Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 9: Verzögerung ---------------------- Die Nacht nach der Überfahrt war schrecklich. Stickige und erdrückende Luft von der Tageshitze hielt sich hartnäckig in ihrem Zimmer. Das offene Fenster und der leicht salzige Geruch von dem Meer, das unweit vom Gasthof ruhig rauschte und ankernde Schiffe schaukelte, half auch nicht viel. Oscar schlief nur in einem ärmellosen, knielangen Hemd und vom Lacken unbedeckt. Wobei das Wort „Schlafen“ war übertrieben. Sie wälzte von einer Seite auf die andere und konnte kein Auge zumachen. Aber wenigstens die Übelkeit, dank dem Tee von Constance, hatte nachgelassen.   Der Morgen graute und die Übelkeit kam zurück. Da Oscar sowieso die Nacht kaum geschlafen hatte, schob sie den Nachttopf, der unter ihrem Bett stand, heraus und erbrach ihr Abendessen darein. Wenn das so weitergehen würde, dann würde sich die Weiterreise um ein paar Tage verzögern. Das gefiel Oscar nicht und sie würgte die Reste raus. Dadurch hatte sie das Klopfen an der Tür nur wie aus weiter Ferne wahrgenommen und konnte nichts sagen. Aber das würde sowieso die Tochter des Wirtes sein, dachte Oscar und behielt recht. Constance brachte erneut den Tee gegen die Übelkeit und stellte das kleine Tablett auf den Tisch. „Guten Morgen, Mademoiselle Oscar.“ Die Reisende aus Versailles tat ihr beinahe leid. Constance bereitete für sie eine Schüssel mit frischem Wasser und legte auch Tücher zum Abtrocknen hin.   „Guten Morgen.“ Oscar wartete, bis ihr Magen sich etwas beruhigte und stieg dann aus dem Bett. Das Hemd klebte ihr auf der verschwitzten Haut, während sie zu der Waschschüssel ging und die Morgenwäsche machte. Das kühle Wasser erfrischte sofort ihren Geist und sie zog ihr Hemd aus, um auch ihren Körper zu waschen.   Constance räumte derweilen im Zimmer auf. „Soll ich für Euch noch etwas tun, Mademoiselle? Bis zum Frühstück ist noch etwas Zeit und Eure Begleiter sind noch nicht aufgestanden.“   Bei der Erwähnung von Girodel und André erinnerte sich Oscar, dass sie heute die Stadt erkunden wollten. Sie zog nach der Morgenwäsche ein frisches Hemd und Hose an. „Wenn meine Begleiter aufgestanden sind, dann teilt ihnen mit, dass sie heute ohne mich die Stadt erkunden sollen. Ich fühle mich nicht wohl.“   „Ich werde es ihnen ausrichten, Mademoiselle.“ Constance räumte den Nachttopf weg und verließ das Zimmer. Sie entleerte ihn auf dem Kompost im Hinterhof, spülte ihn ab und als sie zurück in das Zimmer kam, saß Oscar am Tisch und trank den Tee gegen die Übelkeit. „Eure Begleiter sind noch nicht wach.“, teilte sie ihr mit und stellte den Nachttopf wieder unters Bett hin. Weil der Gast heute im Zimmer zu bleiben beabsichtigte, brauchte sie nicht das Bett zu machen. Nur die Waschschüssel und Tücher wegräumen.   Oscar nickte auf ihre Aussage leicht abwesend und versank in Gedanken. Auch wenn der Tee für gewisse Zeit half, fühlte sie sich trotzdem nicht wohl. Ihr Körper war ermattet, ihre Brüste spannten sich unangenehm an und wirkten steif – so ähnlich wie ihre Bauchwölbung. Nein, heute würde sie lieber im Gasthof bleiben und die Landkarte anschauen, welche Provinzen sie noch bereisen mussten.   Constance verließ erneut das Zimmer und brachte die Waschschüssel mit den Tüchern weg. Als sie danach die Gaststube betrat, sah sie Graf de Girodel sich mit ihrem Vater an der Theke unterhalten und wie er ihm die Übernachtung bezahlte. „Wir werden sicherlich morgen abreisen und deshalb bezahle ich euch schon mal eine Nacht voraus.“, hörte sie ihn dabei sagen und wünschte ihm einen guten Morgen.   „Guten Morgen. Ist Lady Oscar schon aufgewacht? Und geht es ihr besser?“ Das war das einzige, was Victor interessierte. Er hatte in der Nacht an sie gedacht, sich um sie Sorgen gemacht und deswegen unruhig geschlafen.   Constance schüttelte verneinend den Kopf. „Mademoiselle Oscar geht es ganz und gar nicht gut. Sie wünschte heute im Zimmer zu bleiben und dass Ihr ohne sie die Stadt erkundigt.“   Dann war Lady Oscar offensichtlich seekrank geworden und das hieß, dass sie auch morgen hier bleiben werden, überlegte Girodel und traf eine Entscheidung. „Gibt es hier in der Nähe einen guten Arzt?“   „Ja, Monsieur.“ Constance war es gewohnt, dass Reisende, die hier zu Gast waren und eine Seeüberfahrt hinter sich hatten, nach einem Arzt fragten. „Auf der Seite von unserem Gasthof, zwei Häuser weiter, ist ein sehr guter Arzt und kann die Seekrankheiten schnell heilen.“   „Gut.“ Girodel wollte sich gleich auf den Weg machen, als ihm André einfiel. Er konnte ihn doch nicht im Gasthof alleine lassen! André würde sicherlich seine Abwesenheit ausnutzen und Lady Oscar aufsuchen. Sie werden bestimmt Liebesworte miteinander austauschen, vielleicht sogar sich küssen und dieser Gedanke trieb Victor schon wieder in die altbekannte Eifersucht. Nein, das durfte er nicht zulassen! Was könnte er aber tun? Untätig hier Zeit zu verbringen wollte er auch nicht.   Als hätte man André gerufen, kam er in die Gaststube. „Guten Morgen.“, grüßte er den Grafen, den Wirt und Constance.   Girodel nickte ihm nur zum Gruß zu und ihm kam sogleich eine Idee. „Schön, dass du wach bist, André. Lady Oscar ist anscheinend seekrank geworden und deshalb gehst du unverzüglich einen Arzt holen. Er befindet sich gleich hier, zwei Häuser weiter.“   André sagte nichts und blieb äußerlich ruhig, aber innerlich verging er aus Sorge um Oscar. Eigentlich tat er das seit der gestrigen Überfahrt und konnte deshalb die Nacht kaum schlafen. Warum war die Idee mit dem Arzt nicht ihm eingefallen? „Ich bin schon auf dem Weg.“ André bat dann Constance ihm den Weg zum Arzt zu zeigen und die junge Frau willigte ein. Bis auf diese drei waren ja sowieso keine Gäste im Gasthof anwesend. Also konnte sie dem jungen Mann den Weg zum Arzt zeigen. „Wie geht es Oscar genau?“, fragte André die junge Frau auf dem Weg zum Arzt.   „Unverändert schlecht.“, sagte Constance. „Sie hat heute früh sogar in den Nachttopf erbrochen.“   „Also ein Grund mehr, einen Arzt zu holen.“, seufzte André schwer und hoffte, sie würden den Arzt schon bald erreichen.   Girodel lächelte zufrieden und sobald André mit Constance die Gaststube verließ, ging er unverzüglich zu dem Zimmer von Oscar. Er musste unbedingt die Abwesenheit von André ausnutzen und klopfte an der Tür. „Kapitän, darf ich eintreten?“   „Ja, Graf de Girodel.“, hörte er ihre Stimme und betrat feierlich das Zimmer.   Oscar stand am Tisch, vor ihr lag die ausgebreitete Landkarte und sie schaute vornüber gebeugt darauf. Und sie sah etwas blass aus. Gut, dass ihm die Idee mit dem Arzt gekommen war, dachte Victor bei sich und teilte ihr sein Anliegen mit: „Ich hörte, Ihr seid nicht wohlauf und deshalb habe ich André nach einem Arzt geschickt.“   Wie bitte? Oscar schaute ihn verwundert an. „Einen Arzt? Ich brauche keinen Arzt.“ Was sie brauchte, war, dass sie so schnell wie möglich die Reise fortsetzen und noch bis zum Winter zurück in Versailles waren.   „Das würde Euch helfen, schnell zu genesen.“, erklärte Victor und blieb ihr gegenüber am Tisch stehen. Er versuchte ihr nur ins Gesicht zu sehen und verbat sich krampfhaft, einen Blick in ihr Ausschnitt zu werfen. Lady Oscar durfte nichts von seinen Gefühlen zu ihr merken und in ihm weiterhin den Untergebenen sehen. Wenn er sie geheiratet hatte, würde er sich solche Anblicke auf ihre nackte Haut noch genug erlauben und ihren Körper liebkosen, so viel wie er wollte.   „Hmmm ...“ Wenn Oscar überlegte, dann war das vielleicht doch kein schlechter Gedanke mit dem Arzt. So würden sie eher die Reise fortsetzen und den Auftrag schneller erledigen können. Und nebenbei beruhigte es sie, dass André nicht alleine mit Girodel bleiben musste. Sie hatte schon den Gedanken gefasst, nur Girodel auf die Erkundung der Stadt zu schicken und dass André bei ihr blieb. Das würde ihren Untergebenen bestimmt wundern, aber ihm nicht verdächtig vorkommen, weil André schon immer als ihr Gefährte zählte und das war überall bekannt. „Also gut, Ihr habt womöglich recht, Graf de Girodel. Nachdem der Arzt da war, könnt Ihr die Stadt erkunden. Je schneller der Arzt mich untersucht, desto eher können wir aufbrechen. Wir haben immerhin noch achtzehn Provinzen zu besuchen.“ Sie senkte den Blick über die Karte und zeigte mit dem Finger all die Provinzen, die sie noch vor sich hatten. Girodel folgte mit Argusaugen ihrem Finger und überlegte insgeheim, wie er es vermeiden konnte, dass André ohne ihn im Gasthof blieb. Dabei unterdrückte er den Drang, ihre Hand zu berühren und begnügte sich nur mit ihrer Nähe. Oscars Finger auf der Karte zog die letzte Linie von Paris nach Versailles und dann hob sie ihren Blick. „Wisst Ihr, ob das Frühstück fertig ist?“, fragte sie unvermittelt. Ihr Magen begann langsam zu knurren und es wäre ihr äußerst unangenehm, wenn ihr Untergebener das hören würde.   „Ich werde nachschauen, Lady Oscar.“ Girodel war zwar nicht begeistert, sie zu verlassen, aber ihr Wunsch ging eben vor. Auf dem Weg in die Gaststube begegnete er Constance und einem Mann in den mittleren Jahren. Das war sicherlich der Arzt, vermutete er und grüßte ihn freundlich. „Mein Name ist Graf Victor Clement de Girodel.“, stellte er sich gleichzeitig auch vor. „Und Ihr seid sicherlich der Doktor, nachdem ich unseren Burschen losgeschickt habe.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.   Der Arzt nickte zustimmend. Constance hatte ihm über die Gäste in ihrem Gasthof bereits erzählt und dass die Frau in Männerkleidern krank nach der Seefahrt geworden war. Der junge Mann, mit dem sie zu ihm gekommen war, hatte noch hinzufügt, dass sie im Auftrag des Königs auf der Reise durch Frankreich waren und dass sie so schnell wie möglich weiter reisen wollten. „Ja das bin ich.“, stellte sich auch der Arzt dem Grafen vor. „Euer Diener und Mademoiselle Constance haben mir die Situation erklärt. Ich vermute die lange Reise von Versailles ist noch ein zusätzlicher Auslöser vom Unwohlsein von Eurem Kapitän. Aber das kann ich genauer sagen, wenn ich Mademoiselle Oscar untersucht habe.“   „Ich danke Euch, dass Ihr so schnell gekommen seid, Herr Doktor. Die Gesundheit von Lady Oscar liegt mir sehr am Herzen.“, offenbarte Girodel mit ehrlicher Sorge in der Stimme und der Arzt beruhigte ihn sogleich verständnisvoll mit den Worten, „Das ist doch selbstverständlich, Graf, das Wohl meiner Patienten liegt mir auch sehr am Herzen.“ Er ging weiter und Constance zeigte ihm Oscars Zimmer.   Victor schaute noch, wie der Arzt mit der Tochter des Wirtes in das Zimmer hereinging und setzte seinen Weg fort. In der Gaststube entdeckte er André an der Theke und wie er dem Wirt über die lange Reise von Versailles bis hierher erzählte. Nebenbei fragte er den Wirt, wie die Menschen hier in Nizza sich über das neue Königspaar dachten. Einerseits erfüllte er damit den Auftrag und andererseits lenkte er sich damit von der Sorge um Oscar ab. Girodel nahm an einem der Tische Platz und wartete geduldig, bis der Arzt mit der Untersuchung von Lady Oscar fertig war.       Nach der formellen Begrüßung begann der Arzt mit der Untersuchung. Er fragte, wann das mit der Übelkeit begonnen hatte und Oscar erzählte es ihm. Auch über das Erbrechen am frühen Morgen und dass ihr Körper sich in letzter Zeit veränderte. Er war ja schließlich ein Arzt und würde vielleicht wissen, was mit ihr genau los war. Der Arzt kümmerte sich sofort fachmännisch um sie und Oscar ließ sich untersuchen. „Ihr seid zum Glück nicht seekrank geworden, Mademoiselle.“, sagte er zum Schluss und holte eine Medizin aus seiner Arzttasche. „Das müsst Ihr beim Essen einnehmen. Keine Sorge, das sind harmlose Kräuter, die Eurem Magen und auch Eurem Kind wohltun werden, sodass Ihr nicht so oft erbrechen müsst.“   Oscar starrte den Arzt perplex an und dachte, sie hätte sich verhört. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund leicht geöffnet. „Meinem Kind?“   Der Arzt wunderte sich über ihre Reaktion und schaute zu Constance, die ihm bei der Untersuchung behilflich war und jetzt neben ihm am Bett stand. Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „Vielleicht ist das ihr Erstes?“, vermutete sie.   Das wäre durchaus möglich und würde die Fassungslosigkeit der jungen Frau erklären, dachte der Arzt und widmete sich wieder Oscar zu. „Ihr seid doch guter Hoffnung und deshalb dürft Ihr nicht jede Medizin einnehmen.“, erklärte er, ohne zu ahnen, was er gerade anrichtete. „Ihr müsst Euch viel ausruhen und Euch keine Anstrengungen zumuten. Eure Bauchwölbung zeigt, dass Ihr im vierten oder fünften Monat sein müsstet und deswegen empfehle ich noch zusätzlich auf Umstandskleider zu wechseln.“   „Ich erwarte ein Kind?“, unterbrach Oscar ihn fassungslos. Das war das einzige, was in ihrem Kopf durchging und sie fühlte sich so, als würde alles um sie herum zerbrechen. Nein, bitte nicht! Sie durfte keine Kinder erwarten – dazu wurde sie nicht erzogen!   „Mademoiselle Constance, seid so freundlich und bereitet bitte einen Tee zu Beruhigung für Lady Oscar zu.“, sprach derweilen der Arzt zu der Tochter des Wirtes und diese verließ augenblicklich das Zimmer. Dann schaute er mitfühlend Oscar an. „Mir scheint, Ihr wisst noch nichts von Eurem Glück?“   „Nein.“ Oscar schüttelte kaum merklich den Kopf. Woher sollte sie darüber wissen? Und wieso sprach der Arzt vom Glück? Sie fühlte sich keineswegs glücklich, sondern viel mehr am Boden zerstört! Wie sollte das nun weiter gehen?   „Dann gratuliere ich Euch, Mademoiselle.“ Der Arzt lächelte gütig. Sicherlich war das nur der Moment der Überraschung und Lady Oscar müsste das erst einmal verarbeiten. Sie brauchte ein wenig Zeit alleine und deshalb verabschiedete er sich. „Ich werde heute Abend nach Euch schauen, aber bis dahin ruht Euch aus und esst ausreichend, um bei Kräften zu bleiben.“ Er verließ das Zimmer und ließ seine Patientin alleine.   Oscar hörte wie die Tür hinter dem Arzt zu ging und warf sich aufs Bett. Wütend schlug sie auf das Kissen mit ihrer Faust und wollte am liebsten schreien. Ein Kind bedeutete ihren Untergang und das Schicksal von ihrem André wäre dann auch ungewiss. Ihr würde der Adelstitel aberkannt, ihr Vater würde sie bestimmt aus der Familie verstoßen und ihr Geliebter würde auch hart bestraft werden. Nicht, dass es ihr der Adelstitel wichtig wäre, das nicht. Ihre einzige Sorge galt André und jetzt auch nun ihrem gemeinsamen Kind. Was würde er dazu sagen, dass er Vater wurde? Und wie sollte sie ihm das beibringen? Sie konnte doch nicht mitten auf der Reise und in Gegenwart von Girodel ihm ihre Schwangerschaft offenbaren! Aber nach der Reise würde das auch nicht mehr gehen können, denn da würde das Kind höchstwahrscheinlich das Licht der Welt erblicken – mitten im nirgendwo. Wie schrecklich! Warum musste ihr das unbedingt passieren? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)