Aus der Dunkelheit von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 11: Der letzte echte Held --------------------------------- Mirio war sich nicht sicher, was ausgerechnet er in dieser Situation ausrichten können sollte. Sein kurzer Einsatz als Fiesling Mr. Roboto hatte deutlich gezeigt, wie lang und hart er würde trainieren müssen, um es, selbst mit dem Rückhalt der Supporter-Fakultät, mit den Macken seiner Klassenkameraden aufnehmen zu können. Gut, er hatte mit Tamaki trainiert und sich ganz anständig gehalten, aber da hatte Tamaki sich vorranging aufs Fliegen konzentriert und sich obendrein zurückgehalten. Er würde Mirio nie absichtlich verletzen und Nejire sicher auch nicht, aber absichtlich gewinnen lassen würden die beiden ihn sicher ebenso wenig wie die anderen aus der Klasse. Andererseits war diese ganze Szene sowieso seltsam. Klar, Tamaki war stark, es war leicht zu glauben, dass er einfach übermächtig war. Mirio zweifelte auch nicht daran, dass Tamaki im Notfall den ganzen Rest der Klasse hochnehmen konnte. Auch gegen Nejire hatte er gute Chancen, wenn sie ihm allein gegenüberstand. Aber tatsächlich sah es nicht so aus, als hätte er überhaupt gekämpft. Recovery Girl war nicht auf dem Feld, und trotzdem war niemand verletzt außer denen, die den explosiven Mechas in die Quere gekommen waren, also ihm selbst und dem dreiköpfigen vs. Roboto-Team, dass ihn gestellt und festgenommen hatte. Der Kampf war heftig gewesen… von den fünf Schülern, die die Königin des Bösen gestellt hatten, war keiner wirklich verletzt; Yuyu hatte das Problem mit Diplomatie gelöst, was jetzt anscheinend nach hinten losgegangen war. Hatte Nejire spontan beschlossen, dass sie doch kämpfen wollte? Aber dann hätte sie auch gegen Tamaki kämpfen können, der war auch alleine eine schöne Herausforderung für sie. Nein, da steckte mehr dahinter. Mirio hielt sich nicht für übermäßig klug, aber er war auch nicht dumm. Er hatte durchaus gemerkt, dass es seinem Freund nicht gut ging. Tamaki verhielt sich seltsam, er aß übermäßig viel, zog sich noch mehr zurück und sah generell mies aus. Aber dass er, wie Hidoku behauptete, tatsächlich den Verstand verlieren und zu einem menschenfressenden Ungeheuer mutiert sein sollte? Albern. Wenn Tamaki einen der anderen Schüler hätte fressen wollte, hätte er das auch geschafft. Mindestens ein paar Bisswunden hätte er bei so einer Geschichte schon erwartet, aber die Schüler, die in Tamakis Lagerhalle geschlichen waren, sahen komplett unversehrt aus, nur eben wahlweise verängstigt oder frustriert. Man hatte ihn mit Warnungen und Strategieanweisungen überschüttet und Mirio hatte alles davon in den Wind geschlagen. Ja, er war mackenlos, kaum besser dran als ein Zivilist, der sich als Held verkleidet. Aber er war gut in Form und hatte Vertrauen in seine Freunde; wenn sie wirklich nur auf einen fairen Kampf aus waren würde er kämpfen und verlieren, aber er würde seinen Klassenkameraden ein Vorbild sein und einfach sein Bestes geben. Was zählte war, was Aizawa ihm gesagt hatte: „Da drin wird ein echter Held gebraucht.“ Ohne seine Macke war Mirio nicht mehr unverwundbar, aber was einen Helden ausmachte, war nicht Kraft allein. Sir hatte ihn nicht zu sich geholt, weil er damals schon stark gewesen wäre, sondern weil er in ihm das Potential gesehen hatte, so zu sein wie All Might. Einer, der den Menschen Mut macht, einen, der Licht an Orte bringt, wo nie die Sonne scheint. Orte wie diese finstere Lagerhalle, in der nicht mal die Hälfte der Neonröhren noch ihren Job machten, und auch das nur schwach und flackernd. Wenn man sich hier darauf einließ, zu schleichen und sich zu verstecken, auf der Jagd nach etwas, was man ein Monster nannte, war es nur natürlich, dass man der gruseligen Stimmung zum Opfer fiel. Mirio ließ sich nicht darauf ein. Er trug endlich wieder sein Heldenkostüm, komplett mit wehendem Umhang, er hatte schlicht keine Lust, im Staub zu kriechen. Nein, er lief aufrecht und mit stolzgeschwellter Brust durch die Gänge der Lagerhalle und gab sich keine Mühe, das Geräusch seiner Schritte zu verbergen. Das war immer noch das Beste, was ein mackenloser Held tun konnte: Bluffen. Zeig dem Gegner, dass du keine Angst kennst, und er wird denken, du hättest nichts zu fürchten. Seine Vorsehung war nicht so gut wie die von Sir, aber er hatte vom Besten gelernt und kannte seine Gegner. Wenn es zum Kampf kam, konnte er sich sicher lange genug halten, um hinterher die anderen zu motivieren. „Mutig von dir, hier einfach hereinzuspazieren, oh Held.“ Nejires Stimme. Er hatte sie nicht kommen gehört, aber er war nicht überrascht, als sie vor ihm in den Schein einer der besseren Röhren trat. Stolz und schön wie eine Königin, auch wenn die Sonnenblumen in ihrem Haar mehr nach einer guten Fee aussahen als nach irgendetwas Bösem. „Man sagte mir, ein Held wie ich würde hier gebraucht“, entgegnete Mirio leichthin, „hier bin ich nun.“ Hinter sich konnte er Schritte hören. Der Klang war unregelmäßig, ein schwerer Tritt wie von einem Huf, dann ein Scharren wie von Krallen. Tamaki hatte ihm erklärt, dass die Chimära ein griechisches Fabelwesen war, das aus vielen verschiedenen Tieren bestand. Mirio fand, dass passte gut zu Tamakis Macke, und insgeheim freute er sich, dass Tamaki offenbar mit dem Thema spielte. Zwei unterschiedliche Tierbeine machten das Laufen sicher schwierig, aber Tamaki schien damit kein Problem zu haben. Megacool wie immer eben. „Wir brauchen keinen Helden“, wehrte Nejire ab, „Du kannst wieder gehen.“ Mirio fiel auf, dass sie an ihm vorbei blickte. Er wollte sich nicht umdrehen; er wusste auch so, dass Tamaki nur wenige Meter hinter ihm stand, was bei dessen Reichweite eindeutig unangenehm war. Er durfte jetzt auf keinen Fall Schwäche zeigen, also blickte er weiter geradeaus, direkt in Nejires Augen. Das Mädchen sah entschlossen aus, bereit zu kämpfen, wenn es sein musste, aber sie schien auch auf Bestätigung von Tamaki zu warten, der hartnäckig schwieg. „Ein Held geht erst, wenn seine Arbeit getan ist“, improvisierte Mirio, „Und ich denke, das ist sie noch nicht.“ Nejire schwieg und blickte weiter intensiv an Mirio vorbei. „Was…“, meinte sie schließlich, „Denkst du denn, dass du hier tun sollst?“ Böse Fangfrage. Die Antwort schien zu offensichtlich: Die Böse Königin und ihren Handlanger aufhalten, bevor diese die Weltherrschaft an sich rissen. Aber Mirio ahnte, dass mehr dahintersteckte, und Nejires Frage bestätigte ihn nur. Was also antworten? Das Offensichtliche? Oder die richtige Antwort, für die er noch keine Worte fand? Mirio kam langsam ins Schwitzen vor Nervosität. „Zwei Dinge“, sagte er schließlich, entschlossen, „Zum einen sagte man mir, dass hier Schurken ihr Unwesen trieben, denen es das Handwerk zu legen gilt.“ Keine Reaktion. Das Szenario des Spiels war allen bekannt. „Zum anderen“, und hier lehnte er sich eventuell ziemlich weit aus dem Fenster, „bin ich in Sorge um einen Freund.“ Nejire sagte nichts darauf, aber ihre Haltung verriet Mirio deutlich, dass er den Kern der Sache getroffen hatte. Tamaki konnte er nicht sehen, aber er spürte und hörte die Bewegung hinter sich. Angespannt, beherrscht. Keine Spur von dem Monster, das Hidoku beschrieben hatte. Er war nicht überrascht. „Ich bin hier um zu helfen“, versicherte er. Diesmal war die Reaktion heftig. Nejire stiegen die Tränen in die Augen, und hinter sich konnte Mirio Schritte hören, erst das unstete Klappern und Scharren, dann den regelmäßigen Klang menschlicher Füße. Tamaki warf sich ihm praktisch in den Rücken, umarmte Mirio und vergrub schluchzend das Gesicht in dessen Mantel. Mirio tätschelte seinem Freund etwas hilflos die Arme. Er hatte… mit vielem gerechnet, aber die Lage schien doch schlimmer zu sein, als er befürchtet hatte. „Ist schon gut“, versicherte er dennoch, „Lass uns erstmal reden, ja?“ Tamaki nickte und riss sich wieder zusammen. „Entschuldige bitte…“ „Schon gut, dafür sind Freunde ja da.“ Tamaki ließ es sich dennoch nicht nehmen, erstmal Mirios Umhang glattzustreichen, bevor der die Gruppe in den Lagerraum führte, den er zu seinem Versteck gemacht hatte. Es war ein wenig gemütlicher hier als im Rest des Plattenbaus, was vor allem an den Sitzkissen, der ausreichenden Beleuchtung und der großen Menge leckeren Essens lag, mit dem Tamaki sich hier eingerichtet hatte. An einer Wand tickte eine alte Uhr, deren Zeiger sich allmählich dem Ende des Unterrichts näherten. „Hübsch hast du‘s hier“, fand Mirio, „Ich hatte bloß eine leere Garage voller Maschinen, von denen die Hälfte spontan explodiert ist…“ „Ich hatte ja auch Zeit“, wehrte Tamaki ab, „Bin schon den ganzen Tag hier…“ „Muss ätzend sein, so lange warten zu müssen“, fand Mirio, „Mich haben sie ziemlich sofort angegriffen, vermutlich, damit ich nicht die ganze Anlage sprenge. Dabei waren ein paar von den Teilen echt gut! Mit ein bisschen mehr Zeit und Training hätte ich da echt eine Chance gehabt, gerade die Kampfhandschuhe und Stiefel waren klasse.“ „Das hätte ich echt gern gesehen!“, schwärmte Nejire. Tamaki ließ sich auf eines der Sitzkissen sinken und angelte geistesabwesend nach einer Packung Reisbällchen. Seinetwegen musste Mirio nichts weiter tun, als hier zu sein und mit Nejire herumzualbern, dann ging es ihm schon besser. Inzwischen hatte auch Kirishima zurückgeschrieben und sich für die Verzögerung entschuldigt; der Erstklässler verlor gerade den Kampf gegen die Grauen der Mathematik. Doppelstunde Stochastik, eindeutig ein Kampf auf verlorenem Posten, nach kurzer Pause direkt gefolgt von vier Stunden klassischer Literatur – auf Chinesisch. Tamaki hatte eine Ermutigung zurückgeschickt und dem Jungen versichert, dass er zu seiner Beerdigung kommen würde, sollte Mathe ihn tatsächlich ins Grab bringen. Es war irgendwie süß… und seltsam beruhigend, jemandem helfen zu können, der zu einem aufsah, selbst, wenn es nur ein paar nette Worte und die Aussicht auf Nachhilfe war. „Bleibt die Frage, was wir jetzt machen“, meinte Mirio plötzlich, „Ich meine, ich kann mich euch auch anschließen und wir setzen den Boykott fort, bis jemand die Eier hat, zu kämpfen, oder einen der Profis reinschickt, aber letzteres wäre schon peinlich.“ „Und potenziell gefährlich“, wandte Nejire ein, „Tamaki und ich kommen sicher klar gegen die Lehrer, aber um dich mach ich mir schon Sorgen, Mirio.“ „Naja, es kommt auf den Lehrer an, oder? Aizawa kann seine Macke gegen mich nicht einsetzen, das macht den Kampf wieder ziemlich fair. Ich glaube schon, dass ich ihn besiegen könnte. Ecto vielleicht auch, er ist nicht stärker als ein normaler Mensch, nur mehr… naja, zu mehreren halt. Aber wenn jemand mit einer starken Angriffsmacke kommt, wäre das schon ein Problem. Stellt euch vor, die schicken Hound Dog hier rein…“ „Ach, dem hetzen wir Tamaki auf den Hals. Der ist locker genauso stark!“ Tamaki presste die Lippen aufeinander. Hound Dog war von allen Lehrern der gruseligste… aber Nejire hatte recht, er selbst sah ja auch zum Fürchten aus und konnte dem Lehrer durchaus die Stirn bieten, wenn er sich anstrengte. „Ich… fände es trotzdem peinlich, wenn die Lehrer uns hier rausholen müssen,“ gab er zu bedenken, „Am Ende bekommen wir dann noch richtig Ärger…“ „Es löst vor allem auch das Problem nicht“, fand Mirio, „Hidoku macht dich vor der ganzen Klasse schlecht, und die machen, bewusst oder unbewusst, auch noch mit. So geht es definitiv nicht weiter.“ Tamaki seufzte tief. „Dagegen kann man aber nichts machen, Mirio.“ „Sag das nicht. Wir sind alle hier, um Helden zu werden! Schlimm genug, dass es an einer Schule wie der UA Mobbing gibt, was wären wir denn für Helden, wenn wir nichts dagegen machen würden?“ „Du weißt schon, was du machen wirst, oder, Mirio?“, fragte Nejire. „Ja. Wir gehen da jetzt raus, ich halte dem feigen Sauhaufen da draußen eine Ansprache, und entweder, die entschuldigen sich, oder sie kämpfen. Nejire, kannst du mit deiner Twisterwelle dafür sorgen, dass keiner wegrennen kann?“ „Aber sicher!“ „Tamaki, du hältst mir den Rücken frei, ja?“ Tamaki nickte. Er fühlte sich nicht in der Lage, zu kämpfen, aber er würde sicher nicht zulassen, dass irgendjemand Mirios Situation ausnutzte, um ihn zu verletzen. Lemillion war unverwundbar, und wenn nicht durch seine Macke, dann eben durch seinen Freund. Wenn Mirio kämpfen wollte würde Tamaki dafür sorgen, dass er auch gewann. Allein der Entschluss reichte, um seine Macke wieder zu aktivieren… er hatte sich eindeutig überfressen, und die Energie musste raus. Zumindest vor Mirio und Nejire brauchte er sich nicht zu schämen dafür, wie er aussah. Es war ihm unangenehm, sicher, und er hatte ein wenig Angst, aber die beiden lachten nicht über ihn. Nejire hatte ihn so schon gesehen heute, sie achtete kaum auf Tamaki, sondern blickte zu Mirio hoch, der den Chimerakönig noch nicht in ganzer Pracht gesehen hatte. Auch Tamaki hob zögerlich den Blick, gebückt und unterwürfig wie ein grotesker Hund, der ängstlich zu seinem Meister aufsieht. Mirio lächelte und legte seinem Freund beruhigend die Hand auf die Schulter. Er brauchte nichts zu sagen; er hatte schon vor der Aufnahmeprüfung mit Tamaki zusammen trainiert, kannte Tamaki und dessen Macke schon seit der Grundschule. Diese spezielle Form war neu, aber Mirio war nicht überrascht, weil er das Potential dazu längst kannte. „Gehen wir“, beschloss Mirio. Er blickte nicht zurück; die anderen beiden folgten ihm ohne zu zögern. Und dieses Mal beunruhigte es ihn nicht, Tamaki hinter sich zu wissen, im Gegenteil, der solide Rhythmus der ungleichen Beine gab ihm Sicherheit. Tamaki war ein fürchterlicher Gegner, er war froh, ihn nun wieder auf seiner Seite zu haben. Der Schatten, den er vorauswarf, wann immer sie eine der besseren Lampen hinter sich ließen, hatte etwas von einem Dämon, und Mirio konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese Silhouette einen das Fürchten lehrte, wenn sie unvermittelt über einem auftauchte… genau deswegen war Schleichen immer eine dumme Idee, wenn man gegen ein angebliches oder echtes Monster kämpfte. Ein Held ging aufrecht und ohne Furcht, selbst, wenn er dem Teufel persönlich entgegenblickte. Dafür trugen sie grelle Kostüme und wehende Umhänge; sie waren Symbole im Kampf für das Gute. Der Weg aus der alten Lagerhalle war nicht weit, wenn man in normalem Tempo ging. Die Nachmittagssonne blendete trotz des getönten Visiers seines Helmes, sodass Mirio die Hand vors Gesicht halten musste, als er aus dem Tor trat. Tamaki zischte hinter ihm, wandte den Blick ab und blieb zögernd im Schatten stehen. Ziegenaugen brauchten zu lange, sich an das grelle Licht zu gewöhnen, aber wenn er sie zurückzog, bis seine menschlichen Augen sich umgestellt haben, und dann neu reproduzierte… lieber hätte er einfach die Kapuze ins Gesicht gezogen, aber da standen ihm die Hörner im Weg. Geblendet, wie er war, konnte er doch immer noch sehen, wie die anderen Schüler zurückwichen, konnte durch die großen Schafsohren deutlich hören, wie sie ängstlich miteinander tuschelten. Ob Mirio nun auch übergewechselt war, ob er schlicht nicht merkte, wer oder was da hinter ihm stand… die größte Angst schien wohl zu sein, dass es nun zu einem Kampf gegen die kompletten Big Three kommen würde. Tamaki atmete tief durch, ließ neue Ziegenaugen erscheinen und trat aus dem Schatten, so aufrecht, wie seine momentane Form es erlaubte. Nejire lächelte und feuerte ihre Twistwelle gen Boden, um sich in die Luft zu erheben. Von dort hatte sie die Gegner gut im Blick und würde jeden, der flüchtete, sofort zurückschicken können. Tamaki bezog derweil knapp hinter Mirio seinen Posten, ein wenig zu seiner linken, außer Mirios direktem Angriffsradius und doch nahe genug, um ihn jederzeit decken zu können. Ein paar der anderen blickten hilflos zu Aizawa, der seinen Schlafsack inzwischen verlassen hatte. Der Lehrer seufzte genervt und trat Mirio entgegen. „Sag mir bitte, dass du nicht auch wieder den Schurken spielen willst“, brummte er. Mirio blinzelte einmal. „Keiner von uns spielt mehr den Schurken, Herr Aizawa“, entgegnete er, „Das Spiel war vorbei, noch bevor Nejire in die Halle geschickt wurde. Das hier ist ernst… treten sie bitte zur Seite.“ Aizawa hielt Mirios Blick stand, ohne zu blinzeln. Normal schlug ihn niemand in diesem Spiel, nicht einmal seine Katze konnte den Reflex zu blinzeln so lange unterdrücken wie Eraserhead, dessen Leben so oft von dieser Fähigkeit abhing. Aber der Held war auch kein Trottel, der nur aus stolz seine ohnehin schon geschädigten Augen unnötig strapazieren würde. Mirio sah entschlossen aus, er wusste, was er tat. Und er hatte recht, hier war etwas faul. Deshalb gerade hatte er Nejire allein in die Halle geschickt… und wie Tamaki nun hier stand, ohne eine Spur von Aggression, war Beweis genug, dass er Recht gehabt hatte. Der Junge wurde gemobbt, und seine Freunde ließen diese Übung weiter eskalieren, um einen Ausweg für ihn zu schaffen. Aizawa kniff die Augen zusammen und rieb sich möglichst genervt das Gesicht, bevor er mit einer desinteressierten Handgeste das Feld räumte. „Macht doch, was ihr wollt“, knurrte er. Wenn die Schüler das unter sich regeln konnten, immer besser für ihn, oder? Immerhin war da ein Schlafsack, der auf ihn wartete. Die Unruhe der Klasse verstärkte sich nur, als der Lehrer das Feld räumte. Mirio hatte während der gesamten Auseinandersetzung nicht einmal gezuckt, er stand weiter aufrecht, den Blick klar nach vorne gerichtet. Jetzt, wo Aizawa aus dem Weg war, blinzelte er immerhin wieder, dafür fasste er einen Schüler nach dem anderen ins Auge. Yuyu schluckte, versuchte aber, dem Blick stand zu halten. Sie fühlte sich mies… hier ging es um Tamaki, so viel war klar. Ob er gehört hatte, was Hidoku für wilde Geschichten erzählt hatte? Mit diesen Ohren sicher. Yuyu war klar, dass sie alleine nicht hätte kämpfen können, aber sie hatte auch sonst nichts getan, um die Situation zu entschärfen. Dabei war sie so stolz gewesen auf ihre Idee, die Böse Königin mit Diplomatie zu besiegen… das hätte sie auch gegen den Chimerakönig versuchen müssen. Ein wildes Tier, das nur in Ruhe fressen will… Tamaki hatte in seiner Selbstvorstellung sogar gesagt, dass er kein Böser wäre. Yuyu war drei Mal mit in die Halle gegangen, sie hatte gesehen, dass der Chimerakönig rein passiv agierte. Ein einziges Mal hatte er tatsächlich angegriffen, und das nur auf Provokation. Einen Kampf zu vermeiden war sicher richtig gewesen, aber wegzulaufen? Ganz sicher nicht. Im Licht betrachtet sah Tamaki auch gar nicht so unheimlich aus… gefährlich? Ja. Ungewohnt? Auch. Aber er war immer noch ein Mensch, und er war ein Freund. Yuyu ballte entschlossen die Hände zu Fäusten, den Blick auf den Boden gerichtet, jetzt, wo Mirio mit ihr fertig war. Sie atmete tief durch, wartete ab, bis er mit dem letzten von ihnen fertig war, und trat dann vor. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagte sie, noch bevor der große Junge den Mund öffnen konnte, „Mir hätte auffallen müssen, was hier passiert, und dennoch… ich habe mich heute nicht gerade wie ein Held benommen.“ Sie richtete ihren Blick auf Tamaki, der instinktiv hinter Mirio in Deckung ging. „Tamaki… verzeih mir, bitte. Du weißt, dass ich im Kampf keine Chance gegen dich habe… trotzdem hätte ich nicht sinnlos weglaufen dürfen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich keine Angst vor dir habe… ich wusste nur nicht, was ich hätte tun sollen.“ Sie lachte bitter. „Dabei wäre es vermutlich nicht mal schwer gewesen. Ich hab Nejire nur mit Worten besiegt… das hätte bei dir auch funktioniert, nicht wahr? Ich bin nur nicht auf die Idee gekommen…“ Tamaki murmelte etwas Unverständliches, aber Mirio schien die Worte ausmachen zu können. „Schon gut, Yuyu“, übersetzte er in eine hörbare Frequenz, „Danke, dass du dich entschuldigst.“ „Und du hast absolut Recht“, stimmt Nejire von oben zu, „Diplomatie hätte bestimmt funktioniert.“ „Noch jemand hier, der sich entschuldigen will?“, fragte Mirio in die Runde, „Wenn ihr nicht wisst, wofür, kann ich es euch gerne erklären.“ Nejire winkte Yuyu zur Seite, raus aus der Gruppe, in der nun halblautes Gemurmel aufbrandete. Einzelne Schüler sahen aus, als wollten sie direkt vortreten und sich ebenfalls entschuldigen, andere schienen noch unsicher, was sie falsch gemacht hatten. Bevor jedoch noch einer etwas sagen konnte, ergriff ausgerechnet Hidoku das Wort: „Spiel dich nicht so auf, Mann!“ die Gruppe verstummte augenblicklich. „Ich wüsste nicht, wofür ich mich entschuldigen sollte. Ihr drei wart die Schurken in dieser Übung, und Tamaki ist eindeutig zu gut in der Rolle aufgegangen! Sieh in dir doch an!“ Tamaki wich unter den Blicken der anderen zurück. Nur einen halben Schritt, bevor er sich wieder fing; er musste an Mirios Seite bleiben, er würde nicht wieder zurück in den Schatten kriechen. Nicht jetzt, wo Mirio für ihn kämpfte. „Ich weiß, wie Tamaki aussieht“, entgegnete Mirio ruhig, „Jeder hier weiß das, wir trainieren seit Jahren zusammen. Es sagt nichts Gutes über dich, dass du trotzdem solche Angst vor ihm hast… Oder war es die Dunkelheit in der Halle? Wenn du dich so leicht einschüchtern lässt, solltest du solche Missionen als Held besser nicht annehmen. Keiner von euch ist verletzt, ihr habt nicht mal gekämpft. Das Team, das gegen mich und die Roboter angetreten ist, hat weit mehr Schaden genommen, und von denen ist keiner heulend weggerannt. Nur weil du Angst hast, in einer dunklen Lagerhalle zu kämpfen…“ „Halt dein Maul, du…“ Hidoku hatte genug davon, sich von jemandem vorführen zu lassen, der nichtmal eine Macke hatte, um zu kämpfen. Außer sich vor Wut materialisierte er eine externe Kopie seines Skeletts, die er wie eine Rüstung um sein Kostüm legte. Jahre harten Trainings und viel frische Milch hatten diese Rüstung gestärkt, dass sie hart wie ein Panzer wurde, und Mirio hatte tatsächlich den Nerv, sich dem unbewaffnet zu stellen? Er war lange genug der Stärkste des Jahrgangs gewesen, aber nun war er nur noch ein aufgeblasener Normalo! Dem würde er zeigen, was es hieß, seine Gegner zu fürchten- Krack. Früher hatte Mirio einfach durch Hidokus Rüstung hindurch in dessen Gesicht schlagen können, diesen Vorteil hatte er nun nicht mehr. Aber er war auch nicht unbewaffnet… Die Kampfhandschuhe waren besser gewesen, bevor die filigrane Technik dem Praxistest zum Opfer fiel, aber die simplen Schlagringe, die Aizawa ihm als Backup zugesteckt hatte, waren schlicht und effektiv. Hidoku hatte wohl Glück, dass sein echter Schädel nicht genauso entzweibrach wie die gestärkte Kopie, die er als Helm trug, doch die Wucht von Mirios Faustschlag war genug, ihm mindestens eine leichte Gehirnerschütterung zu bescheren. Hidoku taumelte ein paar Schritte rückwärts, schockiert und vollkommen bloßgestellt, dann kippte er hintüber und musste von den Hilfsrobotern zu Recoverygirl gebracht werden. Die anderen Schüler blickten ihm schweigend nach, diesmal traute sich keiner, ein Wort zu sagen, bis der nächste Mitschüler den Mut fand, sich ernsthaft zu entschuldigen. Auf einen wirklichen Kampf legte es keiner mehr an; mackenlos oder nicht, wenn Mirio entschlossen war, zu kämpfen, ging lieber keiner ein Risiko ein. Tamaki war sich nicht sicher, wie viel sich nur aus der Not heraus entschuldigten, aber einige nahmen sich ein Beispiel an Yuyu und brachten ausführliche Erklärungen vor, war sie ihrer Meinung nach falsch gemacht hatten, und dass sie sich dafür schämten, kampflos geflohen zu sein. Es klang aufrichtig… und es stimmt mit dem überein, was Nejire vermutet hatte. Hidoku hatte Angst geschürt und die anderen waren ihm soweit auf den Leim gegangen, dass sie mitgespielt hatten, ohne das eigentliche Ziel zu kennen. Es war nur Hidoku… und vielleicht ein paar seiner engeren Freunde. Nur diese wenigen hatten gewusst, worum es wirklich ging, und ernsthaft versucht, Tamaki psychisch zuzusetzen, um ihn vor allen als Monster darzustellen. Grundlos, nur weil sie ihn nicht mochten. Nejire legte sachte die Hand auf Tamakis Schulter. „Ist schon gut“, meinte sie leise, „jetzt ist es vorbei. Gehen wir heim?“ Tamaki nickte nur. „Du musst dich nicht sofort besser fühlen“, versicherte ihm Mirio, bevor Tamaki sich für seine Niedergeschlagenheit entschuldigen konnte, „Lass das erstmal auf dich wirken, ja? Die meisten haben sich ehrlich entschuldigt, und die anderen sind jetzt egal. Immerhin wissen wir jetzt, dass die meisten wirklich keine Ahnung hatten, was hier gespielt wird, und die werden jetzt darauf achten, dass sie Hidoku nicht nochmal auf den Leim gehen.“ „Und wenn doch sag uns Bescheid, ja?“, pflichtete Nejire bei, „Wir sind schließlich deine Freunde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)