The Diary of Mrs Moriarty von Miceyla ================================================================================ Kapitel 5: Wandernde Schatten ----------------------------- `Lord Darwin Blanchard wurde tot in seinem Anwesen vorgefunden. Die Produktion in seinem Unternehmen wird vorübergehend eingestellt. Wir verlassen uns auf die hochgeschätzten Fähigkeiten von Inspektor Lestrade, der die Verantwortung bei diesem Fall übernommen hat, um den Mörder schnellstmöglich zu fassen. Ein vermeintlicher Verdächtiger, Lord Ridley, wird bereits bei Scotland Yard verhört. ` Nun waren bereits beinahe zwei Wochen, seit dem märchenhaften Ball vergangen und der rätselhafte Tod von Lord Blanchard, war zum Hauptthema in der Presse geworden. Die Titelseiten der Zeitungen waren überflutet mit etlichen Schlagzeilen darüber. Er musste ein bedeutender Geschäftsmann gewesen sein, der einen ertragreichen Umsatz mit seinem Unternehmen gemacht hatte. Wie gerne würde Miceyla Sherlock über Einzelheiten ausfragen, er war sicherlich nicht umsonst vor Ort gewesen. Denn auf die trügerischen Zeitungsartikel, konnte sie sich nicht verlassen. Diese beinhalteten mehr erfundene Lügen, als das Wahrheit darin steckte. So wie die Zeit auf dem Ball unendlich aufregend gewesen war, breitete sich nun eine klägliche Langeweile aus. Sie hatte seitdem weder von William, noch von seinen Brüdern etwas gehört. Diese Tatsache versetzte sie in eine grässlich pessimistische Stimmung und ihre Laune erreichte bald ihren Tiefpunkt. Stunden verbrachte Miceyla an ihrem Schreibtisch und kritzelte mit einem Stift auf ein leeres Blatt Papier. Selbst zum Schreiben fehlte ihr jegliche Inspiration. Etwas Spannendes erleben wollte sie oder eine sinnvolle Tätigkeit ausführen. Da klopfte es hartnäckig an der Tür. „Miss Lucassen! Hopp, hopp!“ `Die Steigerung meines Elends erwartet mich…`, dachte Miceyla und versuchte sich selbst durch ein wenig Humor aufzuheitern. „Komme schon, Mrs Green.“ Träge öffnete sie die Tür. „Guten Abend, was gibt es denn so dringliches, dass Sie mich zu dieser späten Uhrzeit noch aufsuchen?“, fragte sie und bemühte sich um ein Lächeln. „Bringe dieses Päckchen bitte zu meinem Enkelsohn. Es braucht dich nicht zu interessieren was drin ist! Er arbeitet den ganzen Tag und ist meist nicht vor acht Uhr abends zu Hause. Daher will ich das du es ihm persönlich überbringst. Nicht trödeln! Mach dich direkt auf den Weg!“, befahl die alte Frau mürrisch. „Das ist nicht weit von hier. Na gut, ein kleiner abendlicher Spaziergang kann nicht schaden“, willigte Miceyla gelassen ein. Kurz darauf hatte sie ihren Mantel an und überbrachte das Paket dem Enkel von Mrs Green, welcher nur wenige Straßen entfernt wohnte. Sie war schon wieder auf dem Heimweg, da entdeckte sie eine Frau, die leise fluchend mehrere schwere Beutel trug. `Das ist doch…`! Überrascht lief Miceyla auf sie zu. „Emily! Was machst du denn um diese Uhrzeit noch hier auf der Straße? Die Geschäfte haben längst geschlossen. Du bist also wohl kaum einkaufen gewesen“, stellte sie neugierig fest. „Wah!“ Erschrocken wich Emily zurück, als wäre ein bösartiger Geist vor ihr erschienen. „Oh…! Miceyla, du bist es zum Glück nur. Tut mir leid… Für mich ist die ganze Sache bereits unheimlich genug. Sagen wir…in den Beuteln befinden sich die `Spezialbesorgungen` für Sherlock. Ich bin mir sicher, du kannst dir darunter einiges vorstellen…“, weihte sie Miceyla mit verschwörerischer Miene ein und blickte heimlich um sich. „Oje…du Ärmste. Komm, las mich dir helfen.“ Mitfühlend nahm sie ihr zwei der gewichtigen Taschen ab. „Danke, das ist sehr lieb von dir.“ Erleichtert über ihre Unterstützung, lief Emily mit ihr zusammen zurück in die Baker Street. „…Und dann soll er sich nicht aufregen, wenn ich meinen Frust an ihm auslasse!“, blaffte Emily, während sie die Haustür aufschloss. „Mrs Hudson, Sie sind wieder… Ach herrje! Ist es doch so viel geworden. Hätte ich das geahnt, wäre ich mitgekommen. Oh, Miceyla! Guten Abend, was für eine Überraschung.“ John kam den beiden eilig entgegengelaufen und nahm ihnen die Beutel ab. „Guten Abend John. Ist Sherlock da? Ich würde ihm sehr gerne auch kurz Hallo sagen“, erkundigte Miceyla sich wohlwollend und sah plötzlich sein bedrücktes Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist… Seit ein paar Tagen ist er sehr schweigsam und antriebslos. Er besteht darauf alleine zu sein. Diesen Zustand konnte ich schon öfters bei ihm beobachten. Aber so träge und motivationslos habe ich ihn selten gesehen. Ich kann ihm da leider auch nur wenig weiterhelfen. Wenn er keinen Fall zu lösen hat, ist er ein völlig anderer Mensch…“, sorgte sich der junge Arzt um seinen Freund. `Motivationslos… Das kommt mir bekannt vor. Ob es mit dem Tod von Lord Blanchard zusammenhängt?` Nachdenklich lief Miceyla dennoch die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. „Keine Sorge, ich mag mich nur kurz vergewissern, dass es ihm gut geht.“ Oben blieb sie vor seiner geschlossenen Tür stehen und vernahm die gedämpften lieblichen Klänge eines Geigenspiels. Ohne auch nur das leiseste Geräusch zu machen, öffnete sie vorsichtig die Tür und lugte durch einen schmalen Spalt hinein. Dort stand Sherlock am Fenster und spielte gefühlvoll Violine. Es war eine schwermütige Melodie, die gleichzeitig voller träumerischer Sehnsüchte war. Seine Gesichtszüge waren tiefenentspannt, mit Augen die zu einem ihr fernen, verborgenen Ort blickten. Seine schwarzen welligen Haare trug er offen und sie fielen ihm auf die Schulter. So wie er da gerade dastand mit seiner Geige, hatte er etwas Sinnliches, fast schon poetisches an sich. Dies passte gar nicht, zu seiner sonst immer realitätsgetreuen Kombinationsgabe. `Ist ihm eigentlich bewusst, was für ein hübscher Kerl er ist? Irgendwie erinnert er mich an… Ich… Das darf ich nicht denken!` Kaum hörbar summte sie im Takt seines Geigenspiels mit und wollte die Tür wieder schließen. „Du würdest eine fantastische Spionin abgeben. Informationen beschaffen, die eigene Identität verschleiern“, meinte Sherlock schroff, ohne dabei in ihre Richtung zu blicken. „Verzeih… Ich bin schon wieder weg. Manchmal braucht jeder von uns seine Ruhe zum nachdenken“, sprach Miceyla entschuldigend mit beruhigender Stimme. Da ließ er abrupt von seinem Spiel ab. „Denke mal scharf nach. Ich wette du kommst von selbst darauf. Ein scheinbar perfektes Verbrechen. Doch der Ball hat dir wohl andere Flausen in den Kopf gesetzt. Dann verschone mich bitte mit unnötiger Gefühlsduselei, die nur meinen klaren Verstand behindert“, fuhr er unablässig fort. Sie änderte ihr Vorhaben, blieb stehen und öffnete die Tür ganz. `Ein perfekt durchdachtes Verbrechen an einem Adeligen… Der Meisterverbrecher…` Jetzt sah er sie direkt an und obwohl sich ganz offensichtlich Ärgernis in seinen Worten befand, waren seine Emotionen nur schwerlich zu deuten. Verbarg sich da ein Anzeichen von Enttäuschung? Sie wusste nichts darauf zu erwidern, ohne das es unvernünftig rüberkäme. Sherlock seufzte mit zusammengekniffenen Augenbrauen, legte seine Geige und den Bogen ab, warf sich eine Jacke über und schritt zielstrebig auf sie zu. „Sh-Sherlock! W-was tust du da?“, rief Miceyla völlig überrumpelt, als er sie energisch am Handgelenk packte und sie schweigend die Treppe hinunter, Richtung Haustür hinter sich herzog. „Sherlock! Miceyla! Wo wollt ihr hin?“, kam es bestürzt von John aus dem Hintergrund. „Das wüsste ich selber nur zu gern!“, teilte Miceyla ihm verwirrt mit. „Wartet, ich komme mit!“ John eilte mit seinem Stock hinterher. „Verrätst du jetzt mal, wo wir so spät noch hinwollen? Falls es meine Schuld ist, dass sich deine Laune noch mehr verschlechtert hat, beruhigt es dich vielleicht wenn du weißt, dass ich mich momentan auch sehr mies fühle. Da haben wir etwas gemeinsam, ha, ha“, bemühte sie sich um einen neutralen Tonfall. Jedoch blieb Sherlock weiterhin stumm und sie sah bloß seinen Rücken, während die beiden mit einem keuchenden John, etwas hinter ihnen im Schlepptau, die düsteren Straßen von London im eiligen Tempo entlangliefen. Schneller als gedacht, beendete Sherlock ihren spontanen Fußmarsch und hielt vor einem gut besuchten Pub, aus dem grölende Laute kamen. ``Zur hänselnden Gans`. Ha, ha, oha…`, las sie amüsiert das Schild über der Eingangstür. „Ich frage besser nicht, was wir hier wollen“, meinte sie lachend. „Wer hätte das gedacht, dies hier ist sozusagen unsere Stammkneipe…“, erläuterte John der sie eingeholt hatte und rang nach Luft. Erst in diesem Augenblick ließ Sherlock von ihr ab und betrat, noch immer sich keiner Worte bedienend, die Schenke. Miceyla und John tauschten kurz lächelnd Blicke aus und folgten ihm dann hinein. In dem Pub herrschten reges Treiben und eine deftige Lautstärke. Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der sich mit derart Vergnügen nur schwerlich anfreunden konnte und sich eher in Zurückhaltung übte. Vielleicht fehlten ihr auch einfach die passenden Kontakte dafür. An allen Tischen wurde laut gelacht, gesungen, getrunken und Karten gespielt. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Gruppe fröhlich Flöte, Gitarre und Trommel. Miceyla fand die Tatsache ziemlich belustigend, dass dieser Ort das komplette Gegenteil zu einem vornehmen Ball, auf dem Anwesen eines Adeligen darstellte. Hier war sie völlig ungebunden und musste sich keine Gedanken um irgendwelche Manieren machen. Die drei setzten sich an den letzten freien Tisch und eine Wirtin mit beachtlicher Oberweite, brachte alsbald Getränke. Diese schien Sherlock gut zu kennen. „Zum Wohl Freunde! Keine falsche Bescheidenheit. Vergessen wir für die heutige Nacht unsere Sorgen. Auf das wir ab morgen, die Probleme wie von Zauberhand lösen können!“, sprach Sherlock lautstark einen Toast aus und hielt seinen randvollen Krug in die Höhe. Endlich war sein vergnügtes Grinsen zurückgekehrt und er schien wieder ganz der Alte zu sein. „Zum Wohl!“; riefen Miceyla und John zur gleichen Zeit und das Trio schlug ihre Gläser gegeneinander. `Na bei diesem angenehmen Lüftchen hier, fühlt sich Sherlock bestimmt heimisch`, dachte sie mit Ironie und wedelte mit der Hand, Zigarettenrauch um ihr Gesicht herum weg. „Weißt du, normalerweise ist er ja kein großer Trinker, da seine Arbeit stets Nüchternheit von ihm abverlangt…“, flüsterte John vertraulich neben ihr. „Ha, ha. Das kann ich mir gut vorstellen. Aber wenn gerade nichts ansteht, kann man ja mal eine kleine Ausnahme machen und sich etwas gönnen“, erwiderte sie verständnisvoll. „Aufgrund von Vernachlässigung, hat sie früh gelernt selbstständig zu sein. Kennt sich nur in einem kleinen Teil von London gut aus, da sie lange Zeit auf dem Land gelebt hat. Sie las in ihrer Kindheit und Jugend viele Bücher, daher ist sie anderen ihres Standes, weit überlegen durch ihr angehäuftes Wissen. Besitzt eine ungewöhnliche Erfassungsgabe, von den Gefühlen anderer Menschen. Steht sich aber meistens selbst im Weg und verschwendet ihre Fähigkeiten maßlos. In unangenehmen Situationen, neigt sie teilweise zu cholerischen Verhaltensweisen. Für sie wichtig erscheinende Tätigkeiten, führt sie stets akribisch aus…“, sprach Sherlock bereits leicht angetrunken, hatte seinen Kopf auf der Hand abgestützt und fixierte Miceyla eindringlich mit den Augen. `H-hat er mich gerade analysiert…?!`, dachte sie schockiert und fühlte sich völlig überrumpelt. Nie hätte sie gerade damit gerechnet und blickte ihn stumm mit offenem Mund an. „Oh nein, Sherlock! Musste das jetzt wieder sein? Richte nicht wieder unnötig Schaden an…“, flehte John und hielt sich ängstlich eine Hand vor die Augen, ganz so als wollte er ihre Reaktion nicht mitansehen. Doch seine Angst war völlig unbegründet, als Miceyla in schallendes Gelächter ausbrach. „Ha, ha, ha, ha! Sherlock, der Punkt geht an dich! Ich glaube die ganze Welt könnte ich bereisen und würde nicht mal eine einzige Person finden, die auch nur annähernd dieselben markanten Eigenschaften besitzt wie du“, sagte sie lachend. „Komm tanze mit uns!“ „Ein so schönes Mädchen darf hier nicht einfach so rumsitzen! Wir sind die passenden Partner für dich!“ Plötzlich standen zwei junge Männer neben ihrem Sitzplatz und forderten sie aufdringlich zum Tanzen auf. „Nein ich…“ Miceyla wollte widersprechen, doch einer der beiden zog sie bereits mit seiner Hand nach oben und war damit gezwungen aufzustehen. Da erhob sich auf einmal auch Sherlock und schlug dem Mann seinen Griff von ihr weg. „Vergiss die eingerosteten Adeligen. Ich zeige dir wie richtig getanzt wird“, äußerte er sich grinsend, nahm sie bei der Hand und führte sie auf die freie Fläche vor der Bühne. Die jungen Männer blickten verdutzt hinterher. „Widerstand ist zwecklos, huh?“, ergab sie sich lächelnd. Dennoch war ihr etwas bange zumute, dass ihr eine Blamage bevorstand. `Wah! Hilfe!` Passend zu der flotten Musik, wirbelte Sherlock sie in schnellem Tempo umher und sie vollführte schwindelerregende Pirouetten. Er war ein unglaublich guter Tänzer und steppte unermüdlich mit Miceyla über den festen Holzboden. Eine ganz neue Erfahrung war es für sie, so frei und unbekümmert zu tanzen. Mag ein Ball auch unsagbar schön sein, diese Art Tanz gefiel ihr ebenfalls. Sie hätte sich nur schwer zwischen beidem entscheiden können. Während sie ausgelassen umherhüpfte, wurde ihr Herz befreit von jeglichem Frust. Was auch immer der nächste Tag bringen mochte, in jenem Augenblick genoss sie das Leben in vollen Zügen. Die anwesenden Gäste jubelten laut, klatschten und pfiffen. Einige schlossen sich nun Sherlock und Miceyla an. Sie hakten sich ineinander ein und tanzten zusammen durch das Pub. Sogar John wurde von der guten Stimmung angesteckt und schwang das Tanzbein. „Hey, was soll das! Pass doch auf!“, brüllte plötzlich ein torkelnder Mann, der auffällig betrunken war, mit dem Sherlock zusammenstieß. Der Mann versetzte ihm einen heftigen Schlag ins Gesicht. „Sherlock!“ Miceyla musste bestürzt mit ansehen, wie dieser zurücktaumelte. „Du hast es ja nicht anders gewollt…“, entgegnete er und funkelte den streitsuchenden Mann kampflustig an. Der heitere Tanz fand sein jähes Ende und in der Kneipe brach eine wilde, unaufhaltsame Schlägerei aus. Sie selbst war gezwungen aufzupassen, nicht mit hinein verwickelt zu werden und wich gekonnt zurück. „Schnell! Raus hier!“ John schob sie schützend vor sich her und floh mit ihr aus dem Pub. „Puh… Das ist gerade noch mal gut gegangen. Glaubst du Sherlock kommt da drinnen zurecht?“, fragte sie kummervoll. Das Geschrei der tobenden Meute, schallte zu ihnen bis nach draußen. „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist ein exzellenter Boxer. Soll er sich ruhig mal etwas austoben. Oh, wir haben schon nach Mitternacht. Schauen wir, dass wir eine Kutsche für dich finden, damit du heil nach Hause kommst“, schlug John freundlich vor und sie nickte zustimmend. Es war ein vergnüglicher Abend gewesen, doch mittlerweile taten ihr die Beine vom vielen laufen und tanzen weh. „Ah, sieh nur! Dort steht eine bereit.“ John zeigte auf eine am Straßenrand wartende, kleine Kutsche. Er bezahlte den Kutscher für sie. „Danke John und pass mir gut auf Sherlock auf. In die Kashton Street bitte“, bedankte Miceyla sich und hörte noch immer die muntere Musik im Geiste. „Das werde ich, bis bald Miceyla.“ Die Pferde trabten los und sie streckte sich ausgiebig. `Dieser kleine Abstecher ins Pub, hat sowohl Sherlock als auch mir sehr gutgetan`, dachte sie zufrieden. Fast wäre sie eingenickt, da bemerkte sie, dass die Kutsche ungewöhnlich lange unterwegs war. Längst hätte sie zu Hause ankommen müssen. Da es draußen stockduster war, konnte sie ihren aktuellen Standpunkt nicht ausmachen. „Entschuldigen Sie, hier sind wir falsch. Sie wissen doch bestimmt, wo die Kashton Street ist…“ Sie öffnete etwas die Tür und wandte sich an den Kutscher. Dieser reagierte jedoch nicht und spornte seine Pferde plötzlich an, noch schneller zu werden. Abrupt schlug sie wieder die Tür zu, als die Pferde im halsbrecherischen Tempo losgaloppierten. `Ruhe bewahren… Ganz ruhig…` Panik stieg in ihr auf. Der Kutscher schien keine guten Absichten zu verfolgen. Doch bei der Geschwindigkeit, konnte sie kaum aus der Kutsche springen. Nichts anderes blieb ihr übrig als abzuwarten. Sobald sie anhielten, würde Miceyla die Flucht ergreifen. Längst waren sie in einem abgelegenen Viertel von London angekommen. Eine äußerst zwielichtige Gegend, von der man sich besser fernhielt. `Wir haben angehalten…!` Totenstille breitete sich aus, als die Kutsche endlich ihr ungewisses Ziel erreicht hatte. Mit einer zitternden Hand, öffnete sie langsam die Tür. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie konnte im näheren Umkreis nichts und niemanden ausmachen. Keine Bewegung, kein Geräusch. Aber das Merkwürdigste war, keine Person saß mehr oberhalb der Kutsche… Der Kutscher war verschwunden… Leise setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den Erdboden. Und sobald sie im Freien gewesen war, rannte sie so schnell sie nur konnte, als wäre eine ganze Horde blutrünstiger Bestien hinter ihr her. `Das hat mir gerade noch gefehlt…` In Strömen fing es auf einmal an zu regnen und es begann zu stürmen. Ihre Kleidung war innerhalb kürzester Zeit vollkommen durchnässt. Miceyla wurde langsamer, die Energie ging ihr aus und ihre Lunge brannte. Plötzlich vernahm sie eine leise, wimmernde Stimme. `Weint da jemand?` Sie suchte die düstere Umgebung ab. In einer ärmeren Ortschaft befand sie sich, mit kleinen Hütten die danach aussahen, als stünden sie kurz vor dem Zerfall. `Ich muss schnellstmöglich von hier verschwinden…` Da fand sie die weinende Person am Boden kauernd und hoffte, dass sie diese vielleicht nach dem Weg fragen konnte. „Verzeihung, ist etwas nicht in Ordnung? Bei den eisigen Temperaturen und dem Regen werden Sie noch todkrank. Sie müssen sofort ins warme Trockene“, sprach Miceyla die Person an und hockte sich neben sie. „Ach mein Kind, es ist so schrecklich… Bitte, bitte! Niemand wird ihm helfen… Ich bin nicht wichtig…“, jammerte die flehende Person und blickte sie verzweifelt an. `Eine alte Frau?!` „Vielleicht kann ich ja helfen, auch wenn ich gerade selbst etwas verloren bin… Und wer ist dieser Jemand?“, bot Miceyla ihre Hilfe an. Sie käme ohnehin im Moment, nicht so schnell von diesem finsteren Ort weg. „Man hat mich überfallen, mich ausgeraubt… Dieser Mann schikaniert gerne andere, die ihm unterlegen sind… Doch ein tapferer Junge kam und wollte mich beschützen… Aber dann…oh bitte, seid seiner gnädig…hat der widerliche Kerl, den armen unschuldigen Jungen grob mit sich gerissen und verschleppt, zusammen mit einem Verbündeten… Möge das Schicksal es gut mit ihm meinen… Du…mein Mädchen…rette ihn…“, klagte die alte Frau und klammerte sich flehend an Miceyla. Etwas tölpelhaft versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen, in jener heiklen Situation. `Selbst wenn ich ausfindig machen könnte, wohin der Junge entführt wurde, wird eine Konfrontation mit diesen suspekten Verbrechern unumgänglich sein… Ich bin schwach, habe keine Waffe bei mir und keinerlei Unterstützung. Sherlock wüsste jetzt genau was zu tun wäre…` „Hören Sie, es ist viel zu gefährlich. Am Ende fallen den Kerlen noch mehr zum Opfer. Ich kann fähige Hilfe besorgen, wenn Sie mir nur sagen, wo wir uns hier gerade befinden… Es stürmt und es ist tiefste Nacht… Ich bin noch nie zuvor an diesem Ort gewesen und…“, versuchte Miceyla die alte Frau davon zu überzeugen, eine vernünftige Vorgehensweise zu entwickeln. „Dann wird es zu spät sein… Glaubst du der Fiesling wartet darauf, dass du mit deiner Hilfe ankommst? Ich habe gesehen wo sie lang sind, vor etwa zwanzig Minuten… Aber du willst eine aufrichtige junge Seele wohl lieber sterben lassen…“, unterbrach die Frau sie und senkte den Blick, als hätte sie die Hoffnung bereits aufgegeben. Miceyla holte tief Luft, schloss die Augen und leckte sich die Regentropfen von ihren Lippen. Die ganze Lage war ihr alles andere als geheuer. Außerdem kamen neben ihrer Erschöpfung, etliche weitere Faktoren hinzu, die sie gerade sehr verwundbar machten. `Ich bin dumm, einfach nur dämlich! Ich tue das jetzt nicht wirklich… Das ist reiner Selbstmord!` „Also schön… Zeigen Sie mir den Weg, welchen die Männer nutzten. Ich kann Ihnen nichts versprechen, jedoch gebe ich mein Bestes, um den Jungen zu retten“, gab Miceyla sich geschlagen und wusste nicht mehr, ob sie noch bei klarem Verstand war. `Wenn er noch am Leben ist…` Komischer Weise glaubte sie aber nicht, dass die alte Frau sie in die Irre führen wollte und es eine Falle war. Sie sprach die Wahrheit, warum auch immer, aber Miceyla war davon fest überzeugt. „Sie überquerten ein Stück die Themse, etwas südlich von hier. Folge mir…“ Die alte Frau erhob sich mühsam und lief los, ohne darauf zu achten ob sie ihr folgte. `Bei diesem Wetter auch noch Boot fahren? Das ist doch Wahnsinn!` Trotz jeglicher Unbehaglichkeit, trottete sie hinter der merkwürdigen Frau her, die stur einen ihr fremden Jungen retten wollte. Am Flussufer angelangt, deutete die Frau auf ein kleines Boot. „Das wird seinen Zweck erfüllen. Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren.“ `Lass uns nicht vorher untergehen und ertrinken…`, betete Miceyla, als sie nach ihr das stark schwankende Boot betrat. Zum Glück blieb es bei einer kurzen Überfahrt und sie befanden sich auf der anderen Seite der Themse. Die Gegend bekam ein immer schaurigeres Ambiente, während sie weiterliefen. „Wie weit ist es denn noch?“, fragte eine fröstelnde und verängstigte Miceyla. Wie froh sie war, gerade nicht alleine zu sein. „Dort drüben, dies ist das Versteck von diesem Tyrannen“, sprach die alte Frau zornig. `Sieht wie eine kleine, alte verlassene Kathedrale aus…` „Und nun? Ich kann schlecht einfach unüberlegt in die Höhle des Löwen reinmarschieren…“, meinte Miceyla und wollte zu der Frau blicken, um irgendwelche Ratschläge zu erhalten, jedoch war diese plötzlich spurlos verschwunden. `Das kann jetzt nicht wahr sein!` „Wo sind Sie?“ Aber sie bekam keine Antwort. `Ich bin den ganzen Weg nicht umsonst hergekommen…`, dachte sie und versuchte sich zusammenzureißen. Miceyla sammelte all ihren Mut, trotz der unbändigen Furcht die sie verspürte und wollte sich wenigstens mal ganz kurz davon vergewissern, ob tatsächlich im Moment jemand in der Kathedrale war. Langsam schritt sie von der Seite aus, über den matschigen Boden, auf die Eingangstür zu und lauschte. Nichts war zu hören. Sachte öffnete sie die schwere knarrende Tür und warf einen Blick ins Innere. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Mehrere Fackeln flackerten in der Ferne. Es schien sich wirklich hier gerade jemand aufzuhalten. Das Dach war undicht und der Regen sammelte sich in unzähligen Pfützen am Boden. Es roch modrig und der Wind pfiff unheimliche Geräusche. Miceyla hatte die Wahl, eine Treppe nach unten oder nach oben zu nehmen. Sie entschied sich für letzteres und suchte die Kathedrale dabei gründlich nach einem brauchbaren Gegenstand ab, der sich als Waffe eignete. Für den Ernstfall, damit ihr wenigstens eine geringe Chance auf Verteidigung blieb. Doch fand sie leider kein solches Hilfsmittel. Oberhalb führte sie ein kurzer Gang, wieder ein kleines Stück hinunter zu einem einzigen großen Raum, bei dem die Tür fehlte. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand dort war. „Ahhhhhh!“ Vor Schreck zuckte Miceyla zusammen, als sie von unterhalb einen quälerischen Schrei hörte. Mit vollster Konzentration, lief sie über die durchgeweichten Holzbalken. Glücklicherweise übertönte der Sturm ihre knirschenden Schritte. Sie entdeckte einen Spalt zwischen den Balken, durch den dämmriges Licht hervorschien. Behutsam legte sie sich auf den Boden, um hindurchlugen zu können. Unmittelbar unter ihr stand ein recht ordentlich gekleideter Mann und hielt ein längliches Messer, mit spitzen Zacken an der Klinge, an welcher sich glänzende blutrote Flecken befanden, in der Hand. `Das muss ein Alptraum sein…!` Ihr Blick wanderte weiter und sie sah einen an der Wand, mit rostigen Ketten gefesselten Jungen. Bei ihm musste es sich um besagten Jungen handeln, von dem die alte Frau sprach. Sie schätzte ihn auf ein Alter von etwa fünfzehn ein. Doch bei seinem kritischen Zustand wurde ihr speiübel. Man hatte ihm brutal seine Oberbekleidung vom Körper gerissen und an diversen Stellen, waren ihm gigantische Fleischwunden zugefügt worden. Sein linker Arm war unnatürlich verrenkt und ihm fehlten einige Fingernägel. Eine Schnittwunde zog sich quer über seine Stirn und das Blut floss ihm das Gesicht hinab. Der Junge sah ohnehin schon sehr mager aus und litt ganz offensichtlich unter Armut und Hungersnot. Er würde nicht mehr lange durchhalten. Plötzlich gaben die Holzbalken unter ihr etwas nach und es knackte unheilvoll. `Bitte alles nur das nicht! Wenn ich hier abstürze…!` Panisch versuchte sie ihr Gewicht gleichmäßig zu verlagern und wollte über die Balken zurückkriechen. Doch es war zu spät, das Holz brach vollends unter ihr auseinander. Folglich stürzte Miceyla kreischend mit einem Teil des Bodens hinab und landete geradewegs polternd, in der Folterkammer des schändlichen Mannes. Benommen stützte sie sich mit ihren pochenden Händen, auf dem harten Untergrund ab. Sie hatte sich einige Splitter zugezogen beim Sturz. Von Glück konnte sie sagen, dass es kein tiefer Fall gewesen war und sie keine ernsthaften Verletzungen davontrug. Jedoch sollten die eigentlichen Probleme, erst in diesem Augenblick beginnen. „Wo zur Hölle kommst du Göre denn auf einmal her? Ach egal, soll mir nur recht sein. Bist du eben als nächstes dran!“, sprach der garstige Mann lüstern und pfiff zweimal ganz laut hintereinander. Am Eingang der schauderhaften Kammer, erschien ein weiterer stämmiger Mann und hielt einen langen Schlägerstock in seiner massiven Hand, an der viel Schmutz klebte. „Klasse! Endlich darf ich auch mal etwas Spaß haben! Lass uns spielen Kleine, he, he!“, freute dieser sich mit gieriger Verdorbenheit. `Zwei Wahnsinnige auf einen Streich…`, dachte Miceyla voll hilfloser Bestürzung und die Angst verzehrte sie von Sekunde zu Sekunde mehr. War sie wirklich dazu verdammt, an diesem Ort zu sterben? Sollte sie ihrer Machtlosigkeit erliegen, aufgeben und die gewalttätigen Männer gewinnen lassen? Nein! Zumindest würde sie sich ihnen nicht komplett widerstandslos ausliefern und nichts durfte unversucht bleiben. `Kämpfe! Sei stark!`, spornte sie sich zitternd in Gedanken an und ließ hastig ihren Blick, durch den in ein schwaches Licht getauchten Raum schweifen. Der breit grinsende, blutrünstige Mann mit dem Schlägerstock, schritt zielstrebig auf die noch immer am Boden kauernde Miceyla zu, während der andere sich weiter mit dem hageren Jungen vergnügte. „Huh? Kannst dich nicht mal mehr bewegen? So wird das aber sehr langweilig…“ Der Mann beugte sich verärgert ein wenig über sie. Da schoss sie plötzlich, ohne sich vorher verraten zu haben, in die Höhe und versetzte ihm mit der Faust einen heftigen Kinnhaken. Dann griff sie blitzschnell zu einem Tisch, auf welchem mehrere Folterinstrumente lagen und packte eine Art Eisenstange. Anschließend stürmte sie in hoher Geschwindigkeit aus dem Raum und die schmale Treppe hinauf. „Uh…Oh…! Du elendes Miststück! Na warte, wenn ich dich erwische!“, zischte der Mann erzürnt und rieb sich sein wundes Kinn. Unterdessen raste sie auf den Ausgang der Kathedrale zu. Nichts anderes blieb ihr übrig als zu fliehen, sie war der Sache einfach nicht gewachsen. `Vergib mir, dass ich dich nicht retten konnte…`, dachte sie schmerzvoll und Schuldgefühle nagten an ihrem Gewissen, sobald sie an den leidenden Jungen dachte. Wie eine Verrückte zerrte Miceyla an der Tür, doch ging diese keinen Spalt weit auf. Zu ihrem Übel hatte man sie zugesperrt. `So ein Mist! Schlimmer kann es ja gar nicht mehr kommen! Aus der Flucht wird wohl vorerst nichts…` „Wo bist du Schneckchen? Vor mir kannst du nicht fliehen…“ Angsterfüllt fuhr sie herum und hörte wie der Mann von unten die Treppe hochstapfte und ihre Verfolgung aufnahm. Die einzige Möglichkeit die ihr blieb, war wieder in den oberen Raum in dem sie runterfiel zurückzukehren, um sich etwas Zeit zu verschaffen. `Es muss doch irgendeine Lösung geben…!` Wenigstens hatte Miceyla nun eine einigermaßen brauchbare Waffe, um sich zur Wehr zu setzen. Somit spurtete sie hinauf, dabei wäre sie um ein Haar auf der rutschigen Treppe ausgerutscht. Jedoch schaffte sie es noch rechtzeitig das Gleichgewicht wiederzufinden. Oben angelangt mied sie das große Loch im Boden und lief an der Wand entlang, in den hintersten Winkel des schimmlig feuchten Raumes. Miceyla musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien, als sie sich ein paar der Splitter aus den schmerzenden Händen zog. In diesem Moment wünschte sie sich ihr langweiliges Alltagsleben zurück und die erdrückenden Erinnerungen der Vergangenheit holten sie ein. Doch es wurde eine zu kurze Verschnaufpause, um in Selbstmitleid zu versinken. Ihr auflauernder Verrückter, befand sich kurz vor der Türschwelle. „Ich weiß das du hier bist Süße. Du kannst nicht von hier entkommen oder dich vor mir verstecken…“, rief er selbstüberzeugt und kicherte leise vor sich hin. Da leider zu viel Licht von unten nach oben leuchtete, entdeckte der Mann sie sofort. Aber er war nicht dumm genug und lief mit langsam prüfenden Schritten, über den glitschigen Holzboden. Die restlich verbliebenen Balken im mittleren Bereich, würden ihr Gewicht gerade noch so tragen können. Doch bei dem schweren Mann, sollte es ziemlich kritisch werden. Irgendwie musste es ihr gelingen, den Kerl weiter in die Mitte zu locken. Die letzten kläglichen Kräfte sammelnd, schoss Miceyla mit der Eisenstange festumklammernd auf ihn zu und sprang dabei geschickt von einer sicheren Stelle des Bodens zur nächsten, bis sie bei ihrem Widersacher angelangte. „Ha, ha! Komm nur, komm nur!“, schrie er mordlustig und holte weit mit seinem Stab aus. Gekonnt duckte sie sich unter seinem kraftvollen Hieb hinweg und versetzte ihm einen intensiven Stoß, mit der Spitze der Eisenstange seitlich gegen die Hüfte. „Ahhh!“ Überrascht stieß er einen qualvollen Schrei aus und schwankte etwas umher. Aber natürlich ließ dieser hartgesottene Mann, sich nicht so leicht von ihr außer Gefecht setzen. Sofort fing er sich wieder und griff sie erneut mit wutverzehrter Miene an. Geschickt parierte Miceyla, die von Zorn domminierten Schläge des Mannes mit der Eisenstange. Auch wenn dies ihr nur zu einer kurzweiligen Verteidigung verhalf. Zwar war er ihr kräftemäßig weit überlegen, doch war sie wesentlich flinker und reaktionsschneller. Über ihre eigene Geschicklichkeit verwundert, lief sie einige Schritte rückwärts in Richtung Mitte. Ihr Plan ging auf und der tobsüchtige Mann folgte ihr mit umherfuchtelndem Schlägerstab. „Wah!“ Er krachte mit einem Fuß durch die Holzdielen und blieb mit dem Bein im Boden stecken. „Diese verfluchte gammlige Hütte!“, fluchte er und versuchte vergeblich sein Bein wieder hinauszuziehen. Miceyla nutzte seine kurze Unaufmerksamkeit und rammte ihm die Eisenstange zwischen den Brustkorb. Er brüllte ohrenbetäubende Laute. Leider jedoch fehlte es ihrem Stoß an Durchschlagskraft. Ihre nassen und verletzten Hände rutschten an der Stange hinunter und milderten den Angriff. Wie ein randalierendes Monstrum packte er sie brutal am Hals und schleuderte sie von sich weg. Mit einem dumpfen Aufprall stieß sie gegen die Wand und fiel zu Boden. Benebelt hustete sie stark und fasste sich auf den pochenden Hals. Ein wenig Blut floss ihr aus dem Mund. In Begleitung eines schallenden Kriegsschreis, riss der Mann seinen Fuß aus dem Boden und war drauf und dran wieder über sie herzufallen. Aber das Glück war ihr hold und die Balken unter ihm brachen entzwei. Mit unkontrollierten Armbewegungen fiel er donnernd hinab. Schwankend richtete Miceyla sich auf und nahm die fallengelassene Eisenstange wieder an sich. Vor dem Loch stehend blickte sie hinab und sah, dass der abstoßende Mann wie ein Käfer auf dem Rücken lag und vor Schmerzen gekrümmt aufstöhnte. Da blitzte etwas Glänzendes aus seiner Hosentasche hervor. `Der Kerl hat den Schlüssel!` Ohne weiter nachzudenken, sprang sie von oberhalb durch die große Öffnung im Boden auf ihn drauf und versetzte ihm einen ordentlichen Schlag gegen den Schädel, der ausreichte, um ihn wenigstens für eine kurze Zeit ohnmächtig zu machen. Daraufhin ließ sie von ihm ab. „Unsere kleine Puppe war wohl etwas unartig… Vielleicht sollte ich sie mal ein klein wenig züchtigen…“ Wie gelähmt erstarrte Miceyla. `S-stimmt… E-er ist ja auch noch da…` Während der ganzen wilden Hetzjagd, hatte sie den zweiten Widerling vollkommen ausgeblendet. So langsam war ihr Limit erreicht. Zu allem Überfluss sah es ganz danach aus, als wäre nun auch noch die Tür zu diesem Raum abgeschlossen. Es gab kein Entkommen mehr, sie saß in der Falle… Der einzige Schlüssel den der andere Mann bei sich trug, passte sehr wahrscheinlich nur zu dem Eingangstor der Kathedrale. „Ha, ha! Sieh genau her, in was für ein prachtvolles Kunstwerk, ich unsere halbe Portion hier verwandle! Nicht drängeln, danach verschönere ich dich. Zeig mir vorher dein verzweifeltes Gesicht, ha, ha, ha!“, forderte der geisteskranke Mann sie dazu auf, seine Taten mitzuverfolgen. Eine in der Hand haltende Säge, führte er zu dem rechten Ohr des Jungen. Ob sie es wahrhaben wollte oder nicht, tatsächlich war es sein Vorhaben ihm das Ohr abzusägen. Die Brust des Jungen hob und senkte sich ganz langsam. Noch war er am Leben. „Aufhören! Sie verabscheuungswürdiges Monstrum! Soll man Sie doch zu Tode quälen! Sie sind kein richtiger Mensch mehr! Nur ein bemitleidenswertes Tier! Jeder Bettler besitzt mehr Würde als Sie!“, beschimpfte Miceyla den Mann ohne jede Zurückhaltung. Dabei kroch sie auf ihren Knien über den blutbefleckten Boden und warf die Eisenstange in ihrer Hilflosigkeit nach ihm. „Du dreckiges Weibsstück!“ Er wandte sich von dem halbtoten Jungen ab und funkelte sie angriffslustig an. Da hörte sie plötzlich ein Klacken hinter sich. Jemand hatte einen Revolver entsichert. „So einfach lässt sich der alte Perry nicht umlegen! Nu ist Schluss mit lustig, du kleine räudige Furie!“, schnaubte der Mann hinter ihr, welcher nicht mehr bewusstlos war und richtete eine Pistole auf sie. Allerdings hielt er sich mit der anderen Hand den wunden Kopf und seine Augen blickten glasig durch schmale Schlitze geradeaus. Anscheinend konnte er nur verschwommen sehen. „Wo waren wir stehen geblieben…?“ Der andere Folterknecht, setzte erneut seine Säge oberhalb am Ohr des Jungen an. Blut floss in mehreren Rinnsalen seitlich an dessen Kopf hinab. „Neiiiiiin! Niiiiicht…!“, schrie sie und wollte wegschauen, doch zwang ihre Gelähmtheit sie dazu weiterhin zuzusehen. Entweder starb Miceyla einen schnellen Tod und wurde erschossen oder sie konnte sich langsam zerstückeln lassen… Egal wie es für sie ausging, sie befand sich in einer Zwickmühle… Längst waren all ihre Sinne wie benebelt und sie meinte schon das Tor zur Hölle betreten zu haben. Und dennoch gab es noch einen allerletzten Gedanken den sie hatte. Ob er vernünftig war oder nicht, schien in jenem Moment unbedeutend. `Der Mann hinter mir wird nicht so schnell reagieren können… Wenn der Junge und ich hier schon unser Leben lassen müssen, will ich wenigstens einen von diesen Teufeln mit ins Grab nehmen… Am Ende spielt es sowieso keine Rolle… Niemand würde mich retten kommen und niemand wird sich an mich erinnern… Ich zerfalle zu Asche und verschwinde einfach… Niemand!... Niemand!... Ich hasse diese Welt, in der solche Monster existieren! Das Leben ist bereits die Hölle!... Niemand!... Niemand!...` Miceyla stand auf, schnappte sich ein großes Messer vom Tisch und stürzte auf den Mann zu, der den Jungen massakrierte. Doch ehe sie diesen erreichte, landete direkt vor ihr aus dem Nichts heraus eine Gestalt mit schwarzem Umhang, die von oben herabgesprungen kam, wie ein riesiger dunkler Schatten. Schwungvoll trennte diese mysteriöse Person, mithilfe einer langen scharfen Klinge, zielgenau den Kopf des Folterers ab. Der Kopf plumpste mit einem ausdruckslosen Gesicht darauf zu Boden und rollte ein Stück weit. Augenblicklich fiel der kopflose Körper um, noch immer die Säge in der Hand haltend. Ein See aus dickem dunkelrotem Blut, bildete sich gemächlich auf dem Boden. Beinahe zur gleichen Zeit ertönte von oberhalb ein Schuss und traf den anderen Mann hinter ihr. Dieser kippte ebenfalls leblos um. Zwar war es eine schaurig unmenschliche Vorstellung gewesen, doch schien Miceyla gerettet worden zu sein. Jedoch was sie kurz darauf erfahren sollte, vernichtete fürs Erste ihren reinen Glauben an das Gute… Die nicht identifizierbare Gestalt drehte sich vor ihr um, nahm die Kapuze seines schwarzen Umhanges vom Kopf herunter und sein Gesicht kam zum Vorschein. Miceyla ließ das Messer in ihrer Hand fallen und sank verstört zu Boden. Scharlachrote Augen blickten ihr entgegen und ein passioniertes Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mannes. Niemand anderes als William Moriarty stand da gerade vor ihr. Aber war das wirklich der William, den sie kennengelernt hatte? Wohin war der vornehme Prinz verschwunden, der gütige Engel, mit dem sie auf dem Ball tanzte? Vor ihr stand bloß ein Dämon, mit einer heißblütigen Mordlust. Sie zuckte verschreckt, als ein Mann von oben herabgesprungen kam. „Sauberer Schuss, Moran. Nichts anderes habe ich von dir erwartet“, lobte ihn William. „Ich fühle mich geschmeichelt“, erwiderte Moran grinsend. Da wurde auf einmal von außen die Tür aufgeschlossen und zwei weitere Männer marschierten herein. `Nein…nein…das kann alles unmöglich sein…` Es handelte sich bei ihnen um Albert und Louis. „Fred, kümmere dich bitte um den Jungen“, bat William und noch eine Person betrat geräuschlos den Raum. `Das ist doch die alte Frau!`, erkannte Miceyla sie verdutzt wieder. Besagte Frau nahm sich eine Maske vom Kopf und das Gesicht eines jungen Mannes, mit kurzen dunklen Haaren wurde sichtbar. „Mach ich“, sprach dieser knapp. Er löste ohne Probleme die Fesseln von dem schwerverletzten Jungen und trug ihn sogleich hinaus. Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Bei dem Meisterverbrecher handelte es sich um keinen geringeren als William Moriarty. Besser gesagt, alle hier anwesenden waren mit von der Partie. Jegliches Zeitgefühl hatte Miceyla verloren. Sie fühlte sich leer und verloren. Wie erbärmlich sie gerade aussehen musste. In Schweiß und Regen gebadet. Die Haare klebten ihr nass an der Stirn und von Kopf bis Fuß war sie völlig verdreckt. Sie wollte nicht das William sie so sah. Nun zerplatzte die Erinnerung an den Ball, wie eine flüchtige Luftblase. Ein schöner Traum, der sich in einen düsteren Albtraum verwandelt hatte. Ihr Herz drohte zu zerbrechen. Da liefen Miceyla endlich Tränen die Wangen hinunter. All die Tränen, welche sie die ganze Zeit über tapfer zurückhalten konnte. Nun waren sie nicht mehr zu unterdrücken. Sie weinte unaufhörlich. Dieses Trauma und dieser Schmerz, all das war für sie kaum zu ertragen… Liebes Tagebuch, 26.2.1880 es fällt mir wahrlich schwer, über jene albtraumhafte Nacht zu schreiben, ohne das meine Hand an zu zittern fängt... Dieses Erlebnis hat mir offenbart, zu was ein machtvoller Mensch fähig ist und mit welcher Leichtigkeit er andere kontrollieren kann. Der schöne anmutige Schmetterling, wird bei Nacht zu einer bedrohlich räuberischen Motte. Ich…ich will mich einfach nicht länger daran erinnern müssen. Doch kann ich den grauenvollen Bildern, die vor meinem geistigen Auge erscheinen, nicht entkommen. Ich wurde gefangen, nur um gerettet zu werden. Doch welche Seite ist böse und welche gut? Die wandernden Schatten haben mich verschlungen… William… Ich gestehe, in meinen Augen bist du selbst als ein erbarmungsloser Verbrecher noch wunderschön. Skrupellos, unbeirrt und charakterstark. Bewahre dein gutes Herz, das tief in dir verborgen schlummert. Dein aufrichtiges Lächeln ist sehr wertvoll für mich geworden. Lass es nicht zu einer Lüge werden. Du wirst dich sonst nur selbst in dein eigenes Verderben stürzen… Wandernde Schatten Wie tobende Wellen riss es mich voran, ich wollte mich abwenden, eines Besseren ich mich jedoch besann. Deine fernen Rufe haben mich geweckt, all meinen Mut hab ich in die letzte Hoffnung gesteckt. Vergebens versuchte ich in deinem dahinschwindenden Schatten zu bleiben, während die lüsternen Bedrohungen sich unablässig an mir reiben. Ohne Licht konntest du nicht bestehen und ich war gezwungen in die Gegenwart zurück zu gehen. Da froren all die Wellen zu Eis durch die Kälte, doch der Himmel sich langsam wieder erhellte. In meinen Augen sahst du das Glück auf Erden und das ungleiche Paar das wir nie mehr sein werden. Dennoch wird irgendwo im Verborgenen mit einem Schlag, ein neues Licht erscheinen wie an jenem schicksalhaften Tag. So lass mich erneut für dich scheinen und du als Schatten für mich wirst weinen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)