Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 24: Die Straße des Teufels ---------------------------------- Alejandro hatte das Gefühl, schon seit Stunden auf diesem dämlichen Baum zu sitzen und das dunkle Haus auf der anderen Straßenseite anzustarren. Er war nicht wenig erstaunt darüber gewesen, dass ihn der Ahool ausgerechnet in die Heimatstadt der beiden Menschen gebracht hatte. Sie waren auf dem Dach eines großen Gebäudes gelandet und hatten gewartet, dass ihre Beute wieder herauskam. Als der Engel und die Menschen schließlich auf der Bildfläche erschienen waren, waren sie über und über mit Blut beschmiert gewesen. Er hatte daraufhin überlegt, ob er wohl nachsehen sollte, was drinnen passiert war, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Er wollte nicht riskieren, den Engel wieder aus den Augen zu verlieren. Also war er ihm und den Menschen zu diesem Haus gefolgt und seit dem saß er sich hier die Beine in den Bauch. Er knurrte unwillig. „Was machen die denn da drin? Schlafen die etwa? Arschlöcher.“ Der Ahool neben ihm döste bereits seit geraumer Weile vor sich hin und auch Alejandro konnte die Anzeichen der herannahenden Müdigkeit nicht viel länger unterdrücken. Immer öfter musste er gähnen, während die Nacht voranschritt und sich nichts, aber auch so gar nichts tat. Er hätte sich natürlich einen Schlafplatz suchen können, aber er wollte auf keinen Fall verpassen, wenn sich das Trio sich wieder in Bewegung setzte. Und das würde es sicherlich tun. Es war nur eine Frage der Zeit. Für einige kurze Augenblicke hatte er sogar überlegt, ob er Verstärkung rufen und das Haus einfach angreifen lassen sollte. Dann jedoch waren ihm das Salz und die Dämonenabwehrzauber aufgefallen, die an allen Eingängen angebracht worden waren. Was, wenn sie noch mehr Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatten? Was, wenn der Angriff scheiterte? Die Schmach wäre nicht zu ertragen gewesen. Außerdem hatte er keine Lust, den Triumph mit den anderen Cadejos zu teilen. Er konnte allerdings auch nicht leugnen, dass er keine Ahnung hatte, wie er den Engel festsetzen sollte. Der hatte immerhin immer noch dieses nicht gerade kleine Schwert und konnte anscheinend damit umgehen. Das machte die Sache komplizierter. Wenn er nicht genau gewusst hätte, dass sein Herr diesen Engel unbedingt haben wollte, hätte er fast annehmen müssen, dass dieser ihm die Aufgabe übertragen hatte, um ihn scheitern zu sehen.   Alejandro musste eingenickt sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, war es bereits hell und um ihn herum begannen die Menschen zu erwachen. Er konnte hören, wie im Haus hinter ihm die Fenster geöffnet und mit Geschirr geklappert wurde. Ein kurzer Blick auf dein Amulett versicherte ihm, dass sich der Engel noch an Ort und Stelle befand. Trotzdem hatte er jetzt ein Problem. Im Hellen würde er den Ahool nicht nutzen können. Er würde sich etwas anderes ausdenken müssen, um den Engel nicht aus den Augen zu verlieren. „Los, verpiss dich!“, knurrte er und puffte die riesige Fledermaus in die Seite. Die fauchte ihn unfreundlich an, entfaltete aber gehorsam die Flügel und war mit wenigen, kraftvollen Bewegung im grauen Morgenhimmel verschwunden. Vermutlich würde sie sich in der Nähe eine Höhle suchen und dann in der Dunkelheit in ihren Turm zurückkehren. Er hingegen saß auf diesem Baum fest und konnte nicht nach Hause. Nicht ohne den Engel.   Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich etwas in dem Haus gegenüber regte. Als sie schließlich zusammen mit dem Engel heraustraten, krallte Alejandro sich in die Rinde des Baumes und spannte sich. Mit wachsender Panik sah er zu, wie sie zielstrebig zu einem der Autos gingen, die auf der breiten Einfahrt standen. Sie würden wegfahren und er hatte keine Möglichkeit, ihnen zu folgen. Was sollte er tun? Er würde den Engel schon wieder verlieren. Es sei denn … Alejandro zuckte zusammen bei der Idee, die ihm durch den Kopf schoss. Es war Wahnsinn, vollkommen schwachsinnig, aber es war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. So leise er konnte, ließ er sich vom Baum herabgleiten und verwandelte sich.       „Du weißt, dass das eine vollkommen schwachsinnige Idee ist, oder?“ Michael sah Gabriella an, die von seiner Kritik wenig beeindruckt schien. Im Gegenteil wirkte sie vollkommen sicher, dass es das Richtige war, was sie hier taten. „Michael, wer, wenn nicht wir, sollte ihn retten? Sein Vater ist tot und diese Crystal entweder nicht willens oder nicht in der Lage, es zu tun.“ „Aber wir kennen ihn kaum.“ Er sah immer noch nicht ein, warum sie sich in die schwer bewachte Festung eines Dämonenfürsten schleichen sollten, nur um einen ihnen fast vollkommen unbekannten und nicht einmal besonders freundlich gesinnten Halbengel zu retten. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass die Sache mit der Maschine, die sich laut dem Sukkubus ebenfalls in dieser Festung befand, mehr als verdächtig war. Trotzdem hatte Michael das Gefühl, hier gerade einen Riesenfehler zu machen. „Und wenn sie Angelo fangen?“, verlieh er seinen Bedenken Ausdruck. „Was, wenn sie ihm wieder was von diesem Zeug geben? Obwohl ich immer noch nicht so ganz verstehe, wozu das überhaupt dienen soll.“ Sie hatten Crystal diese Frage bereits gestellt, doch die hatte sie ihnen nicht beantworten können. Ihrer Vermutung nach war das nur ein weiterer Weg, die Engel zu quälen und sie und ihren Schöpfer zu verhöhnen. Aber irgendwie kam Michael der Aufwand dafür zu groß vor. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihnen noch irgendein Puzzleteil fehlte. Und so ungern er das auch zugab: Es gab eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie dieses am gleichen Ort finden würden, an dem Marcus festgehalten wurde. Hoffentlich nicht erst, wenn sie alle in Gefangenschaft geraten waren und ihnen der Bösewicht seinen genialen Plan verriet, bevor er sie alle umbrachte. Oder sie zuerst folterte und dann umbrachte. An eine heldenhafte Befreiung konnte Michael nämlich trotz Angelos neu erwachter Kräften nicht so recht glauben. „Das werden wir herausfinden, wenn wir da sind“, beantwortete Gabriella seine Frage. „Und wenn nicht?“ Michael schmeckte das alles ganz und gar nicht. Er wollte Gabriella und Angelo nicht dieser Gefahr aussetzen. „Was ist, wenn wir alle dabei draufgehen?“ Gabriella lächelte. „Nun, dann werden wir das Ende der Welt wohl verpassen. Also hörst du jetzt endlich auf zu nörgeln und steigst ein?“ Michael sah ein, dass er verloren hatte. Gabriella hatte das Ende der Welt auf ihrer Seite. Dagegen ließ sich nur schlecht argumentieren. Seufzend wandte er sich dem Auto zu, als er sich plötzlich beobachtet vorkam. Er blickte sich um und bemerkte einen Hund, der am Ende der Auffahrt saß und ihn mit hängenden Ohren ansah. Das Tier war dürr und ziemlich hässlich. Ein typischer Straßenköter mit geschecktem Fell und herausstehenden Rippen. Michael trat einen Schritt auf ihn zu und machte eine scheuchende Bewegung mit den Armen. „Los, verschwinde von da. Wir überfahren dich sonst.“ Er machte Anstalten, wieder zum Auto zurückzugehen, doch statt sich zurückzuziehen, kam der Hund noch etwas näher und fing an mit dem dünnen Schwanz zu wedeln. Michael seufzte. „Ich hab nichts für dich. Los, mach, dass du wegkommst.“ „Was ist denn los?“, wollte Angelo wissen. Er trat an Michael vorbei und entdeckte den Hund auf der Auffahrt. „Oh, ein Streuner.“ Die Art und Weise, wie er das sagte ließ Michael wieder an sein Gespräch mit Gabriella denken, als er Angelo in ihr Bett gelegt hatte. Einen Streuner hatte sie ihn genannt. War das wirklich nicht mal eine Woche her? Angelo ging in die Hocke und streckte die Hand aus. „Hey“, sagte er leise. „Na du.“ „Sei vorsichtig, dass er dich nicht beißt“, warnte Michael ihn und betrachtete neidisch, wie der Hund an Angelos Fingern schnüffelte. „Dass wer ihn nicht beißt?“ Gabriella hatte das Fenster heruntergelassen und sah sich neugierig um. „Der Hund.“ „Welcher Hund?“ Sie konnte den Streuner von ihrem Platz aus vermutlich nicht erkennen. Also stieg sie wieder aus und besah sich die Szene, die sich ihr und Michael bot. Da saß Angelo und streichelte den vermutlich hässlichsten Köter, den Michael je gesehen hatte. Und er hatte dabei ein Lächeln auf dem Gesicht. „Siehst du, er beißt nicht“, rief er und grinste Michael an. „Hat er sich bei einem Engel wohl nicht getraut.“ Angelo verzog das Gesicht. „Ich bin momentan keiner, schon vergessen? Und er mag mich trotzdem. Ansonsten wäre das vermutlich auch keine Kunst.“ „Warum? Hast du noch mehr versteckte Engelsfähigkeiten auf Lager, von denen du uns noch nichts erzählt hast? So wie die Sache mit der Schwertbeschwörung zum Beispiel.“ Angelo seufzte und richtete sich wieder auf. „Das sollten wir vielleicht besser auf dem Weg besprechen.“ Er sah hinunter zu dem Hund, der mit traurigen Augen zu ihm aufsah und leise winselte. Jetzt trat er näher und kratzte mit der Vorderpfote an seinem Bein. Anscheinend mochte er Angelo gern. Michael konnte es ihm nicht verdenken. Trotzdem versetzte ihm der Anblick einen Stich. Er wusste selbst nicht genau wieso. „Na los, steig ein“, sagte er knapp und öffnete die Tür für Angelo, sodass dieser wieder auf dem Rücksitz Platz nehmen konnte. Michael wollte die Tür gerade wieder schließen, als er sah, dass der Hund Angelo gefolgt war. Auch er steuerte schnurstracks auf den Wagen zu. „Hey, stopp! Dich hab ich nicht gemeint“, rief Michael mit einem Lächeln und klappte die Tür vor der Nase des Hundes zu. Das Tier senkte den Kopf und blickte ihn von unten herauf an. „Och komm schon, nun schau nicht so traurig. Ab nach Hause mit dir. Na los! Husch!“ Er klatschte in die Hände, um den Hund zu vertreiben, doch der sah ihn nur weiterhin an. Wieder begann das Tier, mit dem Schwanz zu wedeln. Michael riss sich von dem Anblick los, stieg ein und schloss die Tür. Er legte die Hände an das Steuer. „So, alle fertig?“ „Natürlich“, antwortete Gabriella mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. „Was?“, fragte Michael gereizt. „Ach nichts“, entgegnete sie und ihr Schmunzeln wurde breiter. Auch Angelo schien irgendetwas total komisch zu finden. Michael konnte im Rückspiegel sehen, wie er grinste. Wütend startete Michael den Wagen und ließ ihn langsam rückwärts von der Einfahrt rollen. Als sie an dem Hund vorbeikamen, blickte er stur geradeaus. Das hinderte das Tier jedoch nicht daran, ihn geradewegs anzusehen, während es total verloren auf der riesigen Einfahrt saß. Es ließ wieder die Ohren hängen und guckte traurig. Michael ließ den Wagen anhalten. Er starrte den Hund an. „Er kann nicht mitkommen“, sagte er entschieden. „Natürlich nicht“, antwortete Gabriella. „Er ist bestimmt krank und voller Flöhe.“ „Bestimmt.“ „Er wird lauter Haare auf dem Sitz hinterlassen und ins Auto kotzen.“ „Vermutlich.“ „Außerdem gehört er bestimmt jemandem.“ „Genau. So hässliche Köter gehören meist in irgendeine sehr nette Familie, wo sie es gut haben und den ganzen Tag gestreichelt werden.“ Michael umklammerte das Steuer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Blick war immer noch auf den Hund gerichtet, der jetzt langsam auf das Auto zukam. Er begann wieder mit dem Schwanz zu wedeln. „Ich wollte schon immer einen Hund“, sagte Michael leise. Gabriella legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. „Ich weiß, Schatz. Aber wir konnten nie einen haben, weil wir viel zu oft außer Haus sind.“ „Wir sind jetzt auch außer Haus.“ „Ja, das sind wir.“ „Aber einige Hunde fahren gern Auto.“ „Das tun sie.“ „Ich will ihn mitnehmen.“ In diesem Moment fingen Gabriella und Angelo beide an zu lachen. Michael runzelte die Stirn. „Was ist so witzig daran?“ „Dass wir beide das von Anfang an gewusst haben“, erwiderte Angelo lachend. „Du hattest diesen Blick drauf. Den, den du immer hast, wenn du etwas haben willst.“ „Gar nicht“, murrte Michael. „Außerdem ist das vielleicht die letzte Gelegenheit für einen Hund. Die Welt geht unter, oder nicht? Warum sollen wir nur total gefährliche Dinge tun. Lasst uns doch auch was Nettes machen und diesem kleinen Hundchen ein paar schöne, letzte Tage machen. Ich wette, er hat noch nie italienische Salami gefressen.“ Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Auffordern sah er den Hund an. „Nun komm schon, steig ein.“ Das ließ sich das Tier nicht zweimal sagen. In Windeseile sprintete es über die Straße, hopste auf den Sitz und sah ihn scheinbar dankbar an. Michael streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren. „Na Kleiner. Kommst du mit die Welt retten?“ Der Hund bellte zustimmend und Michael schloss lachend die Tür, bevor er sich wieder ans Steuer setzte. „Dann mal auf nach El Paso. Mexiko wir kommen.“ Auf dem Rücksitz gab der Hund einen eigenartigen Laut von sich. Es klang fast, als hätte er sich verschluckt. Michael sah im Rückspiegel, wie Angelo sich dem Tier zuwendete. „Alles in Ordnung mit dir?“ Der Hund winselte leise, bevor er es sich auf dem Sitz bequem machte und den Kopf auf die Pfoten legte. Er schien müde zu sein. Nun, dann macht er wenigstens keine Probleme, dachte Michael, bevor er endlich losfuhr. Es fühlte sich gut an, das Richtige zu tun.         Die Meilen flogen förmlich vorbei, während Michael den Wagen immer weiter nach Süden steuerte. Gabriella hatte ihm angeboten, dass sie ihn ablösen würde, wenn er müde wurde, aber bis jetzt hatte er bis auf einen Kaffee nicht nach einer Pause verlangt. Angelo war kurz nach dem Losfahren eingeschlafen und auch ihr vierbeiniger Gast schnarchte leise vor sich hin. Gabriella wusste nicht, ob es wirklich klug gewesen war, das Tier mitzunehmen, aber Michael hatte so glücklich darüber ausgesehen, dass dieser Flohfänger sie begleiten durfte, dass sie einfach nicht hatte Nein sagen können. Jetzt waren sie also zu viert unterwegs. „Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, wie wir rüberkommen?“, fragte sie, während draußen das Spanish Valley an ihnen vorbeizog. „Die Grenze dort ist gut gesichert und soweit wir wissen, stehen wir immer noch auf der Fahndungsliste.“ Michael seufzte. „Keine Ahnung. Wenn wir da sind, werden wir uns etwas einfallen lassen. Vielleicht hat Angelo ja noch etwas Engelmäßiges in petto. Er hat doch gesagt, er habe jetzt, nachdem er diesen anderen Engel gesehen hat, die Erinnerungen über seine Fähigkeiten zurückerhalten.“ Gabriella schwieg für eine Weile. „Was meinst du, wer ihn geschickt hat?“, nahm sie das Gespräch schließlich wieder auf. Michael blickte kurz zu ihr, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Was meinst du?“ „Na ja, denkst du es könnte sein, dass ihn doch Gott persönlich geschickt hat, damit er Armageddon aufhält? Wäre das möglich?“ Michael überlegte einen Augenblick, bevor er den Kopf schüttelte. „Das glaube ich nicht. Wenn ich Angelo richtig verstanden habe, ist er doch derjenige, der das Ganze überhaupt erst angeordnet hat. Wenn es etwas gegeben hätte um es aufzuhalten, hätte er doch einfach einen seiner richtigen, großen Engel geschickt, um die Bedrohung abzuwenden. Das hat er schließlich früher schon getan, wenn ich das richtig verstanden habe. Oder er hätte Agent Hawthorne und seine Kollegen damit beauftragt. Die waren doch immerhin da, um die Erde zu beschützen. Außerdem …“, Michael stockte kurz, „außerdem ist Angelo doch gefallen. Auch dieser Agent hat es gesagt. Er ist definitiv gegen Gottes Willen auf die Erde gekommen.“ „Aber auf wessen Befehl?“ Michael zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn er Angelo dazu bringen konnte, diesen Auftrag anzunehmen, muss er ziemlich einflussreich oder überzeugend gewesen sein.“ „Du meinst einen der Erzengel?“ „Vermutlich. Wenn das die sind, die nach Gott da oben das Sagen haben, würden sie auf meiner Liste ganz oben stehen.“ Gabriella sah weiter aus dem Fenster, bevor ihr Blick zum Himmel glitt. Über ihnen war nichts außer einer großen, blauen Weite zu sehen. Wenn du uns da oben hörst … Angelo könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Also tu was, damit das hier nicht alles umsonst war.   Kurz nach dem Mittagessen in einem Diner in Shiprock übernahm Gabriella das Steuer, während Michael zu „Spike“ auf die Rückbank kletterte und Angelo auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Eigentlich hatte Gabriella erwartet, dass der Hund sich aus dem Staub machte, nachdem sie ihn vor dem Restaurant nach draußen gelassen hatten. Aber als sie nach dem Essen wieder herausgekommen waren, hatte er bereits neben dem Wagen gewartet. Das war der Moment gewesen, in dem Michael beschlossen hatte, ihm einen Namen zu geben. Gabriella war mit seiner Wahl nicht einverstanden. „Ich finde nicht, dass 'Spike' zu ihm passt. Mich erinnert er eher an 'Knecht Ruprecht' von den Simpsons.“ „Aber du hasst die Simpsons“, meinte Michael und kraulte den Hund hinter den Ohren. „Stimmt“, gab sie zu. „Dann also doch 'Spike'.“ Als sie den Wagen zurück auf die Straße lenken wollte, fiel ihr Blick auf ein Schild. Es wies die alte und die neue Straßennummerierung eines Highways aus, der direkt nach Süden führte. Gabriella grinste, als sie die Zahlen sah. „Na, was meint ihr? Trauen wir uns, den 'Devil’s Highway' runterzufahren?“ „Wovon sprichst du?“, wollte Michael wissen. Gabriella deutete aus dem Fenster. „Route 491, ehemals 666. Die Zahl des Teufels.“ Angelo machte ein etwas merkwürdiges Gesicht, nickte dann aber und auch Michael war einverstanden, sodass Gabriella von der vom Navigationsgerät vorgesehenen Route abwich und der Straße folgte, die sie an der beeindruckenden Felsformation vorbeiführte, die Shiprock seinen Namen gegeben hatte. Um den gewaltigen Felsen, der die Form zweier großer, steinerner Flügel hatte, rankten sich viele Legenden, wenngleich auch nicht so viele wie um ihr eigentliches Reiseziel auf der anderen Seite der Grenze. „Wird das alles kaputtgehen?“, fragte sie an Angelo gewandt und deutete auf die Felsen, die einsam inmitten einer flachen Wüstenlandschaft standen. Er hatte die Füße auf den Sitz gezogen und blickte ebenfalls hinaus. „Keine Ahnung“, sagte er leise. „Aber ich nehme es an. Die Kräfte eines Engels sind … gewaltig. Wenn unzählige von ihnen auf die Dämonen treffen, die ihnen am Macht kaum nachstehen, wird das die Welt bis in die Grundfesten erschüttern. Ich befürchte, es wird kaum ein Stein auf dem anderen bleiben.“ Nicht unbedingt beruhigt beschleunigte Gabriella den Wagen ein wenig, sodass sie am obersten Ende des Tempolimits entlangschrammte. Je eher sie nach Mexiko kamen, desto besser.       Es war bereits später Abend, als endlich die Tür des Motels am Stadtrand von El Paso hinter ihnen zufiel. Michael fühlte sich, als hätte er Blei in den Knochen. Zwar hatte auch er genau wie die anderen im Auto ein wenig geschlafen, aber die lange Fahrt hatte trotzdem ihre Spuren hinterlassen. Er streckte sich und ließ sich dann auf eines der Betten fallen. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es nicht sein konnte, hätte er behauptet, wieder genau in dem gleichen Motel wie in Vegas zu sein. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Betten hier geblümte Tagesdecken hatten und die Klimaanlage noch lauter ratterte. „Ich gehe zuerst ins Bad“, verkündete Gabriella und war bereits verschwunden, bevor Michael oder Angelo protestieren konnten. Allerdings sah Angelo auch nicht aus, als habe er das nötig. Er wirkte frisch und ausgeruht. „Du hast es neuerdings drauf mit der Engelei, oder?“, witzelte Michael und zog ihn näher, um ihm durch das Haar zu streichen. „Du siehst gut aus.“ Angelo erwiderte sein Lächeln. „Ich glaube nicht, dass das daran liegt. Ich glaube, das liegt eher an dir.“ „An mir?“ Michael blinzelte verblüfft. „Ja, an dir. Du gibst mir Kraft.“ Michael sah Angelo einen Moment lang in die endlos blauen Augen, bevor er sich vorbeugte und ihre Lippen zusammenführte. Er bildete sich ein, noch Angelos Abendessen an ihm schmecken zu können, aber irgendwo unter dem Nachhall der fettigen Pizza war auch Angelos ganz eigener Geschmack wahrnehmbar. Michael vertiefte den Kuss, um mehr davon zu bekommen. Plötzlich unterbrach sie ein Jaulen. Michael setzte sich auf und sah, dass Spike sie beobachtete. Er winselte leise und ließ die Ohren hängen. „Was ist los, Kumpel? Bist du etwa eifersüchtig?“ Michael lachte und streckte die Hand aus, aber Spike kam nicht näher, sondern wedelte nur ein wenig mit dem Schwanz, bevor er zur Tür ging und dort kratzte. Michael ließ Angelo auf dem Bett zurück und ging hinüber zu ihrem vierbeinigen Reisegefährten. „Musst du nochmal raus?“, fragte er und lächelte leicht. „Na schön. Wir wollen ja nicht riskieren, dass uns der Manager rauswirft, nur weil du die nicht vorhandenen Zimmerpflanzen gegossen hast.“ Spike winselte leise und kratzte wieder. Als Michael die Tür einen Spalt breit öffnete, schlüpfte er sofort hinaus. Draußen blieb er stehen und sah sich nach Michael um. „Na los“, sagte der und lachte. „Geh ruhig. Ich hoffe nur, du bist rechtzeitig wieder da, bevor wir aufbrechen. Du willst doch mit nach Mexiko, oder?“ Spike bellte zustimmend. „Na dann.“ Michael lachte noch einmal und schüttelte den Kopf „Vielleicht hätte ich dich doch 'Knecht Ruprecht' nennen sollen. Dann hättest du jetzt deinen Boss, den Weihnachtsmann, bitten können, ob er uns nicht mit seinem Schlitten über die Grenze bringen kann. Aber so müssen wir uns wohl was anderes ausdenken.“ Er schloss die Tür und drehte sich zu Angelo herum, der immer noch auf dem Bett lag und ihn belustigt anfunkelte. „Wenn du so weitermachst, muss ich vielleicht eifersüchtig werden.“ „Auf Spike? Bestimmt nicht. Mit ihm würde ich das hier nämlich nicht machen.“ Mit diesen Worten warf sich Michael auf das Bett, das unter dem plötzlichen Gewicht protestierend aufquietschte, und fiel über Angelo her, um ihn so lange zu küssen und zu kitzeln, bis der lachend aufgab und sich schließlich schweratmend an Michael schmiegte. „Wir werden es schaffen“, sagte Angelo und küsste Michael mitten auf den Mund. „Mach dir keine Sorgen.“ „Mache ich gar nicht“, erwiderte Michael mit einem Lächeln. Das war nur ein Stück weit gelogen. Momentan beschäftigte ihn vor allem die Frage, wie sie es unentdeckt über die Grenze schaffen würden. Zwar rechneten die Wachposten wohl eher mit illegalen Einwanderern als mit flüchtigen US-Bürgern, aber man konnte nie wissen. Aber am besten verschob er dieses Problem erst einmal auf Morgen. Wenn sie die Lage bei Tageslicht sondiert hatten, würde ihnen schon etwas einfallen. „Lass uns schlafen gehen“, sagte er daher und begann Angelos Hose aufzuknöpfen. „Danach sieht die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus.“ „Du willst nur, dass ich mich ausziehe“, frotzelte Angelo grinsend und half Michael, ihn aus dem engen Kleidungsstück zu befreien. „Vielleicht“, antwortete Michael in dem gleichen spielerischen Tonfall, bevor er Angelos Mund zu einem neuen Kuss eroberte. Wer wusste schließlich, wie viel Zeit ihnen noch blieb.     Michael erwachte von einem Laut. Es war ein Klirren und Klappern. Im nächsten Augenblick flammte das Licht im Zimmer auf und er sah sich einer kleinen, braunhäutigen Frau gegenüber, die ihn mit großen Augen anstarrte. „Ay, Dios mío!“, rief sie und ließ vor Schreck fast ihren Besen fallen. „Entschuldigung. Ich gedacht, Zimmer frei.“ Die Frau in der blauweißen Uniform sprach mit einem starken Akzent, der Michael vermuten ließ, dass ihr Spanisch weit besser war als ihr Englisch. Sie machte Anstalten, sich wieder zurückzuziehen, als Angelo sich ebenfalls aus den Kissen erhob. Die Augen der Frau wurden noch größer. Ob das nun an Angelo selbst lag oder an der Tatsache, dass hier gerade zwei Männer zusammen im Bett lagen, vermochte Michael nicht zu beurteilen. Das Kreuzzeichen, das sie schnell vor der Brust schlug, sprach irgendwie für beides. „Ich viel Entschuldigung. Nicht gewusst. Nicht erzählen Chef, por favor. Ich brauche Arbeit. Meine Kinder in México sonst kein Essen.“ Gabriella, die durch den Lärm inzwischen ebenfalls geweckt worden war, lächelte die Reinigungskraft vom anderen Bett aus an. „Keine Sorge, wir verraten nichts.“ Die Frau, deren Namensschild sie als „Maria“ auswies, erwiderte das Lächeln. „Danke vielmals. Sie morgen noch hier? Ich machen Zimmer extra sauber für Sie.“ Gabriella schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Wir reisen morgen wieder ab.“ Maria nickte eifrig. „Ich wünsche gute Reise. Wohin fahren?“ „Nach Mexiko“, gab Michael bereitwillig zur Auskunft. Wie er erwartet hatte, fing Maria daraufhin an zu strahlen. Sie wünschte ihnen einen schönen Aufenthalt in ihrem Heimatland und begann dann umständlich, ihre verstreuten Putzutensilien einzusammeln, während sie sich immer wieder entschuldigte. Als Angelo sich plötzlich erhob, wollte Michael ihn zunächst aufhalten. Doch Angelo ließ sich von seinem Protest nicht beirren. Er ging zu Maria, der beim Anblick des halbnackten, jungen Mannes gleich wieder ein Teil ihrer Sachen aus den Händen fiel, und lächelte sie freundlich an. „Maria?“, fragte er und sie nickte stumm. „Te podemos pedir un favor?“ Ihr blieb vor Staunen der Mund offenstehen, als Angelo anfing, ihr in perfektem Spanisch zu erklären, dass sie über die Grenze mussten und das möglichst unerkannt und ob sie wohl jemanden kennen würde, der ihnen dabei helfen konnte. Zumindest nahm Michael an, dass Angelo das fragte. Er selbst verstand nämlich kaum ein Wort von dem, was dort aus Angelos Mund sprudelte. Als Angelo fertig war, ähnelte Maria einer Eule. Sie starrte ihn nur an und schien nun auch ihre Muttersprache vollkommen verloren zu haben. Als doch wieder Leben in sie kam, sah sie zuerst zu Gabriella und dann zu Michael. Dabei murmelte sie etwas, das Michael nicht verstand, Angelo aber zum Lachen brachte. „Was hat sie gesagt?“ „Sie hat gemeint, dass sie uns helfen wird. Und dass sie gerne irgendwann einmal die Geschichte erfahren möchte, die hinter diesem Abenteuer steckt.“ Michaels Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben. „Wenn sie weiß, was gut für sie ist, bleibt sie lieber unwissend. Aber du sagtest, sie kann uns helfen?“ Angelo nickte. „Maria kennt jemanden, der uns über die Grenze bringen kann. Wir müssten aber sofort los.“ Es dauerte einen Augenblick, bis Michael begriff, das gerade ein kleines Wunder geschehen war. Sie hatten es geschafft. Sie würden tatsächlich über die Grenze kommen und dann … nun ja, darüber würde er sich dort Gedanken machen. „Na schön“, brummte er und erhob sich ebenfalls, was Maria mit einem weiteren, neugierigen Blick verfolgte. „Machen wir uns also auf den Weg.“   Es dauerte nicht lange, bis sie mit Maria zusammen auf einem unbeleuchteten Parkplatz standen. „Ihr warten. Ich schicken Freund von meine Mann. Er euch bringen über Grenze.“ „Das ist wirklich freundlich von dir, Maria“, sagte Gabriella. Die Frau winkte ab. „Ah, de nada! Ich gern gemacht. Ihr warten, ja?“ Sie lächelte ihnen noch einmal freundlich zu und war verschwunden, bevor Michael sich ebenfalls bedanken konnte. Während sie so dastanden, kamen ihm auf einmal Bedenken. Was, wenn sie sie entführen und ausrauben wollten? Er wollte seinen Verdacht gerade laut äußern, als auf einmal ein vierfüßiger Schatten auf ihn zulief. Als er näherkam, lachte Michael verblüfft auf. „Hey, Spike, alter Junge. Woher wusstest du, dass wir hier sind?“ Der Hund winselte leise und stupste ihn mit der Schnauze gegen das Bein. Michael lehnte sich zu ihm herunter und streichelte ihm über den Kopf. „Ist ja gut. Ich hab dich auch vermisst.“ Er wollte noch mehr sagen, als ihm eine tiefe, männliche Stimme zuvorkam. „Ah, da sind ja meine Fahrgäste.“ Der Mann, der aus dem Dunkel trat, war zwar nicht so groß wie Michael, aber ebenso breit gebaut, was ihn ein bisschen untersetzt wirken ließ. Er hielt Michael seine riesige Pranke hin. „Ich bin José“ stellte er sich vor. „Ich bin heute Nacht Ihr Fahrer, wie man so schön sagt.“ Er lachte dröhnend und schüttelte anschließend auch Angelo die Hand, der danach ein Gesicht machte, als hätte der bullige Mexikaner sie ihm fast zerdrückt. Angelo warf Michael einen Blick zu, der sowohl Spott wie auch eine Bitte um Entschuldigung enthielt. Anscheinend war ihm dieser Typ ähnlich suspekt wie Michael. Gabriella hingegen schien ihre Bedenken nicht zu teilen und ließ sich von José zu dessen Lieferwagen begleiten. Als er diesen öffnete, schlug Michael ein bestialischer Gestank entgegen. „Was ist das?“, keuchte er und legte schnell den Arm vor das Gesicht. „Criadillas“, gab José zur Auskunft. „Stierhoden. Ich hole sie hier vom Schlachthaus und bringe sie nach drüben zu einem Vetter. Der macht daraus ganz hervorragende Tacos. Sollten Sie unbedingt probieren.“ „Ähm, ja, danke.“ Michael war sich nicht sicher, ob er das wollte. José grinste, als er sein Gesicht sah. „Der Geruch stammt nicht vom Fleisch, sondern von dem Eimer mit … wie sagt man … Penissen. Sie sind noch nicht gereinigt, daher der Geruch.“ „Essen Sie die etwa auch?“ Die Frage war Michael entschlüpft, bevor er es verhindern konnte. José lachte. „Nein, die trocknen wir und verfüttern sie an die Hunde. Fragen Sie mal ihren kleinen Freund da. Er würde sicherlich gerne mal nähere Bekanntschaft mit so einem Ochsenziemer machen.“ Spike reagierte mit einem leisen Knurren auf die Ansprache. Dabei fixierte er José mit den Augen, als hätte er jedes Wort verstanden. Der schien das nicht zu bemerken, sondern fügte nur mit einem Grinsen hinzu: „Die amerikanischen Grenzer sind von meiner Fracht meist ebenso wenig begeistert wie Sie, Señor. Deswegen schauen sie fast nie nach der Ladung. Aber für den Fall dachte ich mir, dass ein bisschen Gestank sie bestimmt von einer allzu gründlichen Kontrolle abhalten wird. Wenn Sie sich da hinten verstecken, sind Sie sicher wie in Abrahams Schoß.“ „Verstanden“, murmelte Michael. „Das klingt ja beruhigend.“ Er bestieg den müffelnden Lieferwagen als Erster und nahm neben den Styroporkisten Platz. Gabriella setzte sich neben ihn und Angelo arrangierte sich ihnen gegenüber. Als Spike sich anschickte, ebenfalls auf die Ladefläche zu springen, stellte José sich ihm in den Weg. „Tut mir leid, aber du kannst nicht mit. Wenn du an der Grenze auf einmal anfängst Krach zu schlagen, sind wir alle dran.“ „Er wird bestimmt ganz brav bleiben“, versprach Michael, aber Gabriella legte ihm die Hand auf den Arm. „Michael. Du hast doch gewusst, dass er nicht mitkommen kann“, sagte sie sanft. Michael seufzte. Natürlich hatte er es geahnt, aber irgendwie hatte er gedacht, dass sie noch mehr Zeit hätten.Er krabbelte noch einmal nach vorne und sah Spike zerknirscht an. „Tut mir leid, Kumpel. Hier ist wohl tatsächlich Endstation für dich.“ Er streckte die Hand aus, aber Spike kam nicht zu ihm, um sich streicheln zu lassen. Michael seufzte noch einmal. „Mach’s gut und pass auf dich auf, ja? Schön vom Hundefänger fernhalten.“ Er warf Spike noch einen letzten, entschuldigenden Blick zu, bevor er sich wieder auf seinen Platz setzte. José schob die Kisten so zurecht, dass man sie bei einer flüchtigen Inspektion nicht sofort sehen konnte und rief ihnen zu: „Alles klar, ich fahre jetzt los. Wenn wir aus Ciudad Juárez raus sind, können Sie wieder aussteigen. “ Er schloss die Türen und Michael saß zusammen mit den anderen im stinkenden Dunkel. „Das ist wirklich die am wenigsten heldenhafte Rettungsmission, die ich je erlebt habe.“ „Aber wir kommen so über die Grenze, ohne jemanden zu verletzen oder selbst verletzt zu werden“, antwortete Angelo. „Und was ist mit meinen Geruchsnerven?“, fragte Gabriella. „Die fühlen sich höchst verletzt an. Und dunkel ist es auch noch.“ „Soll ich Licht machen?“ Angelo wollte anscheinend seine Rüstung aktivieren, aber Michael winkte ab. „Spar dir deine Kräfte lieber. Die werden wir später noch brauchen.“   Die Fahrt mit dem Lieferwagen verlief tatsächlich genauso ereignislos, wie José angekündigt hatte. Nachdem er an der Grenze seine Papiere vorgezeigt hatte und sein Auto äußerlich kontrolliert worden war, winkten ihn die Grenzbeamten einfach durch. Als der Wagen wieder anfuhr, atmeten sie alle drei auf. „Wir haben es geschafft“, flüsterte Gabriella und drückte Michaels Hand. „Tja, ich fürchte nur, dass das hier der angenehme Teil der Reise war“, gab Michael finster zurück.   Tatsächlich dauerte es noch eine ganze Weile, bis José anhielt und die Türen des Lieferwagens sich wieder öffneten. Als sie ausstiegen, holte Michael zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig Luft. Um sie herum waren keinerlei Häuser oder gar Straßenlaternen zu sehen. Nur Josés Zähne blitzten im Dunkeln auf. „Willkommen in México“, sagte er. „Darf ich fragen, wo die Reise von hier aus hingehen soll?“ Michael sah die anderen beiden an. Im spärlichen Licht der hinteren Fahrzeugbeleuchtung waren sie nicht viel mehr als schattenhafte Umrisse. „Wir wollen in die 'Zona del Silencio'“, antwortete er dann, obwohl er sich nicht sicher war, ob es eine gute Idee war, das zu verraten. Allerdings war José bisher mehr als hilfreich gewesen. Der bullige Mexikaner pfiff durch die Zähne. „Das ist noch ein ganz schön weiter Weg. Verraten Sie mir, wie Sie da hinkommen wollen?“ „Wir …“ Michael stockte. Sie hatten den Wagen auf der anderen Seite zurücklassen müssen. Vermutlich würden sie hier erneut ein Auto mieten müssen. Bis zu ihrem Ziel war es noch fast eine Tagesreise. „Na, Amigos, ich sehe schon, ihr seid gestrandet wie Fische in der Wüste. Wenn ich euch anbieten darf, mich noch etwas zu begleiten? Ich fahre in die richtige Richtung und könnte euch noch ein Stück mitnehmen.“ „Wieder zurück in dieses Loch?“, rief Gabriella aus. „Ohne mich. Da laufe ich lieber.“ Wieder brach José in schallendes Gelächter aus. „Dann, Señora, sollten Sie vielleicht lieber vorne bei mir sitzen. Ich verspreche auch, mich ganz anständig zu benehmen.“ Er zwinkerte Gabriella zu. Michael war nicht wohl bei dem Gedanken, Gabriella allein bei diesem fremden Mann sitzen zu lassen. Andererseits standen sie hier mitten in der Nacht irgendwo im Nirgendwo. Da durften sie nicht wählerisch sein. „Na gut“, willigte er ein und machte sich bereit, erneut eine lange Zeit zwischen den stinkenden Kisten auszuharren. Diese Nacht würde definitiv eine sehr, sehr lange Nacht werden.       „Soll ich Musik anmachen?“ José sah zu Gabriella hinüber, doch die schüttelte nur mit dem Kopf. „Gut, wie Sie wollen.“ Sie fuhren eine Weile durch die Nacht, bevor José wieder das Wort ergriff. „Ich bin neugierig, Señora. Was wollen sie drei ausgerechnet in der 'Zona del Silencio'? Für einen einfachen Ausflug scheint mir das Ganze ein wenig zu … mysteriös.“ Gabriella überlegte, wie sie am besten darauf antwortete. Sie mussten wohl kaum fürchten, dass José sie verriet. Immerhin hatte er sie gerade illegal über die Grenze gebracht. „Wir suchen jemanden“, gab sie schließlich zu. „Ein Freund von uns ist in der Gegend verschwunden und wir wollen ihn wiederfinden.“ „Ein Freund, mhm? Da bin ich ja beruhigt, dass euch Amerikanern nicht wieder eine Rakete dort verloren gegangen ist.“ José lachte dröhnend, bevor er erneut ernst wurde. „Die 'Zona del Silencio' ist wirklich eine merkwürdige Gegend. Ich war selbst noch nie dort, aber man erzählt sich, dass Uhren dort stehen bleiben, Handys und Radios nicht mehr funktionieren, dass sich die Steine von selbst bewegen und eigenartige Kreaturen dort unterwegs sind. Manchmal wird es nachts auch taghell oder kleine Lichter verfolgen die Autos, die am Rand der Wüste entlangfahren. Die verrückteste Geschichte ist jedoch die von den drei Fremden, die dort angeblich immer wieder gesichtet werden. Es handelt sich um eine Frau und zwei Männer. Alle blondhaarig wie ihr hübscher Freund und in seltsamer Kleidung unterwegs. Es heißt, sie besuchen immer wieder einen bestimmten Bauernhof, um dort um Wasser zu bitten. Einmal soll einer der Stallburschen sie gefragt haben, woher sie kommen. Und wissen Sie, was sie geantwortet haben?“ Als Gabriella verneinte, grinste José sie an. „Von oben.“ José verfiel wieder in sein lautes Gelächter, doch Gabriella war bei seinen Worten kalt geworden. Gleichzeitig liefen ihr heiße Schauer über den Rücken. Alles, was er gerade erzählt hatte, sprach dafür, dass sie wirklich auf der richtigen Fährte waren. Und da war noch etwas. Was, wenn es sich bei diesen eigenartigen Fremden tatsächlich um Engel handelte, wie Gabriella vermutete? Ob sie noch dort waren? Vielleicht konnten sie sie um Hilfe bitten. „José“, sagte sie langsam. „Dieser Bauernhof, von dem Sie sprachen. Wissen Sie, wo der ist?“ „Natürlich. Ich könnte Sie hinbringen, wenn Sie wollen.“ „Aber Ihr Fleisch ...“ „Das laden wir vorher aus, kein Problem. Ihre Geschichte klingt aufregend, Señora, und ich könnte ein kleines Abenteuer vertragen. Außerdem wirken Sie auf mich, als könnten Sie gerade alle Hilfe brauchen, die Sie bekommen können.“ Er lächelte Gabriella an und die erwiderte sein Lächeln. Er wirkte wie ein ehrlicher, rechtschaffener Mann. Außerdem brauchten sie tatsächlich ein Fahrzeug, denn bis zu ihrem Ziel war es noch fast eine Tagesreise. „Also schön“, antwortete sie schließlich mit einiger Verspätung. „Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, nehmen wir Ihr Angebot gerne an. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie uns nicht begleiten. Was wir vorhaben, könnte gefährlich werden und ich möchte nicht, dass Ihnen etwas passiert.“ José nickte. „Keine Sorge, Señora. Ich passe schon auf mich auf. Ich bringe Sie zu diesem Bauernhof und dann sehe ich zu, dass ich mich aus dem Staub mache, bevor mich irgendwelche Teufel von dort erwischen können.“ Gabriella lachte, doch in ihren Ohren klang es ebenso falsch, wie es war. Josés Worte hatten ihr ins Bewusstsein gerufen, was sie gerade im Begriff waren zu tun und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie mit diesem Unterfangen wirklich Erfolg haben würden. Alles, was ihnen blieb, war die Hoffnung nicht zu verlieren.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)