Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 22: In der Falle ------------------------ Mit gerunzelter Stirn starrte Alejandro auf das Amulett in seiner Hand. Gerade hatte das Ding noch rot geleuchtet und jetzt? Nichts mehr. Gar nichts. Er schüttelte es, aber da war nicht der kleinste Funken in den glasigen Vogelaugen zu sehen. Was soll denn das für eine Scheiße sein? Ist das Ding etwa kaputt? Wütend riss er an den Zügeln des Ahools, der ihn bis gerade eben noch schnell und lautlos durch die Nacht getragen hatte. Die riesige Fledermaus kreischte auf und versuchte, ihren Reiter abzuwerfen. Alejandro bohrte ihr die Hacken in die haarigen Flanken und schlug ihr mit der Faust auf den Affenschädel. „Benimm dich“, zischte er. „Sonst mach ich einen Fußwärmer aus dir. Und die Cuca stell ich daneben als Lampenfuß. Diese hinterlistige Eidechse hat mich betrogen.“ Er sah nach unten. Irgendwo in der Tiefe lag eine Siedlung der Menschen. Im Dunkeln konnte er die unzähligen Lichter der Straßen und Häuser erkennen. Wo er sich genau befand, wusste er nicht. Das war der Nachteil dieser Fortbewegungsart. Vielleicht hätte er eine Karte mitnehmen sollen. Aber das hätte ihm auch nicht viel genutzt. Er hatte schon alle Hände voll damit zu tun, sich auf dem Rücken des Ahools festzuhalten, um nicht abzustürzen. Es war kalt hier oben und das ständige Flappen der ledrigen Flügel ging ihm auf die Nerven. Außerdem hatte er keinen Schimmer, wie weit er noch fliegen musste. Das blöde Amulett gab ihm ja nur die Richtung an und war in der letzten Stunde nicht unbedingt heller geworden. Der Engel schien noch ziemlich weit entfernt sein. Alejandro musste allerdings zugeben, dass diese Art zu suchen immer noch besser war als das, was er zuerst ausprobiert hatte. Da hatte er sich von Ernie zu verschiedenen Punkten auf der Landkarte schicken lassen, um von dort eine Ahnung zu kriegen, wo sich der Engel in etwa befand. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass er erstens nicht besonders gut darin war, sein Suchgebiet einzugrenzen, und dass ihm zweitens von den vielen Hin- und Rückbeschwörungen schlecht wurde. Also hatte er irgendwann das Handtuch geschmissen, war in den höchsten Turm hinaufgestampft und hatte sich eines der Flugreittiere geschnappt, die dort die meiste Zeit von der Decke hingen um zu schlafen oder zu fressen. Oder zu scheißen, wie der Gestank der steinernen Kammer hinreichend bewiesen hatte. Jetzt jedoch saß er auf dem Rücken des Ahools und hatte keine Ahnung, wohin er weiterfliegen sollte. Am besten behalte ich einfach erst mal die Richtung bei, in die ich gerade geflogen bin. Irgendwann wird der Ángel doch wieder auf der Bildfläche erscheinen und dann werde ich ihn finden und an seinen Ohren zurück in die Festung schleifen. Mit deinem erneuten Tritt brachte Alejandro den Ahool dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. Dabei warf er immer mal wieder zweifelnde Seitenblicke auf das Amulett. Er konnte nur hoffen, dass es bald wieder zum Leben erwachte, bevor er am Ende noch in Alaska landete. Er hatte gehört, dass es da ziemlich kalt war.       Michael fühlte, wie ihm trotz der Kühle der Höhle der Schweiß ausbrach. Er wich vor der Jorō-Gumo zurück und stand jetzt mit dem Rücken zur Wand. Die magischen Symbole hinter ihm glühten. Er konnte ihre Bösartigkeit förmlich fühlen. Eine fremdartige Hitze, wie ein Feuer, an das man zu nahe herangetreten war, ließ seine Haut kribbeln. Die Alternative war allerdings noch weit weniger attraktiv, auch wenn das auf den ersten Blick lächerlich schien. Immerhin war die Frau, die da vor ihm stand, ein ganzes Stück kleiner und leichter als er. Es wirkte, als könne er sie mit einer Hand hochheben. Der Ausdruck in ihrem Gesicht hingegen ließ ihn nur noch weiter zurückweichen. Ein mörderisches Funkeln glomm in ihren Augen auf. „Ich warte bereits eine ganze Weile auf ein geeignetes Opfer. Die letzte, gute Mahlzeit ist schon viel zu lange her. Aber was für ein fetter Brocken mir doch da ins Netz gegangen ist. Du wirst meinen Hunger für lange Zeit stillen.“ „Du willst mich fressen?“ Der Gedanke war vollkommen lächerlich. Sie hingegen schien das vollkommen ernst zu meinen. Ihre Zunge leckte über ihre Lippen. „Nun, zuerst werde ich dich vergiften und dich anschließend dabei beobachten, wie du langsam und elendig krepierst. Vielleicht verspeise ich derweil deine Frau. Du könntest zusehen. Wir beide könnten so viel Spaß haben.“ Sie lachte wieder ihr glockenhelles Lachen, das jetzt seltsam falsch und schrill in Michaels Ohren klang. Wie hatte er sich nur so einlullen lassen können? „Oh, ich sehe an deinem Gesicht, wie du dir Vorwürfe machst, weil du mich nicht eher durchschaut hast. Doch gräme dich nicht. Ihr Männer seid einfach viel zu leicht zu beeinflussen, viel zu leicht abzulenken.“ Sie strich mit der Hand ihren Hals entlang in Richtung ihres Ausschnitts. Wie hypnotisiert folgte Michael der Bewegung mit den Augen. Ihre schmalen Finger legten sich um das Amulett, strichen sanft, fast schon liebkosend darüber. Er schluckte. „Aber du … du bist doch eine Wissenschaftlerin. Du hilfst Menschenleben zu retten. Wie kannst du gleichzeitig eine Mörderin sein?“ Die Jorō-Gumo hielt für einen Augenblick verblüfft inne. „Wie erstaunlich scharfsinnig von dir. Aber du übersiehst da eine Kleinigkeit. Es wäre nicht ratsam, wild mordend durch die Gegend zu ziehen. Die Engel würden auf mich aufmerksam werden und mich zur Strecke bringen. Das wäre vollkommen inakzeptabel.“ Ihre Augen wurden dunkler, als sie weitersprach. „Deswegen hasse ich sie so sehr. Überall schnüffeln sie herum und mischen sich ein. Dabei kommen die Männer doch freiwillig zu mir. Es ist nicht mehr als natürliche Auslese. Diejenigen, die zu dumm sind, werden eben gefressen. So läuft das in der Natur.“ „Aber Jeff war nicht dumm!“, begehrte Michael auf. „Er war schlau, viel schlauer als ich. Er hatte es nicht verdient zu sterben.“ Die Jorō-Gumo schüttelte leicht den Kopf und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Michael, Michael. Du bist ja geradezu besessen von diesem Jeff. Man könnte meinen, dass ihr …“ Sie sprach nicht weiter, aber das Lächeln auf ihren Lippen sagte alles. „Warum hast du es getan?“ Vielleicht gelang es ihm sie hinzuhalten. „Was war so wichtig an dieser Maschine, dass mein Freund dafür sterben musste? Was hat es mit dem Engelsbrecher auf sich.“ Die feine Linien ihrer Augenbrauen hoben sich. „Du weißt davon? Das muss mir entgangen sein. Allerdings erklärt es vermutlich, warum dieser neugierige Engel hier alles auf den Kopf gestellt hat. Aber auch er hat nichts finden können.“ Sie lächelte und deutete auf die Wände. „Diese magischen Zeichen verhindern es. Nichts, was innerhalb dieser Höhle passiert, kann nach außen dringen. Hier unten konnte ich in Ruhe arbeiten und die Maschine fertigstellen, die sie alle zu Fall bringen wird. Diese blasierten, hochnäsigen Engel, die sich für etwas Besseres halten.“ Sie sah zu Angelo, der immer noch gegen die Schattententakel kämpfte. „Sie sind immun gegen meine Verführungskünste. Keinerlei Leidenschaft herrscht in ihren perfekten Körpern. Aber ich bin in der Lage, das zu ändern. Mit dem Engelsbrecher ist es möglich, auch sie das Feuer der Lust spüren zu lassen. Das Feuer, in dem sie schließlich verbrennen werden.“ Sie lachte wieder und Michael erschauerte. Er musste an Angelos Erzählung denken. Was auch immer die Dämonen ihm verabreicht hatten, musste mit Hilfe dieser widerlichen Maschine erzeugt worden sein. Wie genau konnte er zwar nur rätseln, aber diese Frage musste er auf später verschieben. Jetzt galt es erst einmal, die Dämonin unschädlich zu machen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Jorō-Gumo sah ihn mitleidig an. „Was soll das werden? Glaubst du wirklich, dass du es mit mir aufnehmen kannst?“ Sie stieß einen amüsierten Laut aus. „Dann bist du wirklich dümmer, als ich gedacht hatte. Aber wenn du es so willst. Spielen wir eben.“ Sie verzog ihren Mund zu einem Lächeln, das breiter und breiter wurde. Viel breiter, als es hätte sein dürfen. Ihre Mundwinkel wanderten immer weiter nach außen und im Dunkel ihrer Mundhöhle bewegte sich etwas. Michael schauderte. Kleine, fühlerartige Gebilde schoben sich über ihre Lippen und tasteten in seine Richtung. Dazwischen kamen zwei weitere, spitz zulaufende Fänge zum Vorschein. Ihre Spitzen glänzten feucht. „Komm her“, zischelte die Jorō-Gumo. „Komm her und lass dich von mir beißen.“ Michael wich erneut zurück, bis er die Wand in seinem Rücken spürte.       Erithriel stand vor einer großen, verschlossenen Glastür, hinter der mehrere Laborräume lagen. Sein Blick fiel auf eine Tasche, die in einer Ecke neben der Tür lag. Sie wirkte seltsam fehl am Platz. Wer hatte sie hierher gelegt? Er zögerte kurz, bevor er hinging und sie öffnete. Der Inhalt ließ ihn die Stirn runzeln. Darin befand sich ein demontiertes Gartengerät. Die Schneiden der rostigen Heckenschere waren bearbeitet worden. Sie glänzten im Gegensatz zum Rest in einem dunklen Silberton. Er nahm eines der Teile aus der Tasche. Der hölzerne Griff war bereits vergraut und fühlte sich rau unter seinen Fingern an. Der Zweck des Gerätes war klar. Eine Waffe gegen Dämonen. Gar nicht dumm. Aber warum haben sie sie hier zurückgelassen? Und wo sind sie? Wieder versuchte er, die vier Menschen oder Wesenheiten zu finden, die vor einigen Augenblicken aus seiner Wahrnehmung verschwunden waren. Er hatte es zunächst nicht glauben wollen, aber die vier Lebenszeichen waren und blieben wie vom Erdboden verschluckt. Etwa an der Stelle, wo er sie zuletzt gespürt hatte, konnte er ganz schwach die Aura mehrerer Tiere wahrnehmen. Normalerweise gingen diese im Rauschen der Schöpfung unter, aber jetzt, wo er sich so konzentrierte, konnte er selbst sie spüren. Von dem Gefallenen und seinen Begleitern war jedoch nichts mehr zu sehen. Entweder hatten sie das Gebäude auf magischem Wege verlassen oder … Erithriel starrte auf die Glastür. Ich muss nachsehen. Vielleicht gibt es noch eine andere Erklärung für dieses Phänomen.   Die Tür hielt ihn nicht lange auf. Es erforderte nur ein, zwei gezielte Schläge, bis das durchsichtige Material barst und in einem Schauer von stumpfen Splittern auf dem Fußboden des hinter der Tür liegenden Korridors fiel. Er vergrößerte das Loch mit einigen weiteren Tritten, bevor er sich bückte und hindurch stieg. Auf der anderen Seite blieb er stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Nicht das kleinste Geräusch. Mit zum Zerreißen gespannten Sinnen ging er den Flur entlang, sicherte in alle Räume, aber dort war niemand. Schließlich erreichte er das Ende des Ganges. Erithriel öffnete die Tür und betrat das relativ geräumige Labor. Dort waren die Käfige mit den Tieren, die er wahrgenommen hatte. Ansonsten war der Raum jedoch vollkommen leer. Es gab auch keinen weiteren Ausgang. Wie war der Gefallene hier herausgekommen? Er muss ein Tor geöffnet haben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Erithriel wollte sich gerade umdrehen und wieder zu seinem Wagen zurückgehen, als ihn etwas zurückhielt. Da war ein Kitzeln. Eine Art Echo, aber viel undeutlicher. Wie durch Watte drang es an sein Ohr und ließ ihn innehalten. Misstrauisch drehte er sich herum und betrachtete die Wand, die am äußersten Ende des Labors lag. Ein Teil davon war nicht verstellt, was ihm jetzt, da er darüber nachdachte, eigenartig vorkam. Platz war hier unten Mangelware. Es war nicht logisch, so ein großes Areal zu verschwenden. Erithriel trat ganz nahe heran und betrachtete die glatte, weiße Fläche. Doch da war nichts. Keine Tür oder etwas in der Art und doch … Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Plötzlich begann sein Handy zu klingeln. Als er es herauszog, zeigte es einen unbekannten Anrufer an. Entschlossen drückte er den Knopf, um das Gespräch abzuweisen. Dafür hatte er jetzt keine Zeit.       Missmutig starrte Crystal aus das Display des Handys, mit dem sie bereits zum wiederholten Mal versucht hatte, diesen dämlichen Engel anzurufen. Aber entweder war dauernd besetzt und jetzt, wo sie mal durchkam, besaß er doch tatsächlich die Frechheit, sie wegzudrücken. „Der spinnt wohl“, knurrte sie. „Arschloch! Wenn ich den erwische, versenke ich meinen Absatz aber mal ganz gepflegt in seinem gefiederten Hintern. Ist ja nicht so, dass ich nicht was Besseres zu tun hätte.“ Mit einem genervten Schnauben steckte sie das Gerät weg und warf die blonden Haare in den Nacken. Die Nacht war jung und die Männer willig. Zuerst würde sie sich noch einen kleinen Snack gönnen und dann würde sie vielleicht nochmal versuchen, Marcus’ Vater zu erreichen. Dem kleinen Cop würde schon nichts passieren, während sie hier ein bisschen Spaß hatte. Mit einem Lächeln auf den rot geschminkten Lippen machte sie sich daran, die kleine Gasse entlang zum Strip zu stiefeln. Mal sehen, was sich heute so finden ließ.       Voller Entsetzen sah Gabriella zu, wie die Jorō-Gumo sich auf Michael zu bewegte. Aus ihrem Mund ragten die Beißwerkzeuge einer Spinne. „Wenn sie ihn erwischt, wird er sterben.“ Angelos Stimme klang angestrengt. Er kämpfte immer noch gegen die Schattententakel, aber die Dämonin hatte nicht gelogen. Es gab kein Entkommen. „Nicht mit mir“, fauchte Gabriella. Sie blickte auf die widerlichen Spinnen herab, die sie umzingelt hatten. „Ihr seid vielleicht viele, aber ich bin viel größer. Macht Bekanntschaft mit der römischen Siegesgöttin.“ Sie hob den Fuß und im nächsten Augenblick zermatschte sie gleich zwei Spinnen unter den Sohlen ihrer Turnschuhe. Die nächsten zwei folgten ihnen auf dem Fuße, bevor die anderen sich eilig in Sicherheit brachten. Sie zischelten und fauchten. „Haha, das hättet ihr nicht gedacht. Euch zeige ich, wer hier die Hosen anhat.“ „Gabriella, weg da!“ Angelos Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Nur eine Sekunde später versengte bereits eine Feuergarbe die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte. Gabriella riss erschrocken die Augen auf. „Die Spinnen können Feuer speien“, keuchte Angelo. „Die Jorō-Gumo hat ihnen diese Fähigkeit verliehen. Pass auf!“ Wieder spuckten die winzigen Krabbler eine grell leuchtende Lohe in ihre Richtung. Gabriella konnte gerade noch ausweichen. Sie schluckte und sah zu Michael. Der stand mit dem Rücken an der Wand und scheute sich offenbar immer noch, die Dämonin anzugreifen. Und Angelo war in dieser Falle gefangen, die jeden Engel an Ort und Stelle band. Gabriellas Augen wurden groß. „Angelo, du musst deine Kräfte deaktivieren.“ Er sah sie verständnislos an. „Die Falle. Sie wirkt nur auf Engel. Du musst aufhören einer zu sein. Jetzt!“       Die klackenden Beißwerkzeuge kamen näher und näher. Michael drückte sich so weit er konnte an die Wand. Seine Finger glitten über den rauen Fels in der Hoffnung, einen Stein daraus lösen zu können. Aber da war keine Unebenheit, keine losen Brocken. Nur das unheilvolle Prickeln der bösartigen Schriftzeichen. „Du gehörst jetzt mir“, zischelte die Jorō-Gumo. „Mir ganz allein.“ Sie beugte sich vor, Ihr Mund öffnete sich. Michael machte sich bereit, als plötzlich das Licht um ihn herum erlosch. Noch bevor seine Augen sich an die verminderte Helligkeit gewöhnt hatten, hörte er einen Schrei und den Aufschlag zweier aneinanderprallender Körper. Im nächsten Moment flammte wieder das weißblaue Licht von Angelos Engelsrüstung auf. Er stand über der am Boden liegenden Jorō-Gumo, die ihn wütend anzischte. „Du dummer, kleiner Engel. Geh mir aus den Augen!“ Sie gab ihm aus dem Liegen heraus einen Tritt, er wich aus … und stand im nächsten Moment wieder in einer Falle. Erneut wickelten sich die dunklen Tentakel blitzschnell um seine Gliedmaßen und hielten ihn fest. „Hast du wirklich gedacht, ich hätte nur eine aufgestellt?“, höhnte die Jorō-Gumo. Sie richtete sich wieder auf und kam auf die Füße. „Für wie einfältig hältst du mich. Wobei ich zugeben muss, dass das ein netter Trick war, mit dem du dich da befreit hast. Du kannst deine Kräfte abschalten? Bemerkenswert. Absolut bemerkenswert. Man könnte fast meinen, dass du …“ Sie sprach nicht weiter, sondern schüttelte nur den Kopf. „Egal. Dazu kommen wir später. Jetzt muss ich mich erst mal um mein Essen kümmern. Wenn du mich entschuldigen würdest.“ Die Jorō-Gumo wandte sich wieder Michael zu, doch sie hatte ihre Rechnung ohne Angelo gemacht. Wieder wurde es dunkel und wieder konnte Michael Schläge hören. Als es das nächste Mal hell wurde, lag Angelo am Boden. Die Jorō-Gumo stand über ihm. Ihre vormals so sorgfältig frisierten Haare hatten sich gelöst und ringelten sich wie Schlangen um ihre Schultern. Sie lachte böse. „Du willst es also wirklich wissen. Na schön. Mache ich eben ernst.“   Mit einer entschiedenen Geste griff die Jorō-Gumo sich an den Hals. Michael hörte die Glieder der goldenen Kette reißen. Im nächsten Augenblick klirrte es, als das magische Amulett auf dem Fußboden aufschlug. Die Jorō-Gumo streckte sich, als hätte sie ein zu enges Kleidungsstück abgelegt. „Ah, viel besser.“ „Michael, dort!“ Gabriellas Stimme ließ Michael herumfahren. An der Wand neben ihm prangte der Schatten der Jorō-Gumo. Allerdings war es nicht länger der eines Menschen, sondern vielmehr der einer riesigen Spinne.“ Die Jorō-Gumo lachte. „Ja, schau du nur, du dummer, kleiner Mensch. Dann weißt du schon mal, was dich erwartet.“ Sie warf den Kopf zurück, breitete die Arme aus und Worte in einer anderen, dunkleren Sprache drangen aus ihrem Mund. Wie Teer liefen sie über ihren Körper, der sich unter der magischen Kraft beugte und veränderte. Ihr Rücken wölbte sich in einem schier unmöglichen Winkel und wuchs in die Höhe. Ihr ganzer hinterer Leib blähte sich auf und schwoll zu einem Vielfachen seiner vorherigen Größe. Ihre Beine verbanden sich miteinander und wurden der wachsenden Masse einverleibt. Stattdessen schossen lange, vielfach gegliederte Spinnenbeine aus ihrer Taille hervor. Sie waren ebenso gestreift wie die der kleineren Exemplare, nur ungleich hässlicher und mit großen, haarigen Widerhaken versehen. Ihre ganze Gestalt wuchs, streckte sich und erreichte schließlich eine Höhe von annähernd drei Metern. Als die Transformation abgeschlossen war, hob die Jorō-Gumo den Kopf und richtete sich auf. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Auf ihrer Stirn waren mehrere schwarzglänzende Augen erschienen. Ihr Mund war noch weiter in die Breite gewachsen und mit größeren Fühlern und Zähnen gespickt. Der menschliche Oberkörper saß wie eine Puppe auf dem Hinterleib einer riesigen Spinne. Dass er immer noch das Oberteil des grauen Kostüms trug, machte die Sache nur umso grotesker. Michael war hin- und hergerissen zwischen dem Drang zu fliehen und weiter hinzusehen. Auch auf Angelos Gesicht war tiefe Abscheu zu erkennen. Der Blick der schwarzen Käferaugen irrten für einen Moment zwischen ihren beiden Opfern hin und her und die Mundwerkzeuge klackten unentschlossen. Plötzlich ging ein Ruck durch die riesige Spinnenfrau. Sie ließ ein schauriges fauchen hören und stürzte sich auf Michael. Zwei ihrer Beinnpaare griffen nach ihm. Die harten Krallen bohrten sich in sein Fleisch. Scheinbar mühelos hob sie ihn hoch. Weißliche Spinnenfäden schossen aus einer fetten Warze an ihrem Hinterleib heraus. Sie wickelten sich um seinen Körper, während die Jorō-Gumo ihn im Kreis herumdrehte, das ihm Hören und Sehen verging. Binnen Sekunden wurde er zu einem Paket verschnürt. Sie ließ ihn zu Boden fallen. Michael fluchte und kämpfte gegen die Fäden an, aber es war, als hätte jemand Stahlseile um ihn herumgewickelt. Er konnte sich nicht rühren. „Zu dir komme ich gleich“, zischelte die Jorō-Gumo. „Nicht weglaufen.“ Sie zwinkerte ihm mit gleich dreien ihrer Glubschaugen zu und drehte sich auf ihren vielen Beinen herum, bis sie vor Angelo stand. „Und jetzt zu dir, mein Engelchen. Du möchtest einen Kampf? Dann sollst du ihn kriegen.“ Ohne weitere Vorwarnung sprang die riesige Spinne vor und begrub Angelo unter sich.       Erithriel starrte immer noch die leere Wand an. Er fuhr mit der Hand darüber, doch konnte er nicht die geringste Unebenheit feststellen. Trotzdem kam ihm das Ganze seltsam vor. Er drehte sich um und sah sich noch einmal genau im Labor um. Sein Blick blieb an einem Terrarium hängen, in dem einige kahle Äste mit weißen Netzen überzogen waren. Als Erithriel nähertrat sah er die feingliedrigen Spinnen, die darauf herum krabbelten. „Jorō-Gumo“, murmelte er. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Ich hätte es wissen müssen. Die Hinweise, sie waren da, aber ich habe sie nicht gesehen. Die Spinnenfäden am Unfallort waren von einer Jorō-Gumo. Aber wo ist sie hin? Er wollte gerade zum Ausgang des Labors gehen, als sein Handy erneut einen Ton von sich gab. Er hatte eine Nachricht erhalten. Ungeduldig nestelte er das Gerät hervor und entsperrte den Bildschirm. Die Nummer des Absenders war unterdrückt. Trotzdem öffnete er die Nachricht, wartete, dass das enthaltene Bild heruntergeladen wurde … und erstarrte. Das Gerät entglitt seinen kraftlosen Händen und wäre beinahe am Boden zerschellt, wenn er es nicht rechtzeitig aufgefangen hätte. Noch einmal betrachtete er das Bild, das der Nachricht beigefügt gewesen war. Der Inhalt war eindeutig. Er wusste jetzt, wo die andere Engel geblieben waren.       Voller Entsetzen beobachtete Gabriella, wie die Jorō-Gumo sich auf Angelo stürzte. Er verwand in einem Gewirr von Beinen und dem hässlichen, fetten Leib der Spinnenfrau. Sie selbst wurde immer noch von den kleinen, feuerspeienden Exemplaren im Schach gehalten, die jede ihrer Bewegungen kritisch beobachteten. Sobald sie versuchte, in Michaels oder Angelos Richtung zu laufen, leckten lange, orangerote Feuerstrahlen in ihre Richtung. Sie hätte vielleicht versuchen können, über die Spinnen hinwegzuspringen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie dann nicht wirklich zum Angriff übergehen würden. Alle zusammen. „Gabriella!“ Michaels Stimme war verzerrt, die klebrigen Spinnenfäden bedeckten teilweise sein Gesicht. „Die Waffen! Du musst die Waffen holen!“ Sie reagierte augenblicklich. Noch bevor die kleinen Spinnen verstanden hatten, worum es ging, hatte Gabriella sich herum gedreht und war in Richtung der verschlossenen Luke gelaufen. Ein Schwall ärgerliches Japanisch peitschte durch die Höhle und im nächsten Augenblick wickelte sich etwas um Gabriellas Füße. Sie stolperte, stürzte. Ihre Knie prallten schmerzhaft auf den Steinboden und sie konnte den Sturz gerade noch abfangen, bevor auch ihr Gesicht damit Bekanntschaft machte. Ihre Handflächen schrammten über den rauen Fels. Als sie sich herumdrehte, sah sie, dass auch sie von diesen ekelhaften Fäden eingesponnen war. Ein Zischen ließ sie aufsehen. Die kleinen Feuer-Spinnen hatten sich zu einem Halbkreis zusammengerottet und krochen langsam auf Gabriella zu. Die erste blieb stehen, richtete sich auch zwei Beinpaare auf und hob die anderen beiden drohend in die Luft. Die anderen ahmten die Pose nach und Gabriella war klar, dass sie geröstet werden würde, wenn sie auch nur einen Muskel rührte. Sie saß ebenso in der Falle wie Michael.       Träge öffnete Crystal ein Auge. Sie lag inmitten eines Haufen nackter Leiber, die sich bis vor Kurzem noch in Ekstase mit ihr vereinigt hatten. Alle fünf. Nun war sie satt und zufrieden und leckte sich mit einer beiläufigen Bewegung die letzten Reste des Ergusses von den Fingern, den der große Blonde ihr direkt auf die Brüste gespritzt hatte. Sie hatte ihn gelassen, denn zu dem Zeitpunkt war sie schon mehr als voll gewesen. Jetzt jedoch klingelte ein Handy in irgendeiner der Hosen, die auf dem Fußboden verstreut lagen. Lady Gaga. Na sieh mal an. Sie wippte ein bisschen mit, bis ihr plötzlich einfiel, dass sie ja eigentlich selbst noch ein Gespräch zu führen hatte. Aber hier war es so warm und kuschelig und nach der Tortur, durch die Victor sie in den letzten zwei Tagen geschickt hatte, hatte sie sich durchaus ein Päuschen verdient. Sie konnte später noch telefonieren. Der komische Engel würde ihr schon nicht weglaufen und Marcus saß schließlich warm und trocken. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich wieder zurück in das Wirrwarr aus Gliedmaßen gleiten und schob die Hand des Niedlichen mit der Stupsnase zwischen ihre Beine. Vielleicht war er ja bereit, sich noch ein bisschen anzustrengen. Als sich seine Finger zu bewegen begannen, fing sie an zu grinsen. Es ging doch nichts über eine dritte Runde.       Der Körper der Jorō-Gumo flog durch die Luft und prallte gegen die Höhlenwand. Sie kreischte auf und versuchte, ihre Beine zu entwirren und sich aufzurappeln, aber Angelo ging bereits wieder zum Angriff über. Er hatte seine Engelskräfte deaktiviert, als er auf sie zulief, doch in dem Moment, als er sprang, flammte das weißblaue Licht wieder auf. Mit bloßen Händen stürzte er sich auf die Spinnenfrau und fing an, sie mit den Fäusten zu bearbeiten. Sie fauchte und schleuderte ihn von sich herunter. Er schlug in der Luft einen Salto und landete auf seinen Füße. Sein Atem ging schnell. Als er sich mit der Hand durchs Gesicht wischte, hinterließen seine Finger eine rote Spur. „Du widerliche, kleine Made“, fauchte die Jorō-Gumo. „Komm her, damit ich dich zerquetschen kann.“ Wieder sprang die Spinnenfrau mit einer Leichtigkeit in die Höhe, die Gabriella ihr nicht zugetraut hätte. Aber dieses Mal war Angelo vorbereitet. Kurz bevor sie ihn erreichte, erschien ein gleißendes Lichtschild vor ihm in der Luft. Die Jorō-Gumo wurde zurückgeworfen und erneut gegen die Felswand geschleudert. Eines ihrer Beine brach ab und ein Strom schleimiger, grüner Flüssigkeit schoss daraus hervor. Sie heulte in den höchsten Tönen auf. „Das wirst du mir büßen!“ Sie schrie etwas auf Japanisch, und ein Teil der kleinen Spinnen, die Gabriella bewachten, machten auf der Stelle kehrt und rasten in schier unglaublichem Tempo auf Angelo zu. Währenddessen bedeckte das grüne Blut die Wand und begann daran herabzurinnen. Als es eines der violetten Schriftzeichen erreichte, zischte es und grauer, beißender Rauch begann aufzusteigen.       Alejandro wäre beinahe vom Rücken des Ahool gefallen, als die Augen des Vogel-Amuletts plötzlich aufglühten. Anscheinend war der Engel wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Mit einem zufriedenen Grinsen hieb er dem der riesigen Fledermaus die Fersen in die Seiten. Der Ahool gab einen lauten Schrei vor sich, bevor er gehorsam das Tempo erhöhte und sich mit schnellen Flügelschlägen in Richtung Norden bewegte.       Erithriel wandte sich zum Gehen. Die Nachricht, die er erhalten hatte, war eindeutig. Er musste … Seine Augen weiteten sich, als auf einmal eine Türöffnung genau an der Stelle erschien, die er gerade noch so gründlich untersucht hatte. Was immer sie verborgen gehalten hatte, musste seine Wirkung verloren haben. Schnell sandte er seine Sinne aus und wurde von der gewaltigen, dämonischen Präsenz, die er auf der anderen Seite erspürte, fast überrollt. Die Jorō-Gumo. Sie ist unheimlich stark. Jetzt, da der Zauberbann nicht mehr bestand, drangen plötzlich auch Geräusche an sein Ohr. Gedämpft zwar, aber hinter dieser Tür war eindeutig ein Kampf im Gange. Aber wer kämpft da gegen wen? Die Thompsons wären wohl kaum ein Hindernis. Weder für den Gefallenen noch für die Jorō-Gumo. Was hat das zu bedeuten? Noch einmal tasteten seine Finger nach dem Handy. Ich sollte gehen. Ich sollte … Ein Schrei erschütterte den Raum. Er stammte eindeutig von dem Gefallenen. Erithriel war sich ganz sicher. Die Schwingungen gingen ihm durch Mark und Bein und ließen seine Augen groß werden. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nicht er. Bevor er wusste, was er tat, hatte Erithriel die Tür geöffnet, war durch den kurzen Gang dahinter gestürzt und hatte die eiserne Luke aus den Angeln gerissen, die dort seinen Weg verschloss. Er stürzte in die Dunkelheit und verharrte dann regungslos auf der Schwelle. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf seine Befürchtungen. Die beiden Menschen waren von der Jorō-Gumo außer Gefecht gesetzt worden. Michael Thompson lag von den Fäden des Spinnendämons gefesselt auf dem Boden, während seine Frau von ihren feuerspeienden Dienern gefangen genommen worden war. Sie mussten es auch gewesen sein, die damals den Brand ausgelöst hatten. Erithriel beachtete sie nicht weiter. Sein Blick hing an dem Gefallenen, der in den Fängen der Jorō-Gumo hing. Er blutete aus einer Wunde an der Schulter, sein Oberteil war verkohlt und auf seiner Brust … Die Narben. Er ist es. In diesem Moment drehte die Jorō-Gumo sich zu ihm herum. Als sie ihn erblickte, verzog sich ihr Maul zu einem wütenden Fauchen. „Noch ein Engel?“, rief sie und schleuderte den Gefallenen beiseite wie ein Spielzeug. „Jetzt habe ich aber langsam genug von euch.“         Michael konnte kaum glauben, was er sah. Die Jorō-Gumo hatte Angelo zu Boden geworfen und raste jetzt mit wirbelnden Beinen auf Agent Hawthorne zu, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Der Mann sprang zurück und … Michael wollte ihn noch warnen, aber die Falle der Jorō-Gumo hatte bereits zugeschnappt. Ein violetter Kreis glühte auf, Schattententakel schossen aus dem Boden und banden ihn ebenso wie sie es mit Angelo getan hatten. Nur, dass dieser Engel nicht so einfach ihren Fängen entkommen würde. Der Agent öffnete den Mund, doch noch bevor ein Wort seine Kehle verlassen hatte, war die Jorō-Gumo heran. Gleich zwei ihrer Beinpaare schossen vor. Die dornenbesetzten Spitzen bohrten sich in den Brustkorb des Engels und ließen ihn aufkeuchen. Für einen Moment wirkte er wie erstarrt. Wie ein aufgespießter Schmetterling wurde er von der Jorō-Gumo hochgehoben und zu sich herangezogen. Michael konnte nicht sehen, was sie tat. Aber das Übelkeit erregende Geräusch, das erklang, als sich ihre Kiefer auf Agent Hawthorne herabsenkten, war ihm Antwort genug. Als die Jorō-Gumo die tödlichen Spitzen wieder aus dem leblosen Körper zog und ihn fallen ließ, war ihr Mund rot verschmiert. Sie leckte sich die Lippen und grinste Angelo an. „Einer weniger. Und jetzt zu uns.“   Angelo stand da und starrte auf den Engel, der hinter der Jorō-Gumo am Boden lag. In seinem Blick lag etwas, das Michael dort noch nie gesehen hatte. Ein blaues Feuer brannte in seinen Augen und der Eishauch, der es begleitete, ließ selbst ihn frösteln. Der kühle Blick richtete sich auf die Spinnenfrau. „Du hast ihn getötet.“ Die Jorō-Gumo wackelte mit dem Kopf. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Wenn er stark genug ist, kann er das Gift eventuell aufhalten. Wenn nicht … nun ja. Dann hast du wohl recht.“ Sie lachte erneut. Angelo zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Das war dein Todesurteil.“ Die Spinnenfrau schürzte die Lippen. „Ach? Ist das so? Und wer wird mich töten?“ „Ich.“   Michael konnte die Bewegung, mit der Angelo nach vorne sprang, fast nicht wahrnehmen. Er sprang aus dem Stand so hoch, dass er fast die Höhlendecke berührte, und rauschte dann mit einem donnernden Schrei auf die Jorō-Gumo herab. Etwas Silbernes blitzte auf und im nächsten Moment fuhr Angelos Schwert in den Körper der Dämonin. Er schlitzte sie von oben bis unten auf und sprang zurück, noch bevor ihre Innereien sich mit einem Übelkeit erregenden Geräusch auf den Fußboden ergossen. Ihr Wutgeschrei ging in ein gurgelndes Röcheln über und die riesige Spinne brach in sich zusammen. Michael schloss für einen Moment die Augen, aber das Grauen, das er gesehen hatte, hatte sich tief in seine Netzhäute gebrannt. Im nächsten Moment spürte eine Hand an seiner Schulter. „Michael?“ Angelo kniete neben ihm auf dem Boden. „Bist du verletzt?“ Michael schüttelte den Kopf. „Gut, dann halt still.“ Mit unglaublicher Geschicklichkeit benutzte Angelo sein Schwert, um die stählernen Seidenfäden um Michales Körper zu zerschneiden. Sie eilten zu Gabriella und Angelo löste auch ihre Fesseln. Die Spinnen, die sie bewacht hatten, hatten mit dem Tod der Jorō-Gumo das Weite gesucht. Michael half ihr hoch und schloss sie in die Arme. Angelo hingegen eilte zu dem anderen Engel. Mit zwei Schritten war er bei ihm und sank neben ihm zu Boden. Sein Schwert klirrte unbeachtet auf den Stein, während Angelo den Verletzten sanft zu sich herumdrehte. Gabriella atmete erschrocken ein. Der Brustkorb des Engels war eine einzige Wunde. Michael konnte nicht erkennen, ob er überhaupt noch atmete. Seine Augen waren jedoch geöffnet und jetzt, da Angelo ihn berührte, drehten sie sich in seine Richtung. Ein Glück, er lebt. „Du“, hauchte er und hustete. Blut kam aus seinem Mund und lief in einem breiten Strom sein Kinn herab. „Du bist …“ „Du solltest nicht sprechen“, sagte Angelo. Sein Gesicht war ernst. Mit gerunzelter Stirn tastete er über die Wunden. Es schien, als suche er etwas. „Nicht.“ Der fremde Engel hustete erneut. Mehr Blut tränkte seine Kleidung. Es war so unglaublich viel. Viel mehr als ein Mensch verlieren durfte, um überhaupt noch bei Bewusstsein zu sein. Eine Lache hatte sich um ihn herum gebildet. Angelos Hose saugte sich damit voll, das graue Jackett, alles. Das Blut war überall. „Tasche“, flüsterte der Engel heiser. „Nimm … Tasche.“ Er versuchte den Arm zu heben, aber die Gliedmaße gehorchte ihm nicht mehr. Kraftlos sank sie wieder herab, bevor sie ihr Ziel erreichte. „Lass mich“, sagte Gabriella, die sich neben Angelo niedergelassen hatte. Sie zog etwas aus der Tasche des Engels und hielt es hoch. Es war ein Handy. „Das hier?“ „J-ja.“ Blutige Finger griffen nach dem Gerät. Sie zitterten, daher hielt Gabriella ihm das Display nur hin. Der Engel tippte eine Zahlenkombination. „Nach-richt“, flüsterte er. Sein Gesicht war schweißbedeckt und kalkweiß. Michael hatte keine Ahnung, wie er sich noch bei Bewusstsein hielt. „Er braucht einen Arzt“, wisperte er Angelo zu. Der schüttelte den Kopf. „Lies.“ Der Engel war kaum noch zu verstehen. Bei jedem Atemzug erklang ein Rasseln und Pfeifen. Trotzdem schaffte er es irgendwie, Angelo das Handy unter die Nase zu schieben. Als dessen Blick darauf fiel, wurde er ebenfalls blass. Er griff nach dem Gerät und starrte wie gebannt auf den kleinen Bildschirm. „Das ist nicht möglich.“ Der Engel sagte nichts mehr. Er sah Angelo nur noch an. Erst, als seine Hand kraftlos nach unten sank, verstand Michael. Er hörte Gabriella neben sich aufschluchzen und zog sie in seine Arme. Angelo hielt immer noch das Handy in seinen Händen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Kopf und sah Michael an. In seinem Blick tobten die Emotionen, doch das Zentrum des Sturms war ruhig. Zu ruhig. „Was ist? Was steht da?“ Angelo drehte das Handy, sodass Michael es sehen konnte. Auf dem Display war ein Bild zu sehen. Ein Pergament, auf die mit schwarzer Tinte einige Symbole gemalt waren. Symbole, die Michael nicht lesen konnte. „Was bedeutet das?“, fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich wissen wollte. Angelos Stimme schien von weit her zu kommen. „Das“, sagte er leise, „ist ein Rückzugsbefehl. Die Engel verlassen die Erde.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)