Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Prolog: Intro ------------- Das hässliche Auto vor dem Haus gehörte tatsächlich Boris. Yuriy hatte es zuerst nicht glauben wollen, aber sein Mitbewohner ging jetzt federnden Schrittes auf die Karre zu, öffnete sie mit einem Klicken des Schlüssels und drehte sich dann strahlend wieder zu ihm um. „Spring rein, was stehst du da so, Mann?” Yuriy blinzelte, dann setzte er sich in Bewegung, um seine Beine irgendwie in den spärlichen Fußraum des Subarus zu quetschen. Natürlich war der Wagen tiefergelegt; darüber hinaus waren die hinteren Scheiben getönt, es gab einen Heckspoiler und einen Auspuff, der so groß war, dass es schon hart an der Legalität grenzen musste - und zu guter Letzt war das ganze Ding giftgrün lackiert. Es war ganz offensichtlich an der Zeit, sich ein Fahrrad oder ein Jahresticket oder gleich beides anzuschaffen. „Ich werde nie wieder mit dir fahren”, sagte Yuriy laut, wie um sich selbst noch einmal zu bekräftigen. „Und außerdem - bist du dir sicher, dass du das Ding einfach vorm Haus stehen lassen willst? Wenn einer rauskriegt, wie viel deine Customteile wert sind, hast du morgen zwei.” „Keine Sorge”, sprach Boris laut über das plötzliche Aufröcheln des Motors hinweg - wer noch nicht mitbekommen hatte, dass ein potentielles Racing Car vor der Tür stand, wusste es spätestens jetzt - „Ich stell die Karre bei Sergeij in der Werkstatt unter, bis ich ne Garage gefunden hab. Um die Ecke ist glaube ich irgendwas frei, muss mal gucken.” „Frag doch Onkel Stan.” „Yura, nee, das geht nicht. Dann müsste er seine Garage ja aufräumen. Vergiss es.” Sie grinsten sich an, dann parkte Boris aus und steuerte den Subaru ein bisschen zu schnell durch die verwinkelten Einbahnstraßen der Plattenbausiedlung, bis sie irgendwann auf der Landsberger Allee landeten. Dort beschleunigte er noch ein bisschen mehr, bevor er die Hand ausstreckte und die Anlage einschaltete. Das Radio sprang an und ein paar Trompeten plärrten ihnen entgegen. “Endlich Sommer in meinem Kiez Alle ham’ sich auf einmal lieb Lass uns um die Häuser zieh’n Denn es ist Sommer in meinem Kiez…” „Classic”, kommentierte Yuriy feixend und lehnte sich zurück. Boris ächzte und drückte auf einen Knopf, das Gerät sprang auf MP3 um und schon wummerte der Bass durch das Auto, so, wie er es gewohnt war. „Soll ich dich am Ring rauslassen?”, fragte Boris kurz darauf über die Musik hinweg. „Hm? Ah, nein, kannst du mich bis Alex mitnehmen? Ich treffe mich noch mit Rei und Lai.” „Am Alex?” „Frag nicht”, entgegnete Yuriy bloß. Wie jeder normale Mensch mied er Mitte so gut es ging, doch manchmal ging es einfach nicht anders. Rei und Lai wohnten eigentlich gar nicht mal so weit von ihnen entfernt, nämlich in Lichtenberg, aber irgendwie jobbten sie jetzt nicht mehr nur in Friedrichshain, sondern auch irgendwo an der Friedrichstraße - und so war der Alexanderplatz plötzlich zu einem günstigen Treffpunkt geworden. Yuriy brauchte Geld, wie immer, und vielleicht konnte er bei den beiden aushelfen. Seine halbe Stelle als Schulsozialarbeiter reichte gerade für das Nötigste, und sein Hobby war ein glattes Nullgeschäft, wenn er Glück hatte. „Alles klar”, brummte Boris nur. Sie kamen gut durch, denn die Rush Hour war längst vorbei. Die Landsberger Allee führte schnurgerade ins Stadtzentrum. Je weiter sie fuhren, desto enger wurde es. Die Schlafburgen waren längst verschwunden, die Platten wurden niedriger, in der Mitte der Fahrbahn ratterten die gelben Trams. Der Fernsehturm war der Fixpunkt ihrer Sichtachse, alle großen Straßen im Ostteil der Stadt waren auf ihn ausgerichtet, gleich den Prospekten in Moskau oder Petersburg. Man musste sich anstrengen, den Turm einmal nicht zu sehen. Auch zu Hause hatten sie das Ding immer vor Augen, denn ihre Wohnung mitsamt dem Balkon lag Richtung Westen, was aber auch bedeutete, dass sie den besten Blick auf die Stadt hatten. Es dauerte nicht lang, bis sie in Mitte ankamen, wo es merklich voller wurde. Der Verkehr verlangsamte sich, die Wege waren voller Touristen. Ständig standen sie an roten Ampeln, es war ein einziges Stop-and-Go. „Wo genau soll ich dich rauslassen?”, fragte Boris, der unruhig mit den Fingern auf dem Lenkrad herumtrommelte und mit dem Gas spielte. „Kannst du Memhardstraße rein?” Sein Mitbewohner verdrehte die Augen und ließ das Auto einen Satz nach vorn machen, um es noch bei Dunkelgelb über die Ampel zu schaffen. Yuriy wusste, warum er genervt war - die Straßen wurden nun noch enger. „Bist du eigentlich am Wochenende im Zentrum?”, fing Boris unvermittelt wieder an. „Mal sehen”, antwortete Yuriy, „Ich muss mich mit Vanja und den anderen absprechen. Aber wahrscheinlich. Wieso, bist du auch - PASS AUF!” Direkt vor ihnen war ein Fahrrad aus einer Einfahrt geschossen, sodass Boris (der allerdings, das sollte man erwähnen, immer noch etwas zu schnell unterwegs gewesen war) eine Vollbremsung machen musste. Aufgeschreckt vom Geräusch der quietschenden Reifen drehte der Fahrradfahrer sich zu ihnen um und Yuriy erhaschte einen verwunderten Blick aus dunklen Augen, bevor er davonsauste. Vermutlich hatte er nicht einmal realisiert, wie knapp er einem Unfall entkommen war. „Verfickte Hipster!”, fluchte Boris, der sich sichtlich erschrocken hatte und nun langsam wieder losfuhr. „Diese Idioten mit ihren Karottenhosen und Fixies, ich könnte sie allesamt, ich weiß nur nicht, wie es heißt! Hat der keine Augen im Kopf?” Auch Yuriy lehnte sich nun endlich wieder zurück. Sein Körper war noch ganz verkrampft. „Das hätte uns noch gefehlt”, murmelte er. „Kannst du laut sagen! Mann! Die Karre ist neu, ich hab keinen Bock, sofort Kratzer im Lack zu haben! Mit dem Polo hätte ich ihn sofort mitgenommen…”, fügte er leiser hinzu. Yuriy schwieg, er erinnerte sich noch gut daran, wie Boris geprahlt hatte, dass jede Beule in seinem alten Auto von einem gekillten Fahrradfahrer kam. Mit der Zeit hatte sein Mitbewohner einen richtigen Hass auf diese entwickelt. Es war ihm nicht wirklich zu verdenken, denn auf den Straßen ging es zu wie im wilden Westen: Ständig wurde irgendwo gebaut und der Verkehr wurde dabei nie wirklich gut umgeleitet. Ein Stück weiter ließ Boris Yuriy aussteigen - er parkte kurzerhand in einer Einfahrt, da hinter ihm noch mindestens drei weitere Autos waren, und prompt fing irgendein Alter an zu zetern, weil sie ihm den Fußweg versperrten. Yuriy ignorierte den Streithammel, winkte noch einmal, dann rauschte das grüne Ungetüm davon. Ihm war, als hörte er ein paar Sekunden später schon wieder die Reifen quietschen. „Morning, Kai!” Max stand neben den Fahrradständern, als er in den Innenhof kam. Er sah ungewöhnlich smart aus mit seinem Hemd und den sommerlichen Stoffhosen. Wahrscheinlich färbte der Stil seiner Kollegen langsam auf ihn ab; jedenfalls hatte Kai ihn schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in zu großen Schlabbershirts gesehen. „Hey”, grüßte er knapp zurück. Während er das Rad anschloss, musterte Max ihn von der Seite. Vermutlich hatte er Kais fahrige Bewegungen bemerkt, denn er fragte: „Alles klar bei dir?” „Ja, keine Sorge”, entgegnete Kai, „Ich hab mich nur vorhin total erschreckt, weil irgend so ein Idiot mich beinahe überfahren hätte…” „Oh Gott, ist dir was passiert?” Er hob eine Augenbraue; es sollte offensichtlich sein, dass er keinen Kratzer abbekommen hatte, seine Kleidung saß noch tadellos. „Nein Max. Lass uns reingehen.” Sein Kollege verstand wohl den Wink, denn er fragte nicht weiter. Gemeinsam traten sie den Weg in den dritten Stock des Vorderhauses an, wo sich das Start-up, für das sie beide arbeiteten, eingenistet hatte. Das Büro war nicht perfekt: In letzter Zeit waren viele neue Leute eingestellt worden und sie hatten alle ein bisschen enger zusammenrücken müssen. Noch dazu versprach der Sommer schon jetzt, heiß zu werden, und das Gebäude besaß keine Klimaanlage. Sobald sie die Fenster öffneten, drangen der Verkehrslärm und die mit ihm verbundenen Abgase der vor dem Haus verlaufenden Friedrichstraße hinein. Wenn das so weiterging, würde Kai demnächst einfach mobiles Arbeiten beantragen und Meetings nur noch über Skype abhalten. Dann konnte er zumindest im Park sitzen, statt hier zu zerfließen. Sobald er das Großraumbüro betrat, ging der alltägliche Stress los: Er hatte noch nicht einmal seinen Computer hochgefahren, als schon Claude und Giulia, seine Copywriter für Frankreich und Spanien, neben ihm standen. „Kai, wäre es okay, wenn wir die E-Mails für das Marketing höher priorisieren? Das CMS arbeitet ja sowieso noch nicht richtig mit der App-Oberfläche zusammen, da verlieren wir nur Zeit, die wir jetzt für was anderes nutzen können. Und Mariam sitzt uns echt im Nacken…” „Ja, dann aber schnell, wir haben nächsten Montag Sprint Review, bis dahin wird das alles stehen und dann müsst ihr sofort den Content einspielen”, betete Kai herunter und öffnete nebenbei sein E-Mail-Postfach. Mit leisem Grauen beobachtete er, wie die Liste der ungelesenen Nachrichten immer länger wurde. „Schafft ihr das?” Claude und Giulia warfen sich einen nervösen Blick zu. „Sicher”, antwortete die Spanierin dann. Sie ahnte vermutlich, dass sie für den Rest der Woche Überstunden schieben würde, aber Kai hatte kein Mitleid mit ihr. Es war normal, er selbst war momentan nicht selten zehn Stunden und mehr pro Tag hier. Zum Glück nahm der Stress gerade langsam aber sicher ab, sodass er nächstes Wochenende endlich mal wieder komplett frei haben würde. Er wusste noch gar nicht, was er mit der Zeit anfangen sollte. Ganz oben in seinem Postfach stand eine Terminanfrage von Giancarlo, Lunch mit Ralf. Am Mittwoch. Kai seufzte, darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Immerhin fand das Treffen mittags statt. Beim letzten Mal hatten sie sich an einem Donnerstagabend getroffen, und weil sie gerade die Zusagen der neuen Investoren bekommen hatten, war Giancarlo in Partystimmung gewesen. Unnötig zu erwähnen, dass Kai am darauffolgenden Freitag nicht viel mehr geschafft hatte als seinen Abwesenheitsassistenten anzuwerfen. Dennoch konnte er nicht einfach ablehnen. Nicht, wenn Ralf Jürgens in der Stadt war. Dank der vielen Mails verging der Vormittag wie im Flug. Klar, die meisten Anliegen waren nichtig, wie immer, doch leider konnte man bei Kais Job nie ausschließen, dass sich irgendetwas zu einer Katastrophe aufblähte, wenn er sich nicht sofort darum kümmerte. Manchmal war der Titel Produktmanager einfach nur ein Euphemismus für jemanden, der Scheiße zu Gold machte. Sein Kalender, der zu Beginn noch erfrischend leer ausgesehen hatte, war nun bis Schlag achtzehn Uhr gefüllt mit Terminen. Bevor er diesen Marathon antrat, brauchte er einen Kaffee und vielleicht einen Schokoriegel aus dem Vorrat in der Küche. Ah, die Dreifaltigkeit der Startup-Büros: bunte Sitzgelegenheiten, kostenloses Obst und Snacks, Tischkicker. Während die Kaffeemaschine, die vermutlich dasselbe kostete wie ein gebrauchter Kleinwagen, ratterte und schließlich einen Schwall Espresso ausspie, lehnte Kai sich an die Anrichte und riss einen Müsliriegel auf. Irgendwer hatte das Radio aufgedreht. Gedankenverloren sah er aus dem Fenster auf die Straße hinab, während eine lauwarme Brise von draußen ihm die Haare zerzauste. Es musste unglaublich heiß dort unten sein, zwischen den Häusern und inmitten des dichten Verkehrs. Beim Café gegenüber drängten sich die Leute auf die wenigen Sitzplätze unter freiem Himmel. Fahrradboten mit riesigen Messenger Bags zwängten sich zwischen den Autos hindurch und wurden angehupt. Die Touristen liefen in Trauben zielstrebig Richtung Checkpoint Charlie. Seit zwei Jahren war er nun hier. Er liebte die Stadt nicht, aber darum ging es ihm auch nicht. Der Sommer war in Ordnung, der Winter dafür umso trister. Doch hier zu leben war denkbar günstig, die Infrastruktur okay und das Nachtleben machte die vielen alltäglichen Unannehmlichkeiten mehr als wett. Wenn er nicht so viel arbeiten müsste, wäre er wahrscheinlich ständig unterwegs. Inzwischen hatte sich eine Routine bei ihm eingestellt, mit der er locker fünfzig, sechzig Stunden die Woche reißen konnte ohne unter der Arbeitslast einzuknicken. Doch sein Privatleben hatte darunter gelitten, war eigentlich nicht mehr existent. Und es war nicht so, als würde er seinen Tagesablauf genießen, im Gegenteil - er begann, sich selbst unendlich langweilig zu finden. „Hey Kai, kommst du? Wir fangen gleich an.” Er hob den Blick; an der Küchentür stand Garland, den Laptop unter den Arm geklemmt und eine Tasse in der Hand. Auffordernd sah er ihn an. Kai nickte bloß und griff nach seinem Kaffee. Aus dem Radio dudelte ein neuer Song. “Ich hör euch nicht ich bin in meinem Wochenendhäuschen in der Fickt-Euch-Allee Wo ich auf der Veranda meine Eier schaukle Da hab ich immer Recht und 'n Blick auf'n See In meinem Wochenendhäuschen in der Fickt-Euch-Allee” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)