Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 29: Dunkle Versuchung ----------------------------- Marcus saß auf dem breiten Bett des rotschwarzen Schlafzimmers, die Beine übereinandergeschlagen, den Rücken und Kopf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen. Er wartete. Wie lange noch, war ungewiss. Er wusste nicht, wann Belial vorhatte, sich wieder an ihm zu ergötzen. Allerdings sagte ihm sein Gefühl, dass es nicht mehr allzu lange dauern konnte. Crystal hatte ihn schon vor einiger Zeit hierher gebracht, in seinem Blut eine gute Portion des Gifts, das seinen Körper bereits in Hochstimmung versetzte. Er lächelte, als er an den Kuss dachte. Es war, so eigenartig das klang, eine schöne Erinnerung, die er benutzte, um die restlichen Eindrücke der Nacht nach hinten zu drängen. Und gleichzeitig musste er sie wieder hervorholen, wenn er schaffen wollte, was er sich vorgenommen hatte. Musste die Erinnerung wachrufen an diesen Zustand, der ihn zwischenzeitlich erfasst hatte. Der, in dem alles egal war. Es waren nur sehr kurze Abschnitte gewesen, in denen das passiert war. Manchmal nur Sekunden. Flüchtige Momente, in denen er am Rand des Abgrunds gestanden hatte, bereit sich der Dunkelheit zu ergeben. Immer wieder hatte er sich selbst zurückgerissen. Hatte sich daran erinnert, wer er war und was ihn ausmachte. Er war nicht gebrochen, aber die Belastungsgrenze war nahe gewesen. Zu nahe. Dabei waren es nicht einmal die Schmerzen gewesen, von denen er sich sicher war, dass sie für ihn weniger schlimm gewesen waren als für einen normalen Menschen. Natürlich spürte er sie, aber sie verblassten auch schnell wieder. Nerven, Haut, Knochen, alles heilte innerhalb kürzester Zeit. Zudem hatte der Sukkubus ja die Aufgabe gehabt, ihn erregt zu halten, und war somit vielleicht nicht ganz so hart vorgegangen, wie man es getan hätte, wenn man ihn ernsthaft hätte verletzen wollen. Und doch war es gerade diese Erregung gewesen, die ihn am meisten gedemütigt hatte. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Das Gefühl, irgendwann abzurutschen, zu kapitulieren, zu betteln und Belial damit zu geben, was er wirklich wollte. Denn das, dessen war sich Marcus sicher, war nicht allein sein Körper gewesen. Hätte er diesen haben wollen, hätte er ihn sich nehmen können. Nein, was der Dämon wollte, war, dass Marcus fiel, so wie er einst gefallen war. Dass er sich der Dunkelheit entgegenwarf und sie umarmte, zu einem Teil von ihr wurde. Dass er sich ihr freiwillig hingab. Das war der Triumph, den er erleben wollte. Und das war es auch, was Marcus ihm vorzuspielen gedachte. Der Plan war nicht ohne Risiko, das war ihm klar. Wenn Belial merkte, dass Marcus ihn belog, würde er vielleicht nicht mehr so zimperlich mit ihm umgehen wie zuvor. Marcus erinnerte sich an … Dinge. Dinge, die er lieber nicht gesehen hätte. Man mochte das Treiben einer Gottesanbeterin schrecklich und ekelerregend finden, aber ein Tier war nicht grausam. Belial war grausam.   Als er die Tür des Schlafzimmer hörte, öffnete Marcus die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Es war so weit. Das Warten war vorbei. Langsam erhob er sich vom Bett.   Belial trat ein Stück in den Raum hinein, die dunklen Augen zu Schlitzen verengt. „Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu finden.“ „Ich hatte nicht erwartet, so lange auf dich warten zu müssen.“ Ein schmales Lächeln, ein amüsiertes Geräusch. Hinter Belial konnte Marcus Crystal in der Gestalt des rothaarigen Sukkubus sehen. Sie stand noch im Gang, beinahe verdeckt von zwei Wächterdämonen und einer weiteren Frau – vermutlich ebenfalls ein Sukkubus – die zwei weibliche, spärlich bekleidete Sklaven an dünnen Lederleinen führte. Woher diese Unglücklichen stammten, wusste Marcus nicht. Nur, dass ihre Lebenserwartung vermutlich nicht besonders hoch war. „Ich nehme an, dass es hierfür eine Erklärung gibt?“, sagte der Dämon und deutete mit einer Geste Marcus, den Raum, die Gesamtheit der Situation an. „Ja, die gibt es. Aber das würde ich lieber unter vier Augen besprechen.“ „So, würdest du. Und wenn ich es dir verweigere?“ „Wirst du nicht bekommen, was du wirklich willst.“ Wieder ein Geräusch, das nur fast ein Lachen war. Ein Lächeln entblößte Belials Eckzähne. „Nun gut. Ich will mir anhören, was du zu sagen hast. Du warst immerhin schon sehr fleißig heute Nacht. Wer weiß, vielleicht ist diese Unterhaltung meinem Ziel ja dienlich.“ Mit einem Wink seiner rechten Hand entließ Belial die beiden Wächter und auch der fremde Sukkubus zog unverrichteter Dinge von dannen. Einzig Crystal blieb in der Tür stehen. Sie warf den Kopf zurück und stemmte die Hand in die Hüfte. In ihrer Hand hielt sie eine lange Lederpeitsche. Ein Instrument, das Marcus inzwischen zu fürchten gelernt hatte. Es gab Schmerzen, die unangenehmer waren als andere. Belials Blick legte sich auf ihn. „Was ist mit ihr? Möchtest du, dass sie bleibt?“ Einen Augenblick lang war Marcus in Versuchung. Crystal hierzubehalten bedeutete eine zusätzliche, wenngleich auch trügerische Sicherheit für ihn. Er hätte versuchen können, sie in seinen Plan einzubeziehen, und sie im Notfall vielleicht sogar als Unterstützung gegen Belial einsetzen können. Allerdings war er sich bewusst, dass der Sukkubus dem Dämonenfürsten nicht gewachsen war. Außerdem hegte Marcus den starken Verdacht, dass die Beteiligung, die Belial im Sinn hatte, nicht die war, die Marcus sich in seiner halbmenschlichen Unschuld so vorstellte. In Belials Augen würde es vermutlich Sinn machen, wenn Marcus Rache nahm und den Sukkubus für das bestrafte, was der ihm angetan hatte. Das wollte Marcus um jeden Preis vermeiden. Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie soll auch gehen. Und ich würde es vorziehen, wenn uns in den nächsten Stunden niemand stören würde. „Stunden gleich.“ Belials eine Augenbraue hob sich spöttisch. „Mir scheint, du überschätzt dich etwas. Oder du unterschätzt mich.“ „Möglich“, gab Marcus gelassen zurück. „Aber jetzt schick sie weg und verriegele die Tür.“ Wieder diese enervierende Lachen. „Nun gut, wie du wünschst. Ich hoffe, dass hier wird wenigstens halb so amüsant, wie du mir versprichst.“ „Ich halte meine Versprechen in der Regel.“ „Im Gegensatz zu mir?“ „Exakt.“ Diese Mal lachte Belial tatsächlich. Er schnippte mit dem Finger und Crystal gehorchte. Als sie die Tür hinter sich schloss, atmete Marcus innerlich auf. Jetzt musste er nur noch überzeugend sein. Sehr überzeugend.   „Also“, begann Belial, „du wolltest mit mir sprechen. Ich höre.“ „Nun, die Sache ist die, ich …“ Marcus stockte bewusst, als wisse er nicht recht, was er sagen sollte. „Ich hatte Zeit, nachzudenken.“ „Ach wirklich?“ Belial klang amüsiert. „Dann scheint meine Dienerin ihre Aufgabe nicht gut genug verrichtet zuhaben. Eigentlich hatte ich ihr gesagt, sie solle dich um den Verstand bringen.“ „Oh, das hatte sie geschafft. Fast zumindest.“ Marcus wandte den Blick ab und blickte ein wenig scheu zu Boden. „Allerdings hatte ich ja eine interessante Aussicht zu genießen.“ Belial trat näher und musterte Marcus, der immer noch die schwarze Hose trug, die Crystal ihm für seine Verkleidung herausgesucht hatte. Den Rest des Kostüms hatte er abgelegt. „Mhm“, machte Belial. „Du hast dich umgezogen. Gibt es dafür einen Grund?“ „Ich … ich dachte, es gefällt dir vielleicht.“ Im nächsten Moment fand sich Marcus auf dem Boden wieder mit Belial über sich, der sein Knie gegen Marcus Hals drückte und ihm die Luft abschnürte. In seinen Augen glitzerte kalte Wut. „Lüg mich nicht an. Du bist alles aber keine keusche Jungfrau, die versucht, die Sympathie des Biests durch ihren hübschen Augenaufschlag zu erlangen. Also sag mir: Was willst du wirklich?“ „Ich … ich will …“, keuchte Marcus und versuchte erfolglos zu schlucken. „Ich will nicht mehr wie ein Tier gehalten werden.“ Belial nahm sein Knie von Marcus schmerzendem Hals. „Na also, es geht doch. Warum nur erst dieser stümperhafte Versuch mich zu täuschen? Du taugst nicht dazu, also versuch es gar nicht erst.“ Marcus sah vom Boden aus zu Belial auf. „Ich …“, er schluckte und dieses Mal ließ er es zu, dass etwas seiner echten Beklemmung an die Oberfläche geriet. „Ich habe so etwas noch nie gemacht.“ „Was?“ „Na das hier.“ Marcus sprach es nicht aus. Er wusste, dass Belial wusste, was er meinte. Es war vermutlich der Teil dieses Spiels, den der Dämon am meisten genoss. „Aber du willst es probieren. Du willst deine Seele verkaufen für deinen Stolz?“ Belials Stimme war lauernd und Marcus nickte zögernd. „Mhm“, war die einzige Antwort, die er erhielt. Statt weiter auf ihn zu achten, ging der Dämon zu dem Tisch, auf dem ein frisches Glas bereit stand. In Ermangelung eines Dieners übernahm Belial selbst die Aufgabe, sich etwas von dem Wein einzuschenken. Als sein Blick auf die Karaffe fiel, hielt er sie hoch und in Marcus’ Richtung. „Ich nehme an, du möchtest nichts?“ In Anbetracht der Situation wäre es vielleicht schlau gewesen, wieder zu verneinen. Stattdessen nickte Marcus langsam. „Doch, ich glaube, ich … hätte gerne ein Glas.“ Ein winziges Lächeln huschte über Belials Züge. „Das freut mich. Er ist wirklich vorzüglich, auch wenn ich schon edlere Flüssigkeiten in diesen Gefäßen hatte.“ Der Gesichtsausdruck des Dämons zeigte Marcus deutlich, worauf dieser anspielte. Er blickte zur Seite. „Ich hab mir Mühe gegeben“, erwiderte er trocken. Ein ernsthaft amüsiertes Lachen folgte seiner Bemerkung. „Weißt du denn inzwischen auch schon, was ich damit anstellen werde?“ „Ich habe es mir zusammengereimt. Ein ehrgeiziger Plan.“ „Nicht wahr? Aber so bin ich eben. Understatement war noch nie so mein Stil.“ Marcus sah sich in dem protzigen Schlafzimmer um. „Das sehe ich.“   Mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck ließ Belial sich auf seinem Chaiselongue nieder, nahm einen Schluck Wein und musterte Marcus eindringlich. Fast glaubte Marcus, seinen Blick wieder wie streichelnde Finger auf seiner Haut zu spüren. Er unterdrückte ein Schaudern. Crystals Gift hatte ihn seltsam sensibel werden lassen für derlei Stimulation. Er räusperte sich. „Hattest du mir nicht etwas zu trinken angeboten?“ „Dein Glas steht auf dem Tisch. Wenn du es willst, musst du es dir holen.“ Marcus kam der Aufforderung nach, stand auf, ging zum Tisch und ergriff das schwere Kristallgefäß. Der Pokal war facettenreich geschnitten, sodass sich das Licht darin brach und die rote Flüssigkeit im Inneren zum Leuchten brachte. Marcus zögerte kurz. „Gift?“ fragte er. „Dieses Mal nicht“, versprach Belial. Im Grunde hätte Marcus sich die Frage sparen können. Er würde sowieso nie wissen, ob der Dämon log oder die Wahrheit sagte. Also setzte er den Wein an und trank. Der Geschmack war vollmundig und süßer, als Marcus erwartet hatte. Er leckte sich über die Lippen und nahm noch einen Schluck. „Gut?“, fragte Belial. „Besser als erwartet“, gab Marcus zu. „Möchtest du es dir nicht etwas bequemer machen?“ Die Frage war selbstverständlich anzüglich gemeint, aber Marcus ging nicht weiter darauf ein. Er ließ seinen Blick über Belial schweifen, der vollkommen entspannt auf dem langen, gut gepolsterten Möbelstück ruhte. Marcus drehte das Weinglas in den Händen. „Darf ich … mich setzen?“ „Wenn du möchtest.“ Marcus musste noch einmal an die Gottesanbeterin denken. Ob Insekten wohl etwas fühlten? Wenn ja, kam Marcus sich gerade wie ein Heuschreckenmännchen vor.   Einige Minuten lang passierte gar nichts und Marcus wurde zunehmend nervöser. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er drehte sich zu Belial herum und knurrte: „Willst du nicht irgendetwas tun?“ Belial tat erstaunt. „Ich? Ich dachte du wolltest mir einen Vorschlag machen, den ich nicht ablehnen kann. Aber bisher sehe ich nur, dass du meine Weinvorräte dezimierst. Möchtest du noch etwas?“ Marcus sah in sein Glas, das er wohl irgendwann geleert hatte, ohne es wirklich zu merken. Er spürte die Wirkung des schweren Weins, die sich mit der des Sukkubus-Gifts mischte. „Ich … ich sollte vielleicht nicht.“ „Der Wein macht es leichter. Auch wenn ich dir vielleicht ein wenig skrupellos erscheinen mag, so habe ich durchaus auch Spaß an meinen Gespielen, die dabei Genuss empfinden. Echten Genuss. Genuss, der sie nach mehr betteln lässt. Ich bin ein talentierter Liebhaber.“ Marcus entwich ein freudloses Lachen. „Eingebildet bist du wohl gar nicht.“ „Nein. Und wenn doch, wären die meisten hier zu feige, es mir zu sagen.“ Die Bemerkung ließ Marcus unwillkürlich lächeln. Ja, das Heer an Speichelleckern konnte er sich lebhaft vorstellen. Zumindest das von denen, die wirklich in der Lage waren, Belials Interesse zu wecken. Der Umgang mit dem Cadejo hatte Marcus deutlich gezeigt, dass Belial wählerisch war. Sehr wählerisch. Er nahm noch einen Schluck Wein aus dem frisch eingeschenkten Glas, bevor er es entschieden auf den Tisch stellte und sich zu Belial herumdrehte. Der beobachtete das mit nur mäßig verhohlenem Spott. Erneut ließ Marcus seinen Blick über den Dämon wandern. Er fand nichts an Männern, hatte das noch nie getan. Trotzdem sah er wohl, dass Belials Äußeres in höchstem Maße gefällig war. Seine Züge verrieten den Engel, der er einst gewesen war. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte Belial. Marcus überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Du bist schön“, sagte er. „Nicht, wie man oft von Männer sagt, dass sie einfach gut aussehen, sondern regelrecht schön.“ „Ich gefalle dir also?“ „Ja, ich denke schon.“ „Mhm.“ Belial beugte sich vor und stellte nun ebenfalls sein Glas ab, bevor er sich wieder nach hinten gegen die Rückseite des Chaiselongues lehnte. „Und was gedenkst du jetzt zu tun?“ Erneut schluckte Marcus. Er wünschte sich mehr Wein, mehr Mut, mehr irgendwas, um das hier durchzuziehen. Unwillkürlich fühlte er sich in das schäbige Motelzimmer zurückversetzt, als er versucht hatte, das erste Mal mit Crystal zu schlafen. Im Gegensatz zu Belial war sie Marcus jedoch ein Stück weit entgegengekommen. Diese Brücke hier würde er anscheinend ganz allein überqueren müssen. Er musste zugeben, dass er das nach dem ersten Zusammentreffen mit Belial nicht erwartet hatte. Irgendetwas übersah er. Aber was?   „Mir scheint, wir sind hier fertig“, sagte Belial plötzlich. Er erhob sich, schenkte Marcus noch einen mokanten Blick und wandte sich zum Gehen. „Ich werde Delilah zu dir schicken. Sie wird sich um alles kümmern.“ „Nein!“ Marcus’ Hand schnellte vor und hielt Belials Arm fest. Seine Finger krampften sich um den schwarzen Stoff. Er durfte nicht gehen. „Bleib.“ Er sah zu Belial auf. „Bitte.“ Marcus fühlte sein Herz in seiner Brust schneller schlagen. Ließ zu, dass Crystals Gift endlich frei in seinem Körper zirkuliert und unterdrückte die Wirkung nicht länger. Langsam zog er Belials Hand zu sich heran, hielt sie neben sein Gesicht und dann … lehnte er sich vor und platzierte einen vorsichtigen Kuss auf der Handfläche. Belials Finger schmiegten sich an seine Wange, umfassten seinen Kiefer und strichen von dort aus federleicht abwärts. Marcus konnte die scharfen Nägel fühlen, die, ganz ähnlich wie Crystal Krallen, seine Haut streiften. Er wusste, dass sie seine Luftröhre binnen Sekunden zerfetzen und ihn töten konnten. Und doch lag in der Berührung eine Sanftheit, die er nicht erwartet hatte. Eine tödliche Waffe gehüllt in kühle Seide und schmeichelnden Samt. Die schwarzen Augen des Dämons richteten sich auf ihn und er spürte, wie Belials Daumen über seine Lippen fuhr. Wieder war die Berührung nur ganz zart, fast nicht spürbar. Es machte Marcus wahnsinnig und er musste sich beherrschen, ihr nicht entgegenzukommen, um den Reiz erträglicher zu machen. Das bin ich nicht, das will ich nicht, hämmerte es in seinem Kopf. Er manipuliert dich! Wieder eine sachte Berührung, ein Streicheln ganz am Rand des Spürbaren und doch jagte sie tausend Stromstöße durch Marcus’ Körper. Seine Augen schlossen sich wie von selbst und als er Daumen erneut seine Lippen streifte, öffnete er diese ganz leicht. Ließ zu, dass Belial die feuchte Innenseite berührte. Sein Atem beschleunigte sich und er spürte die Hitze, die sich zwischen seinen Beinen sammelte. Das Gift, der Wein und diese Beinahe-Berührung waren auf beunruhigende Weise berauschend. Er wollte mehr und als Belial sanft sein Kinn umfasste und es nach unten zog, öffnete er bereitwillig den Mund. Die Luft ließ seine Schleimhäute trocken werden und er schluckte instinktiv, bevor sich seine Lippen erneut teilten. Wieder strich Belial mit seinem Finger darüber und als er sanft in seinen Mund eindrang, schob Marcus seinen Stolz beiseite, streckte seine Zunge vor und ließ sie über die Fingerspitze gleiten. Sofort hielt der Dämon in seiner Bewegung inne. Marcus, der das Gefühl hatte, einen Fehler gemacht zu haben, öffnete die Augen und sah auf. Auf Belials Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Kein Muskel zuckte und verriet, was ihm gerade durch den Kopf ging. Und plötzlich wünschte sich Marcus genau das. Dass er eine Reaktion bekam. Dass dieses engelsgleiche Gesicht ihm verriet, was Belial von ihm dachte. Noch einmal ließ er seine Zungenspitze über den Finger in seinem Mund gleiten. Einen winzigen Augenblick zögerte er ob des ungewohnten Gefühls, bevor er die Lippen darum schloss und zu saugen begann. Ihm war bewusst, was das hier andeutete. Ihm war bewusst, dass er im Angesicht dieser Bedrohung nicht hart sein sollte. Ihm war bewusst, dass das hier allem zuwider lief, was er bisher über sich zu wissen geglaubt hatte. Ein mikroskopisches Lächeln erschien auf Belials Lächeln. „Ich nehme an, dass du damit etwas bezweckst?“ Marcus unterbrach sein Tun. Er ließ Belials Finger wieder aus seinem Mund gleiten. Sein Atem ging schnell. „Ich … Ich will …“ „Ja?“ Belial beugte sich zu ihm herab, so dicht, dass Marcus dessen warmen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Schwarze Augen bohrten sich in seine. „Sag es mir, Marcus. Was willst du?“ Marcus schluckte. Da war er, der Rand des Wahnsinns. Die Klippe, über die er sich fallen lassen musste, ungewiss, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Ungewiss, ob es einen Rückweg geben würde. Er spürte, wie Angst seinen Nacken hinaufkroch. Nein, nein, das durfte nicht passieren. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde Belial den Raum verlassen und alles war verloren. Ihm blieb keine Wahl. Er musste springen. Noch bevor er wusste, was er wirklich tat, griff er nach vorn, erwischte Belials Hemd zwischen seinen Fingern und zog ihn an sich. Ihre Münder krachten aufeinander und verschmolzen zu einem gierigen, brennenden, alle Zweifel hinfortfegenden Kuss, der die letzten Lichter in Marcus’ Kopf ausschaltete. Mit einem letzten Aufbäumen seines Willens dachte er noch einmal daran, wofür er das hier alles tat, bevor er sich endgültig der Dunkelheit ergab.       Mit zwischen die Zähne geklemmter Zunge malte Crystal die letzten Zeichen von dem Fetzen Papier in ihrer Hand ab. Sie musste leise sein, damit Belial sie nicht hörte oder einer der Wächter darauf aufmerksam wurden, was sie hier tat. Ansonsten könnte das wirklich unangenehm werden. Wie sollte sie schließlich erklären, dass sie hier gerade einen Schutzauber gegen Dämonen an Belials Schlafzimmertür anbrachte? Das würde ihr doch keiner abkaufen. Sie wunderte sich im Grunde genommen sogar darüber, dass Ernie nicht misstrauisch geworden war, als sie ihm erzählt hatte, dass sie eine Verabredung mit Delilah plante und dabei nicht gestört werden wollte. Nicht mal bei der Bitte um Extrasymbole zur Schallisolierung hatte er gezuckt. Die besten Märchen waren eben die, die man immer wieder erzählen konnte, ohne dass sie langweilig wurden. Nach dem letzten Kreidestrich verglich sie noch einmal die Zeichnung auf dem Bild mit der auf der Tür. Joah, sah gut aus und würde somit hoffentlich diese nervigen, kleinen Mistkerle abhalten, die Beelzebub ihrem Herrn und Meister zur Verfügung gestellt hatte. Mochte ja angehen, dass diese winzigen Spitzel manchmal ganz nützlich waren, aber Crystal fand sie ungefähr genauso toll wie die Scheißhausfliegen, die sie nun mal waren. Ach, sieh an, da ist ja schon so ein Brummer. Der fliegengroße Dämon schwirrte in Richtung Tür, kam den Schriftzeichen darauf ein bisschen zu nahe, es gab einen kurzen Lichtblitz und schon schwirrte ein stinkendes Häuflein Asche zu Boden. Okay, das funktioniert, dachte Crystal zufrieden. Jetzt muss ich mich nur noch um die 499 anderen Dämonenspezies kümmern, die hier rumkreuchen und -fleuchen. Na dann mal los. Crystal straffte sich, zog noch einmal den roten Pferdeschwanz fest und stolzierte dann auf die beiden gehörnten Riesen zu, die rechts und links der Tür Wache hielten. Als sie direkt vor ihnen stand, wedelte sie mit der Hand, um die Aufmerksamkeit der dummen Kraturen zu erwecken. „Ihr da, mal herhören! Also Folgendes, unser Herr will jetzt nicht gestört werden. Das heißt, egal wer hier ankommt und durch diese Tür will, ihr haltet ihn auf. Verstanden?“ Die gehörnten Dämonen reagierten nicht. „Ey, ich rede mit euch. Hört ihr mich?“ Wieder rührte sich keiner der beiden. Crystal stöhnte. „Echt jetzt? Halloooo? Sprechen Sie Deutsche? Do you speak English? Parlez-vous français? Español? Italiano? Nein? Och kommt schon. Ich muss jetzt nicht mein Aramäisch ausgraben, nur weil ihr euch doof stellt, oder?“ Ein Auge des schwarzen Giganten vor ihr verschob sich und richtete sich auf sie, sodass Crystal schon beim Hinsehen ganz schlecht wurde. Wie konnte man nur so schielen? „Ah, super, du bist wach. Hatte schon Angst, dass du eingepennt bist. Also nochmal: Es darf niemand durch diese Tür gehen. Niemand. Hast du das kapiert? Niemand gehen durch Tür.“ Ein Grunzen antwortete ihr. Sie lächelte. „Ich werte das mal als Ja. Also schön, dann mal viel Spaß, Jungs, und nicht vergessen: Keinen reinlassen.“ Crystal wollte sich schon entfernen, als ihr noch etwas einfiel. Möglicherweise überforderte sie damit die zwei Gehirnzellen der Muskelberge, aber das Risiko musste sie eingehen. „Nur noch mal zur Sicherheit. Wenn ich sage, dass hier niemand reindarf, gilt das auch für den Kö… den Cadejo. Alle von ihnen.“ Wieder ein Grunzen. Crystal drehte sich erneut um und stiefelte los, als ihr noch etwas einfiel und sie auf dem Absatz kehrtmachte. „Ach ja, noch was. Wenn ich sage, niemand, dann gilt das auch für mich. Besonders für mich, alles klar? Ihr lasst hier niemanden rein. Absolut niemanden. Und wenn es Luzifer persönlich ist. Niemand darf vorbei. Wiederhole das: Du … kannst nicht … vorbei!“ Das zweite Auge gesellte sich zu dem ersten schielenden, der Wächter zwinkerte … einmal … zweimal … und hieb seine Axt so plötzlich vor Crystals Füße, dass sie gerade noch rechtzeitig rückwärts springen konnte, um nicht in zwei Hälften geteilt zu werden. „Sag mal hast du sie noch alle?“, zeterte sie los und wollte gerade zur Peitsche greifen, um dem ungehobelten Klotz Manieren beizubringen, als ihr plötzlich auffiel, dass der Wächter sich genau zwischen sie und die Tür geschoben hatte. Sie trat sich probeweise ein winziges Stückchen nach vorn und sofort hob der Wächter die Axt und knurrte drohend. Auf Crystals Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Oookkkaayyyy, ich sehe, wir verstehen uns. Dann mal schön aufpassen und nicht in der Nase bohren. Wir wollen ja nicht, dass ihr noch dümmer werdet, nur weil ihr aus Versehen einen Popel rauspult.“   Endlich zufrieden mit ihrer Arbeit machte sie sich auf den Weg die Treppe hinunter. Derweil überlegte sie, was Marcus ihr gesagt hatte. Es war absolut wichtig, dass dieses Engelchen nicht zu Belial gelangte, sondern zuerst in den verbotenen Bereich hinter der Schutzmauer ging, um dort alles in Schutt und Asche zu legen. Um ihn davon zu überzeugen, musste Crystal ihm Belials geheimen Plan darlegen, mit Hilfe von Engelssperma eine Armee von Halbdämonen zu züchten, die die Erde übernahmen. „Also ehrlich, wie er auf die Idee gekommen ist, möcht ich mal wissen. Ich meine, ich schlucke ja gerne und auch gegen einen gelegentlichen Cum Swap ist so an und für sich nichts zu sagen, aber derart mit dem Zeug rumzuspielen kommt selbst mir etwas abartig vor. Na ja, der Big Boss hatte ja schon immer etwas eigenartige Vorlieben. Ob ich wohl was aus seinem Spielkästchen bekomme, wenn Angelo ihn aus dem Weg geräumt hat? Brauchen wird er den Kram dann ja nicht mehr.“ Crystal runzelte die Stirn, während sie überlegte, wo sie wohl anfangen sollte, den Weg zur Geheimkammer freizumachen. Allzu viel Zeit blieb ihr nicht. Gleichzeitig war der Gedanke, dass sie gerade für die „Guten“ arbeitete, ganz schön seltsam. Zumal sich deren Chef ja wohl gerade anschickte, hier alles plattzumachen. Wenn sie schlau gewesen wäre, hätte sie wohl ihre Siebensachen gepackt und hätte gerettet, was noch zu retten war. Andererseits … sie hatte es Marcus versprochen. Der war nämlich der Meinung, dass sie das ganze Weltuntergangsdingens noch aufhalten konnten, wenn das Engelchen erfolgreich war. Also doch nicht das Ende aller Tage und so. Und Crystal war irgendwie geneigt, dem süßen Spinner zu glauben. Immerhin würde sie, wenn er Recht hatte, vielleicht die Gelegenheit bekommen, ihn sich nochmal zur Brust zu nehmen. Normale Kerle hatte sie in ihrem Leben schließlich schon genug gehabt. Nicht, dass man da je genug haben konnte, aber der hier war irgendwie anders. Allein die Erinnerung an dieses geile Kribbeln, das er in ihr ausgelöst hatte, ließ sie gleich wieder ein bisschen feucht werden. Also ja, den musste sie unbedingt nochmal haben, wenn Belial genug von ihm übrigließ. „Wehe wenn der ihm den Arsch zu sehr aufreißt. Dann werd ich ihm höchstpersönlich die Eier abschneiden und in sein Maul zu stopfen. Der kleine Cop gehört mir.“ Crystal zog noch einmal die Nase hoch, bevor sie sich in Richtung des vorderen Tors in Bewegung setzte. Die Wachen würden zwar bestimmt ne Runde murren, wenn sie sie auf Patrouille einmal um das Anwesen schickte, aber immerhin erhöhte dass die Chance, dass das Engelchen und seine Begleiter eine Lücke in der Verteidigung fanden, die es ihnen erlaubte hier reinzukommen. Blieb nur noch der dumme Köter und seine Spießgesellen. Lächelnd strich Crystal über die Peitsche, die an ihrer Hüfte hing. War zwar schon ne Weile her, dass sie damit jemanden bearbeitet hatte, aber so was verlernte man schließlich nicht. Und wenn doch, tat es eben einfach noch ein bisschen mehr weh. Sie grinste und machte sich pfeifend und hüftschwingend auf den Weg.       Gabriella konnte ihren Blick nicht von dem Gebäude lösen, auf das sie sich zu bewegten. Mit Alejandro an der Spitze folgten sie bereits seit einiger Zeit einem für sie unersichtlichen Weg durch die eintönige Landschaft. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie Angelo, der jetzt mit gefesselten Händen direkt hinter ihrem Führer ging, gefragt, was genau dieser denn nun eigentlich war. Angelo jedoch hatte nur gelächelt und geantwortet: „Was er ist, ist nicht wichtig. Was er tut, entscheidet darüber, wer er ist.“ Ihr war klar, dass er das vermutlich nur gesagt hatte, um Alejandro zu beruhigen. Um auszudrücken, dass er ihm vertraute. Doch genau dessen war Gabriella sich nicht vollkommen sicher. Was, wenn sie an dem Haus ankamen, das sich inzwischen immer deutlicher gegen den merkwürdig gleichbleibenden Himmel abhob, und er ihnen in den Rücken fiel? Was war dann? „Hab keine Angst“, flüsterte Michael hinter ihr. „Ich habe keine Angst“, gab sie unwirsch zurück. „Ich habe Augen im Kopf“, war alles, was er darauf erwiderte. Gabriella gab ein Knurren von sich, drückte den Rücken durch und schritt wieder schneller aus. Das würde ihm so passen. Allein der Gedanke daran, dass er vorgeschlagen hatte, dass sie bei dem verlassenen Gehöft zurückblieb, ließen sie wieder fester auftreten. Sie hatten dieses Abenteuer zusammen begonnen und jetzt würde sie mit Sicherheit nicht irgendwo sitzen und sich die Fingernägel abkauen, während die „Männer“ sich hier in Schwanzvergleichen ergingen. Nein, ganz bestimmt nicht. Als sie ein leises Lachen hinter sich hörte, sah sie sich um und blickte in Michael amüsiert funkelnde Augen. Als er ihren Blick bemerkte, wurde sein Lächeln breiter und der Ausdruck in seinen Augen wärmer. „Ich liebe dich“, formten seine Lippen und sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. „Ich dich auch“, wisperte sie ebenso tonlos zurück, bevor sie sich wieder auf den verborgenen Pfad vor ihren Füßen konzentrierte. Den Gedanken daran, was ein Stück weiter rechts und links davon für unsichtbare Gefahren auf sie lauerten, unterdrückte sie lieber.   „Wir sind gleich da“, gab Alejandro schließlich zu wissen, als sie nur noch ein kleines Stück von ihrem Ziel entfernt waren. „Die Medusen liegen jetzt hinter uns.“ Gabriella gab sich Mühe, kein allzu deutliches Aufatmen von sich zu geben. Anhand der drohenden Silhouette, die vor ihnen lag, war das auch nicht besonders schwer. Dies war kein Ort um aufzuatmen. Das Haus, von dem man immer noch nicht viel mehr als dessen Umriss mit den vielen Türmen und Erkern erkennen konnte, machte auf sie einen eigenartig feindseligen Eindruck. Fast so, als besäße das Gebäude selbst Zähne und Klauen, mit denen es nur darauf wartete, jeden Besucher zu zerfetzen. Gleichzeitig war es in undurchdringliche Schatten gehüllt, die es unmöglich machten, irgendwelche Details zu erkennen. Wenn sie die Augen schloss, hätte sie nicht einmal mehr sagen können, ob in einem der Fenster Licht brannte. Um das Anwesen, das von dichten Nebelschleiern überzogen wurde, verlief ein hoher, schmiedeeiserner Zaun mit einem massiv wirkenden, schwarzen Tor. Als sie darauf zuschritten, bemerkte Gabriella die Statuen, die auf den in die Umzäunung eingelassenen Mauerpfosten saßen. Es waren kauernde, gedrungene Gestalten mit gehörnten Köpfen und Hundeschnauzen sowie einem Paar ausladender, steinerner Flügel, die sie um ihre Körper geschlungen hatten. Ein jeder von ihnen war verschieden. Mal waren die Hörner ein wenig dicker, mal geschwungen oder in sich gedreht, mal ähnelte die Form der Schnauze eher der einer Fledermaus oder das Antlitz wirkte gar nahezu menschlich. Allen gemein war jedoch der feindselige Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie lebendig waren. „Das sind Gargoyles“, erklärte Angelo neben ihr leise. „Sie bewachen das Grundstück.“ „Sind sie gefährlich?“ „Das kommt darauf an. Meist tragen sie ihre Opfer hoch in die Luft und lassen sie von dort aus fallen. Bei Tage erstarren sie normalerweise zu Stein, aber ich bin mir nicht sicher, ob das hier noch als Tag durchgeht.“ Dessen war sich Gabriella allerdings auch unschlüssig. Die Tageszeit war ebenso verschwommen wie man an dem Haus keine festgelegte Form ausmachen konnte und der Teil des Anwesens, den sie gerade durchquerten, auf den ersten Blick ein Garten zu sein schien, auf den zweiten jedoch alles vermissen ließ, was einen solchen ausmachte. Hier gab es keinerlei Leben und nicht einmal der Vergleich mit einem Friedhof wurde dem Eindruck gerecht, den Gabriella von dem schattenumspülten Büschen und Bäumen hatte, zwischen denen sie hindurchgingen. Kein Laut, nicht einmal ihre Schritte auf dem knochenbleichen Kies, war zu hören, lediglich das leise Heulen eines fernen Windes, den sie nicht auf ihrem Gesicht zu spüren vermochte. Gleichzeitig schien unter dem, was man nicht hörte, ein stetiges Summen und Wispern, ein Raunen und Murmeln zu liegen wie von unsichtbaren Wesen, die man nicht bewusst wahrnehmen konnte, deren Anwesenheit jedoch auch nicht vollkommen verborgen blieb. „Kommt“, sagte Alejandro und erhöhte das Tempo ein wenig. „Wir sollten reingehen. Und bleibt vom Gras weg. Es ist féar gortach.“ Gabriella wusste nicht, was das bedeutete, aber da sie Angelo nach dieser Eröffnung einen deutlichen Abstand von den gleichzeitig gepflegt und wild wuchernd wirkenden Grasflächen nehmen sah, folgte sie seinem Beispiel. Sie gingen auf eine große Freitreppe zu, die sich von zwei Seiten zu einer einem klaffenden Maul ähnelnden Eingangstür emporschwang. Als Gabriella blinzelte, erschien es plötzlich eine ganz normale, aus dunklem Holz gefertigte Tür zu sein. Rechts und links des Eingangs wuchsen zwei riesige Büsche, die sich aus einem dicken Stamm in unzählige, mit schwertförmigen Dornen besetzte Ranken teilten. Als sie näherkamen, begannen die Ranken sich zu bewegen. Mit ungeahnter Schnelligkeit entrollten sie ihre Äste, deren Enden wie hungrige Schlangenköpfe in ihre Richtung pendelten. Durch die Bewegung entstand ein zischelndes Geräusch, das den Eindruck der Bösartigkeit des Gewächses nur noch verstärkte. „Ya-te-veos“, meinte Alejandro. „Nicht zu nah rangehen. Der vampirische Wein ist auch mit Vorsicht zu genießen.“ Gabriella sah nach oben und entdeckte, das Teiles des Gebäudes von dunkelgrünen Ranken überwuchert wurde. Als sie länger hinsah, meinte sie auch dort Bewegungen ausmachen zu können, die nicht allein durch den nicht vorhandenen Wind ausgelöst sein konnten. Kurz bevor sie das Gebäude betraten, sah Alejandro sich mehrmals um. Es schien, als würde er etwas suchen. Als Michael ihn danach fragte, schüttelte er den Kopf. „Es ist nichts“, murmelte er. „Es sollte nur eigentlich Wachen hier stehen. Dass sie es nicht tun, gefällt mir nicht.“ Als Angelo das hörte, blieb er stehen. Auch sein Blick strich über das Gebäude. „Wenn die Wachen fort sind, heißt das entweder, dass wir in eine Falle laufen oder dass uns jemand hilft.“ Er sah Alejandro an. „Was hältst du für wahrscheinlicher?“ „Eine Falle“, antwortete der sofort. „Und was sollten wir deiner Meinung nach tun? Gibt es noch einen anderen Weg ins Haus?“ Der schmale Mexikaner zögerte sichtlich. „Wir könnten über den Hof und den Seiteneingang gehen. Das Personal betritt das Haus normalerweise auf diesem Weg.“ „Aber?“ Alejandro senkte den Kopf. „Dort ist es nicht … sicher.“ Gabriella wusste sofort, dass er log. Er hatte zunächst etwas anderes sagen wollen, aber Angelo nickte nur. „Gut. Wenn du es sagst, werden wir diesen Eingang hier nehmen. Ich vertraue deinem Urteil.“ Gabriella war sich nicht ganz sicher, aber für einen Moment glaubte sie noch ein Zögern zu erkennen, bevor Alejandro die Hand an die Klinke der Tür legte und diese für sie öffnete.   Sie betraten die Eingangshalle eines zugegebenermaßen sehr luxuriös wirkenden Herrenhauses. Gabriella war überrascht, wie normal alles wirkte, wenn man davon absah, dass die Beleuchtung mehr als dürftig war und sowohl an den Wänden wie auch auf den Böden dunkle Farben vorherrschten. Vor ihnen lag erneut eine große Treppe, die zu einer Galerie hinaufführte, beides aus schwarzem Marmor gefertigt. Alejandro wollte schon darauf zu eilen, als plötzlich jemand, mit dem er nicht gerechnet zu haben schien, auf der Bildfläche erschien. „Ah, mein lieber Alejandro. Du bist schon zurück von deinem Ausflug? Und wie es aussieht, hast du Gäste mitgebracht. Die rothaarige Frau, die von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet war und auf dem Gesicht eine strassbesetzte Spitzenmaske trug, lächelte freundlich. Ungefähr so wie eine Katze einen Kanarienvogel anlächeln würde. Gabriella erschauerte, als sie die Absätze ihrer Schuhe bemerkte. Sie sahen aus, als könnte man damit jemanden in Scheiben schneiden. „Delilah“, knurrte Alejandro und wandte sich ab. „Halt dich da raus, das geht dich nichts an.“ „Oh, im Gegenteil. Unser Meister hat mir aufgetragen, dir auszurichten, dass er im Moment nicht gestört werden möchte. Wir sollen doch mit dem Engel schon einmal in den Keller gehen. Du weißt, was ich meine?“ „Was soll das heißen? Womit ist er beschäftigt?“ „Oh, der Nephilim hat um eine Audienz gebeten. Belial hat sie ihm gerne gewährt.“ Marcus, schoss es Gabriella durch den Kopf. Er befand sich offenbar in der direkten Gewalt des Dämonenfürsten. Sie sah, wie Angelo unruhig wurde. „Wir sollten uns beeilen“, meinte er und wollte schon auf die Treppe zugehen, als sich die Frau vor ihn schob und einen rotlackierten Fingernagel in seine Brust bohrte. „Schön hiergeblieben, Schnucki. Du wirst noch früh genug zum Zug kommen. Es sei denn, du bist an einem Dreier interessiert.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Gabriella hörte, wie Angelo nach Luft schnappte, doch bevor er etwas sagen konnte, hatte die fremde Frau ihm den Finger auf den Mund gelegt. „Ah-ah, nicht so vorlaut. Ein Gentleman genießt und schweigt, hat dir das denn keiner beigebracht?“ Gabriella merkte, wie Michael auffahren wollte, und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Warte“, flüsterte sie. „Irgendetwas geht hier vor.“ Michaels Blick irrte kurz zu der Frau und dann wieder zurück zu Gabriella. „Was meinst du damit?“ Gabriella runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor. Ich komme nur nicht darauf, was es ist.“ Michael wirkte immer noch unsicher, hielt sich jedoch tatsächlich zurück. Währenddessen hatte sich ein handfester Streit zwischen Alejandro und dieser Delilah entspannt. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung“, keifte die Frau gerade. „Ihr Cadejos seid eben total beschränkt. Nanette kann da ein Lied von singen, sag ich dir. Die hat mal ne Nacht mit Luis verbracht und die einzige Stellung, die er draufhatte, war doggy-style.“ „Was hat denn das jetzt damit zu tun?“ „Nichts. Aber ich fand’s trotzdem ganz schön armselig.“ „Rede nicht so über ihn, er …“ Alejandro verstummte und funkelte Delilah an. „Ich werde jetzt zu unserem Meister gehen und ihm die Ankunft des Engels melden. „Fein“, höhnte sie gedehnt. „Dann grüß ihn schön von mir und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Alejandro schnaubte und wandte sich an Angelo. „Du wartest hier. Beweg dich nicht vom Fleck.“ Mit einem letzten, wütenden Blick wandte er sich zum Gehen und stieg die lange Treppe empor, an dessen Ende er ihrem Sichtfeld entschwand. Kaum war er weg, schnappte sich die fremde Frau Angelos Arm und zerrte ihn in Richtung eines Seitenganges. „Man, der Kerl hat aber auch ne lange Leitung heute. Also los, wir haben nicht viel Zeit. Ich muss euch einiges erzählen.“ „Crystal?“, fragte Angelo und sprach damit endlich aus, was Gabriella schon die ganze Zeit im Hinterkopf herumspukte. Diese Frau war nicht nur ein Sukkubus, sie war auch noch ausgerechnet der Sukkubus, mit dem sie vor nicht allzu langer Zeit telefoniert hatten Ein Grinsen breitete sich auf Crystals Gesicht aus. „Hey, du hast mich erkannt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie oft mich der Köter schon gesehen hat und sich trotzdem durch eine einfache Verwandlung täuschen lässt.“ „Verwandlung?“, warf Michael ein. Gabriella entging nicht, dass er seinen Blick dabei einmal über Crystals gesamten Körper gleiten ließ. „Mhm-mhhm, das hier ist nur ne Form, die der echten Delilah ähnlich sieht. Alles nur Augenwischerei. Wenn ihr eure Astralleiber endlich mal in Bewegung setzen würdet, könnte ich euch auch zeigen, wie ich richtig aussehe. Allerdings müssen wir uns beeilen.“ „Und was ist mit Marcus?“ Angelo blickte nach oben zur Galerie. „Der beschäftigt gerade Belial. Wenn ihr also nicht wollt, dass das alles umsonst war, kommt ihr jetzt endlich mal. Ich erkläre euch auf dem Weg, worum es geht.“ Angelo entwand Crystal seinen Arm und blieb stehen. „Nein“, sagte er entschieden. „Ich habe Alejandro ein Versprechen gegeben und das muss ich halten.“ „Du hast einen Handel mit dem Köter?“ Crystal riss die gezupften Augenbrauen in die Höhe. „Ist nicht wahr? Was hast du ihm denn versprochen?“ „Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Aber ich kann ihn nicht einfach zurücklassen.“ „Auch, nicht, wenn du damit das Ende der Welt verhinderst? Marcus hat nämlich gesagt, dass du der Einzige bist, der das kann.“ In Angelos blaue Augen trat echtes Erstaunen. Er sah noch einmal zur Treppe, bevor er tief durchatmete. „Also schön“, sagte er langsam. „Wir gehen. Aber er wird mit uns kommen.“ Oben auf der Galerie hörte man jetzt Alejandros keifende Stimme und kurz darauf ein Krachen. Es klang, als habe jemand eine große Axt in einem Holzfußboden versenkt. Crystal wirkte, als zweifele sie ein wenig an Angelos Verstand, doch dann seufzte sie schwer. „Na gut, ich hole ihn. Aber dann müssen wir wirklich die Hufe schwingen und damit meine ich nicht nur diejenigen von uns, die wirklich welche haben. Marcus wird nämlich nicht bis in alle Ewigkeit durchhalten und schließlich ist euer Big Boss doch auch auf dem Kriegspfad. Das wird ne verdammt knappe Kiste.“ Angelo schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Es wird sich alles fügen.“ „Na das hoffe ich doch sehr, Schnuckiputz. Ansonsten schuldest du mir nämlich ne Orgie.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)