Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 8: Überfahrt -------------------- Ende August, 1774.   Nizza in der Grafschaft Nizza war eine Hafenstadt im Südosten Frankreichs und lag an der Grenze zu Italien, zwischen Cannes und dem Fürstentum Monaco an der Côte – d´Azur am Mittelmeer. Während in manchen Provinzen Frankreichs bereits die ersten Blätter von den Bäumen fielen und sich der regnerische Herbst damit ankündigte, herrschte hier noch die Sommerhitze.   Graf de Girodel saß hoch im Sattel und wischte ununterbrochen den Schweiß von seiner Stirn und Gesicht mit seinem Taschentuch, aber es half nicht viel. Nicht einmal die Meeresluft am Hafen erfrischte die unbedeckte Haut. Hoffentlich würden sie bald in einen Gasthof einkehren und wenigstens die Ausgehjacke ablegen. Aber Kapitän Oscar wollte zuerst mit dem Fährmann wegen der Überfahrt nach Korsika verhandeln. Genauer gesagt nach Ajaccio. Im Jahr 1768 war diese Insel nach einem langen Unabhängigkeitskrieg gegen Genua (Italien) an Frankreich verkauft worden. Seitdem hatten sich die Franzosen Korsika bemächtigt und die Insel unter die Krone Frankreichs gestellt. Victor dachte nicht mehr darüber nach und betrachtete lieber Lady Oscar aus der Ferne. Nur noch etwas, nur noch ein bisschen und dann würde er sie zu seiner Frau machen. André würde er danach selbstverständlich verjagen, notfalls aus Frankreich fortschicken und mit Oscar glücklich leben. Ja, das war eine traumhaft schöne Vorstellung und Victor malte schon Bilder davon in seiner Phantasie.   André stand derzeit bei den Pferden und hielt sie an den Zügeln. Ihm war auch warm, aber nicht nur von der Sommerhitze. Sein Blick ruhte sanft auf Oscar, die wenige Meter entfernt mit dem Fährmann verhandelte, und erlaubte sich ein verträumtes Lächeln. Graf de Girodel saß doch auf seinem Pferd und sah sein Gesichtsausdruck nicht. Also warum dann nicht an die Liebe und die Leidenschaft, die er mit Oscar zuletzt vor zwei Monaten verlebt hatte, denken dürfen? Nachts tat er das ja auch. Und Oscar ebenfalls. Sie sagte das zwar nicht, aber er konnte sich das schon gut vorstellen. Es war zwar schwierig, sie in einer dieser Nächte im Gasthof nicht aufzusuchen und mit ihr nicht mehr die Liebe zu teilen, aber das haben sie sich vorgenommen und mussten wegen Graf de Girodel es auch einhalten. Wenn sie im getrauten Heim auf dem Anwesen der de Jarjayes sein würden, dann würden alle Gelüste nachgeholt und der Hunger nacheinander gestillt werden. Jetzt jedoch hieß es durchhalten und dem Grafen keine Möglichkeit geben, Verdacht über die Liebesbeziehung zwischen ihnen zu schöpfen.   Sein verträumtes Lächeln verschwand, als Oscar auf sie zu kam. Das Spiel der unterdrückten Empfindungen und Verlangen trat wieder in Kraft und André gab Oscar wie gewöhnlich die Zügel ihres Pferdes. „Und hast du mit dem Fährmann verhandeln können?“   „Ja.“ Oscar nahm die Zügel und stieg in den Sattel, ohne ihn anzusehen. „Morgen bei Sonnenaufgang werden wir nach Korsika übersetzen.“ Sie wartete, bis André auf seinem braunen Pferd saß und ritt an. Ihre Haltung trug sie wie immer gerade, ihr Gesichtsausdruck war verhärmt und ihren Blick richtete sie konzertiert nach vorn, aber mit ihrem Bauch stimmte etwas nicht mehr. Als sie mit dem Fährmann verhandelt hatte, hatte sie eine leichte Übelkeit verspürt. Das war das erste Mal seit dem Beginn der Reise. Lag das etwa an dem Meer? Aber das war unmöglich, denn sie liebte das Meer. In der Normandie ritt sie gerne der Küste entlang und hatte sich noch nie schlecht gefühlt. Im Gegenteil, sie fühlte sich am Meer immer wohl und irgendwie frei. Besonders wenn sie mit André um die Wette ritt und dabei den Gegenwind auf ihrer Haut spürte.   André… Ihre Gedanken schweiften zu ihrem letzten Beisammensein mit ihm. Sie sehnte sich nach ihm, nach seiner Liebe und Zärtlichkeit mit jedem Tag immer mehr und ihr Körper verlangte nach ihm. Aber sie durfte diesem schmerzlichen Verlangen nicht nachgeben und musste durchhalten! Ihr Vater hatte sie doch nicht umsonst eiserne Disziplin gelehrt und ihr zu kämpfen beigebracht. So würde sie das auch machen und das Verlangen nach Liebe und Zuneigung bekämpfen! André machte das doch auch und was er konnte, würde sie es noch besser können!   In einem Gasthof, den sie für die Übernachtung auswählten, nahmen sie als erstes ein kühles Bad, jeder in seinem Zimmer. Eine junge Frau, die Tochter des Wirtes Namens Constance, half Oscar sich den Männerkleidern zu entledigen und in den Zuber zu steigen. Sie war am Anfang überrascht, dass ein junger Mann aus nobler Herkunft ihre Anwesenheit beim Baden wünschte und hätte das als Beleidigung aufgenommen. Aber als Oscar erklärte, sie sei eine Frau, hatte sich Constance ihr gerne angenommen und dabei gedacht: Die Menschen in Versailles mussten bestimmt keine gewöhnliche Menschen sein, wenn Frauen dort Männerkleider oder Männer Frauenkleider trugen. Sie hatte nämlich von einem Mann Namens Chevalier d´Éon gehört, der im Auftrag des verstorbenen Königs angeblich Frauenkleider tragen sollte und nun begegnete sie einer Frau, die Männerkleider trug. Aber was soll´s. Ihre Aufgabe bestand darin, Gäste zu bewirten und für ihr Wohl zu sorgen. Alles andere ging sie nichts an.   Oscar entspannte sich im kühlen Wasser, während Constance ihr das Haar mit nach Lavendel duftender Seife einschäumte. Sich vom Staub und Schweiß der Reise zu befreien und sich im kühlen Bad zu erfrischen, war ein herrliches Gefühl und betörte Oscar etwas die Sinne. Sie nahm ein Stück Seife von Constance und wusch damit ihren Körper. Zuerst ihre Arme, Schulter und Brustkorb. Dann ihre etwas größer und straf gewordenen Brüste, die kleine Bauchwölbung und anschließend ihre langen Beine. Dabei fragte sie sich nicht zum ersten Mal, warum sich ihr Körper ausgerechnet auf der Reise veränderte und woher die Bauchwölbung kam. Sie aß doch noch weniger als André und Girodel und diese bekamen keinen Bauch! Dazu kam noch die Übelkeit am Hafen und das stimmte sie nachdenklich. Vielleicht sollte sie einen Arzt aufsuchen? Aber doch nicht bei einer solchen Nichtigkeit! Also dann abwarten und ihren Körper weiter beobachten. Womöglich lag das an der langen Reise und der Sommerhitze, vermutete Oscar und tauchte unters Wasser, um die Seife abzuspülen. Constance half ihr danach beim Abtrocknen und Oscar fühlte sich nach diesem kühlen Bad viel belebter und erfrischter. Auch die Übelkeit verschwand, was ihre Vermutung bestätigen ließ, dass alles an der Wärme und der Reise lag.       - - -       Ajaccio, Korsika. Oscar hätte am liebsten den Boden unter ihren Füßen geküsst, nachdem sie auf leicht wackeligen Beinen vom Bord des Schiffes kam. Zehn Stunden während der Überfahrt hatte sie sich elend gefühlt und dachte, sie würde es bis zu der Küste nicht überleben. Schon als das Schiff aus Nizza abfuhr war die Übelkeit in ihr gestiegen und sie musste sich über die Reling übergeben. Ein Matrose hatte ihr empfohlen, lieber unter Deck zu gehen und das tat sie. Das gleichmäßige Schaukeln des Schiffes auf der rohen See vertrieb zwar nicht die Übelkeit, aber förderte wenigstens nicht alles aus ihrem Magen heraus. Jetzt war aber die Seefahrt vorbei und Oscar war froh, wieder auf dem festen Boden zu stehen.   „Geht es dir besser, Oscar?“, fragte André noch immer um sie besorgt und stützte sie von einer Seite. Er war zu tiefst erschrocken, als Oscar sich auf der Seefahrt über der Reling erbrochen hatte. Als er nach der Empfehlung des Seemannes ihr unter Deck folgte, musste er ihr schon da unter den Arm greifen und sie stützen. Das war ihre erste Berührung seit Beginn der Reise, aber an irgendwelche Gelüste war nicht zu denken. Sorge und Angst um das Wohl seiner Geliebten waren die einzigen Empfindungen, die er während der Überfahrt nach Korsika hatte. Auch jetzt war Oscar noch grün um die Nase und das trug nicht gerade zur Beruhigung bei.   „Mir wird es gleich besser gehen.“ Oscar erlaubte zwar André, sie zu stützen, aber versuchte gleichzeitig auch selbst ihre Haltung gerade zu halten. Es sollte ja auch wie eine Stütze aussehen, ohne dass bei Girodel irgendwelche Hintergedanken aufkamen. Im Gegensatz zu ihr schienen André und ihr Untergebener die Seeüberfahrt hervorragend überstanden zu haben, denn die beiden hatten nicht einmal eine leichte Übelkeit gehabt. Wie beneidenswert… „Graf de Girodel, findet eine Kutsche, die uns zum nächst gelegenen Gasthof bringt.“, gab sie ihrem Untergebenen den Auftrag und dieser befolgte ihn unverzüglich. Da sie ihre Pferde im Gasthof in Nizza unter Obhut des Wirtes und dessen Tochter Constance gelassen hatten, waren sie hier in Korsika auf eine Kutsche angewiesen. Aber vielleicht war das gut so, denn Oscar wäre jetzt in ihrer Verfassung nicht unbedingt gewillt, in den Sattel zu steigen.   „Zu Befehl, Kapitän.“ Victor seinerseits machte sich um Lady Oscar auch große Sorgen und hätte sie gerne wie André gestützt, aber das hätte sie bestimmt abgelehnt. Sie war einfach zu stolz, um seine Hilfe anzunehmen, dachte er, und deshalb nahm sie lieber die Stütze von André an. Oder besser gesagt, weil André ihr Geliebter war. Girodel glaubte nicht daran, dass Lady Oscar ihn deshalb eine Kutsche holen schickte, um mit André für kurz die Liebeleien auszutauschen, weil sie wirklich erkrankt aussah. Also machte er sich anders nützlich und holte eine Kutsche, die sie dann auch in einen, ihrem Rang angemessenen, Gasthof brachte.   Zwei Tage hatte Oscar gebraucht, bis die Übelkeit gänzlich nachließ und sie sich wieder gut fühlte. Nur morgens erbrach sie das Abendessen in einen Nachttopf, aber sonst war alles wieder wie früher. Am dritten Tag erkundigte Oscar mit ihren Männern die Stadt und verhandelte am Hafen die Überfahrt nach Nizza mit dem Fährmann. Diesmal war sie von André und Girodel von beiden Seiten flankiert und so bekamen sie mit, dass sie morgen bei Sonnenaufgang die Insel Korsika verlassen und zurück nach Nizza übersetzen würden. „Mich graut die Überfahrt jetzt schon.“, gestand Oscar, als sie mit ihren Begleitern in Richtung des Gasthofes gingen.   Eine vornehme Familie, die bestimmt einem korsischen Kleinadel angehörte, ging ihnen entgegen und sie grüßten sich gegenseitig mit einem höflichen Nicken, so wie es am Hofe und unter den Adligen angebracht war. Oscar hätte vielleicht diese Familie gleich vergessen, wenn nicht der kleine Junge sie beim Passieren intensiv anschaute und ganz laut zu seiner Mutter sagte: „Ich habe keine Angst vor der Seeüberfahrt!“   „Das ist auch richtig so, Napoleon.“, erwiderte dessen Mutter, ohne anzuhalten und beachtete auch nicht, dass Oscar, André und Graf de Girodel ihnen ein wenig irritiert nachschauten. Sie waren sich sicher, dass der schwarzhaarige Junge, der schätzungsweise fünf Jahre zählte, die Aussage von Oscar gemeint hatte.   „Er wird sicherlich anders reden, wenn ihm die Seefahrt nicht gut bekommt.“, meinte Victor stirnrunzelnd und schaute wieder zu Oscar. „Nimmt seine Worte nicht ernst, Kapitän. Er ist noch ein Kind und weiß bestimmt nicht, was er da redet.“   „Mir ist es egal, was er gesagt hat.“ Oscar kehrte der korsischen Adelsfamilie, die in der Ferne bereits fast verschwunden war, den Rücken und setzte ihre Füße wieder in Bewegung. Die Worte des Jungen waren für sie in der Tat nicht von Bedeutung. Es war nur der Junge selbst und sein intensiver Blick, der in ihr ein mulmiges Gefühl verursachte. Oscar seufzte und versuchte nicht mehr an ihn zu denken. Morgen würde sie andere Sorgen haben und wappnete sich schon gegen die Überfahrt. Jedoch half ihr die Vorbereitung nicht im Geringsten und bei der Rückfahrt ging die Tortur erneut los. Die zehn Stunden auf der rohen See erschienen ihr diesmal noch länger und unerträglicher als bei der Hinfahrt. Sie versuchte unter Deck zu schlafen, um wenigstens die Zeit zu kürzen, aber durch das Schwanken des Schiffs hin und her ging das nicht.   André und Girodel machten sich noch mehr Sorgen um Oscar und hofften inständig, dass sie die Überfahrt nicht so hart treffen würde wie beim letzten Mal. Besonders André verging vor Kummer und Sorge um seine Geliebte und wich keine einzige Minute von ihrer Seite. Auch Girodel blieb in ihrer Nähe und zählte die Minuten, bis sie wieder an Land waren. „Lady Oscar, wenn Ihr etwas braucht...“   Oscar schüttelte verneinend den Kopf und es kam nur ein schwaches und gequältes: „Ich brauche nichts.“ von ihr.   Irgendwann erreichten sie das Festland und kaum dass sie vom Bord gingen, eilte Girodel unverzüglich durch den Hafen von Nizza und suchte nach einer Kutsche für Oscar. Währenddessen wurde sie von André gestützt und als sie im Gasthof ankamen, braute Constance einen Tee gegen die Übelkeit für Oscar. Die junge Frau in Männerkleidern war nicht die Erste und würde auch nicht die Letzte sein, der die Seeüberfahrten nicht gut bekamen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)