Stolen Dreams Ⅹ von Yukito ================================================================================ 2. Kapitel ---------- Tarek gehörte schon seit über einem Monat zu Ledions Gang, die ihn wie einen König behandelte. Alle sahen in ihm einen intelligenten, unbesiegbaren und allwissenden Gott mit einem selbstsicheren Lächeln, aber niemand bemerkte, was hinter jenem Lächeln steckte. Sie wussten nicht, dass Tarek jedes Mal, wenn er sah, wie Ledion und die stärksten Kerle seiner Bande ihre Messer putzten, am liebsten schreiend weggerannt wäre. Sie wussten nicht, dass er nachts wach auf der Matratze lag und stumm weinte, weil seine Träume ihm schreckliche Bilder gezeigt hatten. Sie wussten nicht, warum er sein bisheriges Leben hinter sich gelassen hatte oder dass er von der Polizei gesucht wurde. Sie wussten nur, dass Tarek zu den wenigen Jugendlichen gehörte, denen Ledion Heroin erlaubte, aber darüber machten sie sich keine Gedanken. Heroin war für Tarek die einzige Möglichkeit, seine Fassade aufrecht zu erhalten. Alron hatte gesagt, dass man all seine Sorgen vergaß, wenn man einen Joint rauchte, aber Tarek konnte ihm da nicht zustimmen. Marihuana hatte ihn nicht vergessen lassen, was geschehen war. Es hatte die Bilder von seinen Eltern nicht ausgelöscht. Tarek sah sie immer noch, wenn er die Augen schloss. Heroin war da anders. Zwar hatte Tarek sich bei den ersten Malen erst übergeben und dann mehrere Stunden lang nutzlos in der Ecke gehockt, aber danach war es besser geworden und nun konnte er die volle Wirkung von Heroin verspüren, die wahrhaft wunderbar war. Wenn Tarek Heroin nahm, fühlte er sich genau so, wie andere ihn sahen – unbesiegbar. Ihm wuchsen Flügel und dann flog er einfach davon, weg von der Gewalt, weg von Albanien, weg von seinen Erinnerungen, weg von seinen Eltern, deren Körper voller Blut waren, weg von der Angst, weg von dem Ereignis, das Tareks Kindheit brutal in Fetzen gerissen hatte. Wenn Tarek Heroin nahm, betrat er das Paradies. Der einzige Haken an der Sache war, dass Heroin nicht ewig anhielt. Sobald die Wirkung nachließ, wurde Tarek aus dem Himmel gerissen und wieder im Keller abgesetzt, wo es nach Schweiß, Kotze und Krankheiten roch, minderjährige Mädchen sich prostituierten und Kinder sich mit Drogen zudröhnten. Hätte jemand Tarek gesagt, dass er mal als Straßenkind enden würde, hätte Tarek ihn ausgelacht, aber jetzt war er tatsächlich hier. Der Junge lag auf einer schimmligen Couch, die während seiner Abwesenheit irgendwie ihren Weg in den Keller gefunden hatte, und überlegte, was er tun sollte. Nur wenige Meter von ihm entfernt befand sich ein Mädchen in seinem Alter. Sie hatte sich bei der letzten Auseinandersetzung mit Luans Gang eine kleine Verletzung zugezogen, die eigentlich schon längst hätte verheilt sein sollen. Träge und lustlos erhob sich Tarek von dem Sofa und begab sich auf die Suche nach Ledion. Er suchte den ganzen Keller nach seinem Boss ab und fand anschließend heraus, dass er sich die Mühe umsonst gemacht hatte. Ledion war die ganze Zeit neben dem Mädchen gewesen und Tarek hatte ihn bloß nicht gesehen. „Le-äh-Boss, kannst du--?“, begann er, doch der Ältere brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen. „Ich kann jetzt nicht, Tarek. Geh woanders nach Heroin betteln.“ „Aber du bist der Einzige, von dem ich welches kriegen ka--“ „Hältst du endlich die Klappe?!“, fauchte Ledion wütend und schmiss einen leeren Eimer nach Tarek, der hastig auswich. „Wir haben jetzt wirklich wichtigere Sorgen.“ Tarek verdrehte die Augen und verschwand im Nebenzimmer. Er wollte warten, bis Ledion mit seinen wichtigen Angelegenheiten fertig war, aber nach nur wenigen Minuten kam ein Junge zu ihm, dessen Namen Tarek vergessen hatte. Er wusste jedoch, dass es der Bruder von dem verletzten Mädchen war. „Hi“, murmelte der Junge verlegen. „Ledion will nicht, das ich dich mit einbeziehe, aber... könntest du mal nach Ariane sehen? Eigentlich sollte es ihr besser gehen, aber sie kommt einfach nicht auf die Beine.“ „Klar, kann ich machen“, erwiderte Tarek, obwohl er ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Am Anfang war Ledion noch wie alle anderen beeindruckt von ihm gewesen, aber mittlerweile behandelte er Tarek wie einen Hund und jeder wusste, warum er das tat. Er hatte Angst, dass Tarek seinen Platz einnehmen könnte, was Tarek selbst ziemlich albern fand. Er besaß kein Interesse daran, der nächste ''Boss'' – seit Neuestem wollte Ledion so genannt werden – zu werden. Tarek folgte dem Jungen zu dessen Schwester Ariane, kniete vor ihr nieder und ignorierte Ledions aggressiven Blick. Ariane schien Fieber zu haben und ihre vermeintlich harmlose Verletzung war gerötet und angeschwollen. „Ich bin kein Arzt, aber ich denke, dass das eine bakterielle Infektion ist. Wir brauchen Antibioti--“ „Und wo sollen wir das her bekommen, Scherzkeks?“, zischte Ledion angriffslustig. „Vielleicht ist dir das nicht aufgefallen, aber wir sind kein Krankenhaus. Wir haben keine Medikamente.“ „Tja – dann wird sie sterben.“ Während Arianes Bruder erschrocken Luft holte, packte Ledion Tarek am Arm und zog ihn grob durch den Keller, bis er seiner Ecke erreichte, die nur dem Boss bestimmt war. „Tarek“, sagte Ledion viel freundlicher als zuvor und holte eine kleine Tüte aus einem der abschließbaren Fächer. „Siehst du das hier?“ Tareks braune Augen hafteten sich sofort an die Packung. Außenseiter saßen darin bloß helles Pulver, aber Tarek sah so viel mehr: Er sah Erlösung, er sah ein Ticket in eine bessere Welt, er sah-- Bevor er sich daran hindern konnte, griff er nach der Tüte, aber Ledion entzog sie ihm und seine Hand schnappte nichts als Luft. „Hör mir gut zu, Tarek. Diese Portion wird ganz alleine dir gehören, wenn du uns dieses verdammte Zeug besorgst, wovon du geredet hast. Es ist mir egal, woher es kommt oder was du dafür tun musst; Hauptsache, es wird Ariane retten.“ Tarek nickte eifrig, den Blick immer noch auf die Tüte gerichtet. Für Heroin würde er absolut alles tun und wenn er ''absolut alles'' sagte, dann meinte er das auch. „Ach ja, und noch was“, fügte Ledion hinzu. „Wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wie man sich das Zeug spritzt.“ Tarek nickte erneut. Bis jetzt hatte er das Pulver nur geschnieft und er konnte es kaum erwarten, es sich direkt in die Blutbahn zu jagen und eine noch bessere Wirkung zu verspüren. „Du kannst dich auf mich verlassen, Boss.“ „Gut. Und nimm bitte Alron mit; der Junge hat eindeutig zu wenig zutun.“ Keine fünf Minuten später eilte Tarek mit zügigen Schritten durch das Zentrum von Tirana. Er ging so schnell, dass es einem Laufen glich und Alron große Mühe hatte, nicht zurückzufallen. „Jetzt renn doch nicht so“, flehte der Jüngere, aber Tarek hörte ihn gar nicht. Seine Gedanken drehten sich vollkommen um die Tüte mit dem hellen Pulver, das er in vollen Zügen genießen würde, sobald-- „Tarek, jetzt warte doch mal!“, rief Alron und packte den anderen Jungen am Ärmel, aber dieser riss sich los und legte noch einen Zahn zu. Er hatte sich seinen Plan, wie er an die benötigten Medikamente kommen würde, schon längst zurechtgelegt. Obwohl Tarek gesucht wurde und auch die lokalen Medien von ihm berichteten, musste er keine Angst haben, in der Stadt erkannt und gefangen zu werden. Sowohl die Polizei als auch normale Bürger hatten Besseres zu tun, als nach einem Jungen zu suchen, dessen Fund ihnen keinen Vorteil bringen würde. Die Vermisstenanzeige war sowieso nur aufgegeben wurden, weil irgendetwas mit dem Jungen passieren musste. Er hatte nichts verbrochen oder ähnliches. Zumindest noch nicht. „Äh... Tarek, was hast du vor?“, fragte Alron nervös, als er und Tarek vor einem Krankenhaus ankamen, vor dem einige Leute standen, die zwar nicht wie die perfekten Menschen aus dem Fernsehen, aber auf jeden Fall gesunder und besser als Obdachlose aussahen. „Du willst doch nicht ernsthaft dort reingehen, oder?“ „Nein, ich will nur so tun. Pass auf: Du wartest einfach hier, okay? Ich bin in zehn Minuten wieder da.“ Bevor Alron etwas erwidern konnte, hatte Tarek sich bereits in Bewegung gesetzt. Er betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang, tat so, als würde er im Wartezimmer nach einem Platz suchen, und verschwand dann unauffällig durch eine Tür, welche mit ''nur für Personal'' beschriftet war. Seine Mutter hatte früher hier gearbeitet. Sie war gemeinsam mit zwei anderen Frauen für alle Patienten zuständig und maßlos überfordert gewesen, weil es massenhaft Verletzte und Bedürftige, aber nicht ausreichend Geld für genug Personal gab. Tarek hatte seine Mom schon öfters von der Arbeit abgeholt; er kannte sich in diesem Gebäude bestens aus. Nachdem er durch einige Flure gegangen und einem alten Mann begegnet war, der wirres Zeug faselte und vermutlich aus seinem Zimmer ausgebrochen und sich verlaufen hatte, erreichte er einen Raum, in dem Verbandszeug und Spritzen gelagert wurden. Er nahm ein paar Verbände und eine Flasche Desinfektionsspray für Ariane und ein halbes Dutzend Spritzen für sich. Wenn er sich das flüssige Glück injizierte, wollte er dafür keine dreckige Nadel von Ledion nehmen und sich mit irgendwelchen Krankheiten anstecken. Die Tür öffnete sich und eine von Moms ehemaligen Arbeitskollegen betrat den Raum. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, griff nach einem Verband, ließ ihn fallen, hob ihn hastig auf und huschte wieder in den Flur. Tarek, der sich hinter einem großen Schrank versteckt hatte, kam zögernd hervor und ging zum benachbarten Raum, dessen Zugang einen Code verlangte, der für Tarek aber kein Problem war. Er drückte auf die Tasten und trat in das Zimmer. Auf dem Tastenfeld waren nun seine Fingerabdrücke und die Kamera über der Tür nahm ihn auf, aber Tarek hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Alles, woran er denken konnte, war seine Belohnung. Als er sich vor das Regal mit den Antibiotika stellte, bemerkte er, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, welches er brauchte. Die Flaschen hatten verschiedene Größen und Farben und waren mit Bezeichnung beschriftet, die wie eine komplizierte Sprache klangen, doch nirgendwo gab es einen Hinweis, was bei einer bakteriellen Infektion benötigt wurde... falls das, woran Ariane litt, überhaupt eine bakterielle Infektion war. Tarek hatte nämlich nur eine Vermutung ausgesprochen. Schulterzuckend griff er nach einer Flasche, die einen hübschen Grünton besaß, und hoffte, dass er das Richtige erwischt hatte oder der Placeboeffekt Ariane heilen würde. Anschließend verließ er das Krankenhaus genauso unauffällig, wie er es betreten hatte, und traf auf Alron, der draußen auf ihn gewartet hatte und sich unsicher umschaute. „Ich hab' das Zeug. Komm, lass uns gehen.“ „T-tarek, kann ich dich mal was fragen?“ „Nur wenn du währenddessen nicht stehen bleibst.“ „Wie hast du das geschafft? Und warum bist du in allem, was du machst, so unmenschlich gut?“ Tarek wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er plötzlich innehielt und sich zu Alron umdrehte. Auf seinem hübschen Gesicht lag nicht der übliche sorgenlose Ausdruck mit dem charmanten Lächeln, sondern eine deprimierende Ernsthaftigkeit, die sagte: „Du hast keine Ahnung, was du da sagst.“ Wortlos wandte sich Tarek von Alron ab und machte sich nach Hause auf, wo Ledion ihn schon ungeduldig erwartete. Er desinfizierte und verband Arianes Wunde, verabreichte ihr das Antibiotikum, obwohl er keine Ahnung hatte, was das Medikament anrichten könnte und was für eine Dosis angemessen war, und sah anschließend hoffnungsvoll zu Ledion, der sich trotz seiner Angst, dass Tarek ihm früher oder später von seinem hohen Posten schubsten würde, eingestehen musste, dass dieser Junge schon wieder etwas vollbracht hatte, zu dem normale Straßenkinder nicht imstande waren. „Komm“, sagte Ledion und legte einen Arm um Tareks Schultern. „Ich gebe dir das, was du verdient hast.“ Er zeigte ihm, wie man das Pulver in eine Flüssigkeit umwandelte, und machte sich keine Gedanken darüber, wo Tarek eine noch in Plastik verpackte Spritze herhatte. Den ersten Unterschied zum Schniefen spürte Tarek sofort. Das Heroin setzte nicht langsam ein, sondern riss ihn von einem Moment auf den anderen von den Füßen. Es baute ein Schloss für ihn, verbannte alle Probleme und Sorgen ins Land, das nicht existierte, und ließ alles um ihn herum verschwinden. Ein Haufen armer Kinder, die niemals die schönen Seiten des Lebens sehen würden – weg. Tareks Vater und seine blutüberströmte Leiche – weg. Seine Mutter, die wahrscheinlich gerade im Knast saß – weg. Tarek, der gesucht wurde, weil er ein Zeuge war, der... welcher Zeuge? Welches Verbrechen? Diese Dinge gab es nicht mehr. Der Junge schaffte es irgendwie zur Couch und ließ sich dort sinken. Er wusste weder, dass die Spritze ihn über die Grenze der Abhängigkeit geschubst hatte, noch, dass er soeben eine Hölle betreten hatte, die seine momentane Situation wie ein Paradies erschienen ließ. Er befand sich auf dem direkten Weg zum Teufel höchstpersönlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)