld unterwegs, „sie hat eine Fledermaus-macke, die ungewöhnlich stark ist, hatte damit aber nie Probleme. Kann sein, dass sie ein Burnout hat oder einfach nur einmal zu oft ‚alte Fledermaus‘ genannt wurde, jedenfalls hat sie ihre junge Kollegin und die Kinder angegriffen. Keine Verletzten soweit, aber sie hält die Gruppe auf dem Dach eines Kaufhauses fest und lässt sich nicht beruhigen. Die Polizei ist vor Ort, will zur Sicherheit aber auch Helden dabeihaben.“ „Gegen eine einzelne Frau kommst du doch aber auch so klar, oder?“, fragte Kirishima nicht zu Unrecht. Selbst, wenn er seine Mache nicht nutzen konnte, Fat war zweieinhalb Meter hoch und muskulös genug, alltäglich an die dreihundert Kilo Fett mit sich herumzuschleppen. Er war auch schlank noch eine bedrohliche Erscheinung. „Wenn es nur das wäre, ja“, stimmte Fatgum zu, „Nur hab ich gerade die Nachricht reinbekommen, dass eine Handvoll Rowdys die Gelegenheit genutzt haben, Chaos zu stiften, als alle von der Szene auf dem Dach abgelenkt waren. Sie haben im Kaufhaus Feuer gelegt, um mit der Kasse eines Juweliers durchzubrennen, und das Feuer greift vom neunten Stock aufwärts um sich. Die Evakuierung läuft und noch ist die Geiselnahme auf dem Dach unter Kontrolle, aber ich fühle mich nicht gerade wohl dabei, wenn ein flugfähiger Schurke in luftiger Höhe kleine Kinder bedroht.“ „Natürlich“, stimmte Kirishima zu, „du kannst auf uns zählen!“ Fat grinste und gab noch mehr Gas. Sein Privatauto hatte kein Blaulicht und keine Sonderrechte, aber die Leute kannten ihn und ließen ihn trotzdem durch. Einen Helden auf Mission belangte auch niemand mit einem Rotlicht- oder Tempoverstoß. In seinem jetzigen Zustand konnte er nicht viel ausrichten und auch nicht als Sprungkissen dienen, aber nun hatte er die Jungs von der UA. Die Kleinen waren gut, mit ihnen zusammen würde er die Lage schon in den Griff bekommen. Kirishima zumindest sah wie immer motiviert aus, und Tamaki… naja, der drückte sich ängstlich in seinen Sitz und kaute auf einem Fetzen Trockenfleisch herum, aber das war normal. Wenn es darauf ankam, würde er nicht zögern, und der Junge hatte einiges auf Lager. Ob es reichen würde, eine Geiselnahme auf einem Kaufhausdach unter Kontrolle zu bringen? Hoffentlich. Er wollte es möglichst vermeiden, dass die Teenager sehen mussten, was bei so einem Vorfall Schlimmes passierte, wenn die Helden versagten. Er konnte nur hoffen, dass seine Jungs gut genug waren zu bestehen, bis ein Held mit passenderen Fähigkeiten ankam, aber im Moment war er selbst leider der einzige Profi, der frei und in der Nähe war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)