Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 13: Lügenspiel ---------------------- Das Stück Eis wurde in einer Schale gebrochen, über eine Kerze geschmolzen und auf die Stirn des Neugeborenen getröpfelt. Die kalten Tropfen schreckten den einen Tag alten Jean auf und er stimmte ein lautes Weinen an. Den Pfarrer der kleinen Dorfkirche störte es aber nicht bei der Taufe und er segnete ihn ungerührt weiter. Oscar wiegte ihn sachte in ihrer Armbeuge und ihr Kind wurde leiser, bis es dann verstummte. Jetzt hallten nur Gebete in dem kalten und uralten Kirchenschiff.   Girodel nutzte das aus und schaute sich flüchtig in dem vom Weihrauch getränkten Raum um. Oder besser gesagt, er schaute nach einem kleinen Sarg oder einer Holzkiste, wo ein Neugeborenes reinpassen konnte. Jedoch fand er nichts außer leeren Holzbänken, einem Beichtstuhl, dem großen Kreuz und einem Podest aus Stein, wo Lady Oscar mit ihrem Sohn auf den Armen und zusammen mit André vor dem Pfarrer stand und die Taufe ihres Sohnes empfingen. Vielleicht wurde die kleine Seele im Stillen der Nacht und irgendwo in ungeweihter Erde beigesetzt?   Victor schüttelte sich. Er wollte nicht mehr an das kleine, wimmernde und sterbende Bündel denken, aber es verfolgte ihn seit gestern wie ein dunkler Schatten und fraß sich erbarmungslos in sein Gewissen. Es würde bestimmt eine Weile dauern, bis es verging. Zumindest hoffte Girodel darauf sehr. Wenigstens konnte er heute Lady Oscar besser ins Gesicht sehen als gestern. Und heute war sie wieder in die alte Rolle des hartherzigen Kapitäns zurückgekehrt. Nichts deutete daraufhin, dass sie gestern ein Kind, oder besser gesagt zwei, entbunden hatte. Nicht einmal verräterische Spuren im Gesicht nach der Geburt oder geschwächte Körperhaltung zeigte sie. Das war nicht gestellt, das wusste Victor – das hatte die mannhafte Erziehung ihres Vaters sie so stark und mutig gemacht. Lady Oscar hatte schon gestern die Geburt gut überstanden und nach einem erholsamen Tag und einer Nacht im Bett sah sie heute noch besser aus. Also ging es ihr wieder gut und ihr fehlte nichts – bis auf ihren Zweitgeborenen, von dessen Existenz sie nicht einmal wusste. Girodel schielte zu der Hebamme und der Frau des Wirtes, die zu der Taufe auch gekommen waren. Sollte er sie nachher über das zweite Kind von Lady Oscar nachfragen? Oder doch lieber nicht? Victor entschied sich für das zweite, denn er wusste schon mehr als es ihm lieb war und noch mehr Wissen würde ihm höchstwahrscheinlich bald Alpträume bereiten.       - - -       Stolz und zeitgleich traurig sah Oscar auf ihren Sohn, während sie ihm im Jagdhaus am vereisten See das letzte Mal die Brust gab. Der Milchstrom wurde immer weniger, der kleine Jean in ihrem Arm hungriger und verlange bereits fast jede Stunde nach Muttermilch. Das war auch der Grund, warum sie schon am nächsten Tag nach der Taufe nach Hause aufbrachen. Oscar seufzte schwer. Körperlich fehlte ihr nichts, sie fühlte sich schon seit gestern wieder bei Kräften, aber um ihr Herz legte sich ein schwerer Stein und erdrückte sie. Sie hatte das beklommene Gefühl, dass sie im Dorf etwas Bedeutsames und Wichtiges gelassen oder vergessen hatte. Aber das konnte doch nicht stimmen! Das Wichtigste und Bedeutsamste hielt sie doch gerade in ihren Armen! Weswegen war dann aber dieser Wunsch, ins Dorf zurückkehren und es durchsuchen zu wollen? Oscar fand darauf keine Erklärung.   Eine vertraute Hand schob sich in ihr Blickfeld und zwei Finger strichen vorsichtig an der Wange des Kindes. „Ich habe mich bei dir noch gar nicht bedankt.“, flüsterte André in die bedrückte Stille und dann war wieder nur das Schmatzen vom zwei Tage alten Jean zu hören.   „Wofür?“ Oscar schaute von ihrem Kind zu ihrem Geliebten und ihre Blicke trafen sich. Diese grünen Augen, in denen noch immer so viel Liebe und Zärtlichkeit zu sehen waren, rührten sie wieder zu tiefst. Aber bald, auf dem Anwesen ihrer Eltern, würde er sie nicht mehr so ansehen können.   „Für unseren Sohn.“ André lächelte matt und verlor sich das letzte Mal in ihren klaren, himmelblauen Augen, denn auf dem Anwesen der de Jarjayes und in Versailles würde er das nicht mehr dürfen. Seit dem Moment, als seine Oscar ihr gemeinsames Kind vor drei Tagen zu Welt gebracht hatte, wich er keine einzige Minute mehr von ihrer Seite. Eigentlich tat er das seit er über ihre Schwangerschaft erfahren hatte, aber das Kind band sie nun noch mehr zusammen.   Jean hörte auf mit dem Trinken und Oscar schob ihre Brust hinter den Schichten von Stoffen ihrer Kleidung zurück. „Eigentlich ist das mehr dein Verdienst, Geliebter und ich muss dir für ihn danken.“ Sie trocknete dem Kleinen die Mundwinkel von den Resten der Milch mit dem Taschentuch und gab ihn an André, um ihr Hemd, Weste, Ausgehjacke und Mantel zu zumachen.   André hielt mit Freude seinen Jungen in den Armen und wartete geduldig, bis seine Geliebte fertig sein würde. „Dann danken wir uns beiden gegenseitig.“   „Allerdings, denn zu so einer Sache gehören immer zwei.“ Oscar machte noch die letzten Knöpfe zu und tauschte mit André einen letzten, innigen Kuss, bevor sie mit ihm das Jagdhaus verließ.   Draußen wartete bei den Pferden Graf de Girodel auf sie. In den letzten Tagen, genauer gesagt seit der kleine Jean auf der Welt war, wirkte er sehr nachdenklich und vor zwei Stunden, kurz vor der Abreise aus dem Dorf, hatte er die Umgebung lange angeschaut. So, als wollte er sich das Dorf einprägen oder hatte nach irgendetwas Ausschau gehalten. Als Oscar ihn gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei, hatte er darauf nur geschmunzelt und gesagt, er würde nicht noch einmal hierher kommen wollen. Nach so einer langen Reise und was er von seinem Kapitän miterlebt hatte, war das verständlich. Oscar dachte nicht mehr daran und stieg galant auf ihr Pferd. Das war ein befreiendes Gefühl, ohne großen Bauch im Sattel wieder reiten zu können und sie schmunzelte dabei unwillkürlich. Sie nahm sogleich ihren Sohn von André an sich, hielt ihn behutsam in einem Arm und in der anderen Hand nahm sie die Zügel. Jean quengelte etwas, aber sobald das Pferd langsam trabte, beruhigte er sich und schlummerte satt und zufrieden in den Armen seiner Mutter. „Ich hoffe, dass der Plan glückt und alle werden glauben, dass er ein Findelkind ist.“, meinte Oscar, als André und Girodel auf ihren Pferden zu ihr aufgeschlossen hatten.   „Ich denke, wenn wir das überzeugend hervorbringen, dann werden alle es glauben.“, erwiderte André und warf einen Blick auf den Grafen. „Vielleicht würde es noch besser sein, wenn Ihr das auch bekräftigt?“   „Selbstverständlich werde ich das bekräftigen.“ Victor sah nicht zu ihm und arbeitete eine glaubwürdige Rede in seinem Kopf aus.       Auf dem Anwesen der de Jarjayes wurden sie so empfangen, als wären sie zehn Jahre nicht zuhause gewesen und man gab langsam die Hoffnung auf, sie jemals wiederzusehen. Besonders Sophie ließ Tränen vor Freude fließen und schnäuzte dabei in ihr Taschentuch. „Oh, willkommen zurück, Lady Oscar, wir haben Euch vermisst.“   Sie befanden sich in der warmen Küche, wo Oscar gleich nach Betreten des Anwesens und mit ihren Begleitern hingegangen war. Um sie herum versammelten sich auch andere Bedienstete und Oscar spürte förmlich die neugierige Blicke auf das Bündel in ihren Armen. Niemand konnte sehen, dass es ein Kind war, bis auf Oscar selbst. Jean war so gut in Wolldecke und Fell eingewickelt, dass nur sein rundes Gesichtchen zum Vorschein kam. Oscar versuchte nicht mehr auf ihren Sohn zu schauen und ihre altbekannte undurchschaubare Miene zu Schau zu tragen. „Sind meine Eltern Zuhause?“, fragte sie ihr einstiges Kindermädchen und Sophie schüttelte verneinend den Kopf. „Sie sind beide in Versailles und es soll ein Bote geschickt werden, wenn Ihr angekommen seid.“   „Ich kann das dann gleich übernehmen und in Versailles unsere Rückkehr melden.“, sagte Girodel und schaute auf das Bündel in den Händen seines Kapitäns.   Oscar verstand. Das Spiel von Lug und Trug hatte soeben begonnen. „Sophie, kannst du nach einer Amme schicken, wir haben hier im Wald ...“ Weiter konnte sie nicht sprechen. Ein dicker Kloß entstand in ihrer Kehle und ein großer Druck in ihrem Brustkorb nahm ihr fast den Atem. Sie reichte ihr Kind der alten Haushälterin.   Sophie warf einen Blick in die Öffnung. Ihre Augen wurden größer und der Mund klappte auf, als sie ein rosiges und pausbäckiges Gesicht eines Neugeborenen darin sah. „Wer ist denn das?“, murmelte sie baff.   Das ist Euer Urenkel, lag es André auf der Zunge, aber auch ihm verschlug es die Sprache. Ein miserables Gefühl nach Verrat am eigenen Kind durchströmte ihn und er schaute zu Oscar, der es nicht besser erging. Sie ließ sich zwar nichts anmerken, aber er spürte, dass dieses Lügenspiel ihr genauso zu schaffen machte wie ihm.   Girodel merkte das an allen beiden und sprang für sie ein. Es behagte ihm zwar auch nicht, zu lügen, aber er hatte bis hierher eine Rede bereits vorbereitet und trug sie nun so glaubwürdig wie möglich vor: „Etwa eine Stunde von hier entfernt ritten wir durch den Wald und hörten den Schrei eines Kindes. Natürlich folgten wir dem Weinen und schon bald wurden wir fündig. Unter einem Baum und in einem Korb, eingewickelt in eben dieses Fell, haben wir das Kind gefunden. Wir hatten ihn dann mitgenommen und seit dem weint er nicht mehr.“   „Oh, wie schrecklich, wer machte denn so etwas?!“ Nicht nur Sophie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Auch den anwesenden Bediensteten entfuhr ein Schreckenslaut und einige von ihnen bekreuzigten sich fassungslos. Die alte Haushälterin befreite das kleine Wesen aus dem Fell und nahm ihn fürsorglich an sich. „So ein hübsches Kind.“ Jean quengelte nur kurz, aber sobald er in der Armbeuge bequem lag, schlummerte er selig weiter. Er war ja noch von der Muttermilch satt und die Gespräche waren auch nicht so laut, um ihn beim Schlafen zu stören.   „Er wurde höchstwahrscheinlich von irgendeiner Bauernfamilie, die ihre dutzend Kinder nicht mehr durchfüttern kann, ausgesetzt und dem Schicksal überlassen.“, meinte Girodel im gestellt herablassenden Ton und spürte einen messerscharfen Blick von seinem Kapitän auf sich gerichtet. Auch André sah ihn mit gerunzelter Stirn an und der Graf verstummte. Seine Worte hatten die zwei noch härter getroffen und das begriff auch Victor an deren ermahnten Blicken.   Sophie merkte weder den Blickaustausch zwischen den drei noch niedergeschlagene Gemütsverfassung von ihrem Schützling und ihrem Enkel. „Schande über solche Eltern!“, schimpfte sie und tätschelte das kleine Geschöpf auf ihrem Arm sanft an der Wange. „Aber bei uns bist du gut aufgehoben, mein Kleiner.“   Ja, Schande über solche Rabeneltern, die ihr Kind verleugneten und es wie ein Kuckuck in fremde Hände gaben, anstelle sich selbst um ihn zu sorgen. Oscar fühlte sich noch miserabler, atmete aber gleichzeitig auf. Die Großmutter von André konnten sie überzeugen, ohne dass diese einen Verdacht schöpfte. „Sophie, was ist mit der Amme?“, fand Oscar wieder die Stimme. Ihr mütterlicher Instinkt sagte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihr Sohn das ganze Anwesen vor Hunger zusammenschreien würde. Ob sie das verkraftete, den kleinen Jean dabei nicht sofort an die Brust zu nehmen, wusste Oscar nicht. Deswegen wäre es für sie lieber, wenn er zu Weinen beginnt, dass eine Amme schon bereit stand und sich um ihn kümmerte.   „Oh, ja, natürlich.“ Die alte Haushälterin warf einen strengen Blick auf die Bediensteten, die in ihrer Nähe standen. „Was ist los mit euch! Habt ihr nicht gehört, was Lady Oscar sagte? Sucht sofort nach einer Amme! Man weiß ja nicht, wann das arme Kind das letzte Mal gegessen hatte!“   Die Bediensteten zerstreuten sich und nicht einmal in einer halben Stunde war eine Amme gefunden. Der Kleine war bis dahin ruhig, aber sobald ihm eine Brust gegeben wurde, erwachte er und saugte daran. Dass es eine fremde Milch war, schien ihn genauso wenig zu stören wie die fremde Arme, die ab nun ihn hielten und herzlich wiegten. Wie bitter… Aber wenigstens würde er in ihrer Nähe aufwachsen und das war ein kleiner Trost für Oscar und André.   Die Amme bezog mit dem Kind ein Zimmer in der Nähe von André. Oscar hatte das so angeordnet, das Kind schweren Herzens auf dem elterlichen Anwesen gelassen und war mit André und Girodel nach Versailles geritten. Sie musste das einfach tun und ihre Ankunft dem Königspaar wieder melden. Danach würde sie um ein paar Tage Urlaub von der Reise bitten und wenn die Majestäten es ihr gestatteten, zusammen mit André und Jean die Zeit verbringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)