Aus der Dunkelheit von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 5: Ikarus ----------------- Mirio hatte lange nicht mehr so viel Spaß am Training gehabt. Durch den – hoffentlich vorübergehenden – Verlust seiner Macke war er vom Unterricht freigestellt, hatte aber fleißig weiter seinen Körper trainiert, soweit es ihm allein eben möglich war. Joggen, Situps, Gewichte stemmen… er empfand es nicht als Arbeit, aber allein war es auf die Dauer doch langweilig. Trotzdem hätte er nie gewagt, Tamaki um Hilfe zu bitten, schließlich war er nur noch Zivilist und hatte einem echten Helden nichts entgegenzusetzen. Nun kam ihm der Gedanke albern vor. Tamaki war sein Freund seit Grundschultagen. Sie waren zusammen an die UA gekommen und zusammen stark geworden; Mirio sollte seinen Freund gut genug kennen um zu wissen, dass er auch nur aus Spaß mit ihm trainieren würde, egal, wie sehr er sich zurücknehmen musste. Er hätte nur fragen müssen… stattdessen hatte er gewartet, bis Tamaki selbst eine halbgare Ausrede gefunden hatte, ein gemeinsames Training vorzuschlagen. Als ob der große Suneater wirklich Hilfe bräuchte… ihm fehlte es nur an Selbstvertrauen, den Rest konnte er eigentlich. Auch Fliegen, und wenn er es noch so sehr ‚Fallen mit Stil‘ nennen wollte. „Klasse Tamaki! Bald ist die Halle zu klein für dich!“, jubelte Mirio begeistert. Sie waren kaum eine Stunde dabei und schon hatte Tamaki die Gänseflügel so gut im Griff, dass er einmal diagonal durch die ganze Halle fliegen konnte. Von einem erhöhten Standpunkt aus auf einen ebenso hohen Felsen in der anderen Ecke, obwohl er dazu weiteren Felsen ausweichen musste. Und ob Tamaki es hören wollte oder nicht, er sah richtig cool aus dabei; noch nicht ganz Hawks-mäßig cool, aber wenn er so weiter machte konnte der Held Nummer zwei sich schonmal warm anziehen. „Das war perfekt!“ „Es wird immer einfacher“, gab Tamaki verlegen zu. „Wüsste nicht, wie man es noch viel schwieriger machen könnte. Du bist einfach zu gut!“, lobte Mirio. Tamaki schwieg. Nachdenklich verschränkte er die Finger, dehnte die Arme nach vorne und streckte gleichzeitig die Flügel nach hinten und dann zur Seite weg, eher er sie sauber auf dem Rücken faltete. Es sah beeindruckend aus. „Ich wüsste da was“, meinte er schließlich. „Lass mal hören.“ „Hier drin ist es… ziemlich sicher“, begann Tamaki und blickte dabei auf seine Füße, „Aber wenn ich draußen so fliege… dann wären da Schurken unterwegs.“ „Stimmt“, stimmte Mirio zu, „Die würden dich kaum einfach vorbeifliegen lassen, oder?“ „Genau. Egal, weswegen ich fliege, der Gegner würde mich aufhalten wollen, mich fangen oder mit etwas nach mir werfen, um mich abstürzen zu lassen…“ Mirio war klar, dass Tamaki wieder im Begriff war, sich in irgendwelche Worst-Case Szenarien hineinzusteigern. Um dem entgegenzuwirken klopfte er seinem Freund aufmunternd gegen die Schulter. „Hey, soll ich es versuchen? Ich kann nicht viel tun ohne meine Macke, aber wenn du niedrig genug fliegst kann ich versuchen dich zu packen.“ Irgendwo lagen sicher auch Tennisbälle rum, mit denen er notfalls werfen konnte, aber das ging später auch noch. Er hatte damit gerechnet, dass Tamaki ablehnen würde, aber der nickte den Vorschlag tatsächlich ab, als hätte er genau das geplant. Mirio musste grinsen. Dieses Gefühl… das hier war richtiges Heldentraining. Er hatte es vermisst, so herausgefordert zu werden, und obwohl er wusste, dass er eigentlich keine Chance hatte, wollte er auf jeden Fall sein Bestes geben und es Tamaki so schwer wie möglich machen. Die Zeit der Ermutigungen war vorbei, jetzt galt es zu beweisen, dass Tamaki auch in widrigen Verhältnissen fliegen konnte. Das ging aber nur, wenn Tamaki ihn als Gegner ernst nahm, und dazu würde Mirio sich mächtig ins Zeug legen müssen. Es dauerte nicht lange, bis er die Trainingsjacke ausziehen musste. Die Ärmel waren ohnehin nicht mehr zu retten; Tamakis Krallen hatten den dicken Stoff beinahe in Streifen gerissen. Die zugehörigen Kratzer in Mirios Armen waren nicht sehr tief, aber sein Schweiß brannte wie Feuer in den offenen Wunden. Das war Mirio nur recht, er nahm die Schmerzen als Ansporn, nicht nachzulassen. Und den brauchte er dringend, denn Tamaki schonte ihn nicht. Anfangs war er tatsächlich so tief geflogen wie seine großen Schwingen es erlaubten, und Mirio hatte ihn fast aus dem Stand greifen können – er musste ihn nichtmal zu Boden ziehen oder überhaupt erwischen, es hatte schon gereicht, ihm im Weg zu sein. Ein verpatzter Flügelschlag und Tamaki lag auf der Matte. Es war beinahe zu einfach, weshalb es auch nicht lange dauerte, bis Tamaki sich ernsthaft wehrte. Er flog zunehmend höher und schneller, lernte nach wenigen Versuchen, auch einen unvollständigen Flügelschlag auszugleichen, ohne landen zu müssen, und hatte bald eine gute Handvoll Manöver parat, sich einen bodengebundenen Gegner vom Leib zu halten. Notfalls auch mit Krallen und Hufen. Mirio war nur im ersten Moment überrascht gewesen, dass Tamaki bedenkenlos seine Macke gegen ihn einsetzte. Im zweiten Moment war er froh: sein Freund nahm ihn ernst, auch als mackenloser Zivilist war er offenbar noch jemand, den man nicht schonen durfte, wenn man gewinnen wollte. Es fühlte sich gut an. Mirio war fit, auch ohne seine Macke schnell und stark genug, einen fliegenden Gegner aus der Luft zu greifen. Mehr als einmal gelang es ihm, Tamaki zu Boden zu reißen und in eine Rangelei zu verwickeln. Nur das mit dem Ausweichen musste er üben… Ein, zwei Hiebe konnte er abwehren, aber dann erwischte Tamaki ihn doch und war frei. Er hielt sich fairerweise auch kein bisschen zurück, ein paar Treffer saßen sogar so gut, dass es richtig wehtat. Mirio war begeistert. Er hatte dieses Gefühl vermisst… das Pochen von Blut in den Ohren, den Rausch des Adrenalins, die Geschwindigkeit eines richtigen Kampfes; keine Zeit, nachzudenken, dazu die Notwendigkeit, immer zwei Züge voraus planen zu müssen, um nicht zu verlieren. Tamaki sollte ihm aller Logik nach um Welten überlegen sein, trotzdem war Mirio sicher, eine Chance zu haben, wenn er es richtig anstellte. Das hier war kein reines Kraft- oder Ausdauertraining, hier musste er mitdenken, seinen Gegner richtig lesen, seine Bewegungen vorhersehen und schnell umdenken – und bei all der Denkerei das Ausweichen nicht vergessen. Das musste besser gehen, schneller, ohne nachzudenken. Aber in dem Moment, in dem er nicht ans Ausweichen dachte, hatte er schon wieder einen Huf im Gesicht, weil er unbewusst versuchte, seine Macke zu aktivieren, und dabei doch greifbar blieb. Mirio flog beinahe durch den halben Raum, bremste mit der Schulter auf einer Matte und schaffte es irgendwie zum Stillstand zu kommen, bevor er mit dem Kopf gegen den nächsten Felsen schlug. Tamaki landete erhöht in der Nähe und warf ihm einen so schuldbewusst-besorgten Blick zu, dass Mirio ihm sofort mit erhobenem Daumen signalisierte, dass alles okay war. „Nichts passiert!“, rief er laut, „Mir geht’s gut!“ Seine Schulter war anderer Meinung, aber das konnte er ignorieren. Der Arm bewegte sich ja noch. Tamaki nickte knapp und schwang sich wieder in die Luft. Wenn er erhöht startete sah es beinahe aus, als könnte er es aus dem Stand; er musste nur einen Schritt nach vorne machen, um nach unten genug Platz für den Aufschlag zu haben. Und das nach nur wenig mehr als einer Stunde Training… Mirio musste breit Grinsen vor Stolz auf seinen Freund. Nun erstmal aufstehen und weiter im Text. Eine halbe Runde ließ er Tamaki noch unbehelligt fliegen, nur um zu sehen, wie elegant er im Gleitflug wenden konnte, dann sprang er auf, schlug die Fäuste gegeneinander und machte sich wieder bereit zum Angriff. Die weichen Matten boten keinen guten Untergrund zum Springen, also kletterte Mirio erstmal einen der Felsen hoch. Dort positionierte er sich so, dass Tamaki ihn nicht gleich sehen würde, und passte den richtigen Moment ab, zu springen. Es funktionierte, zumindest sein Angriffstiming war nach wie vor perfekt. Tamaki flog gerade so tief, dass Mirio ihm praktisch in den Rücken springen konnte; einen Moment fühlte es sich an, als würde er einen riesigen Adler reiten, dann fand die Schwerkraft, dass der Auftrieb der Gänseflügel für das Gewicht beider Jungs doch nicht ganz ausreichte. Die Landung war erwartungsgemäß hart, trotz der dicken Matte, die sie empfing, aber Mirio hatte damit gerechnet und wusste den Schwung zu nutzen, um Tamaki in einen vielgeübten Haltegriff zu bekommen. Er konnte spüren, wie die kräftigen Flügel neben ihm schlugen, um ihn abzuwerfen; es war sinnlos, und schon waren sie bis auf die letzte Feder verschwunden. Stattdessen sprossen nun Äste aus seinem Rücken, die sich gegen Mirios Brust stemmten um ihn von Tamaki herunterzuhebeln. Mirio konnte sich nicht durchlangbar machen, also stemmte er sich einfach mit aller Kraft dagegen und drückte die Zweige zur Seite. Sein linker Arm protestierte heftig, während er Tamaki weiter in die Matte drückte, aber er war entschlossen, sich nicht abwerfen zu lassen, solange er noch die geringste Chance hatte, zumindest diese Runde zu gewinnen und seinem Trainingspartner die Handschellen anzulegen. Der erste Ring saß schon; er hatte es geschafft, Tamakis linken Arm auf dessen Rücken zu ziehen und musste jetzt nur noch die scharfen Hühnerkrallen ignorieren, während er versuchte, auch den rechten Arm zu erwischen. Das war allerdings aussichtslos, denn natürlich hatte Tamaki Tintenfischarme an seinen Fingern entstehen lassen und klebte nun mit den Saugnäpfen so fest am Boden vor der Matte, dass Mirio eher hoffen konnte, den halben Hallenbelag herauszureißen, als irgendwie diese Hand davon zu lösen. Er versuchte es dennoch, und plötzlich gelang es ihm; mit einem Rück war Tamakis Widerstand nicht nur gebrochen, sondern völlig weg. Keine Äste mehr, die ihm gegen Brust und Gesicht drückten, keine Krallen mehr in seinem Arm, und vor allem keine Tentakel mehr, die sich am Boden festsaugten. Es war plötzlich zu einfach, die Handschallen zu schließen. Viel zu einfach. Und tatsächlich: Als Mirio den Blick hob sah er vor Tamaki auf dem Boden ein paar schrecklich vertrauter Stiefel. Schluckend ließ der den Blick höher wandern, den schwarzen Overall entlang und an den vielen Schlaufen des Fesselungstuchs vorbei bis in die glühend roten Augen von Herrn Aizawa, die, missbilligend und mit aktivierter Löschung, auf ihn zurückstarrten. Mirio grinste entschuldigend. Das erklärte natürlich, warum Tamakis Widerstand so plötzlich eingebrochen war… waren die zwei Stunden, die er die Halle nutzen durfte, etwa schon vorbei? Hinter Aizawa konnte Mirio eine Menge anderer Gestallten sehen, die Erstklässler, die er vor einer Weile kurz hatte kennen lernen dürfen. Sicher ging einfach nur deren Unterricht jetzt los, gute Chancen also, dass er sich doch keinen Ärger eingehandelt hatte. „Was“, meinte Aizawa ohne zu blinzeln, „Ist hier los?“ „Training“, keuchte Tamaki. Mirio nahm sein Gewicht etwas zurück, damit der Schwarzhaarige auch Atmen konnte. Aizawa wirkte wenig überzeugt, schloss aber endlich die Augen. Tamaki blieb trotzdem brav liegen. Jetzt, wo Mirio sich aufrichten wollte, fühlte er sich gar nicht mehr gut… sein linker Arm ließ sich kaum bewegen, und auch so tat ihm alles verdammt weh. Dazu war Aizawas Blick auch ohne die mackenlöschende Wirkung reichlich unangenehm. „Aufstehen“, befahl der Lehrer, und Mirio gehorchte. Seine Beine fühlten sich in etwa so stabil an wie Wackelpudding und die weiche Matte war nicht der beste Untergrund für die Übung, aber er schaffte es irgendwie, von Tamaki herunterzuklettern und sich aufrecht auf den festen Boden zu stellen. Nun sah er deutlich die Erstklässler, die sich hinter ihrem Lehrer um eine gute Sicht bemühten, ohne unangenehm aufzufallen. Mirio fühlte sich ganz ohne Worte zurechtgewiesen, und das Gefühl besserte sich nicht, als ihm bewusst wurde, dass Tamaki liegen blieb. Immerhin aus den Handfesseln hatte er sich befreit, aber so blieb er einfach liegen. „Nochmal“, knurrte Aizawa, nun leiser und bedrohlich, „Was. Ist. Hier. Los.“ „Training“, widerholte Tamaki, bevor Mirio auch nur Luft holen konnte, „Wie angekündigt.“ Seine Stimme war leise und zittrig, sicher tat es ihm auch nicht so gut, dass gerade zwanzig Paar fremde Augen auf ihn gerichtet waren. „Das meine ich nicht“, erwiderte Aizawa, nun sanfter, „Kannst du aufstehen?“ Tamaki zögerte, und langsam wurde Mirio mulmig dabei. Aber als er einen Schritt zurück machen wollte, um seinem Freund zu Hilfe zu kommen, hielt Aizawa ihn auf. „Du bleibst zurück. Midoriya!“ Der Erstklässler fuhr erschrocken zusammen, sprang dann aber eilig an die Seite seines Lehrers. „Du nimmst Mirio mal mit da rüber“, er zeigte auf die andere Ecke der kurzen Hallenseite, noch immer in Blickweite der Tür, aber außer Hörweite. „Der Rest von euch verteilt sich im Raum und fängt mit dem Training an. Bewegung! Und wenn ich hier irgendwelche Augen oder Ohren sehe hagelt es Strafarbeiten!“ Die Klasse bewegte sich mit der unter Aizawa gewohnten Hektik, schön darauf bedacht, keinen unverdienten Ärger zu bekommen, und Mirio bemerkte eine deutliche Bevorzugung der türfernen Hallenseite, während er selbst sich nur zögerlich von Tamaki wegschieben ließ. Aizawa blickte dem Jungen besorgt hinterher. Es war nicht unüblich, dass sich Schüler im Training verletzten, und Tamaki hatte in der Tat darum gebeten, die Halle für zwei Stunden in Eigenregie nutzen zu dürfen. Dennoch… dafür, dass Mirio seine Macke nicht nutzen konnte schien hier ziemlich hart gekämpft worden zu sein. Dazu die Gerüchte über Mobbing in der dritten Klasse… mehrere Schüler und Lehrer hatten sich besorgt über Tamakis Verfassung geäußert. Tamaki war aktuell der Stärkste seines Jahrgangs, wenn man von seiner wackeligen Psyche absah. Dass Mirio ihn besiegen könnte, ohne seine eigene Macke zu nutzen, dürfte nicht möglich sein. Und dass er Tamaki psychisch zusetzen würde um diesen Nachteil auszugleichen… es klang unglaubwürdig, aber Mirio litt sicher mehr unter seinem Zustand, als er zugeben wollte, also konnte er derartige Ausrutscher auch nicht ganz ausschließen. Und der Blonde war selbst übel zugerichtet; wenn er an die Freundschaft der beiden Jungs glauben wollte, mussten sie ihm erstmal diese Verletzungen erklären. Tamaki war nicht der Typ, der einen wehrlosen Zivilisten mit der vollen Kraft seiner Macke angreifen würde, und trotzdem sah Mirio aus, als hätte er sich mit einem halben Zoo geprügelt. Krallenspuren über beide Arme, Risswunden von Oktopussaugnäpfen am ganzen Oberkörper, Prellungen wie von schweren Huftritten und dazu noch eine Menge geringerer Kratzer… der linke Arm sah fast gebrochen aus. Stirnrunzelnd wandte sich Aizawa wieder Tamaki zu, der immer noch still auf dem Bauch lag und das Gesicht in die dicke Schaumstoffmatte drückte, als wollte er ganz darin versinken. „Steh auf, es sieht keiner mehr zu“, versicherte ihm Aizawa. Es war sicher nicht ganz die Wahrheit; die 1-A hatte einige gute Aufklärer, die seine Anweisung, er wolle keine Augen und Ohren sehen, sicher richtig verstanden hatten und fleißig außer Sicht lauschten. Aber das musste der schüchterne Drittklässler ja nicht wissen. „Bist du verletzt?“ „Ich… weiß nicht“, nuschelte Tamaki und hob den Blick zumindest so weit, dass Aizawa zwischen Matte und Haaren tatsächlich die schmalen Augen des Jungen sehen konnte. „Es… ich… glaub nicht, dass ich aufstehen SOLLTE…“ „Die Wirbelsäule?“, vermutete Aizawa, „wie ist das passiert?“ Mirio hatte eben noch auf Tamakis Rücken gekniet und ihn trotz reichlich Gegenwehr zu Boden gerungen. Ob das reichte, ihn ernsthaft zu verletzen? Tamaki sah nicht unbedingt danach aus, wenn man ihn jetzt sah, aber er war stark… „Nicht Mirios Schuld“, versicherte Tamaki ihm, als hätte er den Gedankengang hören können, „Ich bin gestürzt. Ich… ich hab mir eingebildet, ich könnte fliegen, und bin blöd zwischen zwei Matten gelandet. Hat im ersten Moment nicht weh getan, deshalb…“ „Du kannst fliegen?“, unterbrach Aizawa. Also hatte er sich doch nicht getäuscht, als er von draußen kurz den Schatten gefiederter Flügel gesehen hatte. „Wie ein fetter Truthahn“, murrte Tamaki zerknirscht. Aizawa kniete sich vor ihn auf den Boden. „Also bist du gestürzt. Und hast danach einfach weitergemacht und bist nochmal gefallen?“ „Ein paar Mal. Aber nur noch auf die Matten.“ „Es hat erst weh getan, als Mirio eben…“, vermutete Aizawa. „Nein. Als Sie uns gestoppt haben…“, Tamaki wandte den Blick ab, „Als ich eine Weile liegen geblieben bin. Schätze, das Adrenalin ist raus oder so… fühlt sich mies an.“ „Dann bleib liegen, sicher ist sicher“, meinte Aizawa und legte seinem älteren Schüler mitfühlend die Hand auf den Kopf. „Iida!“ rief er dann, laut, und binnen Sekunden stand der große Erstklässler dienstbereit neben ihm. „Hol Recovery Girl her“, befahl er, „Zwei Verletzte, einer schwer gestürzt mit Schmerzen im Rücken. Ab!“ Tamaki versank vor Scham wieder tiefer in seiner Matte, als der Erstklässler mit heulenden Motoren durch die Tür verschwand. „Aber mal im Ernst“, meinte Aizawa und setzte sich neben ihn, „Diese Prügelei eben…“ „Wir haben uns nicht geprügelt“, murrte Tamaki trotzig, „das war Training.“ „Sah ziemlich ernst aus. Mirio ist auch übel verletzt…“ Tamaki vergrub wieder das Gesicht in der Matte. Mirio hatte härter gekämpft als erwartet, war so entschlossen, dass Tamaki teilweise richtig Angst bekommen hatte. Nicht wirklich so, als würde man gegen einen echten Schurken kämpfen, aber… „Mirio war… überzeugt, dass er mir nicht schaden könnte“, formulierte Tamaki schließlich, „er hat mich total überschätzt. Wenn ich nicht ernst gemacht hätte…“ Es wäre Mirio gegenüber beleidigend gewesen, sich zurückzuhalten. Und nicht nur das; mackenlos oder nicht, Mirio zu unterschätzen war lebensgefährlich. Permeation… diese Macke war nur zum Ausweichen gut und um sich schnell zu bewegen, Mirios Schlagkraft konnte sie nur insofern verbessern, als er beim Ausholen an Luftwiderstand einsparte. Er war auch ohne Macke stärker als die meisten Schurken mit. Aizawa schwieg. Viel hätte er auch nicht mehr sagen können, denn schon kam das Geräusch von Iidas Motoren wieder näher. „Ich bin zurück!“, brüllte der Junge und setzte vorsichtig die alte Dame ab, die, einen dicken Arztkoffer im Griff, aus seinen kräftigen Armen sprang. „Danke, Iida“, meinte Aizawa, „Geh zurück ans Training.“ Der Junge nickte und verschwand wieder in Richtung seiner Klassenkameraden. Wenigstens einer, um dessen Gehorsam er sich nicht sorgen musste… Ein Blick in den hinteren Teil der Halle bestätigte ihm, dass die anderen fleißig am Trainieren waren. Mirio stand auch brav in seiner Ecke, unterstützt von Midoriya, der bei der Gelegenheit mal üben konnte, ein gestresstes Opfer zu beruhigen. Sein Lächeln wirkte noch eher wackelig, aber wenn ihn da einer coachen konnte, war Mirio der beste Lehrer. Und er hatte wohl noch mehr Unterstützung, den Jiro hatte sich ganz in der Nähe aufgebaut und gab sicher jedes Wort wieder, das hier gesprochen wurde. Aizawa sollte sie zurechtweisen dafür, aber sie hatte den von seiner Seite aus sichtbaren Stecker in die Wand gestoßen und brachte den Felsen so zum Beben, dass es aussah, als würde sie tatsächlich nur trainieren. Er musste sich schon etwas verbiegen um den anderen Stecker zu sehen, der in den Boden ging… das konnte man schon durchgehen lassen. „Du hattest nochmal Glück“, riss ihn Recovery Girl aus den Gedanken. Aizawa drehte sich um und konnte gerade noch sehen, wie Tamaki sich aufrappelte und vor Erschöpfung gleich wieder hinsetzte. „Hier, ein paar Gummibärchen.“ Die pensionierte Heldin drückte ihrem Patienten die Süßigkeiten in die Hand und wandte sich dann Aizawa zu. „War nur eine miese Prellung“, erklärte sie, „Aber trotzdem gut, dass er liegen geblieben ist, das hätte sonst übel ausgehen können. Ingenium war schon schlimm genug, ich will nicht noch einmal sehen, dass ein so vielversprechender junger Held seine Karriere beendet, bevor sie richtig angefangen hat.“ Sie warf Tamaki einen strengen Blick zu. „Komm nächstes Mal gleich zu mir und hüpf nicht noch rum mit so einer Verletzung!“ Wieder an Aizawa gewandt fuhr sie fort: „Du meintest was von zwei Verletzten?“ Aizawa wies mit dem Daumen in Mirios Richtung und die jugendfrische Heldin machte sich auf den Weg. „Du kommst mal mit mir“, raunte er Tamaki zu, der sich ergeben vor die Halle führen ließ. Der Lehrer hasste es, solche Gespräche führen zu müssen, er hatte es lieber, wenn die Schüler solche Probleme unter sich klären konnten. Jeder hier an der Schule wollte ein Held sein, das sollte Mobbing ja von vorneherein ausschließen… könnte man meinen. Und trotzdem stand er nun hier, für ein Gespräch, dass er bei weitem nicht zum ersten Mal führen musste. „Mir ist zu Ohren gekommen, dir ginge es in letzter Zeit nicht so gut“, fing er an. Tamaki sah aus, als ob er sich am liebsten drücken wollte, und Aizawa teilte diesen Wunsch. Trotzdem ließ er den Jungen nicht aus den Augen. „Ich… war nur etwas krank. Nicht so schlimm.“ „Recovery Girl meinte, die Übelkeit sei psychisch“, wandte Aizawa ein, „Das heißt, dass du so unter Druck standest, dass es dich körperlich krank gemacht hat.“ Tamaki wandte nur den Blick ab. „Und erzähl mir nicht, dass das normal wäre. Ja, deine psychische Verfassung ist ein Problem, an dem wir arbeiten müssen. Aber es war nie so, dass es dich krank gemacht hätte oder dass du deswegen dem Unterricht ferngeblieben wärst.“ „Tut mir leid…“ „Das will ich nicht hören.“ Aizawa blickte den Jungen streng an. Tamaki zeigte mal wieder den Mut eines Kaninchens, das nur deswegen nicht weglief, weil der Fuchs es sonst finden würde… aber diese Panik war bei ihm ein Dauerzustand, und das wussten auch alle, die mit ihm zu tun hatten. Trotzdem… „Recovery Girl glaubt, dass du Probleme hast, über die du nicht redest. Dass jemand, bewusst oder unbewusst, Druck auf dich ausübt. Da fiel das schöne Wort ‚Mobbing‘. Fällt dir dazu was ein?“ „N…nein?“ Schlecht gelogen. Aizawa blickte etwas strenger und Tamaki knickte prompt doch ein. „Ich… bin in der Grundschule gemobbt worden. Wegen meiner Macke, weil ich so albern aussehe, wenn mir Hufe und Federn wachsen. Ich hab die Schule gewechselt deswegen.“ Und weil sein Vater anderswo Arbeit gefunden hatte und mit der Familie umziehen musste. „An der neuen Schule wurdest du nicht mehr gemobbt?“ Tamaki schüttelte den Kopf. „Da hab ich Mirio kennen gelernt… er hat sich um mich gekümmert.“ „Mirio hat im Moment selbst einiges um die Ohren.“ Aizawa bemühte sich um einen einfühlsamen Ton. „Gibt es jemanden, der das ausnutzt?“ Er wollte es nicht mit ansprechen, aber Recovery Girl war nicht die einzige, die sich besorgt an ihn gewandt hatte. Lunsh Rush war aufgefallen, dass Tamaki, der ohnehin schon einen gesunden Appetit aufwies, sein Essen in letzter Zeit in einer Menge und auf eine Weise herunterwürgte, dass man beinahe auf eine krankhafte Störung schließen musste, was in Zusammenhang mit der Übelkeit natürlich alle roten Flaggen hisste. Aber Mobbing war etwas, wogegen er als Lehrer nicht vorgehen durfte, ohne vom Opfer um Hilfe gebeten zu werden… es lag in der Natur der Sache, dass ein ungebetener Eingriff durch eine Respektsperson die Lage nur verschlimmern würde. Aber Tamaki war wohl nicht zugänglich, er schüttelte nur den Kopf und spähte schon wieder nach Fluchtwegen. Und die Gelegenheit zur Flucht bot sich vielleicht bald, den offensichtlich war Recovery Girl fertig und Mirio stand schon in der Hallentür. „Mirio selbst ist nicht das Problem, oder?“, versicherte er sich angespannt, „Wenn es so wäre…“ „Nein“, das zumindest war endlich eine deutliche Antwort, „Mirio ist okay. Wir sind Freunde.“ „Ihr habt euch eben sehr heftig geprügelt.“ „Wir haben trainiert. Wir hätten vorsichtiger sein müssen, ja, aber es war nur Training. Ich bin blöd gefallen, mehr nicht.“ Aizawa hatte lange genug als Held gearbeitet um zu wissen, wie Opfer von Gewalt reagierten. ‚Ich bin nur gefallen‘ war die Ausrede Nummer eins in Fällen häuslicher Gewalt… aber Tamaki wirkte anders auf ihn. Allein, dass er ihm in die Augen sehen konnte, kaum, dass es darum ging, seinen Freund zu beschützen… Der Junge war schon eine Marke für sich. Aizawa grinste in der Deckung seines Fesselungstuches und ließ zu, dass Mirio näher herantrat. „Na, du auch wieder fit?“, erkundigte er sich, und es klang weniger streng als es sollte. „Ja, alles gut“, meinte Mirio leichthin, „War nur gezerrt, nicht gebrochen.“ Er hob seinen Arm, der wieder beinahe unversehrt aussah. Aizawa nickte knapp, sein Blick desinteressiert wie immer. Hinter der Hallentür wurde es etwas lauter, nun, da gar niemand außer den Schülern mehr anwesend war. „Ich muss da wohl wieder rein“, seufzte der Lehrer, „Bevor Bakugo jemanden angreift, der weniger stabil ist als Kirishima. Kann ich euch zwei allein lassen?“ „Klar, immer“, versicherte Mirio so schnell, dass Aizawa ihn zur Sicherheit nochmal scharf ansah, „Wir vertragen uns.“ „Recovery Girl hat euch frisch geheilt“, erinnerte Aizawa, „ihr geht heute nur noch ins Bett und sonst nirgendwohin, klar?“ Zu Mirios Erleichterung wartete er darauf keine Antwort ab, sondern verschwand in der Sporthalle. Durch die geschlossene Türe konnten sie ihn brüllen hören, offensichtlich hatten die Schüler den angenehmen Teil der Übungszeit nun hinter sich. „Fühlt sich fast an, als wären wir schuld, dass die Erstklässler jetzt seine miese Laune abkriegen…“, murmelte Mirio betreten, „Geht’s dir wieder gut?“ Tamaki nickte. „War nicht so schlimm wie’s aussah. Sorry, dass ich dich erschreckt habe… und wegen dem Arm.“ „Ach, war nicht so schlimm“, versicherte Mirio ihm schnell und schwang den ehemals verletzten Arm bekräftigend herum, „Nur ein paar Kratzer, nichts Wildes. Dein Rücken auch wieder heil?“ Er schickte sich an, Tamaki den Arm um die Schultern zu legen, wartete aber, bis dieser nickte, und hielt sich auch dann noch zurück. Tamaki lehnte sich seufzend in die Berührung. „Es war nur eine Prellung. Ich hab Panik bekommen…“ „Du hättest gleich was sagen sollen. Ich hätte dich direkt zu Recovery Girl bringen können, bevor es so schlimm wurde.“ Tamaki brummte nur. „Lass uns wirklich gleich ins Bett gehen, ja?“, schlug Mirio vor, „Ich bin hundemüde und dir geht es sicher auch nicht besser.“ „Ich…“ begann Tamaki, brach dann aber einfach ab. „Ja?“ „Tut… mir Leid, dass es so gelaufen ist. Du hast Recht, ich hätte aufhören sollen, als ich zum ersten Mal blöd abgestürzt bin.“ „Von aufhören hab ich nichts gesagt“, wandte Mirio ein, „nur unterbrechen. Ansonsten war das Training doch super, oder? Ich hatte jedenfalls echt Spaß, und wir haben beide ne Menge gelernt. Du kannst echt toll fliegen und ich weiß jetzt, dass ich vor allem das Ausweichen üben muss. Ich hab eigentlich nur deswegen so viele Treffer kassiert, weil ich intuitiv immer noch meine Macke aktivieren will, anstatt mich einfach zu ducken.“ „Du bist zwischendurch schon ziemlich gut ausgewichen“, meinte Tamaki, „Sonst hätte ich mich mehr zurückgehalten… ich dachte, du hättest genug Zeit, um wegzukommen.“ „Hatte ich auch. Nur hab ich die Hälfte davon blöd in die Luft geguckt und dann war’s zu spät. Hätte aber nicht gedacht, dass ich sonst so gut mithalten kann…“ „Ich hab mich nicht zurückgehalten, falls du das denkst.“ Mirio lachte herzlich. „Das weiß ich zu schätzen, danke. Lass uns das mal wiederholen, ja? Aber dann etwas vorsichtiger.“ „Fürs erste lässt Aizawa uns doch eh nicht mehr allein trainieren…“ „Stimmt, er sah echt besorgt aus eben. Was hat er gerade mit dir besprochen?“ „Nichts wichtiges“, murmelte Tamaki. Mirios Arm lag schwer auf seinen Schultern, sonst hätte er sich vermutlich aus dem Staub gemacht. Aber Mirio hakte nicht weiter nach. „Verstehe“, meinte er nur, und beließ es dabei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)