Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 15: Familienfreud und -leid ----------------------------------- Irgendwie gelang es Seto, die Woche der Familienausflüge einigermaßen unbeschadet hinter sich zu bringen. Für seine Grübeleien über seine Gefühle blieb ihm allerdings nicht viel Zeit, denn seine Tage – inklusive des Wochenendes – waren vollkommen verplant, so dass er nicht viel mehr tun konnte, als jeden Abend todmüde ins Bett zu fallen und beinahe auf der Stelle einzuschlafen. Das bewahrte ihn allerdings, wie er jeden Morgen aufs Neue frustriert feststellen musste, nicht davor, von seinem Stiefbruder zu träumen. Das Einzige, was ihn aufatmen ließ, war die Tatsache, dass ihm glücklicherweise niemand ansah, was in ihm vorging – niemand außer Yami, der ihm in den Pausen regelmäßig besorgte Blicke zuwarf, ihn allerdings nicht zum Reden drängte. Der Bunthaarige wusste einfach, dass sein bester Freund schon von selbst mit ihm sprechen würde, wenn ihm danach war. Allerdings hatte Seto in dieser Woche nicht wirklich den Wunsch nach Kommunikation verspürt. Wann immer er eine freie Minute gehabt hatte, hatte er versucht, sein Problem zu überdenken, es von allen Seiten zu betrachten und eine Lösung dafür zu finden, aber ihm war einfach keine angemessene Reaktion eingefallen. Sollte er seinem Stiefbruder – der sich inzwischen augenscheinlich auch mit seinem Vater besser verstand – wirklich von seinen Gefühlen erzählen? Aber was tue ich, wenn ihm das nicht recht ist? Wenn es ihm unangenehm ist? Was, wenn er mich nicht mehr um sich haben will, wenn er es weiß? So schwer es ihm auch fiel, das einzugestehen, in der letzten Woche hatte Seto festgestellt, dass er sich ausgesprochen gerne in Ryuujis Nähe aufhielt. Er hatte sich irgendwann – sehr zur Freude seiner Stiefmutter und seines kleinen Bruders und zur Erleichterung seines Vaters – dazu überwunden, sich mit Ryuuji zu unterhalten, und dabei hatte er festgestellt, dass dessen Gegenwart ihm durchaus angenehm war. Sicher, er war hin und wieder immer noch etwas befangen gewesen, aber wenn er sich ins Gedächtnis gerufen hatte, dass der Schwarzhaarige von seinen Gefühlen nichts ahnen konnte, war er gleich wieder ruhiger geworden. Alles in allem konnte Seto nicht leugnen, dass die letzte Woche, die er mit seiner neuen Familie verbracht hatte, entgegen seiner Erwartungen regelrecht schön gewesen war. Der einzige Wermutstropfen für ihn war nach wie vor das ausgesprochen gute Verhältnis seines kleinen Bruders und seines Stiefbruders. Auch jetzt, am Sonntagabend, während er selbst seinem Vater und seiner Stiefmutter bei den Vorbereitungen für ihre Hochzeitsreise half – er hatte sich freiwillig angeboten, denn er hatte die beiden Jüngeren einfach nicht schon wieder zusammen sehen wollen –, befand sich Ryuuji in Mokubas Zimmer und half diesem beim Packen, denn der Fünfzehnjährige würde die nächste Woche ebenfalls nicht zu Hause verbringen, weil seine Klasse auf Klassenfahrt fuhr. Während Yukiko damit beschäftigt war, ein paar weibliche Toilettenartikel einzupacken, die sie brauchen würde, nahm Gozaburo seinen Ältesten beiseite und betrachtete ihn prüfend. Ihm war nicht entgangen, dass sein Sohn sich in der vergangenen Woche aller Befürchtungen zum Trotz wirklich hin und wieder wirklich amüsiert hatte. Er hatte es nicht nur vorgetäuscht, sondern die Gesellschaft seiner Stiefmutter – und auch die seines Stiefbruders – augenscheinlich tatsächlich akzeptiert. "Nun, Seto, wie war die letzte Woche für dich?", erkundigte der CEO sich dennoch und der Angesprochene schenkte seinem Vater ein schmales, aber nichtsdestoweniger ehrliches Lächeln. "Anstrengend", antwortete er wahrheitsgemäß und aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen, als er das verblüffte Gesicht seines Vaters sah. "Aber ansonsten hat sie mir sehr gefallen. Trotzdem war es anstrengend und ich werde die nächste Woche ganz sicher zum Erholen brauchen." Was allerdings weniger an seiner tatsächlichen Erschöpfung als an der Notwendigkeit lag, endlich einmal in aller Ruhe darüber nachzudenken, was genau er im Bezug auf seinen Stiefbruder denn nun unternehmen wollte. Aber das würde er seinem Vater ganz sicher nicht erzählen, dachte Seto. Das ging ihn nichts an – jedenfalls nicht, solange er sich nicht entschieden hatte, was er tun wollte und wie es weitergehen sollte. Im Laufe der vergangenen Woche war Seto sich seiner Gefühle für Ryuuji immer sicherer geworden. Sein bester Freund Yami hatte – so unangenehm es auch war, das zuzugeben – diesbezüglich vollkommen Recht gehabt. Er hatte sich wirklich in den Schwarzhaarigen verliebt. Aber wie er jetzt weiter vorgehen wollte oder sollte, wusste Seto nicht. Darüber, so hoffte er, würde er sich im Verlauf der nächsten Woche, in der er mit Ryuuji und Isono alleine in der Villa sein würde, klar werden. Und dann würde er weitersehen. "Ich hatte den Eindruck, dass du dich ganz gut mit Ryuuji verstanden hast." Gozaburo sah seinen Sohn forschend an. In der Tat hatte ihn das besonders überrascht. Seto hatte sich seinem Stiefbruder gegenüber wesentlich weniger feindselig und schroff verhalten als zu Beginn, nachdem die Zwei sich kennengelernt hatten. Im Laufe der Woche hatten die beiden Jungen augenscheinlich sogar einige gemeinsame Themen gefunden, denn sie hatten sich hin und wieder recht angeregt miteinander unterhalten – eine Tatsache, die den CEO gleichermaßen erstaunt wie beruhigt hatte. Er hatte einige Bedenken gehabt, die Zwei eine ganze Woche lang nur mit Isono alleine zu lassen, aber scheinbar waren seine Sorgen unbegründet. "Wir hatten ja auch genug Zeit, um uns aneinander zu gewöhnen", erwiderte Seto ausweichend. Dass er es genossen hatte, mit dem Schwarzhaarigen zu sprechen und im Mittelpunkt der alleinigen Aufmerksamkeit von dessen grünen Katzenaugen zu stehen, behielt er allerdings für sich. Jedes Mal, wenn es ihm gelungen war, Ryuuji dazu zu bringen, mit ihm statt mit Mokuba zu reden, hatte er innerlich triumphiert. Und jedes Lächeln, das Ryuuji ihm und nur ihm geschenkt hatte, hatte sich ihm unauslöschlich eingebrannt und ihn abends in seinem Bett ebenfalls mit einem Lächeln einschlafen lassen. Aber das war nichts, was er mit seinem Vater besprechen wollte. "Also werdet ihr keine Schwierigkeiten haben, wenn ihr hier eine ganze Woche alleine unter einem Dach verbringt?", erkundigte Gozaburo sich und atmete erleichtert auf, als sein ältester Sohn den Kopf schüttelte. "Nein, Vater. Bestimmt nicht." Eigentlich, wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste Seto sich eingestehen, dass er sich auf die nächste Woche freute – und das, obwohl er sich gleichermaßen auch davor fürchtete. Was, wenn er einen Fehler machte und dadurch alle Sympathien, die auf Ryuujis Seite eventuell vorhanden waren, zerstörte? Denk nicht darüber nach. Nicht jetzt, ermahnte der Brünette sich selbst und lächelte, als Yukiko aus dem Badezimmer wiederkam. Durch das Auftauchen seiner Stiefmutter stand er nicht mehr unter der völligen Aufmerksamkeit seines Vaters und so sah dieser nicht, dass ihn etwas beschäftigte. Seinem Vater die Wahrheit über seine Gefühle beizubringen würde auch so schon schwierig genug werden. Darauf wollte er sich gründlich vorbereiten. Aber bevor das aktuell wurde, musste er erst einmal mit seinem Stiefbruder sprechen. Dass er sich gerade praktisch schon entschieden hatte, wie sein nächster Schritt aussehen würde, war Seto nicht bewusst. oOo Während sein Bruder ihrem Vater und ihrer Stiefmutter noch beim Packen half, packte Mokuba in seinem Zimmer mit Ryuujis Hilfe ebenfalls seinen Koffer für die bevorstehende Klassenfahrt. "Ich finde das doof. Ausgerechnet in der Woche, wo Seto, du und ich hier sturmfrei hätten, bin ich nicht da", schmollte er dabei und Ryuuji lachte. "Hey, das wird sicher nicht das letzte Mal sein", versuchte er, den Jungen zu beschwichtigen. Dabei wäre es ihm eigentlich auch lieber gewesen, wenn der Fünfzehnjährige nicht die ganze nächste Woche wegfahren würde – wenn auch aus einem völlig anderen Grund. Eine ganze Woche alleine mit Seto und Isono-san. Danach bin ich reif für die Klapse, dachte Ryuuji bei sich und unterdrückte mühsam ein Seufzen. Das war einfach nicht fair. Nicht nur, dass der Brünette sich ihm gegenüber in der ganzen letzten Woche auf eine Weise verhalten hatte, die ihm immer wieder Hoffnungen gemacht hatte; nein, ab dem nächsten Tag würden sie auch eine ganze Woche lang alleine in der Villa leben, nur hin und wieder beaufsichtigt von Isono. Die Woche wird hart. Ich glaub, ich sollte so oft wie möglich was mit Kats und Bakura unternehmen. Doch, das war sicher eine gute Idee. Je seltener er auf seinen älteren Stiefbruder traf, desto sicherer konnte er sein, dass er keinen Fehler machen würde. Auf keinen Fall wollte er das Verhältnis zu Seto, das sich in der letzten Woche geradezu rasant gebessert hatte, aufs Spiel setzen. Dafür war es ihm viel zu wichtig geworden, Zeit mit dem Brünetten verbringen zu können. "Trotzdem ist es blöd." Mokubas Schmollen riss Ryuuji wieder aus seinen Grübeleien und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Kleine war wirklich goldig. "Aber wenigstens ist Seto jetzt nicht mehr so fies zu dir, also werdet ihr euch ganz sicher nicht streiten, solange ich weg bin." Ich hab ihm ja gleich gesagt, dass Ryuuji nett ist, triumphierte der Fünfzehnjährige innerlich. Ihm war nicht entgangen, dass seine beiden älteren Brüder im Verlauf der letzten Woche begonnen hatten, sich miteinander zu unterhalten und sich besser zu verstehen. "Ich bin echt froh, dass ihr euch jetzt vertragt." Mokubas zufriedene Gesicht reizte Ryuuji zum Lachen. "Du bist echt ne Marke, Mokuba", kicherte er und ließ sich auf das Bett seines Stiefbruders fallen. Mokuba schob schmollend die Unterlippe vor, doch dann schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. In der letzten Woche hatte er mitbekommen, dass Ryuuji furchtbar kitzlig war – Wissen, das er jetzt auszunutzen gedachte. Ryuuji versuchte noch, aufzustehen und Abstand zwischen sich und Mokuba zu bringen, als er das unheilverkündende Blitzen in dessen blauen Augen sah, doch es war schon zu spät. Mit einem Schrei stürzte Mokuba sich auf seinen Stiefbruder und kitzelte diesen so durch, dass er nach einer Weile nur noch lachend und japsend um Gnade betteln konnte. Der Fünfzehnjährige lachte ebenfalls, während er halb über dem Älteren kniete, seine Hände festhielt und ihn gleichzeitig erbarmungslos weiterkitzelte. Himmel, es machte so viel Spaß, mit seinem Stiefbruder herumzutoben! Endlich hatte er jemanden, der nicht behauptete, dass er dafür keine Zeit habe, zu beschäftigt sei oder dem das einfach zu albern war! Ganz offenbar genoss Ryuuji es mindestens ebenso sehr wie er, wenn sie Zeit zusammen verbringen konnten – auch wenn sie manchmal einfach nur miteinander herumtollten wie kleine Kinder. Endlich jemand, dem das nicht zu peinlich war! Genau so – Ryuuji vollkommen zerzaust und mit halb hochgerutschtem Shirt und Mokuba mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht halb über ihm kniend – fand Seto seinen kleinen Bruder und seinen Stiefbruder vor, als er auf eine Bitte seiner Stiefmutter hin die beiden zum Abendessen abholen wollte. Wie erstarrt blieb der Brünette in der Tür stehen, die er, da auf sein Klopfen hin niemand reagiert hatte, einfach geöffnet hatte. Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug Seto einen Moment lang die Sprache. Was war denn das? Bevor er allerdings dazu kam, in irgendeiner Form zu reagieren oder auch nur an einen strategischen Rückzug zu denken, hatte Ryuuji ihn auch schon entdeckt und warf ihm einen flehenden Blick aus seinen grünen Katzenaugen zu. Und als er auch noch förmlich um Hilfe bettelte – "Seto, hilf mir! Bitte!", bat er kichernd –, handelte Seto, ohne weiter nachzudenken. Er trat zum Bett seines kleinen Bruders, packte Mokuba und zog ihn von ihrem schwer um Atem ringenden Stiefbruder weg. "Spielverderber!", schmollte der jüngere Schwarzhaarige, doch als sein Bruder ihn darauf hinwies, dass ihre Eltern – er benutzte dieses Wort zum ersten Mal und auch mehr aus Verzweiflung, weil er nicht wusste, wie er den Fünfzehnjährigen sonst von ihrem Stiefbruder wegbekommen sollte – im Esszimmer auf sie warteten, um ein gemeinsames Abendessen als Familie einzunehmen, sprintete dieser gleich freudestrahlend nach unten. "Danke." Noch immer lag Ryuuji rücklings auf Mokubas Bett und versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dennoch waren seine Augen unverwandt auf Seto gerichtet und dieser begann, sich unter dem intensiven Blick gleich wieder unwohl zu fühlen. Warum nur hatte er das Gefühl, dass der Besitzer dieser grünen Katzenaugen ihn vollkommen durchschauen könnte, falls er es jemals wirklich versuchen würde? "Keine Ursache. Deine Mutter bat mich, euch beide zum Essen zu holen." Wie er es schaffte, zwei ganze Sätze zu sprechen, ohne sich räuspern zu müssen, wusste er nicht zu sagen. Wann immer er mit seinem Stiefbruder alleine war, fühlte er sich unglaublich unsicher und nervös, aber zu seiner eigenen Verwunderung war es ihm bisher immer gelungen, das zu verbergen – eine Tatsache, für die er mehr als dankbar war. Was würde der Schwarzhaarige nur von ihm denken, wenn er erfuhr, was in seinem Kopf vor sich ging? Nein, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er wollte keine Abscheu in den schönen grünen Augen sehen, die ihn immer mehr in ihren Bann zogen, je öfter er sie sah. Ryuuji musterte Seto von unten herauf. Hin und wieder war ihm im Laufe der letzten Woche aufgefallen, dass dieser ihn ab und zu einfach nur stumm angesehen hatte. Diese Blicke hatten ihn jedes Mal aufs Neue furchtbar nervös gemacht. Was mochte der Brünette wohl denken, wenn er ihn so ansah? Was ging dann wohl in seinem Kopf vor? Ob er was gemerkt hat? Nein, das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte er sich in keinster Weise auffällig verhalten, das wusste er. Nicht einmal seine Mutter hatte auch nur die geringste Ahnung, was er dachte, wenn er seinen älteren Stiefbruder ansah. Und ich werde alles tun, damit es auch so bleibt, nahm Ryuuji sich felsenfest vor und wollte sich aufrappeln, um endlich nach unten zu gehen, starrte stattdessen allerdings vollkommen überrumpelt auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Was war denn jetzt kaputt? Seto wusste nicht, was genau ihn bewogen hatte, seinem Stiefbruder seine Hand zu reichen, um ihm aufzuhelfen. Als Ryuuji seine Hand jedoch ergriff und sich von ihm hochziehen ließ, erfuhr er zum ersten Mal in seinem Leben am eigenen Leib, was es bedeutete, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Die Berührung der fremden Hand – auch wenn sie noch so kurz und noch so gering war – reichte vollkommen aus, um seinen ganzen Körper unter Strom zu setzen. So schnell wie möglich ließ er Ryuujis Hand wieder los, als hätte er sich verbrannt, und wandte sich zum Gehen. Auf keinen Fall sollte der Schwarzhaarige bemerken, dass er ihn um ein Haar an sich gezogen und geküsst hätte. Ryuuji sah dem Anderen irritiert nach. Was war das denn gerade für ein Blick gewesen, mit dem dieser ihn bedacht hatte? Dieser Ausdruck in den azurblauen Augen ... Er sah ... verwirrt aus. Überrascht. Und sogar etwas ängstlich, sinnierte der Schwarzhaarige und setzte sich langsam in Bewegung. Dabei kaute er nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass ihm die Seitenblicke, die Seto ihm auf dem Weg nach unten zuwarf, völlig entgingen. oOo "Du hast es schon wieder getan!" Außer sich vor Wut fixierte Bakura seine Mutter über den Küchentisch hinweg. "Warum? Verdammt, warum tust du das? Hast du deshalb nicht schon genug verloren?", fauchte er und Anna sah ihren älteren Sohn aus großen Augen an. "Woher ... Bakura, woher weißt du davon?", fragte sie leise, doch der Angesprochene schnaubte nur. "Das ist doch vollkommen egal! Es reicht, dass ich es weiß. Verdammt, willst du wieder auf der Straße stehen? Was glaubst du, was Chiaki tun wird, wenn er es erfährt?" Verdammt, sah sie denn nicht, dass sie schon wieder alles aufs Spiel setzte? Wie konnte sie so blind sein? Da er nicht mehr ruhig sitzen blieben konnte, stand Bakura von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, auf und begann, unruhig in der Küche herumzutigern. "Reicht es nicht, dass du mit diesem Scheiß schon einmal alles kaputtgemacht hast? Musst du jetzt wieder damit anfangen? Willst du noch einmal alles verlieren?" Bakura verstand seine Mutter einfach nicht. Was war nur in sie gefahren? Warum in aller Welt tat sie es schon wieder? Warum konnte sie nicht aus ihren Fehlern lernen? Warum musste sie schon wieder anfangen, alles zu zerstören – und das auch noch ausgerechnet jetzt, wo es für sie beide so gut lief? Anna beobachtete ihren Ältesten dabei, wie er aufgebracht und wild gestikulierend durch die Küche lief. Ihm war nur zu gut anzusehen, wie wütend er war. Seine Augen – die dunkelbraunen Augen, die er ebenso wie sein jüngerer Bruder Ryou von ihrem leiblichen Vater geerbt hatte – waren nur noch schmale Schlitze, er knirschte mit den Zähnen und kämpfte ganz offensichtlich mühsam gegen den Drang an, irgendetwas gegen die nächste Wand zu werfen. Woher hatte der Junge bloß dieses Temperament? Er konnte es weder von ihr noch von seinem Vater haben, denn sie waren beide eher ruhige Menschen – genauso ruhig wie ihr kleiner Ryou. Wie so oft begann Anna sich auch jetzt wieder zu fragen, ob Bakura wirklich der leibliche Sohn des Mannes war, der sie und ihren damals vier Jahre alten Sohn aus Russland nach Japan geholt hatte. Mach dich nicht lächerlich. Natürlich ist er Satorus Sohn. Er hat die gleichen Augen wie sein Vater und sein Bruder. Und dennoch war Bakura vom Wesen her ganz anders als sein Vater oder auch sein Bruder. Satoru und auch Ryou waren ruhige, ausgeglichene Menschen – zumindest meistens –, aber Bakuras Temperament und seine Aggressivität waren auch für sie, seine eigene Mutter, zuweilen mehr als beängstigend. Manchmal verstand sie ihren Ältesten einfach nicht. Was ging nur in seinem Kopf vor? "Was auch immer ich tue oder nicht tue, hat dich nicht zu kümmern. Ich hatte meine Gründe für das, was ich getan habe." Die Worte seiner Mutter ließen Bakura herumfahren. Wenn es möglich war, wurden seine Augen noch schmaler. "Es kümmert mich aber", erwiderte er mit erzwungener Ruhe. Es brachte nichts, wenn er sie anschrie, das wusste er. Immerhin würde sie dann erst recht unzugänglich werden. "Außerdem habe ich es für Chiaki getan – und für dich", fuhr Anna fort und wich im nächsten Moment zurück, als ihr Sohn den Tisch umrundete und auf sie zukam. Erst als sie mit dem Rücken an die Wand hinter sich stieß, blieb sie gezwungenermaßen stehen und sah trotzig zu ihrem Sohn auf, der sie um gut einen Kopf überragte. "Du hast es für ihn getan?", fragte Bakura gefährlich leise, bevor er seine Fäuste rechts und links vom Gesicht seiner Mutter krachend gegen die Wand schlug. "Bist du vollkommen verrückt geworden? Soll er dich rauswerfen? Willst du wieder auf der Straße leben müssen wie vor zwei Jahren? Willst du das? Willst du wieder alles wegwerfen, was du hast? Willst du noch mal alles verlieren? Hat dir das erste Mal nicht gereicht?" Bakura hatte sich so sehr in Rage geredet, dass ihn erst der verunsicherte Blick aus den großen, hellen Augen seiner Mutter wieder zur Besinnung kommen ließ. Entsetzt über sich selbst starrte er die kleine, zierliche und zarte Frau mit den weißen Haaren, die sie ihren beiden Söhnen vererbt hatte, an. Sie stand vor ihm und drückte sich so nah wie möglich an die Wand in dem Versuch, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihren älteren Sohn zu bringen. War das, was er in den Augen seiner Mutter sah, wirklich Angst? Hatte sie etwa Angst vor ihm? Hatte sie gerade wirklich erwartet, er würde sie schlagen? Fürchtete sie sich tatsächlich vor ihm? Bakuras Gedanken überschlugen sich. Ausgerechnet seine Mutter – einer der zwei Menschen, denen er niemals hatte wehtun oder Angst machen wollen – stand zitternd vor ihm und hatte Tränen in den Augen. Meinetwegen, schoss es ihm durch den Kopf und noch bevor seine Mutter in irgendeiner Form reagieren oder etwas sagen konnte, stürmte er aus der Küche, durch den Flur und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung – vorbei an einem vollkommen verdutzten Katsuya, der gerade vom Einkaufen gekommen war und seinem Freund nur fassungslos hinterher starren konnte. So schnell wie möglich trug der Blondschopf seine Einkäufe in die Küche, wo er Bakuras Mutter zitternd und schluchzend auf dem Küchenboden vorfand. "Scheiße!", fluchte er, stellte seine Einkaufstüten zur Seite, zog die zierliche weißhaarige Frau vom Boden hoch und verfrachtete sie auf einen der Küchenstühle. Dann ging er vor ihr in die Hocke und musterte sie besorgt, aber sie schien nicht verletzt zu sein. "Anna? An-chan? Hey, An-chan, was ist denn los?", fragte er leise, doch es dauerte eine ganze Weile, bis Anna sich so weit beruhigt hatte, dass sie den blonden Jungen ansehen konnte. "Ich hab euch draußen schon streiten gehört." Und er hatte kein Wort verstanden, denn Bakura und seine Mutter hatten sich auf Russisch gestritten. Aber nichtsdestotrotz musste etwas Schlimmes vorgefallen sein, denn sonst wäre Bakura weder wie von Furien gehetzt an ihm vorbeigerannt noch säße die Freundin seines Vaters wie ein Häufchen Elend vor ihm. "Es ist ... es ist meine Schuld", flüsterte Anna und wischte sich über die Augen. "Ich ... ich wusste, dass es falsch ist, aber ... aber ich wollte Chiaki doch nur helfen", fuhr sie leise fort und Katsuya legte den Kopf schief. "Was ist denn los, An-chan?", erkundigte er sich erneut und der Kosename ließ Anna leicht lächeln, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Chiakis Sohn war wirklich ein lieber Junge und sie würde ihm ewig dankbar dafür sein, dass er so gut zu ihrem Ältesten war. Sie wusste – ebenso wie Chiaki – was zwischen den beiden war, doch es störte sie nicht. Für sie war nur wichtig, dass die Zwei miteinander glücklich waren. Alles andere interessierte sie nicht. Hauptsache, ihre Söhne waren beide glücklich. Wie oder mit wem, kümmerte sie nicht. Mehrere Minuten lang sah Anna den Sohn ihres Lebensgefährten nur an, dann atmete sie tief durch. Sie war Katsuya eine ehrliche Antwort schuldig, das wusste sie. Immerhin war das, was geschehen war, nur ihre Schuld. Der Junge hatte jedes Recht zu erfahren, warum Bakura so wütend auf sie gewesen war. Egal, wie schwer oder unangenehm es werden würde, darüber zu sprechen, es war ihre Pflicht. "Ich wollte deinem Vater nur helfen, das musst du mir glauben, Katsuya." Der Blondschopf schluckte unwillkürlich, als er die Verzweiflung in den hellen Augen von Bakuras Mutter sah. "Du weißt, was ich früher getan habe, bevor ich nach Japan gekommen bin, oder?", fragte sie und der Angesprochene nickte langsam. "Ja. Kura hat's mir erzählt, An-chan", gab er zu. Anna sah dem Jungen genau in die Augen, doch darin war kein Vorwurf zu lesen. Ganz offenbar verurteilte er sie nicht dafür, was sie zu tun gezwungen gewesen war, als sie noch in Russland gelebt hatte. Genau wie sein Vater, dachte sie und lächelte zaghaft. Auch Chiaki hatte ihr aus ihrer Vergangenheit nie einen Vorwurf gemacht – ganz im Gegensatz zu Satoru. Aber das gehörte nicht hierher. "Und du weißt auch, dass dein Vater Geldprobleme hat, oder, Katsuya?", erkundigte sie sich leise und der Angesprochene nickte erneut. "Klar weiß ich das." Sicher, sein Vater hatte versucht, es vor ihnen allen zu verheimlichen, aber er selbst war nun mal weder blind noch blöd – auch, wenn gewisse Leute wie beispielsweise der ältere Stiefbruder seines besten Freundes das anders sehen mochten. "Du musst mir glauben, dass ich Chiaki wirklich nur helfen wollte." Der verzweifelte Unterton in Annas Stimme ließ Katsuya aufhorchen. "Und wie?", fragte er leise und sie senkte den Blick. Dann allerdings atmete sie tief durch und sah den Jungen doch wieder an. "Ich habe mich ... nun, ich habe etwas Geld verdient", antwortete sie zögerlich und die Art, wie sie errötete, sagte dem Blondschopf deutlicher als Worte, wie Annas Hilfe für seinen Vater ausgesehen hatte. Aus großen Augen sah er Bakuras Mutter an. Er wusste, dass sie des Öfteren nachts noch Alpträume von ihrer Vergangenheit hatte, also konnte er sich nur zu gut vorstellen, welche Überwindung es sie gekostet haben musste, das zu tun. Und das nur, um Paps zu helfen, dachte er und schluckte schwer. Diese Frau war eindeutig das Beste, was seinem Vater in den letzten Jahren seit dem Tod seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Shizuka hatte passieren können. "Du hast ... für Paps ...? Danke, An-chan", murmelte Katsuya, stand auf und umarmte die Mutter seines Freundes heftig. Dass sie so weit ging, nur um seinem Vater unter die Arme zu greifen, rührte ihn ungemein. Trotz ihrer Alpträume und der schlechten Erinnerungen hatte sie sich verkauft, um dem Mann zu helfen, den sie liebte, zu helfen. Konnte eine Frau ein größeres Opfer bringen als dieses? Anna war von der Reaktion des Blondschopfs etwas überrumpelt, doch dann drückte sie ihn ihrerseits kurz an sich und lächelte. Also nahm Katsuya ihr nicht übel, was sie getan hatte. Einerseits war sie unheimlich erleichtert, doch andererseits fragte sie sich, wie wohl sein Vater reagieren würde, wenn er es erführe. Würde er wirklich tun, was Satoru getan hatte? Würde er ihr auch die Tür weisen und sie nie mehr wiedersehen wollen? "Ich bin sicher, Paps wird dir ebenso dankbar sein." Und er würde sich bestimmt ganz furchtbar mies fühlen, weil er seiner Freundin diese Erniedrigung nicht hatte ersparen können. Aber das behielt Katsuya lieber für sich. An-chan war auch so schon das personifizierte schlechte Gewissen. Diese Sache musste sie mit seinem Vater klären, nicht mit ihm. "Aber was ist mit Bakura?" Katsuya löste sich aus Annas Umarmung, setzte sich auf den Stuhl neben ihrem und sah sie fragend an. Diese Frage musste ja kommen, dachte sie und seufzte. Einerseits war sie froh, dass es jemanden gab, der sich so um ihren ältesten Sohn sorgte, aber andererseits war es ihr mehr als unangenehm, darüber zu sprechen, warum sie sich mit Bakura gestritten hatte. Aber Katsuya hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Anna atmete noch einmal tief durch, bevor sie nach der Hand des Jungen griff und diese drückte. Dabei sah sie ihm unverwandt in die Augen. Sie wollte, dass er begriff, was mit ihrem Sohn los war – egal, wie schwer es ihr fiel, ihm das zu erzählen. Der Blondschopf war neben seinem kleinen Bruder, den er seit zwei Jahren kaum zu Gesicht bekam – sein Vater Satoru wünschte einfach nicht, dass Ryou den Kontakt zu seinem älteren Bruder aufrechterhielt –, der wichtigste Mensch in Bakuras Leben. "Es ist nicht das erste Mal, das ich das getan habe, Katsuya. Vor zwei Jahren ... Satorus Firma hatte finanzielle Probleme und ich wollte ihm helfen, aber ich habe nichts gelernt. Jedenfalls ... keinen richtigen Beruf. Ich habe eine Arbeit gesucht, aber es gab nichts, das ich tun konnte – nichts außer ... außer meinen Körper zu verkaufen", begann sie leise und die schokobraunen Augen, die Katsuya mit seinem Vater gemeinsam hatte, weiteten sich, als er begriff, was das bedeutete. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, fuhr Anna auch schon fort. "Satoru – Bakuras Vater – hat es herausgefunden. Er war ... er war sehr verärgert darüber." Eigentlich, erinnerte sie sich, hatte er sie angeschrieen und hätte sie möglicherweise sogar geschlagen, wenn Bakura nicht dazwischengegangen wäre. Der damals Siebzehnjährige hatte seinen Vater daran gehindert, ihr etwas anzutun, aber er hatte nicht verhindern können, dass Satoru sie hinausgeworfen und die Scheidung eingereicht hatte. Allerdings hatte sie nicht alleine gehen müssen, denn ihr Ältester hatte schleunigst ein paar Sachen gepackt, sich von seinem über alles geliebten kleinen Bruder Ryou verabschiedet und sie dann begleitet. Etwas mehr als eineinhalb Jahre lang hatten sie sich zu zweit mehr schlecht als recht durchgeschlagen – so lange, bis sie Chiaki kennengelernt hatte und gemeinsam mit ihrem Sohn zu diesem gezogen war. "Ich weiß nicht, wie Bakura davon erfahren hat, aber er war sehr, sehr wütend auf mich." Fast so wütend wie sein Vater vor zwei Jahren gewesen war. Aber das sprach Anna lieber nicht laut aus. Es gab Dinge, die der Blondschopf einfach nicht wissen musste. "Ich denke ... Vielleicht fürchtet er, dass sich alles wiederholt. Er hat dich sehr, sehr gern, Katsuya. Sicher hat er Angst, dich zu verlieren, wenn ... wenn dein Vater ..." "Wenn ich was?", erklang in diesem Moment eine Stimme von der Küchentür und Anna und Katsuya fuhren gleichermaßen erschrocken herum. "Chiaki?" – "Paps?", fragten sie beinahe zeitgleich und der Angesprochene nickte, bevor er sich vom Türrahmen abstieß, die Küche betrat und sich auf den freien Stuhl auf der anderen Seite neben seiner Freundin setzte. Dann nahm er vorsichtig ihre Hand in seine und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche, bevor er ihr in die Augen sah. "Es tut mir leid. Ich wollte bestimmt nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, so etwas zu tun, Anna", murmelte er und Katsuya stand leise auf. So schnell wie möglich räumte er die Einkäufe ein und verkrümelte sich dann in das Zimmer, das er sich mit Bakura teilte, um dort auf den Weißhaarigen zu warten. Das, was sein Vater und An-chan miteinander zu besprechen hatten, ging nur sie beide etwas an. oOo Während seine Mutter sich mit ihrem Lebensgefährten aussprach, streifte Bakura mehr oder weniger ziellos durch die Straßen. Seine Hände hatte er tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben und er fluchte unterdrückt vor sich hin. Verdammt, sah sie denn nicht, was sie schon wieder anrichtete? Reichte es ihr nicht, dass sie schon einmal alles versaut hatte? Musste sie die gleiche Scheiße wieder tun? War es nicht genug, dass sie ihr Heim verloren hatte und ihren jüngsten Sohn nicht mehr sehen durfte? So eine verfluchte Scheiße! Wütend trat Bakura gegen eine der Mülltonnen, die in seinem Weg stand. Mit einem lauten Scheppern fiel diese um und verteilte ihren Inhalt auf der Straße, doch das kümmerte ihn nicht. Seine Gedanken drehten sich einzig und alleine um seine Mutter und das, was sie – wieder einmal, verdammt! – getan hatte, weil sie der Meinung war, dass sie anders nicht an Geld kam. Dabei hätte sie nur einen Ton sagen müssen!, grummelte er und lehnte sich in einer kleinen, schmutzigen Gasse seufzend an die Wand. Verdammt, sie hatte es ihm doch versprochen! Als er gemeinsam mit ihr vor zwei Jahren von zu Hause ausgezogen war, weil sein Vater einfach nicht hatte erkennen können, welches Opfer seine Frau ihm und ihren Söhnen zuliebe gebracht hatte, hatte sie ihm versprochen, dass sie sich nie wieder so erniedrigen würde. Und was tat sie? Kaum dass sie wieder ein einigermaßen geregeltes Leben hatte, machte sie den gleichen Fehler ein zweites Mal und setzte damit alles aufs Spiel, was sie sich so mühsam erkämpft hatte. Dabei hätte es dieses Mal klappen können. Chiaki war immer gut zu ihr. Er hat sie nie als minderwertig angesehen oder ihr vorgeworfen, was sie war. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater, erinnerte Bakura sich bitter und spuckte aus. Sein Vater hatte aus seiner Verachtung für das, was seine Frau in ihrer früheren Heimat Russland zu tun gezwungen war, keinen Hehl mehr gemacht, als er vor zwei Jahren erfahren hatte, was sie getan hatte, um ihm aus einem finanziellen Engpass zu helfen. "Du warst damals schon eine kleine Nutte und das bist du immer geblieben", hatte Kinoshita Satoru seiner Frau vorgeworfen, nachdem er erfahren hatte, wie diese das Geld verdient hatte, mit dem sie ihm hatte helfen wollen. Genommen hat er die Kohle trotzdem, erinnerte Bakura sich. Und gleich danach hatte er der Frau, die ihm dreizehn Jahre lang eine gute und treusorgende Ehefrau gewesen war und die ihm zwei Söhne geboren hatte, die Tür gewiesen und ihr verboten, sein Haus je wieder zu betreten. Scheißkerl. Hat nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie sehr er sie damit verletzt hat, dass sie den Kleinen nicht mehr sehen darf. Dass es ihm selbst ebenfalls weh tat, dass er so gut wie keinen Kontakt mehr zu Ryou hatte, weil er sich damals entschlossen hatte, mit ihrer Mutter zu gehen, verdrängte Bakura ebenso schnell wie die Erinnerung an das Gesicht seines jüngeren Bruders. Seine Mutter hatte ihn dringender gebraucht als der Kleine. Ryou war bei ihrem Vater gut aufgehoben. Ganz im Gegensatz zu ihm wusste der inzwischen Fünfzehnjährige bis heute nicht, womit seine Mutter ihr Geld verdient hatte, bevor sie nach Japan gekommen war. Ist auch besser so. Das würde er nicht verstehen. Nein, wenn der Kleine jemals erfuhr, was seine Mutter gewesen war, würde es ihm ganz bestimmt das Herz brechen. Wehe, der Scheißkerl erzählt Ryou irgendwann auch nur ein Sterbenswörtchen. Dann bring ich ihn um. Niemand hatte das Recht, seinem über alles geliebten kleinen Bruder so etwas anzutun – auch nicht ihr gemeinsamer Vater. Ryou sollte niemals erfahren, aus welchen Verhältnissen ihre Mutter stammte und wie ihre Eltern sich überhaupt kennengelernt hatten. Der Junge glaubte bis heute, dass sie sich auf einer Geschäftsreise ihres Vaters getroffen hatten. So weit stimmt's ja auch, dachte Bakura und ein spöttisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. In der Tat hatte Kinoshita Satoru Anna Koslowa auf einer seiner Geschäftsreisen nach Russland kennengelernt, aber im Gegensatz zu Ryou wusste Bakura ganz genau, wie ihr Vater ihre damals sechzehnjährige Mutter näher kennengelernt hatte. Die zarte Schönheit des jungen Mädchens, das gezwungenermaßen in einem kleinen Bordell in Moskau gearbeitet hatte, hatte es Satoru damals so angetan gehabt, dass er sie während der drei Wochen, die er in Russland gewesen war, regelmäßig besucht hatte. Zwischen seinen Eltern, das war Bakura vollkommen klar, hatte es damals schon keine Liebe gegeben. Es war einfach nur eine geschäftliche Beziehung gewesen. Und aus genau dieser geschäftlichen Beziehung war er entstanden. Seine Zeugung war ein Unfall gewesen, das wusste er – ebenso, wie er wusste, dass seine Mutter einiges versucht hatte, um ihre Schwangerschaft abzubrechen, als sie es bemerkt hatte. Bakura nahm seiner Mutter das keineswegs übel. Was hatte eine schwangere Prostituierte schon zu erwarten gehabt? Welcher Mann zahlte denn dafür, mit einer Schwangeren Sex zu haben – und sei sie auch noch so hübsch? Dennoch, weder die Abtreibungsversuche noch die Schläge ihres Zuhälters hatten Annas Kind töten können und so war sie mit gerade mal siebzehn Jahren Mutter geworden. Die Erinnerungen, die Bakura an die ersten vier Jahre seines Lebens hatte, waren zwar etwas verschwommen, aber nichtsdestoweniger wusste er, dass es nicht leicht für seine Mutter gewesen war. Sie hatte nicht nur sich, sondern auch noch ihren kleinen Sohn durchbringen müssen, den sie anfangs zwar nicht gewollt, aber nach seiner Geburt doch zärtlich geliebt hatte. Er selbst, erinnerte Bakura sich, hatte meistens im Nebenzimmer bleiben müssen, wenn seine Mutter in ihrer kleinen Wohnung ihre Freier empfangen hatte. Oft genug hatte er mitansehen müssen, wie brutal diese Männer mit ihr umgegangen waren, doch er war zu klein gewesen und hatte nichts tun können, um seine heißgeliebte Mutter zu beschützen. Und genau aus diesem Grund hatte er sie nicht alleine gehen lassen können, als sein Vater sie vor zwei Jahren rausgeworfen hatte. Sie sollte nicht wieder ganz alleine und schutzlos sein. Mit siebzehn war er alt genug gewesen, um auf sie achtzugeben. An die allererste Begegnung mit seinem Vater erinnerte Bakura sich noch ganz genau. Er war fast vier Jahre alt gewesen und hatte sich mit seiner Mutter auf dem Rückweg vom Einkaufen befunden, als sie auf einer der Straßen Moskaus wie angewurzelt stehen geblieben war. Damals war es Winter gewesen und schrecklich kalt und dementsprechend hatte er an der Hand seiner Mutter gezogen, um endlich nach Hause in die kleine, aber wenigstens halbwegs warme Wohnung zu kommen. Seine Mutter indes hatte sich nicht von der Stelle gerührt. "Anna? Bist du das?", hatte Satoru die junge Frau auf Russisch gefragt, die ihm mit ihren weißen Haaren und den feinen Gesichtszügen auch nach fünf Jahren noch im Gedächtnis geblieben war. Dann war sein Blick auf den kleinen Jungen gefallen, der an ihrer Hand gehangen und ihn aus dunkelbraunen Augen aufmerksam und misstrauisch gemustert hatte. Männer, die seine Mutter so angesehen hatten, hatten immer Ärger bedeutet. "Ist das dein Kind?", hatte Satoru sich erkundigt und Anna hatte langsam genickt. "Ja, das ist unser ... mein Sohn. Bakura", hatte sie sich schnell verbessert und ihren kleinen Sohn schützend in den Arm genommen. Satoru allerdings war ihr Versprecher nicht entgangen, also hatte er sich vor den Jungen gekniet und ihn sich ganz genau angesehen. Ihm war nicht entgangen, dass der Junge die gleichen Augen gehabt hatte wie er. Danach, erinnerte Bakura sich, war alles sehr schnell gegangen. Seine Mutter hatte den fremden Mann auf sein Drängen mit zu ihnen nach Hause genommen und ihm erzählt, dass er sein Vater war. Satoru hatte keine Zeit verschwendet. Seine Eltern hatten ihm damals immer damit in den Ohren gelegen, sich endlich zu binden, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Warum hätte er noch mehr Zeit mit der Suche nach einer geeigneten Braut verschwenden sollen, wenn er sogar schon einen leiblichen Sohn hatte? Binnen einer Woche hatte er alles Erforderliche geregelt. Er hatte die junge Russin geheiratet und sie und ihren kleinen Sohn mit nach Japan genommen, wo nur wenig mehr als ein halbes Jahr später sein zweiter Sohn zur Welt gekommen war. Dennoch hatte er nie darüber hinwegsehen können, aus welchen Verhältnissen seine Frau gekommen war. Vor Ryou – seinem Augapfel – hatte er selbstverständlich niemals ein Wort darüber verloren, denn er hatte nicht gewollt, dass der Junge etwas davon erfuhr, aber bei seinem älteren Sohn war er immer weniger zurückhaltend gewesen. Scheiß drauf. Er selbst, dachte Bakura, war seinem Vater gegenüber von Anfang an skeptisch geblieben. Er hatte ihm schon als Kind nicht getraut und letztendlich hatte er mit seiner Skepsis ja auch Recht behalten. Immerhin waren seine Mutter und er seinem Vater schon immer herzlich egal gewesen. Der Einzige, der für ihn wichtig gewesen war, war Ryou. Bakura neidete seinem jüngeren Bruder die Liebe ihres Vaters allerdings nicht. Im Gegenteil, er vergötterte den Kleinen selbst geradezu. Der Fünfzehnjährige war – neben seiner Mutter und seit ein paar Monaten auch Katsuya – sein Ein und Alles. Für ihn gab es keine wichtigeren Menschen auf der Welt. Er hätte alles getan, um diese beiden, die ihm mehr bedeuteten als sein eigenes Leben, zu beschützen. Dennoch hatte er vor nicht ganz einer Stunde ausgerechnet seiner Mutter solche Angst gemacht, dass sie gezittert und sogar geweint hatte. Er hatte sich immer geschworen, dafür zu sorgen, dass sie sich nie wieder Angst haben musste. Und was hatte er getan? Er hatte sie erschreckt. Bakura schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, aber der ängstliche Blick seiner Mutter verfolgte ihn auch jetzt noch. Es war genau das eingetreten, was er immer hatte verhindern wollen: Seine eigene Mutter fürchtete sich vor ihm. "So eine verfluchte Scheiße!", stieß Bakura zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und kniff seine Lider fest zusammen, denn seine Augen brannten. Das, was er heute verbockt hatte, konnte er nie, nie wiedergutmachen. Die Erinnerung an diesen Blick, die Tränen seiner Mutter und ihre unübersehbare Angst würde er nie wieder loswerden, das wusste er genau. Und er würde sich nie verzeihen, dass er sie zum Weinen gebracht hatte. Um nicht weiter darüber nachzudenken, stieß Bakura sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, ab und machte sich auf den Weg in eines der weniger guten Viertel der Stadt. Er hatte sich vor zwei Jahren schon darum gekümmert, das Geld für seine Mutter und sich zu beschaffen. Wenn Chiaki Geldprobleme hatte, dann war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie nicht wieder eine Dummheit beging. Vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit für sie beide, bei Chiaki und Katsuya zu bleiben. Die Zwei durften nur nichts von dem Fehltritt seiner Mutter erfahren, das war alles. Dass es dafür längst zu spät war, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)