In Zeiten des Krieges von stone0902 (Draco x Ginny) ================================================================================ Kapitel 46: Teil 2 – Kapitel 19 ------------------------------- September 1998   Keuchend rang sie nach Atem und riss die Augen auf, nur um in völlige Dunkelheit zu starren. Ihr ganzer Körper war angespannt. Ginny hatte wieder einen Alptraum gehabt. Jeder neue kam ihr schrecklicher vor, als der vorherige. Ihre Hände wanderten hektisch zu ihrer Brust, suchten nach dem Übeltäter. Neben ihr regte sich etwas, dann beleuchtete schwaches, sanftes Licht den kleinen Raum.   „Was ist los?“   Ginny nahm seine Stimme kaum wahr und antwortete zuerst nicht. Sie setzte sich kerzengerade auf, während ihre Finger weiter über den Stoff ihres verwaschenen Schlafshirts strichen. Erleichtert atmete sie aus. Es saß kein Nachtmahr auf ihrer Brust. Prüfend sah sie sich in dem Zimmer um, in dem sie und Draco momentan schliefen. Sie überprüfte jede Ecke und jeden Winkel, den das Licht seines Zauberstabes erreichen konnte. Letztendlich glitten ihre Augen zum Fenster. Verschlossen. Sie wagte es nicht mehr das Fenster über Nacht offen zu lassen, was vor einiger Zeit zu einer kleinen Auseinandersetzung mit Charlie geführt hatte, als sie sich noch mit ihm ein Zimmer geteilt hatte. Im Sommer konnten sie auch mit Magie für kühle Temperaturen im Haus sorgen, doch er bestand hin und wieder auf frische Luft, wohingegen sie sich vehement wehrte. Draco hingegen hatte ihre Anweisung, dass das Fenster immer geschlossen bleiben sollte, einfach kommentarlos hingenommen.   Ein weiterer erleichterter Seufzer entfloh ihren Lippen und sie ließ sich zurück ins Kissen sinken. Nie wieder wollte sie einem Nachtmahr begegnen. Diese kleine, schwarze Kreatur konnte dafür sorgen, dass Menschen in ihren Träumen ihren schlimmsten Ängsten begegneten. Nachdem Charlie ihn in jener Nacht vertrieben hatte, hatte Ginny gehofft, dass somit auch die Alpträume aufhören würden. Doch da hatte sie sich getäuscht. In unregelmäßigen Abständen kamen sie und quälten sie, ließen sie nachts aus ihnen aufschrecken und mit einer Angst zurück, die sie am ganzen Leib erzittern ließen. So wie jetzt.   „Gin?“   Seine Stimme erlangte ihre Aufmerksamkeit. Er sprach leise, dass es beinahe einem Flüstern glich und ihr Name aus seinem Mund klang wie eine tröstende Umarmung. Beinahe hatte sie vergessen, dass er neben ihr lag. Sie hatte sich an seine Anwesenheit noch nicht gewöhnt, denn er wohnte schließlich erst seit einigen Tagen bei ihnen im Grimmauld Place. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und sah ihm ins Gesicht. Das schwache Licht tunkte alles in ein warmes Orange. Seine Augen musterten sie prüfend, bewegten sich hin und her, als sie ihr Gesicht untersuchten, auf der Suche nach einem Hinweis, der ihm die Situation erklärte. Sie hatte ihn offensichtlich geweckt. Er hatte sich auf seinen linken Unterarm gestützt, auf dem sich das Dunkle Mal auf seiner blassen Haut abhob. Sein blondes Haar war leicht zerzaust und er trug ein weites, weißes Shirt, dessen Kragen leicht über seine Schulter rutschte und ihm in ihren Augen so unglaublich gut stand, da es ihn irgendwie unschuldig aussehen ließ, als wäre er nicht imstande auch nur irgendjemandem Schaden zuzufügen und seine Tätowierung wäre nichts weiter als eine abstrakte Zeichnung eines unbekannten Künstlers, die keine negative Bedeutung in sich trug.   Im nächsten Moment schmiegte sie sich an ihn, schlang ihre Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.   „Ich hatte einen Alptraum“, murmelte sie leise und kam sich dabei vor wie ein kleines, weinerliches Kind. Sie krallte sich fester an ihn, suchte bei ihm Schutz, da die Angst noch zu gegenwärtig war. Sie hörte immer noch Toms hasserfüllte flüsternde Worte in ihrem Ohr.   Draco legte den Zauberstab auf den Nachttisch, ließ den Lumos weiterhin aktiv. Er erwiderte ihre Umarmung und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Hast du die öfter?“   Ginny zog seinen Duft ein und schloss die Augen. Seine Nähe war ungemein beruhigend und sein Geruch wie eine Medizin, die ihren angespannten Körper allmählich entspannte. „Hmhm“, antwortete sie. Jeder hatte schließlich hin und wieder Alpträume. Doch seitdem sie die Kammer des Schreckens verlassen hatte waren sie ihr ständiger Begleiter. Manchmal kam es ihr so vor, als wären sie nichts anderes als eine Realität, die sie betrat, sobald ihr Bewusstsein sich abschaltete und in den Schlaf abdriftete, als wäre der Tom Riddle, dem sie dort begegnete, ebenso echt und gefährlich, wie die Version des Tagebuches, als hätte sich ein Teil seiner Seele in ihr festgesetzt, der sich ihr nur zeigte, wenn sie schlief.   Dracos Hand wanderte langsam über ihren Rücken, immer höher, bis seine Finger ihren Nacken erreichten und sie dort sanft kraulten. Leise seufzte sie. Sie genoss seine zärtlichen Berührungen. Oft schafften sie es, dass sie alles andere um sich herum vergaß.   Doch bevor es soweit kommen konnte fragte er leise: „Wovon hast du geträumt?“   Ginny schwieg lange, hin und her gerissen, ob sie ihm von ihren Alpträumen erzählen sollte, denn bisher hatte sie noch mit niemanden darüber gesprochen. Jedesmal, wenn sie jemand danach fragte – ob Familienmitglieder oder Mitschülerinnen, die mit ihr den Schlafsaal teilten –, hatte sie sich geweigert oder es einfach abgetan, als handle es sich nur um einen albernen Traum, der keiner Rede wert war. Dabei ahnte kaum jemand, dass sie sie auch noch tagsüber verfolgten. Während sie überlegte kraulte Draco sie weiter und wartete, gab ihr die Zeit, die sie brauchte, um sich zu entscheiden, ob sie sich ihm gegenüber öffnen wollte. Vielleicht wusste er, wie viel Privates in manchen Träumen stecken konnte und wie schwer ihr diese Entscheidung fiel.   „Von ihm“, hauchte sie leise und erschauderte bei der Erinnerung an das blasse Gesicht mit den roten Augen. Sobald die Worte aus ihr heraus kamen bemerkte sie, wie sie in seinen Ohren klingen mussten. Wenn man mit seinem Partner in einem Bett lag sollte man demjenigen vielleicht nicht unbedingt unter die Nase reiben, dass man gerade noch von einem anderen Mann geträumt hatte, doch ihre Stimme offenbarte, dass sie dabei nichts anderes empfand, als pures Grauen. „Er lässt mich einfach nicht in Ruhe.“   Tränen der Verzweiflung traten ihr in die Augen und sie kniff sie krampfhaft zusammen, damit sie nicht drohten überzulaufen. Tom sorgte dafür, dass sie sich hilflos und machtlos fühlte. Zeigte ihr, dass es kein Entkommen gab. Sie war ihm damals in der Kammer nicht entkommen. Nicht wirklich.   „Wenn meinst du?“ Seine Finger hielten in ihrer Bewegung inne. Sein Tonfall klang weder anklagend noch neugierig, sondern äußerst kontrolliert. In seiner Stimme klang weiterhin lediglich diese Fürsorge mit, wie bei einer Mutter, die ihr Kind tröstete, das nachts Zuflucht in ihrem Bett gesucht hatte.   „Tom“, hauchte sie und als sein Name endlich ausgesprochen war verschwand mit ihm auch ein wenig der Anspannung, als würde diese Offenbarung sie am Ende ein wenig von ihrer Last befreien. „Riddle“, fügte sie noch hinzu, da sie nicht wusste, ob Voldemorts bürgerlicher Name ihm etwas sagte. Aber er erwiderte nichts darauf und Ginny verlor sich in ihrer Gedankenwelt, rief sich masochistisch das Erlebte in ihrem Traum in Erinnerung. Das beängstigende Flüstern in der Dunkelheit, dass sie manchmal auch am Tag zu hören glaubte, die kalten, roten Augen, die sie aus jeder Richtung beobachteten, seine sanften, aber zerstörerischen Hände, die ihr, egal wo er sie berührte, ein wenig ihrer Lebensenergie zu entziehen schien, die unheimliche Angst, die er in ihrem Innersten verbreitete und das Wissen, vor allem aber das schlechte Gewissen, dass sie diejenige war, die ihn stärker machte.   „Er liebt dich nicht … genauso wenig wie ich dich geliebt habe … wie könnte er dich lieben … du bist eine Blutsverräterin … du bist arm … du hast nichts zu bieten … klein und schwach … so schwach …“   Das leise Wimmern kam über ihre Lippen, noch bevor sie es verhindern konnte.   „Er gehört zu mir … das weißt du … tief in deinem Inneren weißt du es … du willst ihn beschützen … aber das kannst du nicht … genauso wenig, wie du deinen Bruder beschützen konntest …“   „Und er weiß immer alles“, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. „Er weiß alles! Er wusste das mit Percy und er wusste das mit dir. Und die ... die Drachen“, flüsterte sie und während sie die Worte sprach kam ihr die Erkenntnis. Sie befreite sich aus seiner Umarmung, um ihn mit großen Augen ansehen zu können. Wie hatte sie diesen Traum nur vergessen können? „Ich habe von einem Drachen geträumt. Er hat mich verbrannt. Und du …“ Anklagend zog sie die Augenbrauen zusammen und betrachtete ihn, als wäre er plötzlich ihr Feind. „Du warst auch da.“ Für einen Moment verschmolzen Traum und Realität. Das Gefühl von Verrat keimte in ihr auf, denn er hatte sie nicht vor Tom beschützt, sondern ihren Zauberstab zerbrochen und ihr somit die Macht genommen, sich zu wehren.   Dracos Miene blieb unbewegt. Schon beinahe bewundernd fragte er: „Kannst du dich immer so gut an deine Träume erinnern?“ Diese Frage brachte sie dazu empört nach Luft zu schnappen. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“ Alles hatte sie darauf erwartet, aber nicht das! „Hast du denn nicht richtig zugehört? Ich kann vielleicht wahrsagen“, hauchte sie, noch unschlüssig, ob sie darüber Bewunderung oder Schock empfinden sollte. „So wie Anthony.“   Seine hellen Augenbrauen zogen sich auf seiner Stirn zusammen, sodass sie sich beinahe berührten. „Anthony“, wiederholte er leicht verwirrt. „Anthony Goldstein?“   „Du glaubst mir nicht“, stellte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen frustriert fest.   „Du solltest weiterschlafen.“ Draco griff nach dem Zauberstab, der nach wie vor auf dem Nachttisch lag und vollführte aus dem rechten Handgelenk eine knappe Bewegung. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie etwas aus einer dunklen Ecke des Raumes auf sie zugeflogen kam. Gekonnt fing er das kleine Fläschchen, das aus seinem Koffer stammen musste, mit der linken Hand auf. Er hielt den Trank zwischen Daumen und Zeigefinger. „Das ist ein Traumlostrank. Ich habe nicht viel davon“, sagte er und seine grauen Augen glitten von dem Fläschchen zu ihr. „Aber ich bin bereit mit dir zu teilen.“   Einen Moment lang starrte sie erst ihn, dann den Schlaftrank und schließlich wieder ihn an. Die Frage, weshalb er solch einen Trank in seinem Besitz hatte, formte sich bereits auf ihrer Zunge, doch dann konnte sie sich diese Frage bereits selbst beantworten. Weshalb sollte ein Zauberer etwas bei sich führen, das er nicht brauchte. Es gab wohl noch so einiges, das er ihr nicht erzählt hatte. Die Erkenntnis, dass Draco selbst Probleme mit Alpträumen hatte, vertrieb den kurzen Anflug an Zorn, den sie soeben noch verspürt hatte und entließ sich in einem langen und resignierenden Seufzer. Nun fühlte sie sich nur noch unendlich müde.   Draco entkorkte den Trank und hielt ihn ihr auffordernd hin. „Nimm einen Schluck“, forderte er mit sanfter Bestimmtheit. „Er hilft. Versprochen.“   Dieses Versprechen klang zu verlockend, um abzulehnen, weshalb sich ihre Finger wie von selbst nach dem Fläschchen austreckten. Sie setzte den Traumlostrank an ihre Lippen und trank wie aufgefordert einen Schluck davon. Die Substanz war dickflüssig, schmeckte süß und bitter zugleich und hinterließ ein leicht taubes Gefühl auf ihrer Zunge. Anschließend reichte sie ihm das Fläschchen, woraufhin er es erneut verkorkte und es mit einem weiteren Schlenker seines Zauberstabs wieder zu seinem Koffer fliegen ließ. Ginny legte sich neben ihn. Während sie nach der dünnen Sommerdecke griff, um sie über sie beide zu ziehen, löschte er das Licht mit einem ungesagten Zauber und sie hörte neben sich, wie er seinen Zauberstab zurück unter sein Kopfkissen steckte. Als sie beide lagen schmiegte sie sich an Draco, lehnte mit dem Rücken gegen seine Brust. Sofort schlang er einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich, so wie er es bisher jede Nacht getan hatte, seitdem sie sich im Grimmauld Place ein Bett teilten. Ihre nackten Beine verschlangen sich miteinander. Sein Körper strahlte eine angenehme Wärme aus und seine Nähe wirkte ungemein beruhigend. Ihre Lider wurden unendlich schwer und sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis der Trank seine Wirkung zeigte.   Langsam aber sicher driftete Ginny ab in einen traumlosen Schlaf …   ***   Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Ginny in seinen Armen wieder einschlief. Im Gegensatz zu ihr konnte Draco aber keinen Schlaf mehr finden. Das Fenster ließ nicht den kleinsten Lichtstrahl erahnen, nur seine innere Uhr sagte ihm, dass es nicht mehr lange bis zum Morgengrauen dauern würde. Eine Weile lang lag er neben ihr, lauschte ihrem leisen und rhythmischen Atmen, während er versuchte ebenfalls zurück in den Schlaf zu sinken, doch seine Gedanken hielten ihn wach. Denn Ginny hatte etwas gesagt, das ihn beunruhigte.   Dass sie tatsächlich in der Lage war durch ihre Träume auf merkwürdige Weise in Form von Tom Riddle in die Zukunft sehen zu können hielt er für unwahrscheinlich. Dennoch wäre es seiner Meinung nach äußerst unklug diese Möglichkeit gänzlich abzutun. Er würde noch einmal mit ihr darüber reden, wenn sie wacher und weniger emotional aufgewühlt war. Ihn ließ das ungute Gefühl nicht los, dass vielleicht doch mehr dahinter steckte. Es gab viele verschiedene Arten von schwarzer Magie und er konnte es nicht ausschließen, dass sie eine Art unfreiwillige Verbindung zu Voldemort hatte. Was ihn wunderte, war dass es sich um die jüngere Versions Voldemorts handelte. Ihm fehlten zu viele Informationen, um auf die Lösung dieser Gleichung zu kommen. Er wusste nicht viel von dem, was Ginny in ihrem ersten Jahr in Hogwarts erlebt hatte. In der Schule hatte er nachdem Potter sie aus der Kammer befreit hatte vieles aufgeschnappt, unklar darüber, welche Aussagen davon auf Tatsachen beruhten und welche nicht. Mit ihr selbst hatte er nie darüber gesprochen. Während ihrer heimlichen Treffen in Hogwarts hatten sie selten über Privates geredet, die Unterhaltungen meist oberflächlich gehalten, um sich – zumindest nicht auf persönlicher Ebene – nicht zu nahe zu kommen. Das alles holten sie jetzt erst nach.   Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog Draco seinen Arm zurück, auch wenn er wusste, dass sie dank seines Trankes in den nächsten Stunden nichts so schnell aufwecken würde. Dennoch bemühte er sich möglichst leise und unauffällig aus dem Bett zu steigen. Mit seinem Zauberstab erleuchtete er den Raum, indem er eine kleine Lichtkugel an die Zimmerdecke schweben ließ. Dann suchte er nach seiner Kleidung, um sich anzuziehen. Er wollte sie nicht beim Schlafen stören. In diesem Haus würde er sicher einen anderen Raum finden, in dem er seinen Gedanken nachhängen konnte. Draco hoffte, dass die anderen noch schliefen – der Grimmauld Place war viel zu voll für seinen Geschmack, egal wo er hin ging, die Wahrscheinlichkeit ungestört zu sein war äußerst gering. Und für den Fall, dass er jemandem begegnete, wollte er ordentlich aussehen. Ginny war die einzige, die ihn so leger zu Gesicht bekam.   Während er in eine schwarze Hose schlüpfte und sich Socken überzog betrachtete er die schlafende Gestalt im Bett. Sie sah friedlich aus, wie sie da lag, und er hoffte, dass sie wenigstens einige Stunden erholsamen Schlaf finden konnte. Er wusste aus erster Hand, wie zehrend Alpträume sein konnten. Am liebsten hätte er sich wieder neben sie gelegt und sie in seine Arme gezogen, wollte für sie da sein, für den Fall, dass sie wegen eines Alptraums aufwachte, doch er vertraute auf seine Braukünste.   Er griff nach dem schwarzen Hemd, das über der Stuhllehne hing, und zog es über das weiße Shirt, das er zum Schlafen trug. Mit den Fingern kämmte er sich durch das Haar, das schon wieder viel zu lang geworden war, um es ein wenig zu bändigen. Bevor er ging warf er noch einen Blick zu Ginny. Für ihn war es neu, sich mit ihr ein Zimmer zu teilen. Als Einzelkind hatte er in Malfoy Manor ein riesiges Zimmer für sich allein gehabt. Aus seiner Zeit in Hogwarts kannte er es, wie es war, mit jemand anderem in einem Raum zu schlafen. Nur waren das vier pubertierende Jungs gewesen und auf das grunzende Schnarchen von Crabbe hätte er auch gut und gerne verzichten können. Jetzt teilte er sich nicht nur ein Zimmer, sondern auch ein Bett mit einem Mädchen, oder besser gesagt einer jungen Frau, denn Ginny war nun ebenfalls volljährig. Draco musste aber zugeben, dass er sich ziemlich schnell daran gewöhnt hatte mit ihr einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Ihre Anwesenheit in diesem Bett sorgte dafür, dass er gelegentlich gar nicht mehr aufstehen wollte. Manchmal lagen sie einfach nur Merlin weiß wie lange im Bett, Arm in Arm, ohne ein Wort zu sagen, nur die Nähe des anderen genießend. Dann wiederum gab es Stunden, in denen sie nur redeten, über alles, was ihnen in den Sinn kam, meist über die Vergangenheit, die Zeit in Hogwarts und gar darüber hinaus, hin und wieder aber auch über die Zukunft, und sich währenddessen zaghaft immer besser kennenlernten.   Und dann wiederum gab es diese Momente in diesem Bett, die er am liebsten mochte, meistens in der Nacht, aber manchmal auch am Tage, in denen sie ihre Körper miteinander sprechen ließen, alles andere um sich herum ausschalteten und nur noch ihre Gefühle für einander wahrnahmen.   Bei Merlin, er vergötterte sie. Und er würde nie im Leben zulassen, dass ihr etwas geschah.   „Nox“, murmelte er leise und die Lichtkugel verschwand blitzschnell in der Spitze seines Zauberstabs, den er am Hosenbund hinter seinen Gürtel klemmte. Die Tür leise schließend verließ er das Zimmer und betrat den schmalen Flur. Gedämpft hörte er ein entferntes Schnarchen, das das gesamte Stockwerk sanft vibrieren ließ und das er zweifellos Hagrid zuordnen konnte. Im unteren Stockwerk brannte Licht, dass durch das Treppenhaus zu ihm hinaufdrang. Auf leisen Sohlen ging er an den Zimmern von Bill und Fleur vorbei, sowie an dem von Lupin und dieser Gestaltwechslerin, deren Namen er sich einfach nicht merken konnte. Dass er mit ihr verwandt sein sollte hatte er vehement abgestritten, solange bis Ginny ihm mit einem neckischen Grinsen im ersten Stock den Familienstammbaum der Familie Black gezeigt hatte.   Seine Füße trugen ihn die Treppe hinab, an der Küche vorbei, in Richtung des großen Salons. Dies war der gemütlichste Raum, vor allem seitdem der Hauself – dessen Namen er sich ebenfalls nicht merken wollte – sich die Mühe gab das Haus gründlich auf Vordermann zu bringen. Seitdem Draco in diesem Anwesen wohnte nahm der seinen Job sehr ernst.   Allein das brennende Licht war schon ein Hinweis darauf gewesen, dass Draco nicht der einzige war, der nicht schlafen konnte. Noch bevor er den Salon betrat hörte er leise Stimmen. Aber wohin sollte er sonst? Dieses Haus besaß dutzende Zimmer, doch in den meisten von ihnen schlief jemand, in die Küche wollte er nicht und nachdem ihm Ginny erzählt hatte, dass Bill in einem der oberen Zimmer angeblich einen Letifold unter dem Bett entdeckt hatte riss er sich nun auch nicht geradezu darum derjenige zu sein, der weitere ungebetene Gäste in unergründeten Zimmern aufspürte.   Draco betrat den Salon und sofort zogen sich seine Mundwinkel unweigerlich nach unten, als er in Potters krötengrüne Augen blickte. Der Brillenträger hatte mitten im Satz aufgehört zu sprechen und sah Draco mit der gleichen Unbehaglichkeit an. Charlie, der neben ihm saß, war der Grund, weshalb Draco sich nicht sofort wieder umdrehte und ging. Der Rotschopf grinste und begrüßte ihn mit einem „Guten Morgen. Frühaufsteher?“   Draco verzog das Gesicht und machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge, was deutlich machen sollte, was er davon hielt, dass manche Menschen freiwillig schon so früh aufstanden, und setzte sich dann am langen Tisch Charlie gegenüber. Er fragte sich, weshalb diese beiden bereits wach waren. Den dunklen Schatten unter Potters Augen nach zu urteilen schien er diese Nacht gar nicht geschlafen zu haben. Der Gryffindor seufzte müde, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Draco erwartete bei diesem Anblick, dass er jeden Moment einschlief. Als er Charlies Blick begegnete sahen seine braunen Augen ihn nach wie vor an.   „Ich habe gehört du bist ein Animagus“, begann der Weasley und unterbrach somit die aufkommende Stille, noch ehe sie unangenehm werden konnte.   Draco kam nicht umhin zu bemerken, dass sie das Thema, das sie vorher besprochen hatten, offenbar nicht vor ihm weiterführen wollten. Und Charlies Frage gehörte ebenfalls zu den Themen, über die er viel lieber schwieg. Deshalb entgegnete er bloß: „Deine Schwester redet zu viel.“   Charlie zuckte mit den Schultern. „Ist doch cool. Mal unter uns. Das wünscht sich doch jeder. Oder etwa nicht?“ Schon beinahe fasziniert lehnte er sich nach vorne und stützte das Kinn auf seiner Faust ab, den Ellenbogen auf den Tisch gelehnt. „Aber müssen die nicht registriert sein?“   „In was kannst du dich denn verwandeln, Malfoy?“, fragte Potter ohne die Augen zu öffnen, bevor Draco auf Charlies Frage antworten konnte. „In eine Kakerlake?“   Draco schnaubte halb belustigt, halb beleidigt. „Verwechsel mich nicht mit der Kimmkorn.“   „Die war ein Käfer“, kam es müde belehrend zurück, als hätte er es wissen müssen. Hätte er auch vielleicht, immerhin hatte er sie in ihrer Animagusform in seinem vierten Schuljahr oft genug in seiner Hand gehalten.   Draco rollte jedoch bloß mit den Augen. „Ist doch alles das gleiche.“   Charlie blickte zu Potter, sodass sein langer roter Zopf über seine Schulter fiel. „Er ist ein Rabe“, offenbarte er ohne Dracos Genehmigung. „Muss klasse sein, ohne Hilfsmittel fliegen zu können. Jetzt brauchst du weder Besen noch Drachen.“   Das erlangte dann doch Potters Aufmerksamkeit. Ruckartig öffneten sich seine Augen und starrten Draco an. „Rabe? Sagtest du gerade Rabe?“   Seine Reaktion verwirrte Draco. Potter saß plötzlich kerzengerade auf seinem Stuhl. Von diesen bohrenden grünen Augen fühlte er sich angegriffen und das rief bei ihm das Bedürfnis hervor sich wehren zu wollen. Sein Blick verdunkelte sich. „Problem damit?“   Potter beugte sich über den Tisch und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Er sagte nur ein Wort: „Schutz.“   Draco wechselte einen Blick mit Charlie, der ebenso verwirrt drein blickte, wie er sich fühlte. „Bitte sprich in ganzen Sätzen, Potter“, schnarrte er. „Ich habe sonst das Gefühl, ich unterhalte mich mit Goyle.“ Und zu Charlie gelehnt raunte er: „Ich vermute es liegt daran, dass die Muggel, die ihn aufgezogen haben, ihn als Säugling zu oft auf den Kopf fallen gelassen haben.“   Falls Potter seinen letzten Satz gehört hatte ließ er es sich nicht anmerken. Unbeirrt fuhr er fort: „Erinnerst du dich an den Tag, als wir in Trelawneys Unterricht die Karten gezogen haben?“   Dracos hämisches Grinsen verblasste langsam auf seinem Gesicht.   Potter wandte sich an Charlie. „Du kennst doch sicherlich noch Sybill Trelawney?“, fragte er, woraufhin er von Charlie ein knappes Nicken erhielt. „Es war irgendwann im letzten Schuljahr im Wahrsageunterricht. Ist jetzt vielleicht ein Jahr her. Wir sollten Karten ziehen und mit ihnen in die Zukunft sehen. Und ich weiß noch ganz genau, dass du den Raben gezogen hast.“   Dies bezeugte wieder einmal, dass sein Erzfeind ihn immer genau im Auge behielt. Draco zuckte mit den Schultern. „Na und?“ Er versuchte so unbeeindruckt wie möglich zu wirken. Aber er konnte sich noch genau daran erinnern, wie aufgewühlt er selbst damals gewesen war, als er auf das Abbild des Raben geblickt hatte, die Karte, die ihm seine Großmutter immer gezeigt hatte.   „Eines Tages wirst du frei sein. Und du wirst die Welt von oben betrachten und feststellen, dass Freiheit das wichtigste ist, worauf ein Mensch hoffen kann.“   War es das, was sie all die Jahre über gesehen hatte? Wie er auf dem Rücken des Opalauges das Hauptquartier des Dunklen Lords verlassen und sich von seinem Meister abwenden würde? Hatte sie ihn deshalb jahrelang daraufhin vorbereitet, ihm vom Mondstein und dem Dolch der Macht erzählt?   „Meinst du etwa, das war Zufall?“, fragte Potter ungläubig. „Wieso verwandelst du dich ausgerechnet in einen Raben? Das kommt mir schon sehr merkwürdig vor.“ Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust und musterte ihn kritisch. „Im Lehrbuch stand, dass der Rabe für Schutz steht und ausgerechnet du erzählst uns vor kurzem, dass du den mächtigsten Schutzgegenstand der Welt gefunden hast und dann“ – er lachte trocken auf – „gibst du ihn Ginny?“ Hinter seinen dicken Brillengläsern kniff er seine Augen zusammen. „Weil … du sie beschützen willst“, schlussfolgerte er, doch so wie er es sagte schien ihm der Geschmack seiner eigenen Worte nicht zu schmecken.   Aus dem Augenwinkel sah Draco, wie Charlie ihn anstarrte. „Es sind bloß Karten, Potter, reg dich ab. Bei Trelawney ist noch nie etwas Brauchbares bei rausgekommen.“ Er fühlte sich, als müsse er sich für etwas rechtfertigen, obwohl Potter gerade mit seiner eigenen erstaunlichen Schlussfolgerung zugegeben hatte, dass sie Draco vertrauen konnten. „Was war eigentlich auf deiner Karte abgebildet, hm?“   Charlies Blick wanderte interessiert zu Potter. Der seufzte und blickte nach oben an die Zimmerdecke. „Sie war leer.“   „Leer?“, fragte Charlie verdutzt. „Wie, leer?“   Potter zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Es war nichts drauf. Die Karte war weiß.“   „Das passt, findet ihr nicht?“ Alle Köpfe drehten sich nun zur Tür, die halb geöffnet war. Gegen den Türrahmen gelehnt stand Granger, wer weiß schon wie lange, eine Hand auf ihren runden Bauch gelegt und mit einem wissenden Lächeln im Gesicht. „Darf ich mich zu euch setzen?“   Potter und Charlie bejahten sofort, nur Draco drehte sich wieder um, ohne ein Wort zu sagen. Er konnte ja schlecht nein sagen, oder?   Granger setzte sich schwerfällig neben Harry. Ihr Gang glich inzwischen beinahe einem Watscheln. Bei dem Gewicht, dass sie nun zusätzlich mit sich herumschleppte auch kein Wunder. Liebevoll streichelte sie ihren Bauch, der ihr langes, rosa Nachthemd um die Mitte herum zum Spannen brachte. „Die Kleine lässt mich nicht schlafen“, murmelte sie lächelnd.   „Hermine denkt, dass es ein Mädchen wird“, erklärte Charlie ihm, obwohl Draco gar nichts gefragt hatte. Der wiederum kämpfte gegen den Impuls an, einfach aufzustehen und diesen Raum schnellstmöglich wieder zu verlassen. Granger war schon unausstehlich, aber eine schwangere Granger – das hielt selbst der beste Reinblüter nicht aus. Der Aufenthalt beim Phönixorden hatte auch etwas Gutes an sich: Er konnte seine Selbstdisziplin trainieren.   „Ich denke es nicht, Charles, ich weiß es“, entgegnete Granger auf ihre eingebildete Art.   Potter sah sie fragend an. „Wie meinst du das, es passt?“   Granger schenkte ihm diesen Blick, den sie jedes Mal aufsetzte, wenn die Antwort auf eine Frage so einfach war, aber niemand außer ihr in der Klasse darauf zu kommen schien. „Ihr habt mir damals erzählt, was im Unterricht geschehen ist. Du sagtest, Trelawney hätte bei dir nichts sehen können. Kein Wunder.“ Sie kicherte leicht. „Immerhin warst du doch mit Dumbledore für längere Zeit untergetaucht.“   Potters Mund formte sich zu einem stummen O. Er räusperte sich. „Du hast recht. Das macht tatsächlich Sinn.“   „Wenn ich mich richtig erinnere“, fuhr Granger fort, „hatte Ron–“   „Das Baby“, hauchte Harry.   Granger nickte. „Er muss große Verantwortung übernehmen. Genau.“   Für einige Sekunden war es still, während sie die gewonnen Erkenntnisse verarbeiteten, ehe sich Potters Gesicht verzog. Er sah aus, als hätte er in etwas Saures gebissen. „Es passt wirklich. Alles.“ Er schluckte hörbar. „Ich weiß nicht mehr, welche Karte Neville gezogen hat, aber ich weiß noch … Wir waren alle schockiert, als Trelawney darüber sprach, dass er mit seiner Familie vereint sein würde, weil … Naja, ihr wisst schon. Das hielten wir alle für ausgeschlossen, weil sie schließlich im St. Mungo’s liegen.“ Seine Schultern sackten zusammen und er wirkte, als würde er eine schwere Last mit sich tragen. Granger legte ihre Hand auf seine, drückte sie sanft, sagte aber nichts.   Draco fühlte sich mehr als unwohl in seiner Haut. Wenn sie jetzt so darüber sprachen schien sich alles bewahrheitet zu haben. Das war ein merkwürdig beängstigendes Gefühl. Wenn man das damals gewusst hätte, wenn Trelawney wirklich gesehen hatte, wie Longbottoms Schicksal aussah, hätte man es dann nicht verhindern können? Hatte sie vielleicht noch etwas gesehen, etwas viel Wichtigeres? Draco hielt es nicht für wahrscheinlich, denn bis zu diesem Tag hatte jeder die Professorin für Wahrsagen für eine untaugliche Stümperin gehalten.   Pansy hatte gemeinsam mit ihm diesen Kurs belegt. Er versuchte sich daran zu erinnern, welche Karte sie gezogen hatte, um einen Rückschluss ziehen zu können, ob ihre Karte ebenfalls einen kleinen Blick in ihre Zukunft gezeigt hatte. Wenn er an Wahrsagen dachte, sah er immer Pansy vor sich, wie sie ihr Kissen nahe neben seins schob, oder wie sie ihm in ihrem dritten Schuljahr stolz mithilfe ihrer Kristallkugel prophezeit hatte, dass sie beide einmal heiraten würden. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, das schnell wieder verschwand. Aber an ihre Karte konnte er sich nicht mehr erinnern …   „Das heißt“, meinte Charlie schließlich, als die erdrückende Stille im Raum kaum noch auszuhalten war, „der wandelnde Schalträger hat es tatsächlich geschafft die Zukunft vorherzusagen?“   „Nein!“ – „Ja!“, sagten Granger und Potter gleichzeitig.   Eine weitere Stimme spukte Draco im Kopf herum.   „Ich kann vielleicht wahrsagen.“   Draco rieb sich resignierend über die Augen. All diese Informationen musste er so früh am Morgen erst einmal verarbeiten. Er verzog das Gesicht. Waren jetzt etwa alle in der Lage in die Zukunft zu sehen?   „So wie Anthony.“   „Wo wir gerade bei dem Thema sind“, begann Draco langsam und richtete seinen Blick auf zwei Drittel des Goldenen Trios. „Habt ihr in letzter Zeit etwas von Anthony Goldstein gehört?“   Granger und Potter wechselten einen Blick.   „Wieso fragst du?“, wollte Potter eine Spur zu unauffällig wissen.   Draco verengte die Augen. Was verschwiegen sie ihm? „Auf diese unnötigen Spielchen habe ich keine Lust. Ich gehöre jetzt zu euch.“ Stolz reckte er das Kinn, sah nun von oben auf Potter herab. „Ich habe ein Recht darauf es zu erfahren.“   „Sag du es ihm“, meinte Granger mit einer halbherzigen Handbewegung. „Du hast mit Goldstein geredet. Ich gehe und hole uns Tee. Uff, wenn ich es schaffe aufzustehen.“ Schwerfällig ächzend erhob sie sich aus ihrem Stuhl. „Das ist gar nicht mehr so leicht“, murmelte sie, während sie den Salon durchquerte und die Tür öffnete. „Oh, hallo Remus.“   Draco hörte wie besagter Professor etwas zur Erwiderung nuschelte. Beim Klang der gebrochenen Stimme drehte er sich gegen seinen Willen um. Lupin sah furchtbar aus. Noch furchtbarer als sonst. Mit hängendem Kopf, eingefallenen Wangen und einem geplagten Blick schlürfte er mehr als dass er ging in Richtung des Kamins. Er schenkte ihnen ein entschuldigendes Lächeln, das eher an eine Grimasse erinnerte, dann ließ er sich in einen gepolsterten Sessel fallen und entzündete mithilfe seines Zauberstabs ein Feuer. Regungslos starrte er in den Kamin.   Das Knacken des verbrennenden Holzes war mehrere Momente lang das einzige, das man im Salon hören konnte.   Draco wandte seinen Blick wieder ab. Anscheinend war bald Vollmond. Potter und Charlie blickten besorgt in die Richtung des Werwolfs, aber Draco verspürte kein Mitleid.   „Du wolltest gerade etwas erzählen“, riss Draco ihn unsanft aus seinen Gedanken. Potter zuckte zusammen und sah ihn dann überrascht an, als hätte er vollkommen vergessen, dass er auch noch da war.   „Hm? Ach ja richtig.“ Nachdenklich kratzte sich Potter am Hinterkopf, doch da ging schon wieder die Tür auf und Granger kam herein. Neben ihr schwebte ein Tablett mit einer Kanne sowie mehreren Tassen. Während sie ich auf ihrem Platz neben Potter fallen ließ füllte die Kanne nacheinander die Tassen, die sich daraufhin verteilten. Eine flog zu Remus, die ihn solange an der Schulter anstupste, bis er sie ergriff, aber nicht daraus trank. Eine Tasse landete sanft vor Draco auf dem Tisch. Einen Moment lang starrte er auf den dampfenden Inhalt herab.   Die Ader an Dracos Schläfe begann heftig zu pulsieren, während er dabei zusah, wie Potter gemütlich an seinem Tee nippte und sich dabei auch noch Zeit ließ. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er hervor: „Das macht dir, Spaß, was?“   Potter hob unschuldig den Blick. „Dich warten zu lassen? Oh, ja.“ Und an seine Sitznachbarin gewandt sagte er: „Der Tee ist köstlich, Hermine, vielen Dank.“   Diese winkte bescheiden ab. „Ach, nicht der Rede wert.“   Charlie hielt sich eine Hand vor den Mund, doch er konnte das breite Grinsen dahinter nicht verstecken. Draco platzte beinahe vor Wut.   Das schien auch Potter zu bemerken, denn der räusperte sich schnell und fing endlich an zu erzählen. „Hm, wo fange ich an ...“ Einen Moment lang überlegte er. Dann: „Goldstein hat uns vor dem Angriff auf den Minister der Muggel gewarnt. Wir konnten seinen Tod sowie weitere Schäden verhindern. Ich glaube du weißt, welchen Angriff ich meine.“   Einige Sekunden lang blickte Draco ihn an, dann lehnte er sich langsam in seinem Stuhl zurück. „Sicher“, entgegnete er bar jeder Emotion. „Der Angriff in London.“ Sein Verstand arbeitete immer noch auf Hochtouren, um diese Information zu verarbeiten. Diese Aktion war lange und gut geplant gewesen. Das Einmischen der Widerständler hatte nicht nur die Mission verhindert, sondern den Todessern auch noch erheblichen Schaden zugefügt. Nott war mit seiner Narbe im Gesicht noch am besten von ihnen davongekommen.   Lange hatten sie sich gefragt, wie es dem Orden des Phönix gelungen war so schnell am Ort des Geschehens aufzutauchen. Man hatte sogar vermutet, es gäbe einen Spion unter ihren Reihen.   „Woher wusste er es?“, fragte Draco, immer noch nicht ganz überzeugt. Solange er sich erinnern konnte hatte der Ravenclaw noch nie in die Zukunft sehen können. Während ihrer ersten Stunde bei Professor Trelawney hatte er noch großprotzig angegeben, dass seine Familie dafür berühmt war Wahrsager hervorzubringen, doch es hatte sich ziemlich schnell herausgestellt, dass der jüngste Sprössling der Goldsteins nicht über diese Fähigkeit verfügte. Worüber Draco sich jahrelang lustig gemacht hatte.   Ahnungslos zuckte Potter die Achseln. „Keine Ahnung. Er hat wohl das Innere Auge.“ Nachdenklich warf er einen Blick in Lupins Richtung, der immer noch seine unangerührte Tasse Tee in den Händen hielt. „Soweit ich weiß hat er Ginny und die anderen gewarnt, ohne zu sagen, woher er diese Informationen hat. Erst mir gegenüber hat er verraten, dass er selbst derjenige war, der es, naja, gesehen hat. Ich weiß, klingt komisch, nicht wahr?“ Er grinste, aber es erreichte seine müden Augen nicht. Dann zuckte er abermals mit den Achseln. „Letztendlich ist es auch egal. Wir können froh sein, dass er sich an uns gewendet hat. Dadurch wurden viele Leben gerettet.“   Dass allerdings als Konsequenz daraufhin beschlossen wurde sich mit einem gewaltigen Gegenschlag gegen die Widerständler zu wehren und Voldemort die Todesser damit beauftragt hatte zehn Städte gleichzeitig anzugreifen, sodass sie unmöglich in der Lage waren die Muggel auch diesmal zu beschützen, behielt Draco lieber für sich.   Das hatte Ginny also gemeint. Wirklich interessant. So jemanden in den eigenen Reihen zu wissen war wirklich von Vorteil und von strategisch hohem Wert. Ihm fielen daraufhin ein Dutzend Fragen ein und er stellte die erste, die ihm in den Sinn kam: „Hat er noch etwas gesehen?“   Potter brach den Blickkontakt und rutschte unbehaglich auf seinem Sitz umher. „Eh, ja, er hat mich gewarnt.“   „Gewarnt?“, wiederholte Draco skeptisch.   Potter nickte, immer noch ohne ihm in die Augen zu sehen. Er holte einmal tief Luft und stieß sie ganz langsam wieder aus. „Jap, er hat mich vor Ginny gewarnt. Offenbar hat Goldstein euch zusammen in einer Vision gesehen und daraufhin geschlussfolgert, dass sie uns verrät und die Seiten wechselt.“   „Das war ja auch das Naheliegendste“, meinte Granger daraufhin. „Niemand von uns hätte vermutet, dass es andersrum sein könnte.“   Auf einmal ertönte eine gedämpfte, aber unüberhörbar aufgeregte Stimme, die Draco nicht zuordnen konnte. „Harry? Harry, mein Lieber, bist du da?“ Nun hob sogar Lupin alarmiert den Kopf.   Potter griff in seine Hosentasche und holte etwas an einer langen, goldenen Kette hervor. Offenbar handelte es sich dabei um ein Amulett, aber Draco war sich nicht mehr so sicher, als Potter anfing damit zu sprechen.   „Ignatia? Ich bin da“, sagte Harry zu dem Ding in seiner Hand. „Hast du eine Nachricht von Cho?“   Draco lehnte sich über den Tisch in Charlies Richtung. „Wieso spricht Potter mit einem Amulett?“ Offenbar hatten die Muggel ihn tatsächlich einmal zu oft fallen gelassen.   Charlie antwortete ihm, blickte aber, ebenso wie Potter und Granger, gebannt auf das unscheinbare Schmuckstück. „Er kommuniziert mit seiner Freundin über ein Porträt.“   Verblüfft starrte er in die Richtung seines Erzrivalen.   Seiner was?   „Die habe ich“, sagte die weibliche Stimme aus dem Porträt, die offenbar einer Frau namens Ignatia gehörte. Irgendwie kam Draco dieser Name bekannt vor. „Aber ich fürchte, es sind keine guten. Scrimgeour und die anderen konnten einige Todesser über die Landesgrenzen hinaus verfolgen. Offenbar waren sie auf der Suche nach Gellert Grindelwald. In Nurmengard kam es zu einem Kampf. Es …“ Sie schluckte kurz und ihre Stimme klang belegt, als sie weitersprach. „Es gab Opfer. Auf beiden Seiten.“   „Wer?“, fragte Potter, deutlich angespannt.   „Scrimgeour und Clearwater. Einige andere wurden verletzt. Ich soll fragen, ob Lupin sich auf dem Weg zum Geheimversteck C machen kann. Seine Hilfe wird dringend benötigt. Poppy schafft das nicht allein.“   Lupin richtete sich langsam auf. „Ich mache mich sofort auf den Weg“, sagte er leise, aber entschlossen. Beim Verlassen des Raumes stellte er die unangerührte Tasse Tee auf den Tisch. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort.   „Und die andere Seite?“, fragte Potter und Draco bemerkte, wie er ihn bei dieser Frage fixierte. Vielleicht wollte er seine Reaktion testen.   „Es gab ebenfalls zwei Tote“, antwortete Ignatia. „Einer von ihnen war ohne Zweifel Rabastan Lestrange. Scrimgeour konnte ihn erledigen, bevor er getötet wurde. Den anderen Namen habe ich nicht ganz verstanden. Bentley, oder so ähnlich.“   „Bletchley“, verbesserte Draco sofort. Dann war Miles offenbar tot. Draco wusste nicht, ob er sich schuldig fühlen sollte, denn das einzige, das er bei Erwähnung dieses Namens empfand, war Erleichterung. Erleichterung darüber, dass es nicht der Name seines Vaters war.   „Du hattest recht. Was Grindelwald betrifft“, sagte Hermine an Draco gewandt.   Ernst erwiderte er ihren Blick, während er versuchte sich nicht wie ein gemeiner Verräter zu fühlen, da er die geheimen Pläne seiner ehemaligen Kameraden ohne mit der Wimper zu zucken verraten hatte. „Sagte ich doch. Voldemort sucht Verbündete im Ausland. Starke Verbündete.“   Bereits bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Orden, kurz nach seiner Aufnahme, hatte er ihnen alles erzählt, was er wusste. Projekt Spinnennetz hatte dazu gedient das Ministerium zu infiltrieren, Projekt Schlange bestand darin dass die Slytherins Hogwarts stürzten, Projekt Opalauge war einzig und allein ihm in die Hände gelegt, um die Drachen auszubilden. Nun startete Projekt Ragnarök, mit dem Ziel nicht nur England, sondern die komplette Welt mithilfe von Verbündeten zu unterwerfen.   Seine erste Handlung als Rebell war somit geglückt und er hatte dem Orden geholfen. Das Gefühl der Zufriedenheit blieb allerdings aus und wenn er in die Gesichter der anderen blickte konnte er sehen, dass es ihnen ähnlich erging.   „Wo ist Grindelwald jetzt“, fragte Harry in sein Amulett.   „Er sitzt nach wie vor im Gefängnis“, antwortete Ignatia. „Aber es ist nicht auszuschließen, dass die Todesser erneut versuchen ihn zu befreien. Minerva ist noch in Österreich und versucht beim Parlament den Erlass zu bewirken, dass die Wachen in Nurmengard verdoppelt werden. Außerdem versucht sie die Behörden auf unsere Seite zu bringen, bevor er, dessen Name nicht genannt werden darf, ihr zuvorkommt. Minerva wird auf ihrem Rückweg bei euch vorbeischauen und euch Bericht erstatten.“   „In Ordnung.“ Potter fuhr sich durch das verstrubbelte Haar. „Ich werde den anderen davon berichten, sobald sie wach sind. Am besten halten wir heute Abend eine Besprechung ein. Cho soll bitte alle informieren. Ort und Zeit wie immer.“   „Verstanden.“   „Und grüße Cho bitte von mir.“ Potter beherrschte sich um einen beiläufigen Ton, doch seine Wangen färbten sich unübersehbar rot.   „Natürlich, Harry. Pass auf dich auf, mein Junge.“   Eine Weile lang starrte Potter noch auf das Amulett, offensichtlich in Gedanken, bis er es zuklappte und wieder in seine Hosentasche steckte. „Ich geh ins Bett. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf, bis ich den anderen sage, dass schon wieder jemand gestorben ist.“   Er stand auf, doch Granger hielt ihn behutsam am Arm fest. „Das musst doch nicht du machen“, sagte sie sanft. „Das kann auch jemand anderes übernehmen.“   Draco beobachtete die beiden, fühlte sich wie ein Eindringling. Die beiden Namen der Toten bedeutetem ihm nichts. Im Gegensatz zu ihnen. Sie hatten Kameraden verloren. Er wusste nicht, wie nahe sie sich gestanden hatten, konnte ihren Reaktionen nach lediglich vermuten. Rabastan Lestrange war mit ihm nicht blutsverwandt gewesen, aber als Schwager seiner Tante Bellatrix hatte er immer irgendwie zur Familie gehört. Dennoch löste das Wissen über seinen Tod nicht das geringste Gefühl bei ihm aus.   Potter verschwand aus dem Salon. Granger starrte noch lange auf die geschlossene Tür, ehe sie nach dem Henkel ihrer Tasse griff und einen Schluck daraus nahm. Dabei sah sie über den Tassenrand zu Draco.   „Kanntest du Bletchley gut?“, fragte sie. „Ich meine mich zu erinnern, dass ihr im selben Quidditchteam wart.“   Draco erwiderte ihren Blick. Das war wohl das erste Mal, dass sie eine vernünftige Unterhaltung miteinander führten. Was sollte er darauf antworten? Die Wahrheit? Mit Bletchley hatte er jahrelang Quidditch gespielt. Sie waren im gleichen Team und im selben Haus gewesen, und doch war ihm diese Person völlig fremd.   Abwesend nickte er. „Er war Hüter“, stimmte er ihr zu.   Er war dabei, als Blaise starb, ging es ihm durch den Kopf. Hatte Bletchley irgendetwas getan, um Blaise zu beschützen oder stumm seine Befehle ausgeführt? War er am Ende derjenige gewesen, der seinen Zauberstab auf Blaise gerichtet hatte? Dracos Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten, während er sich diese Fragen stellte.   Granger legte den Kopf schief und wartete darauf, dass Draco weitersprach, aber er blieb stumm. Sein Mund war plötzlich ganz trocken. Falls Bletchley verantwortlich war für den Tod von Blaise hatte er nichts anderes als das gleiche Schicksal verdient.   Draco riss sich wieder zusammen, bevor sie ihm sein spontanes Gefühlschaos noch anmerken konnten. Den gleichgültigen Gesichtsausdruck beherrschte er von Kindesalter an. Der musternde Blick von Charlie entging ihm jedoch nicht.   „Sag mal, Draco“, begann der Rothaarige, während er mit dem Löffel in seiner Tasse rührte. „Du kennst nicht zufällig noch jemanden aus Slytherin, der sich unserer Sache anschließen würde?“ Er lächelte leicht. „Wie du weißt gibt es in unserem Orden bisher erst einen aus deinem Haus. Das Gewicht ist etwas ungerecht verteilt, findest du nicht auch?“   Granger sah ihn daraufhin skeptisch an, als wäre diese Frage jenseits des Möglichen. Und eigentlich hätte er ihr da sofort zugestimmt. All diejenigen, die sich geweigert hatten, sich Voldemort anzuschließen, waren während der Schlacht in Hogwarts von Snape ermordet worden.   Doch dann tauchte ein Gesicht vor seinem inneren Auge auf.   Während er antworte fixierte er Granger, um den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht nicht zu verpassen. „Ja“, sagte er nachdenklich. „Ich glaube, es gibt da tatsächlich jemanden.“   ***   Wenig später machte er sich ebenfalls auf den Weg zurück in sein Schlafzimmer. Bald schon würden die anderen aufwachen und im Salon einkehren, dem allgemeinem Sammelplatz des Hauses. Draco wollte erst einmal ein wenig Zeit für sich und die neuen Informationen verarbeiten. Noch dazu kehrte die Müdigkeit allmählich zurück. Vielleicht würde er doch noch ein wenig Schlaf finden, bevor der Tag anbrach. Aus einem Fenster konnte man bereits die ersten Sonnenstrahlen sehen.   Müde und erschöpft ging er den Flur entlang und die Treppe hinauf. Im ersten Stock erlangte etwas seine Aufmerksamkeit. Als er vorhin an dieser Tür vorbeigegangen war, war sie noch verschlossen gewesen. Nun stand sie offen. Auch wenn er sich in diesem Haus noch nicht gut genug auskannte wusste er genau, zu welchem Raum diese Tür führte. Ginny hatte ihn ihm erst einen Tag zuvor gezeigt. Sein Blick hing allerdings an der Person, die einsam und reglos in dem großen Zimmer stand und an die Wand starrte, direkt in das runde, ausgebrannte Loch, das jemand in den teuren Wandteppich gebrannt hatte. Unzählige Äste erstreckten sich über die Wände, statt Blätter trug dieser Baum Namen in geschwungener filigraner Schrift. Draco wusste, dass auch sein Name an dieser Wand hing. Und er wusste auch, welche Name einst dort gestanden hatte, an dem sich nun der schwarze Brandfleck befand.   Dann erkannte er, dass Black nicht auf den Brandfleck starrte, sondern auf den Namen direkt daneben.   Black schien so sehr in Gedanken zu sein, dass er nicht einmal bemerkte, dass jemand im Türrahmen stand und ihn beobachtete. Draco fragte sich, was ihm wohl durch den Kopf ging und wie das Verhältnis der beiden Brüder gewesen sein mochte, als Regulus noch lebte. Er selbst hatte nie Geschwister gehabt und konnte nicht nachvollziehen, wie sich Ginny oder Black gefühlt haben mussten, als ihre Brüder starben.   Vielleicht so ähnlich, wie Draco, als er seine besten Freunde verlor.   Ob Black die Wahrheit über seinen Brüder kannte? Dass er sich dazu entscheiden hatte nicht für, sondern gegen Lord Voldemort zu kämpfen? Dass er aber letztendlich gescheitert war?   „Ich mochte ihn sehr“, drang die längst verstummte Stimme von Druella Black an sein Ohr. „Draco erinnert mich an ihn.“   Für einen Moment überlegte er zu Black zu gehen, und ihm zu sagen, was er über Regulus wusste. Vielleicht würde ihm das ein wenig seines Kummers nehmen.   Aber Draco drehte sich um und ging und behielt das Geheimnis, das ihm seine Großmutter anvertraut hatte, für sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)