Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 22: Emilie de Jarjayes ------------------------------ Sophie freute sich sehr, dass Lady Oscar so schnell heimkehrte. Sie waren nicht einmal drei Tage fort und kamen spät nachts zurück, aber die Haushälterin hatte noch nicht geschlafen, wie auch einige der Bediensteten, die in der Nähe des Zimmers von François herumstanden. Der Kleine weinte schon den ganzen Abend und auch jetzt wollte er sich nicht beruhigen, erfuhren Oscar und André nach ihrer Ankunft. Sogar die Brust von seiner Amme verweigerte er und der Arzt, der ihn heute schon zwei Mal untersucht hatte, wusste auch nicht weiter. Er hatte höchstens eine Vermutung, dass dem Jungen Milchzähne wuchsen und dass er deshalb vor Schmerzen weinte.   Oscar und André rannten unverzüglich in sein Zimmer. „Was ist mit ihm?“, brüllten sie im Chor. André nahm ihn sofort in die Arme, aber François beruhigte sich nicht – er weinte nur etwas leiser, vergrub sein Gesichtchen in die Kleider seines Vaters und klammerte sich an ihn.   „Höchstwahrscheinlich die Milchzähne.“, antwortete die Amme auf die gestellte Frage von den Beiden. „Er ist auch nicht krank. Doktor Lasonne hatte ihn zwei Mal untersucht und ihm Medizin zur Linderung gegeben, aber François beruhigt sich trotzdem nicht.“   Der besagte Doktor bejahte ihre Aussage mit einem Nicken. „Das stimmt. Ich fand nichts Auffälliges und auch keine Anzeichen auf Fieber oder andere Krankheiten.“   In dem Moment wurde das Weinen des Kindes noch leiser, bis nur das Schluchzen zu hören war. Er hat sich in Andrés Armen in den Schlaf geweint. Sein Atem wurde ruhiger, gleichmäßiger und Oscar streichelte ihm sachte durch die hellbraunen Locken, während André ihn in seinen Armen leicht wiegte. „Er ist so erschöpft.“, merkte sie an. „André, bring ihn in die Wiege. Wir lassen ihn jetzt schlafen.“   „In Ordnung.“ André machte das, obwohl er seinen Sohn etwas länger in seinen Armen gehalten hätte.   Die Amme des Kindes folgte ihm selbstverständlich und flüsterte auf dem halben Weg: „Vielleicht hatte er euch zusätzlich vermisst.“   Ihre Vermutung bestätigte auch der Arzt. Lady Oscar und André ersetzten dem Jungen gewissermaßen seine Eltern und deren Wegfahrt nach Arras war womöglich in der Tat der zusätzlicher Auslöser für sein ununterbrochenes Weinen. Wobei in Versailles waren sie manchmal mehrere Wochen im Dienst, erinnerte sich Doktor Lasonne und der Junge hatte sich noch nie so verhalten. Dann müsste es wirklich an den Milchzähnen gelegen haben, die ihm beim Wachsen schmerzten, schlussfolgerte er und sagte das auch Lady Oscar. Er versprach morgen vorbei zu kommen und verabschiedete sich. Nach ihm verließen auch die Bediensteten das Zimmer des Jungen. Oscar und André blieben noch etwas bei ihrem Sohn, um sicher zu gehen, dass er wirklich tief und fest schlief, und gingen dann jeder auf sein Zimmer.   Am nächsten Tag benahm sich der Kleine als wäre nichts passiert. Doktor Lasonne kam wie versprochen und war beruhigt, dass es ihm wieder gut ging. Dafür fühlte sich Madame de Jarjayes schlecht und eines Abends war sie sogar in Versailles zusammengebrochen. Oscar brach unverzüglich zum Hof auf und während André ihre Mutter aus den Gemächern holte, begegnete Oscar draußen zufällig der Königin, die auf einem Ball mit einer Kutsche fuhr. Oscar entschuldigte sich sogleich mit gesenktem Haupt. „Eure Majestät, es tut mir leid. Ich weiß, ich stehe noch immer unter Hausarrest...“   „Gut dass Ihr da seid.“, unterbrach Marie Antoinette sie. „Eure Mutter hatte einen Ohnmachtsanfall, Ihr musst Euch um sie kümmern. Sie würde sich freuen, Euch zu sehen, sie soll sich für eine Weile ausruhen und wir sehen uns dann morgen, Oscar.“   Aber es waren erst zwei Wochen her, dass sie Hausarrest bekommen hatte. Oscar hob äußerst verwundert den Blick auf die Königin. „Ich verstehe nicht...“   Marie Antoinette lächelte und zwinkerte kurz mit einem Auge. „Ich habe Euch vor einem Monat einen Hausarrest auferlegt und nach meinem königlichen Kalender ist diese Frist abgelaufen.“   Jetzt verstand Oscar die versteckte List. Nachdem ihre Mutter zusammengebrochen war, brauchte die Königin ihren Kommandanten der königlichen Garde anscheinend dringend an ihrer Seite. „Majestät, Ihr ahnt gar nicht, wie dankbar ich Euch bin.“ Oscar war ihr wirklich dankbar für die Verkürzung des Hausarrestes. Jetzt brauchte sie nicht mehr untätig zuhause zu sitzen und konnte weiter ihren Pflichten nachgehen. Nun gut, dafür würde sie ihren François nicht mehr jeden Tag sehen können, aber die zwei Wochen hatten ausgereicht und waren schön gewesen, dass sie wieder bereit war, ihren Dienst wieder anzutreten. Zuerst sollte sie aber ihre Mutter sicher auf das Anwesen bringen und dafür sorgen, dass sie sich gut erholen konnte.   Im Hof des Anwesens der de Jarjayes half Oscar ihr aus der Kutsche zu steigen, als sie beide vom urplötzlichen, wilden Geschrei und nahenden Schritten erschreckt wurden. „Dafür werdet Ihr sterben!“, rief die nahende Person und beschleunigte ihren Schritt.   Oscar sah ein Mädchen auf sie zu rennen und bemerkte ein Messer in ihrer Hand. Sie reagierte schnell. Offensichtlich wollte jemand ihre Mutter umbringen und das durfte nicht passieren! Rasch stellte sie sich dem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen in den Weg und schlug ihr das Messer aus der Hand. Das Mädchen taumelte mit weit aufgerissenen Augen zurück und jetzt konnte Oscar ihr Gesicht genauer ansehen. Sie erkannte sie und war fassungslos. „Rosalie? Aber warum?“   Auch das Mädchen erkannte sie und schaute irritiert zu Madame de Jarjayes. „Aber ich verstehe nicht...“ Wie damals, als sie sich Oscar verkaufen wollte, fiel sie auf die Knie und schluchzte hemmungslos. Später, als die Tränen soweit versiegt waren und Oscar sie auf ihrem Zimmer befragte, erfuhr sie den Grund ihres Angriffs: Rosalies Mutter wurde von der Kutsche einer Adligen überfahren und weil sie sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, wollte sie nach Versailles, um sich an der Mörderin zu rächen. Stattdessen kam sie auf das Anwesen der de Jarjayes und hatte die Mutter von der gütigen Frau, die ihr damals so sehr geholfen hatte, mit der Mörderin verwechselt.   „Hat sich die junge Frau beruhigt?“, erkundigte sich Emilie bei dem Frühstück am nächsten Tag.   „Ja, das hat sie. Ich habe versprochen, ihr zu helfen und werde mich um sie dementsprechend kümmern.“ Oscar ließ die Ereignisse von gestern und heute früh in ihrem Kopf kurz passieren: Nach der Befragung hatte sie Rosalie ein Zimmer zugewiesen und sie heute früh Sophie vorgestellt, die gleich die junge Frau unter ihre Fittiche nahm und sie in den ersten Aufgaben als Dienstmädchen angewiesen hatte. Rosalie hatte dankend die neue Stelle auf dem Anwesen der de Jarjayes angenommen und Oscar war mit diesem Ausgang zufrieden.   Emilie de Jarjayes dachte an das Gleiche wie ihre Tochter. „Das arme Mädchen. Es ist bestimmt alles schwer für sie, aber zum Glück hat sie dich getroffen.“, sagte sie dabei und nahm einen Schluck von ihrem aromatischen Tee.   Oscar hob ein wenig verwundert ihre Augenbrauen. „Ihr seid nicht verärgert, dass ich sie aufgenommen habe?“ Immerhin wollte Rosalie sie töten, auch wenn unbeabsichtigt.   „Wieso sollte ich?“ Emilie setzte die Tasse von ihren Lippen ab und ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Sie war gestern verzweifelt und hat mich verwechselt. Deswegen hege ich keinen Groll gegen sie, falls du das meinst, Oscar.“   „Ich danke Euch, Mutter.“ Oscar fühlte sich erleichtert. Zugegeben hatte sie schon Bedenken, dass ihre Mutter darauf bestehen würde, Rosalie bestrafen zu lassen oder gar Klage gegen sie am Gerichtshof einzureichen. Aber andererseits, und wenn Oscar sich das genauer überlegte, trug ihre Mutter schon immer ein gutes Herz und war keineswegs bösartig, wie die meisten Intriganten am Hofe von Versailles.   Emilie lächelte ihre Tochter gütig an. Auch wenn Oscar zu einem hartherzigen und emotionslosen Soldaten erzogen wurde, besaß sie dennoch ein weiches und gütiges Herz. Das hatte sie bereits im Januar vor acht Monaten mitbekommen, als Oscar ein elternloses Geschöpf mitbrachte und sich seit dem um ihn kümmerte. Apropos Findelkind… „Sag Oscar, wie geht es deinem Adoptivsohn? Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“, wechselte sie das Thema und merkte ein entzückendes Aufleuchten in dem meist eisigen Blick ihrer Tochter.   „Oh, ihm geht es bestens.“ Oscar schmunzelte sogar und ihr Herz füllte sich mit Wärme, als sie an ihren kleinen Sonnenschein dachte. „François lernt zu laufen.“ Oscar beendete ihr Frühstück und stand von ihrem Platz am Tisch auf. „Aber das könnt Ihr später mit eigenen Augen sehen und Euch selbst davon überzeugen, Mutter. Ich muss jetzt nach Versailles.“   „Ja, Oscar, geh nur. Frage aber bitte noch ihre Majestät, für wie lange sie mich beurlaubt hat.“   „Das mache ich Mutter. Bis später.“   Emilie verabschiedete ihre Tochter und nachdem sie den Tee ausgetrunken hatte, ging sie in die Küche, um Sophie nach dem Findelkind zu fragen. Dort traf sie auch Rosalie, die von Sophie in ihre ersten Aufgaben angewiesen wurde. Die junge Frau half der alten Haushälterin beim Zubereiten des Brotteiges. Francois war auch in der Küche anwesend. Er saß bei seiner Amme am Tisch und spielte mit Besteckt, während seine Aufseherin das Gemüse fürs Mittagessen putzte. Alle unterbrachen sofort ihre Tätigkeiten und verneigten sich zur Begrüßung vor der Hausherrin. „Ihr könnt weiter Euren Aufgaben nachgehen.“, meinte Emilie und ging an den Tisch. Sie blieb direkt neben der jungen Frau von gestern stehen. „Wie fühlst du dich, Rosalie?“   „Danke Madame, ich fühle mich besser.“ Rosalie hörte mit ihrer Tätigkeit auf und senkte schuldbewusst den Blick. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich gestern...“   „Ich verzeihe dir.“, ließ Emilie sie nicht weiter sprechen. „Du bist ein sehr nettes Mädchen, das sieht man dir sofort an und meine Oscar irrt sich in Menschen sehr selten.“   „Ich bin Lady Oscar sehr dankbar, was sie für mich getan hat.“ Rosalie hob den Blick und schaute zu François. „Auch für den Jungen, er ist noch so klein...“   „Du kennst also schon seine Geschichte?“ Eigentlich brauchte sie das gar nicht fragen. In diesem Haus gab es praktisch keine Geheimnisse.   Rosalie bestätigte das mit einem Nicken und Sophie erklärte: „Wenn Rosalie schon bei uns arbeiten und wohnen wird, dann kann sie auch über den Jungen wissen. Ein Geheimnis ist es ja nicht.“   „Da hast du recht, Sophie.“ Emilie umrundete den Tisch und kam näher zu dem Kleinen. „Er ist gewachsen und sieht viel kräftiger aus, als Oscar ihn vor einem dreiviertel Jahr zu uns gebracht hatte. Ich hörte, er kann schon laufen?“   „Ja, Madame. Wir müssen bald aufpassen, dass er uns nicht davonläuft.“, scherzte die Amme und Emilie lächelte. François sah zu ihr auf und ahmte das Lächeln nach. Seine grünblauen Augen glänzten und erinnerte Emilie so sehr an André, als dieser mit fünf Jahren von seiner Großmutter auf das Anwesen gebracht wurde. Ja, es war gut und richtig, dass Oscar den kleinen François gerettet hatte und hoffentlich würde aus ihm ein liebenswerter Junge werden. Wobei er das jetzt schon war und bei der Erziehung, die er bei seinen Zieheltern genoss, würde er das sicherlich auch bleiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)