Das Schlachthaus in der Minton Street von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 6: Chapter 2 - 3 ------------------------ Eine gute halbe Stunde lang saßen sie auf Victors Bett und blätterten durch die Seiten des kleinen Büchleins. Irgendwann zwischendurch war Victor aufgestanden und nach unten gegangen, ins Arbeitszimmer seines Vaters, und hatte sich eines der Anatomiebücher aus dem Regal geholt. Mit dessen Hilfe hatten sie es zumindest halbwegs geschafft, den Inhalt des Notizbuches verständlich zu übersetzen. Allerdings war Victor sich noch immer nicht im Klaren darüber, was genau Eddie sich nun davon versprach. Was er so faszinierend an diesem Büchlein fand. Wahrscheinlich waren es die Zeichnungen. Victor mochte keine große Ahnung von Kunst haben, doch selbst er fand die von Hand angefertigten angefertigten Abbildungen von Knochen und Organen beeindruckend, einerseits deshalb, weil sie wirklich akkurat wirkten, andererseits jedoch in der Tat aufgrund des Stils, in dem sie skizziert worden waren. Ja. Sehr wahrscheinlich war es das, was Eddie faszinierte. Zudem wies die Tatsache, dass er sich während Victors Erklärungen der einzelnen Fachbegriffe einige Notizen gemacht hatte darauf hin, dass er mit diesen Informationen noch irgendetwas vorhatte. In Eddies Fall bedeutete das wohl, dass er bereits darüber nachdachte, wie er den Inhalt dieses Buches und wahrscheinlich auch diesen verlassenen Keller, in dem er gewesen war, am besten in einer Horrorgeschichte verarbeiten konnte. Eddie hatte sich schon zu den banalsten Dingen, die ihm im Alltag über den Weg gelaufen waren, Geschichten ausgedacht - Victors persönliches Highlight war die über eine besondere Art von Schmetterlingen, die in jeder Generation während ihrer Verpuppung mehr übernatürliche und bedrohliche Kräfte entwickelten - dass es Victor im Grunde auch nicht weiter verwunderte, dass Eddie einfach auf die Idee gekommen war, dieses Büchlein mitzunehmen. Andere Leute hätten dem wahrscheinlich keines Blickes gewürdigt. „Und? Was sagst du dazu?“ Eddies Worte rissen Victor aus seinen Gedanken, ein wenig perplex sah er auf, warf Eddie einen verwirrten Blick zu. „…Sagen? Wozu?“ „Na ja, zu…diesem Buch.“, gab Eddie zurück, machte eine vage Handbewegung in Richtung des betreffenden Gegenstandes, das aufgeklappt zwischen ihnen auf dem Bett lag und momentan die Zeichnung eines aufgeschnittenen Brustkorbes zeigte. „Ich meine… wer hat sowas in seinem Haus liegen? Jetzt mal abgesehen von dir!“ „Ha ha!“, murmelte Victor. Nachdenklich betrachtete er die Skizze, blätterte dann weiter, dabei mehr zu sich selbst als zu seinem Freund sagend: „Ich wünschte, ich würde solche Zeichnungen hinkriegen! Das ist wirklich Wahnsinn! Manche Bilder in Fachbüchern sind nicht so akkurat! Und alles was ich hinkriege sind Strichmännchen, und sogar die sind anatomisch inkorrekt…“ Gedankenverloren nickte Eddie, seine Stimme klang verträumt, als wäre er eigentlich im Geiste ganz woanders: „Ja, die Zeichnungen sind wirklich beeindruckend! Aber… wer fertigt sowas an? Ein Arzt? Ein Wissenschaftler?“ „Zum Beispiel…“ Victor zuckte mit den Schultern, blätterte erneut eine Seite weiter. „Oder ein wahnsinniger Kettensägenmörder, der seine Opfer nach dem Mord für anatomische Studien benutzte.“ „Ja, das erscheint mir auf jeden Fall wie eine realistische Alternative!“ Erneut kritzelte Eddie etwas auf den Notizblock den er in der Hand hielt, blickte dann prüfend auf seine bisher getätigten Stichpunkte. Einige Augenblicke lang sagte niemand etwas. „Gut, okay.“ Victor klappte das schwere Werk mit dem Titel „Die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers“ zu, und warf dabei wieder einmal einen Blick auf Eddies nebenbei angefertigte Notizen. „Also, was genau hast du damit vor?“ „…mhhh…“, machte Eddie, grade noch dabei ein Wort zu Ende zu schreiben; prüfend musterte er die Stichpunkte, die er sich gemacht hatte, dann sah er auf. „Ich weiß noch nicht so genau. Vielleicht… irgendwas über ein verlassenes Haus, in dem durch Zufall irgendjemand Unterschlupf sucht, und dann findet er raus dass da vor Jahren ein wahnsinniger Mörder gewohnt hat, dessen Geist noch immer keine Ruhe gefunden hat.“ Er hielt inne, schüttelte dann missbilligend den Kopf. „Nah, das klingt viel zu klischeehaft! Da gibt’s bestimmt schon hunderte Storys über sowas! Aber vielleicht fällt mir noch was Besseres ein, wenn…“ Erneut brach er ab. Starrte einen Augenblick lang unschlüssig vor sich hin, dann blickte er wieder auf seine Notizen, offensichtlich unschlüssig, ob und wie er seinen Satz beenden sollte. Victor konnte sich allerdings bereits denken, was er hatte sagen wollen. „Du willst noch mal in dieses Haus, ja?“, hakte er nach; eine Frage, die eigentlich keinerlei Antwort bedurfte. Dennoch nickte Eddie. „Ja… schon… ich würd einfach gern noch ein paar Fotos machen, und mich… ein bisschen genauer umsehen. Diesmal auch mit Taschenlampe und so…“ Er schien sich seiner Sache bereits ziemlich sicher zu sein, dennoch lag ein leichtes Zittern in seiner Stimme, er wirkte nervös. Victor schob das dicke Anatomiebuch an den Rand des Bettes, lehnte sich ein Stück zurück und betrachtete einige Sekunden lang die Dachschräge. Schließlich begann er, einfach, um die leicht unangenehme Stille zu durchbrechen: „Klingt spannend. Ich wollte mir schon immer mal irgendeinen Lost Place ansehen…“ „Ja, ich auch!“ Eddies Antwort war reichlich hastig gekommen, und er wirkte noch nervöser als zuvor, starrte auf seine Hände, die sich in den Stoff seiner Hose krallten. „Ich fand’s auch ziemlich cool… also, wahrscheinlich war es eigentlich sehr unspektakulär, zumindest fand ich es nicht gruselig oder so, aber trotzdem. Nur…“ Ein weiteres Mal hielt er inne, senkte den Blick, stieß ein leises Seufzen aus. „Irgendwie… weiß ich trotzdem nicht so wirklich. Ich meine…eigentlich hattest du Recht… es war… wirklich Einbruch…“ „Na ja, wer soll dich denn anzeigen?“, warf Victor trocken ein. Auf einer logischen Ebene konnte er Eddies Bedenken durchaus nachvollziehen, doch nervös machte ihn selbst dieser Gedanke, beim unerlaubten Betreten eines Gebäudes erwischt zu werden, in dem anscheinend seit Jahren niemand mehr gewesen war, nicht wirklich. Ein wenig hilflos zuckte Eddie mit den Schultern. „Na ja, der…Eigentümer? Der ja vielleicht potenziell noch irgendwo existiert?“ „Dann sollte der- oder diejenige mal das Kellerfenster reparieren, ist ja lebensgefährlich, diese Glassplitter da!“ Ein sinnvolleres Argument fiel Victor für den Moment nicht ein, doch hatte er das Bedürfnis etwas zu sagen, denn aus einem Grund, der ihm selbst nicht wirklich bewusst war, war er nun ebenfalls reichlich interessiert an diesem verlassenen Gebäude. Er war vielleicht nicht gut darin, sich anhand irgendwelcher Dinge oder Umgebungen Geschichten auszudenken oder Bilder zu zeichnen, interessant fand er so etwas jedoch allemal. Eddie sah nicht wirklich überzeugt aus, dennoch war auch ihm deutlich anzumerken, dass der Gedanke, wieder zu diesem Ort zurückzukehren, ziemlich verlockend für ihn war. „Also…“, begann er ein wenig zögerlich, verschränkte dabei angespannt seine Finger ineinander, „Wenn du mitkommen willst… also, falls… keine Ahnung, ich würd mich da schon gern noch weiter umsehen! Ich war ja nur in diesem einen Raum, aber falls es da noch mehr interessanten Kram gibt…“ „Sowas wie ein Regal mit eingelegten menschlichen Organen oder eine Sammlung Schädel?“, schlug Victor vor. Eddie grinste. „Ja, zum Beispiel! Wobei, ganz ehrlich, ich glaube dann würde ich wirklich zusehen, dass ich da wegkomme!“ „Kluge Entscheidung. Du hast aus den Horrorfilmen gelernt!“ „Auf jeden Fall! Außerdem sollten wir uns nicht aufteilen, und…“ An diesem Punkt wurden Eddies Ausführungen von einem lauten, rhythmischen Klingeln unterbrochen. Kurz wirkte er irritiert, dann griff er nach seiner Jacke, kramte in den Taschen herum, und brachte schließlich sein Handy zum Vorschein, welches er sich nach einem kurzen Tippen aufs Display ans Ohr hielt. „Hi, Mom…“ Kurzes Schweigen, aus dem Hörer war eine Stimme zu hören, doch konnte Victor nicht verstehen, was sie sagte. Dann wieder Eddie: „Ja, hatte ich auch, aber ich bin bei Victor.“ Erneute Antwort am anderen Ende der Leitung. Eddie nickte, was seine Mutter natürlich nicht sehen konnte, und erwiderte: „Ja, okay…“ Stille. „…mach ich. Alles klar. Bis gleich!“ Dann legte er auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)