Grisha Tales von ChiaraAyumi ================================================================================ Kapitel 1: Flüstern (Harschow) ------------------------------ Die Flammen knisterten leise, als flüsterten sie ihm ihre Geheimnisse zu. Harschow konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, während sie auf und ab tänzelten, während sie langsam das Holz verschlangen, das er ihnen gegeben hatte. Mehr Holz, verlangten sie von ihm. Wir wollen ewig weiterbrennen. Er griff in den Korb neben ihm und gab ihnen noch einen Holzscheit, denn er wollte ihnen weiter zu hören. All ihre Geheimnisse erfahren, doch sie waren unnachgiebig, wollten nicht mehr verraten. Er hörte die Flammen knisternd lachen, während sie Funken stoben, und fühlte sich so dumm und klein. Dann würde er ihnen kein Holz mehr geben, wenn sie so stur waren. Er konnte genauso stur und unnachgiebig sein. Doch er konnte den Blick nicht von ihnen lösen. Ihr Tanz faszinierte ihn. Er hatte nie etwas Schöneres gesehen. Wie die Flammen auf und ab zügelten, als hätten sie wahnsinnigen Spaß daran sich leidenschaftlich ihrem Hunger hinzugeben. So frei und ungezügelt wollte er auch sein. Er wollte mit ihnen tanzen und sich ihnen ganz hingeben. Mehr, verlangten sie wieder von ihm. Als er sich ihren Einflüsterungen verweigerte, wurde ihr Knistern sanfter, ihr Tanz ruhiger. Komm näher. Er schüttelte den Kopf, obwohl er sich ihnen immer noch nicht völlig entziehen konnte. Ihre sanften Stimmen ließen ihn müde und schläfrig werden. Sie lullten ihn ein und seine Augen fielen ihm fast zu. Er konnte ihre warmen Berührungen fühlen, die behutsam über sein Gesicht strich. Sie waren so viel liebevoller als seine Mutter, die immer nur mit ihm schimpfte, weil er so verträumt war und manchmal mitten auf dem Weg stehen blieb, um dem Flüstern um sich herum zu lauschen. Komm näher, gib uns frei, wisperten die Flammen ihm zu und er rückte dichter an den Ofen, um ihnen noch näher zu sein. Er streckte die Hand ein weiteres Mal in den Holzkorb und zog den letzten Holzscheit hervor. Er hielt ihn in die Flammen, die sofort auf ihn übersprangen, doch statt ihn schnell fallen zu lassen, genoss er die Hitze. Er hatte keine Angst vor dem Feuer. Es zog ihn an und sein Herz schlug voller freudiger Erwartung schneller, als sich die Flammen seiner Hand immer mehr näherten, während sie versuchten ihm das Holz zu entziehen und es in seiner Gänze zu verschlingen. Dann waren sie an seiner Hand, kitzelten über seine Fingerspitzen, fuhren die Form seiner langer, schmalen Finger nach, sprangen über seinen Handrücken auf seinen Arm, wanderten weiter hoch. Er hielt den Atem an, die liebkosende Berührung hatte etwas Elektrisierendes an sich. Die Hitze durchfuhr ihn und er fühlte sich auf einmal seltsam unbesiegbar. Das Feuer konnte ihm nichts anhaben, es schützte ihn, liebte ihn, flüsterte ihm zu. Lass uns raus aus diesem metallenen Gefängnis, gib uns mehr. Und Harschow wusste plötzlich, dass er es konnte. Er konnte sehen, wie die Flammen aus dem Ofen hervorbrachen und auf den Fußboden, die Vorhänge, den Tisch, übersprangen und sie verschlangen. Sie würden sich die kleine Hütte vollständig einverleiben und dann auf das kleine Dorf, seiner Heimat und seine ganze Welt, übergreifen. Er fragte sich, warum die Flammen dafür ihn brauchten. Sie konnten das ganz alleine bewerkstelligen. So mächtig wie sie waren, doch sie warteten auf sein Kommando. Sie brauchten ihn, deswegen schmeichelten und umgarnten sie ihn. Er lachte. Welch seltsames Gefühl. Er spürte eine Macht in sich selbst, die nun von Innen drin, zu flüstern begann. Sie fühlte sich vertraut an. Sie klang wie die Flammen, knisternd und voller Wärme. Ihr Ruf wurde lauter und dringlicher. Er musste ihr nur folgen, dann würde er endlich alle Geheimnisse des Feuers erfahren und eins mit ihm werden. Er atmete schnell ein und aus, vor Aufregung flatterte sein Herz und das Feuer, das ihn eingehüllt hatte, sprang auf und ab. Er war bereit. Der Ruf in ihm nahm ihn ein und das Feuer folgte seiner Handbewegung, als er es aus dem Ofen hervorholte. Es hüpfte über den Boden, tänzelte um den Tisch herum, nagte an dem Stuhlbein. Noch nie hatte sich Harschow so gut gefühlt. Er glühte vor Glück. Als wäre er plötzlich vollständig, als hätte er das letzte Teil seiner Selbst gefunden. Nie wieder wollte er vom Feuer lassen. Nie wieder würde er es im Ofen einsperren. Plötzlich hörte er Schritte vor der Tür und er zuckte zusammen. Seine Mutter kam von ihrer Arbeit zurück. Erschrocken sah er, wie das Feuer sich gerade am Vorhang hocharbeitete. Es tat ihm in der Seele weh, die Flammen wieder einzufangen, sie wehrten sich dagegen, gaben aber dann doch nach und hinterließen, verkohlte Stellen im Boden, am Stuhl und am Vorhang. Seine Mutter kam herein und zog angewidert die Nase hoch. „Was stinkt hier so verbrannt? Was hast du wieder angestellt? Und wo ist dein Bruder? Er sollte doch auf dich aufpassen!“ Lass uns wieder frei, wisperten die Flammen im Ofen. Harschow nickte begierig. Das war ein Versprechen, das er definitiv halten würde. Kapitel 2: Dazu gehören (Genya & David) --------------------------------------- Genya hörte das Tuscheln und fühlte die Blicke, die auf ihr lagen, wenn sie mit ihrer weißen Kefta mit den golden-bestickten Ärmeln durch den Kleinen Palast wanderte. Sie kannte diese Art von Aufmerksamkeit nur zu gut und sie war ihr zuwider. Nach außen hin gab sie sich stark und völlig kühl, doch es verletzte sie, dass sie nicht dazu gehörte und jeder sie anstarrte. Das Schoßhündchen der Zarin nannte man sie hinter ihrem Rücken. Das Spielzeug des Zaren. Sie hasste es. Als ob es ihre Entscheidung gewesen wäre. Sie würde dem Dunklen niemals Vorwürfe machen, doch an manchen Tagen hasste sie ihn dafür, dass er sie der Zarin zum Geschenk gemacht hatte. Gerne wäre sie wie die anderen. Sie sehnte sich danach dazu zu gehören, doch es war etwas, was sie niemals laut ausgesprochen hätte. Ihre Sonderstellung hatte seine Vorzüge. Sie musste nicht das bäuerliche Frühstück essen. Sie bekam das süße Gebäck aus dem Palast. Das versüßte ihr die Tatsache, dass sie alleine essen würde. Es würde nur für mehr Getuschel sorgen, wenn die anderen sahen, wie sie ihre Sonderstellung ausnutzte. Eigentlich war es auch ganz schön, dass sie ganz sie selbst sein konnte und niemand auf sie neidisch war. Heute konnte Genya sich aber nicht drum drücken mit den anderen zusammenzukommen. Der Dunkle hatte sie aufgefordert dem Unterricht der Fabrikatoren beizuwohnen. Das befahl er ihr manchmal, wenn er der Meinung war, dass der Unterricht bei den Fabrikatoren oder den Korporalki für ihre Fähigkeiten von Nutzen war. Sie musste seit Jahren nicht mehr regelmäßig beim Unterricht erscheinen, weil sie die meiste Zeit bei der Zarin im Palast verbrachte. Außerdem war sie die einzige Bildnerin, daher gab es auch niemanden, der ihr wirklich helfen konnte. Es war schön besonders zu sein, aber einzigartig zu sein war auch schwer, da niemand dieselbe Probleme hatte. Niemanden, an den man sich wenden konnte, wenn man Fragen hatte und sich unsicher war. Genya beschleunigte ihre Schritte, als sie daran dachte, wer in den Werkstätten der Fabrikatoren auf sie wartete. Es war schon seltsam, dass der einzige Mensch, von dem sie wollte, dass er sie ansah, keinen Blick für sie übrig hatte. So viele Blicke zog sie auf sich, so viel wurde über sie getuschelt, aber David nahm sie einfach nicht wahr. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihn in den Werkstätten des Kleinen Palastes kennengelernt hatte. Sie hatte Ewigkeiten gebraucht herauszufinden, wie man die Augenfarbe ändern konnte. Sie war stolz auf die Tinktur, die sie am Ende entwickelt hatte. Doch sie war am Anfang daran fast verzweifelt, als die Zarin verlangt hatte, strahlend blaue Augen haben zu wollen und nichts gefruchtet hatte. Die Zarin war immer ungeduldiger geworden und hatte ihre schlechte Leute an Genya ausgelassen. Sie ließ ihre Gedanken weiter zurück zu dieser Zeit treiben. Genya hatte in den Werkstätten der Fabrikatoren gesessen und nicht einmal das Getuschel um sich herum mehr gehört, so verbissen hatte sie versucht, ihr Problem zu lösen. Irgendwann waren alle verschwunden und hatten sie in Ruhe gelassen, da sie immer wieder zwischen drin Wutanfälle bekam und alles vom Tisch schleuderte. Es hatte sicher ihren Ruf unter den Grischa verstärkt, dass man sie in Ruhe lassen und einen Bogen um sie machen sollte. Die Augen waren so viel schwieriger als die Haare. In die Haare konnte man die Farbe komplett einweben. Bei den Augen wollte man nur die Farbe der Iris verändern, nicht den ganzen Augapfel. Also war mehr Präzision von Nöten. Sie hatte gestöhnt, weil nichts das gewünschte Ergebnis erzielte und irgendwann hatte sie einfach die Hände über den Kopf zusammen geschlagen und aufgegeben. Erst da war ihr Blick hoch gewandert. Sie hatte die ganze Zeit gedacht, dass sie alleine in den Werkstätten war, dass sie alle verscheucht hatte. Doch da saß er und war selbst ganz in seine eigene Arbeit mit Metallen vertieft: David Kostyn. Er war so unauffällig, dass Genya nicht einmal sagen konnte, ob er ihr schon einmal begegnet war. Wenn dann hatte sie keine Erinnerung daran. Da er sie nicht zu bemerken schien, nahm sie sich alle Zeit der Welt dazu, ihn genau in Augenschein zu nehmen. Er war groß, aber mager und knochig, so als ob er über das Arbeiten das Essen völlig vergessen würde. Auch jetzt schien ihm gar nicht aufzufallen, dass die Nacht schon hereingebrochen war. Er hantiert mit verschiedenen Metallenen, die er miteinander verschmolz. Genya konnte den Blick nicht von ihm lassen, wie er mit seinen Fingern geschickt das Metall bearbeitete und wie unter seinen Händen etwas völlig Neues entstand. Es war wunderschön ihm dabei zuzusehen. Sie konnte selbst nicht sagen, was sie an diesem Moment so anziehend fand, doch David imponierte ihr mit seinem Fleiß. Entschlossen wand sie sich ihrer eigenen Arbeit wieder zu, nun hoch motiviert und schwor sich nicht aufzuhören, bis sie eine Lösung gefunden hatte. Obwohl David nicht mit ihr sprach und nicht einmal zu ihr herübersah, fühlte Genya sich ihm seltsam verbunden, so wie beide still für sich arbeiteten. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie einsam sie sich gefühlt hatte, wie sehr sie es vermisste hatte, mit jemanden gemeinsam etwas zu machen, auch wenn es jetzt nur die Stille und die Arbeit waren, die sie teilten. Sie warf immer wieder verstohlene Blicke zu ihm, gestand sich immer wieder kurze Pausen zu, um David bei der Arbeit zu beobachten und bald hatte sie das Gefühl jede Bewegung, jede Regung an ihm zu kennen. Sie konnte nicht verstehen, wie er ihr bis zu diesem Tag immer entgangen war. Er war nicht perfekt und auch nicht gutaussehend. Er war nicht wie die herausgeputzten Adligen, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte. David war käsebleich und hatte strubbelige Haare, aber das machte ihn sympathischer, echter als alle anderen. Er lebte für seine Arbeit. Besser als all die Adligen, die nur in den Tag hineinlebten und von einer Party zur nächsten schwankten. Für die nur zählte, wer man war und wie schön man aussah. Hätte man Genya nach ihrem Traummann gefragt, wäre ihre Antwort bis vor kurzem eine generische gewesen: ein gutaussehender Prinz auf weißem Pferd oder etwas Ähnliches. Doch jetzt wusste sie, dass die Antwort eine andere war, denn mit David stand plötzlich jemand vor ihr, mit dem sie so nicht gerechnet hätte und der doch die Antwort zu sein schien. Als David mit seiner Arbeit fertig war, lächelte er zufrieden – was ihrer Meinung nach das schönste Lächeln auf der Welt war und in ihrem Herz tausend Schmetterlinge freisetzte – und ging, ohne sie wahrzunehmen. Genya fand an diesem Abend nicht die Lösung für ihr Problem, doch angestachelt von ihrer neuentdeckten Gefühlen verbrachte sie von dort an jeden Tag in den Werkstätten. Sie grüßte David jeden Morgen energisch und verabschiedete sich genauso von ihm, wenn sie ging. An manchen Tagen konnte sie ihm ein paar Sätzen entlocken, doch meistens sah er sie gar nicht. Aufgeben wollte sie trotzdem nicht, denn er war der einzige, der sie wie jeden anderen behandelte, in dem er sie einfach genauso wie alle anderen übersah. Er warf ihr keine Blicke hinterher und tuschelte auch nicht über sie, aber wenn sie mit ihm alleine in den Werkstätten arbeitete, war da diese Verbundenheit zwischen ihnen und Genya fühlte sich, als würde sie endlich dazugehören. Sie ertrug den Spott der anderen für diese winzigen Momente. Als sie endlich ihre Tinktur entwickelte hatte, war sie einerseits unglaublich stolz auf ihre Fähigkeiten und andererseits tieftraurig, weil sie nun keine Ausrede mehr hatte, um jeden Tag in den Werkstätten zu sein. Genau aus diesem Grund freute sie sich darüber, wenn der Dunkle sie wie heute am Unterricht von den Fabrikatoren teilnehmen ließ. Sie beeilte sich, denn sie wollte unbedingt neben David sitzen und seine Ruhe auf sich wirken lassen. Kurz vor den Türen der Werkstätten bremste sich Genya, den sie konnte nicht wie ein kleines Kind voller Vorfreude hereinstürmen. Sie wollte nicht, dass man ihr ansah, wie sehr sie sich freute. Sie strich mit ihren Fingern nervös über die Handflächen, um sich selbst zu beruhigen, bevor sie eintrat. Sofort eilten ihre Augen unruhig über den Raum bis sie die magere Gestalt in der hinteren Ecke entdeckte. Erleichterung durchströmte sie und ihr Herz flatterte aufgeregt. „Hallo David“, begrüßte sie ihn fröhlich und hoffte, dass er nicht hörte wie ihre Stimme eine Spur zu hoch war. Er sah von seinem Buch kurz hoch und brummte dann etwas das mit viel Fantasie wie Hallo klang. Genya wäre traurig darüber, wenn sie nicht wusste, dass er sich für kaum jemanden die Mühe machte, aufzublicken und er noch viel weniger andere grüßte. Sie bildete sich gern ein, dass sie etwas Besonderes war. Und wenn sie ehrlich war, reichte jede kleine Geste, jedes Murmeln von ihm aus, um ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. „Ist der Platz neben dir noch frei?“, fragte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. David brummte noch einmal etwas, machte aber den Platz neben sich frei und räumte seinen Stapel Bücher auf den Tisch vor sich. Glücklich setzte sich Genya neben ihn und hoffte, dass die Stunde für immer dauern würde. Es war seltsam, dass alles, was sie brauchte, um auf Wolke sieben zu schweben, in seiner Nähe zu sein war. Natürlich würde sie sich über mehr freuen, doch für den Moment war sie ganz zufrieden. Solange sie David sehen konnte und ihm ein wenig Aufmerksamkeit abringen konnte, solange sie neben ihm still arbeiten konnte, fühlte sie sich nicht mehr so einsam und alleine. Dann fühlte sie sich, als würde sie dazu gehören. Als würde sie zu ihm gehören. Und das war das schönste Gefühl auf der Welt. Kapitel 3: Flüstern II (Harschow & Onkat) ----------------------------------------- Harschow konnte seinen Augen kaum trauen, als er sah wie die Sonnenkriegerin mithilfe der Spiegelschüsseln auf dem Dach des Kleinen Palastes den Schnitt ausführte. Sie alle hatten sich versammelt, um der beeindruckenden Performance beizuwohnen, doch bis vor einer Sekunde waren sie noch alle skeptisch und voller Angst gewesen. Sie alle hatten sich gefragt, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, im Kleinen Palast zu bleiben. Viele von ihnen waren geflohen oder hatten sich dem Dunklen und seiner Schattenarmee angeschlossen. Harschow hatte sich schon oft gefragt, warum er geblieben war. In genau diesem Augenblick wusste er, dass eine Sonnenkriegerin mit einem solchen Lichtstrahl ihm als Anführerin viel besser gefiel als der Dunkle. Ihre Lichtstrahlen hatten viel mehr mit seinem Feuer gemein, als die tanzenden Schatten, die der Dunkle aus seinen Händen heraufbeschwören konnte. Das machte ihm die Sonnenkriegerin definitiv schmackhafter und sympathischer. Die Flammen würden ihm da sicher zustimmen. Und kämpfen konnte er überall, solange er seine Feuersteine hatte und etwas explodieren lassen konnte. Er vermisste die Zeit, als er noch mit den Fabrikatoren auf das Außengelände gefahren war, um neue Waffen zu testen. Die anderen Inferni hatte ihn dafür immer abschätzig gemustert, doch er hatte das völlig ignoriert. War doch egal mit wem man etwas in die Luft jagte. Hauptsache war doch, dass man etwas in die Luft jagte. Seitdem die Zweite Armee am Boden war, waren die Experimente eingestellt worden und das Außengelände war nicht mehr in Benutzung. Um ihn herum brachen alle in ein Jubelschrei aus und zum ersten Mal war die Stimmung nicht mehr so bedrückend. Harschow folgte den anderen an den See, wo sie den Graben entlang schritten, den der Lichtstrahl in den Boden geschnitten hatte. Das Loch war völlig verkohlt. Der Waldboden war bedeckt mit den gekappten Baumgipfeln, Ästen und Blattwerk. Diese Verwüstung war ganz nach Harschows Geschmack. Freudig schlug er seine Feuersteine gegeneinander und ließ Funken springen. Die anderen Inferni taten es ihm nach und bald hatten sie am Seeufer mehrere Freudenfeuer entzündet. Der jüngere Prinz sorgte dafür, dass Champagner aus dem Palast gebracht wurde und plötzlich feierten sie eine richtige Party am See. Die ganze Anspannung und Angst schien von ihnen abgefallen zu sein. So als hätten sie schon die Schlacht gewonnen. Von irgendwoher ertönte Musik und alle lachten, waren fröhlich und ausgelassen. Hilfe, wisperte es auf einmal aus dem Wald. Harschow sah verwirrt auf. Das Flüstern klang wie seine Flammen, aber irgendwie doch anders. Und das Wispern kam nicht von den Feuern am Rande des Sees und auch nicht von den Menschen um ihn herum. Niemand anders schien die Stimme zu hören. Es war wie mit den Flammen. Hilfe, ich stecke fest. Harschow stand auf und folgte der Stimme in den Wald. Sie war schwach, kaum mehr als Hauch, der von dem Partylärm fast verschluckt wurde. „Wo bist du?“, rief er in den Wald hinein und suchte den Waldboden und die Bäume ab. Er sah kein Feuer und er war sich nicht sicher, wonach er eigentlich suchte. Suchend ließ er seine Augen über alles um ihn herum wandern und spitzte zugleich die Ohren um die leisen Hilferufe wahrzunehmen. Er hatte das Gefühl näher zu kommen, doch er sah nichts. Verwirrt fuhr er durch seine roten Haaren. Vielleicht sollte er wieder umdrehen, aber dann sah er einen roten Schatten unter einem der Baumgipfel, die abgebrochen zwischen den Bäumen lagen. Hilfe, fiepte das kleine Wesen. Harschow kam näher und sah, dass es eine rot getigerte Katze war, die unter den Ästen und Blattwerk lag. Er verstand nicht ganz, warum er die Katze hören und verstehen konnte, aber er würde ihr helfen. Schnell räumte er alles von der Katze herunter, die sofort aufsprang und sich streckte. Scheinbar war sie nicht verletzt, denn sie ging ein paar Schritte von ihm weg, bevor sie sich zu ihm umdrehten und ihn mit ihren grünen Augen musterte. Sie schien genauso verwirrt zu sein, dass er sie gehört hatte, wie er darüber war. Je länger er sie betrachtete, desto mehr erinnerte sie ihn an ihn selbst. Ihr rotes Fell und seine roten Haare. Beide waren sie hager. Sie beide hatten diesen neugierigen, hypnotisierenden Blick, der alles um sie herum wahrnahm. Er hatte das Gefühl, dass er sie bereits ewig kannte. Es war als blickte er in sein Spiegelbild in Katzenform. Sie fühlte sich genauso vertraut an, wie die Macht in ihm, aber doch anders. Eigenständiger, wilder, klüger. Er streckte die Hand nach ihr aus und sie blieb sitzen. „Onkat“, sprach er sie ganz automatisch auf Kaelisch an und sie miaute bejahend. Er lächelte und strich ihr vorsichtig über den Kopf. Sie schmiegte ihren Kopf gegen seine Handfläche und schnurrte leise. Danke. Harschow schlug seine Feuersteine aneinander und ließ Funken sprühen. Onkat jagte ihnen nach und hüpfte wild durch die Äste und Blätter. Ihr schien es wirklich gut zu gehen. Sie bewegte sich geschmeidig und tänzelte wie eine Flamme durch den Wald. Er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Sie verzauberte ihn. Harschow überlegte, ob er schon einmal so eine Verbindung zu einer Katze gehabt hatte, aber es fiel ihm nichts dergleichen ein. Onkat erschien einzigartig zu sein. Er pfiff und sie sah ihn abschätzig an. Natürlich, sie war kein Hund, der kam, wenn man ihn rief. Nach ein paar Sekunden stolzierte sie zu ihm herüber und strich um seine Beine. Ich mag dich, entschied sie. Er lachte leise auf und streichelte sie ausgiebig. „Ich mag dich auch, Onkat.“ Heute war ein guter Tag, dachte Harschow später, als er sich ins Bett legte. Onkat war ihm nicht mehr von der Seite gewichen und hatte ihn zurück in den Kleinen Palast begleitet.Er hatte heute Morgen beim Aufstehen sicher nicht damit gerechnet eine Katze zu finden, die ihm so sehr ähnelte. Genauso wenig wie er daran geglaubt hatte, dass die Sonnenkriegerin mit den schrägen Spiegelschüsseln von dem Fabrikator einen gigantischen Lichtstrahl erzeugen konnte. Solche Tage voller Überraschungen waren genau das richtige für ihn. Es fühlte sich richtig an, als Onkat sich auf seiner Brust einrollte. So als war sie wie die Flammen ein Teil von ihm, der außerhalb seines Körpers lag, aber doch zu ihm gehörte. Er strich noch einmal über ihr rotes Fell, bevor er die Augen schloss, zufrieden mit dem Moment und begierig darauf morgen neue Abenteuer zu erleben. Kapitel 4: Reisevorbereitungen (Jesper & Wylan) ----------------------------------------------- Jesper konnte nicht stillsitzen. Ungeduldig tigerte er von der einen Seite des Raumes zur anderen, wobei er die Möbel umrundete, die ihm im Weg standen. Das kleine Sofa mit dem Beistelltisch, das Klavier und den Schreibtisch an Wylan saß, dem er eigentlich dabei helfen sollte, mehrere Briefe aufzusetzen, doch er konnte seine Gedanken nicht vom Kreisen abhalten. „Du sollst mir helfen“, beschwerte sich der Kaufmannssohn, der nun selbst ein Geschäftsmann war und zwar ein deutlich besserer als sein Vater es jemals gewesen war. „Glaubst du, es ist wirklich eine gute Idee?“, fragte Jesper, während er sich auf die Lippe biss. „Es war deine Idee“, gab Wylan zurück, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren vor sich zu wand, um eine Sekunde später genervt aufzugeben. „Du musst nicht mitkommen. Du kannst hierbleiben“, sagte der Dunkelhaarige. „Wenn ich ehrlich bin, hatte ich viel zu viel zu trinken und ich hab es nur so aus dem Moment heraus gesagt....Ich glaube es ist besser, wenn ich hier bleibe. Lass uns die Sache vergessen.“ Wylan schüttelte seinen Lockenkopf und lachte. Wie sehr er nur dieses melodische Lachen und diese rotblonde Locken liebte. Er wollte sofort zu ihm herübergehen und ihm einen Kuss geben, bevor er seine Hände über diese zierlichen Körper wandern lassen würde... Doch gerade kämpfte er mit einem anderen Gedanken in seinem Kopf. Er hatte es nur so daher gesagt, als er meinte, dass er bereit war einen Lehrer in Rawka suchen würde. Er war es seiner Mutter schuldig, mehr über seine Grischakräfte zu erfahren. In dem Augenblick, als er es ausgesprochen hatte, hatte es sich richtig angefühlt, doch jetzt war er unsicher. Er wusste, dass er es Wylan versprochen hatte, als der ihm erlaubt hatte, an der Börse zu spekulieren. Jesper hatte es nur gesagt, weil er wusste, dass es Wylan hören wollte. Er hatte gedacht, dass die Sachen damit gegessen war. Gestern Abend war es aber über ihn gekommen. Die Faulheit, die mit dem Luxus einherging, hatte ihn träge gemacht. Plötzlich wollte er wieder Abenteuer erleben. Warum nicht nach Rawka fahren und sein Versprechen einlösen? Wylan hatte ihm sofort angeboten mitzukommen, damit er nicht alleine in ein fremdes Land musste. Als ob er ihn beschützen konnte. Jesper konnte nicht leugnen, dass es ihn glücklich gemacht hatte, wie bereitwillig Wylan ihn begleiten wollte, obwohl er gerade erst seine Mutter wieder hatte und er noch ein Neuling im Geschäft war. Doch all das würde er für ihn stehen lassen, damit sie gemeinsam nach Rawka gehen konnten. „Du hast es mir versprochen, erinnerst du dich? Und warum sollten wir nicht jetzt gehen? Wir bleiben ja nicht für immer weg. Und wir können Nina in Rawka treffen. Inej erwartete uns morgen im Hafen auf ihrem Schiff und ich glaube, wir wollen nicht das Phantom versetzen oder nicht?“ Jesper grummelte. Er ließ sich auf das Sofa fallen und streckte seine langen Beinen auf dem Beistelltisch aus. Wylan sah ihn abschätzig an und er nahm die Füße vom Tisch. Er wollte es nicht laut aussprechen, also tat Wylan es für ihn. „Du hast Angst und du schämst dich dafür. Das ist doch völlig okay. Jeder hat Angst. Du solltest dich nicht vor diesem wunderbaren Teil von dir selber fürchten.“ Jesper verschränkte die Arme. Er wollte nicht darüber reden. Er wusste selbst, dass es idiotisch war. Was sollte ihm schon passieren? Wenn er lernte mit seiner Macht umzugehen, würde es ihm besser gehen. Er würde endlich den Teil von sich kennenlernen, den er solange vor sich verschlossen hatte. Er würde sich ganz fühlen. Davor musste er keine Angst haben. Wylan kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Er fuhr mit seinen langen Fingern über seinen Arm und Jesper unterdrückte einen Schauer. Wie konnte dieser Junge, der bis vor ein paar Monaten noch grün hinter den Ohren gewesen war, so schnell lernen? „Lass das“, zischte Jesper, weil er bereits spürte, wie er bereit war nachzugeben und alles zu tun, was Wylan von ihm wollte. Und wollte er es nicht auch? „Ich werde schon auf dich aufpassen und dafür sorgen, dass Rawka dich nicht in die zweiten Armee eingegliedert. Ich brauche dich schließlich hier.“ „Weil das Krämerlein sonst seine Briefe nicht schreiben kann und ihm niemand sagt, was in all den wichtigen Dokumenten steht?“, zog Jesper ihn mit seiner Leseschwäche auf. „Dafür kann ich jemanden anderes einstellen. Du hast nicht gerade die schönste Schrift“, gab Wylan keck zurück, obwohl seine Wangen sich verräterisch rot färbten. „Und du gibst zu viele Widerworte. Wenn ich es mir so überlege, sollte ich dich entlassen und mir jemand anders suchen.“ „Ach“, Jesper zog die Augenbraue hoch. „Würdest du das? Würdest du mit ihm auch das Bett teilen und ihm all deine kleine Geheimnisse ins Ohr flüstern?“ Wylan errötete noch stärker. Er sah ihn aus seinen klaren, blauen Augen an und Jesper verlor sich in den Tiefen dieser Augen. Er beugte sich vor und zog Wylan an sich heran, um ihn leidenschaftlich zu küssen. „Weißt du, Jesper, ich liebe dich in all deinen Facetten“, flüsterte Wylan ihm ins Ohr, während er sich an seine Brust kuschelte. „Warum kannst du nicht auch sehen, was für ein wunderbarer Menschen du bist?“ Sein Herz raste wie ein wild gewordenes Pferd durch seine Brust, als Wylan ihm seine Liebe gestand. Wie sehr dankte er Ghezen dafür, dass sie all diesen Wahnsinn gemeinsam überlebt hatten und nun hier auf diesem Sofa einander in den Armen lagen. War es da so schräg, dass er fürchtete, diese Ruhe und Frieden wieder zu verlieren? Dass er genug vom Wahnsinn hatte? Aber er belog sich selbst, dass wusste er genau. Er konnte nicht stillsitzen und an einem Ort verweilen. Er war ein unruhiger Geist. Und was machte eine Reise mehr, wenn er Wylan an seiner Seite hatte? Er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen und ganze Armeen mit seiner Macht niedermähen, solange er diesen Jungen neben sich hatte. Sein Herz explodierte fast vor Freude und Aufregung. Zwischen den Küssen murmelte er: „Okay, wir fahren morgen“ und erstickte Wylans freudigen Aufschrei mit einem weiteren Kuss. Morgen würden sie Seite an Seite in ein neues Abenteuer aufbrechen, doch bis dahin würde er Wylan in seinen Armen halten und den Frieden genießen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)