Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 4: Streitigkeiten ------------------------- "Dein Vater ist Pilot bei der Air Force?" Mokuba staunte seinen zukünftigen Stiefbruder mit offenem Mund an. Ryuuji nippte an seiner Cola und nickte dann. "Ja, ist er. Ab nächsten Monat ist er wieder im Einsatz", antwortete er und strich sich ein paar seiner schwarzen Strähnen hinter sein rechtes Ohr, so dass der Blick auf seinen Hals frei wurde. "Dann hat er bestimmt nicht besonders viel Zeit für Dich, oder?", bohrte der Fünfzehnjährige nach und sein künftiger Stiefbruder nickte erneut. "Stimmt, er ist viel unterwegs. Aber das macht nichts. Erstens bin ich's ja so gewöhnt und zweitens bin ich auch kein kleines Kind mehr. Ich brauche niemanden, an dessen Rockzipfel ich ständig hängen muss. Ich kann inzwischen ganz gut auf mich selbst aufpassen", gab er zurück und grinste den Jungen an. Seto beobachtete das Gespräch der beiden Jüngeren mit gemischten Gefühlen. Er war sich nicht sicher, was er von Yukikos Sohn halten sollte. Sie selbst wurde ihm im Laufe des Abends immer sympathischer – er hatte sich tatsächlich dazu durchgerungen, sich mit ihr zu unterhalten, und dabei erstaunt feststellen müssen, dass sie durchaus über einen klugen Kopf verfügte –, aber was Ryuuji betraf, fiel sein Urteil weit weniger positiv aus. Auch wenn der Siebzehnjährige sich mit Mokuba auf Anhieb scheinbar blendend verstand – Seto weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass ihn vielleicht gerade diese Tatsache gegen seinen zukünftigen Stiefbruder einnahm –, so war er selbst doch meilenweit davon entfernt, bezüglich Ryuuji ebenso enthusiastisch zu sein wie sein kleiner Bruder. Mokuba lauschte den Erzählungen seines neuen Bruders mehr als interessiert. Er klebte förmlich an Ryuujis Lippen. Zu Beginn des Abends hatte er noch versucht, Seto in ihr Gespräch mit einzubinden, doch nachdem dieser offenbar kein Interesse daran gehabt hatte – er hatte sich lieber mit Yukiko und ihrem Vater unterhalten –, hatte er es irgendwann aufgegeben. Stattdessen fragte er Ryuuji jetzt alleine Löcher in den Bauch – was diesen jedoch nicht im Geringsten zu stören schien, denn er beantwortete alle Fragen ausführlich und machte auch nicht den Eindruck, als wäre ihm die Neugier seine Person betreffend in irgendeiner Form unangenehm. Sobald die Vier ihre Mahlzeit beendet hatten, ließ Gozaburo sich die Rechnung bringen, beglich sie und stand auf, um den Mantel seiner Verlobten zu holen. "Wir bringen euch noch nach Hause", entschied er und Yukiko lächelte dankbar. "Das ist wirklich nett von euch, Gozaburo", erwiderte sie und auch Ryuuji nickte. "Allerdings. Vielen Dank, Gozaburo-san", sagte er höflich und deutete eine leichte Verbeugung an, bevor er seine Jacke wieder überzog. Gemeinsam verließen die Fünf das Restaurant und der Siebzehnjährige staunte nicht schlecht, als er die Limousine sah, die vor der Tür wartete. "Wow! Netter Schlitten!", entfuhr es ihm und Mokuba strahlte, als würde der Wagen ihm gehören. Ryuuji konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als Isono die Tür öffnete. "Ganz vornehm, was?", grinste er den jüngeren seiner beiden künftigen Stiefbrüder an und dieser kicherte, während Seto nur die Augen verdrehte. Ryuujis große Klappe ging ihm jetzt schon gewaltig auf die Nerven. Na ja, ich muss ihn ja nur ein halbes Jahr lang ertragen. Das sollte doch zu schaffen sein, motivierte er sich selbst und warf dem Jüngeren einen kühlen Blick zu, als er bemerkte, dass dieser ihn schon wieder musterte. Im Gegensatz zu den meisten anderen schien Ryuuji von diesem Blick jedoch nicht im Geringsten eingeschüchtert zu sein. Stattdessen schmunzelte er nur und seine grünen Augen funkelten amüsiert. Er rutschte auf den Platz neben Mokuba und saß Seto somit genau gegenüber. Während der gesamten Fahrt ruhten seine Blicke auf dem Brünetten und ein kaum wahrnehmbares, schwer zu deutendes Lächeln umspielte seine Lippen, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Mokubas scheinbar endlose Fragen zu beantworten. Nach knapp zehnminütiger Fahrt hielt Isono die Limousine an, stieg aus und öffnete die hintere Tür. Gozaburo stieg aus und half Yukiko aus dem Wagen. Ryuuji grinste die beiden Kaibabrüder an. "Na dann, wir sehen uns", sagte er und umarmte erst den völlig überrumpelten Mokuba und dann den ebenso perplexen Seto, bevor er den beiden noch einmal zuzwinkerte und mit einem "Bis dann, ihr Zwei" verschwand. Mokuba sah seinen großen Bruder leicht verwirrt an. "Macht man das in Amerika so?", wollte er wissen und Seto zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht, otouto", antwortete er und bemühte sich, sich seinen Unmut über diese Aktion nicht anmerken zu lassen. Mit Ausnahme seiner Mutter und seines kleinen Bruders – und früher auch seines Vaters, aber das war inzwischen schon Jahre her – erlaubte er es niemandem, ihm so nahe zu kommen. Das tat nicht einmal Yami und der war immerhin sein bester Freund. Was in aller Welt also fiel diesem Kerl ein, ihn einfach so zu umarmen? Auch wenn das in Amerika gang und gäbe sein mochte, sie waren hier immerhin in Japan! Wehe, er kommt auch nur auf die Idee, sich das zur Gewohnheit zu machen!, dachte Seto und knirschte unhörbar mit den Zähnen. Sollte sein zukünftiger Stiefbruder ihm noch einmal ungefragt zu nah kommen, würde er sein blaues Wunder erleben. Mokuba, dem der Ärger seines großen Bruders nicht entging, zog den Kopf ein und presste seine Lippen fest aufeinander. Auf keinen Fall wollte er jetzt etwas Falsches sagen oder tun, denn dann, das wusste er, würde er die schlechte Laune des Brünetten ausbaden müssen. Wenn ich ihm jetzt sage, dass ich Ryuuji nett finde, bringt er mich um, dachte der Schwarzhaarige und warf einen Blick aus dem Fenster der Limousine. Von seinem neuen Bruder war allerdings bereits nichts mehr zu sehen und auch Yukiko schickte sich gerade an, das Haus, in dem die beiden offenbar derzeit wohnten, zu betreten. Sein Vater sah ihr noch einen Moment lang nach, dann stieg er wieder in den Wagen und gab Isono das Zeichen, sie nach Hause zu fahren. oOo "Du hast dich wirklich unmöglich benommen, Ryuuji." Yukiko hängte ihren Mantel auf und warf ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. Der Angesprochene, der gerade damit beschäftigt war, sein noch im Flur befindliches Gepäck in sein Zimmer zu bringen, stellte seinen Koffer ab und verschränkte die Arme vor der Brust. "Was hätte ich Deiner Meinung nach denn machen sollen, Mum? Gar nicht kommen? Oder hätte ich mich vorher noch umziehen sollen? Dann hätten die Drei nur nen völlig falschen Eindruck von mir bekommen. Und spätestens nach der Hochzeit hätten sie doch eh gemerkt, wie ich wirklich bin. Aber danke, ich freu mich auch, wieder hier zu sein", erwiderte er und strich sich seine Haare aus dem Gesicht, bevor er seinen Koffer wieder aufhob, ihn in sein Zimmer trug und die Tür etwas lauter zutrat, als es nötig gewesen wäre. Willkommen in Japan, Duke ... ach nein, hier ist es ja wieder Ryuuji, dachte er bitter, stellte den Koffer ab und ließ sich auf seine Couch fallen. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf, starrte an die Zimmerdecke und seufzte abgrundtief. Eigentlich war ihm ja klar gewesen, dass seine Mutter so reagieren würde, aber das machte es auch nicht besser. Hier ist es meine Art und drüben genauso, sinnierte er und seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Grinsen. Das war schon immer sein Problem gewesen. Für einen Japaner benahm er sich nicht japanisch genug – was seine Mutter immer seiner Zeit in Amerika bei seinem Vater anlastete – und für einen Amerikaner war er nicht amerikanisch genug – was sein Vater immer seiner Mutter und ihrer japanischen Erziehung zuschrieb. Wie er es auch drehte und wendete, er gehörte nirgends wirklich dazu. Und mit der neuen Familie wird's auch nicht anders sein. Ryuuji war die Ablehnung seines künftigen Stiefbruders Seto ebenso wenig entgangen wie die vorsichtige Zurückhaltung seines baldigen Stiefvaters Gozaburo. Nur Mokuba, der Jüngste der drei Kaibas, hatte durchweg positiv auf ihn reagiert. Bleibt abzuwarten, was passiert, wenn sie erfahren, dass ich schwul bin, dachte Ryuuji, stand auf und machte sich seufzend daran, seinen Koffer auszuräumen. Seiner Mutter zuliebe würde er den Mund über seine sexuellen Vorlieben halten. Es lag ihm zwar nicht, etwas zu verschweigen, aber er wollte es ihr auch nicht unnötig schwer machen. Immerhin hatte sie schon auf sein Outing im letzten Jahr besser reagiert, als er erwartet hatte, also war er ihr diese kleine Notlüge schuldig. Außerdem würde er ja in sechs Monaten ohnehin wieder zu seinem Vater fliegen. So lange sollte es ihm doch möglich sein, diese eine Sache für sich zu behalten. oOo Abgrundtief seufzend stieg Gozaburo vor der Kaiba-Villa aus der Limousine und wartete auf seine Söhne. Die Rückfahrt war schweigend verlaufen und es war nicht zu übersehen gewesen, dass etwas vorgefallen sein musste, denn selbst Mokuba hatte geradezu verbissen geschwiegen und den Saum seines Shirts, den er unaufhörlich zwischen seinen Fingern gedreht hatte, angestarrt, als wäre er das Interessanteste, was diese Welt zu bieten hatte. Seto hatte während der ganzen Fahrt aus dem Fenster gestarrt und auch jetzt war scheinbar keiner der beiden bereit, über den Abend oder das, was sie so offensichtlich beschäftigte, dass selbst Isono die beiden jungen Herren verwundert musterte, zu reden. Erneut seufzend lotste der CEO seine Söhne ins Wohnzimmer und wartete, bis sie wie am Vorabend auf der Couch Platz genommen hatten. "Und? Was denkt ihr?", fragte er dann und setzte sich ebenfalls wieder in den Sessel, in dem er am vorigen Abend auch gesessen hatte. "Yukiko-san scheint sehr nett zu sein", antwortete Seto nach einem Moment des Schweigens und schlug die Beine übereinander. Mokuba nickte bestätigend. "Ja, allerdings. Außerdem ist sie wirklich sehr hübsch", pflichtete er seinem Bruder bei. "Und Ryuuji ist ...", setzte er an, brach dann aber nach einem Blick auf seinen großen Bruder ab und räusperte sich. "Also, ich finde ihn nett. Er ist zwar ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, aber ich glaube, ich mag ihn trotzdem." Seto schwieg zu Mokubas Worten. Zwar hatte sich seine schlechte Vorahnung in Bezug auf seine künftige Stiefmutter nicht erfüllt, aber was Ryuuji betraf, sah die ganze Sache schon wieder vollkommen anders aus. Die seltsam intensiven Blicke des Siebzehnjährigen ließen sich ebenso wenig verdrängen wie das verwirrende Gefühl, das er gehabt hatte, als er von jemandem außerhalb seiner Familie plötzlich und ohne Vorwarnung umarmt worden war. "Nun, er wird sowieso nur sechs Monate lang bei uns wohnen. Ich denke, so lange werden wir uns wohl arrangieren können", sagte Seto so neutral wie möglich und Gozaburo seufzte erneut. "Ich habe dir gestern Abend schon gesagt, dass sein Verhalten dir möglicherweise seltsam vorkommen könnte", erinnerte er seinen Sohn und dieser nickte. "Ich weiß, Vater", gab er zurück. Verwirrt und auch ein bisschen verletzt blickte Mokuba zwischen seinem Vater und seinem Bruder hin und her. Sein Vater hatte mit Seto am Vortag schon über Ryuuji gesprochen? Warum hatte ihm niemand etwas davon erzählt? Warum hatte ihn sein Bruder am frühen Abend angelogen und behauptet, er wisse auch nichts über ihren neuen Bruder? "Nun, er ist sehr ... direkt, scheint mir", sagte Seto gerade und sein Vater nickte. "Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch", stimmte er seinem Ältesten zu und Mokuba zog einen Flunsch. Er hatte sich den ganzen Abend glänzend mit Ryuuji unterhalten und nun taten sein Vater und sein Bruder so, als wäre das Verhalten des Siebzehnjährigen absolut untragbar gewesen. Sicher, er war sehr unkonventionell gekleidet gewesen und auch die Sache mit der Umarmung zum Abschied war vielleicht ungewohnt, aber dennoch hatte Mokuba plötzlich das Gefühl, seinen zukünftigen Bruder verteidigen zu müssen. Wenn Ryuuji sich unmöglich benommen hatte, hatte er das dann in den Augen seiner Familie etwa auch getan – nur, weil er sich mit ihm gut verstanden hatte? "Ich weiß nicht, was ihr so schlimm findet. Ihr kennt ihn doch noch gar nicht richtig", begehrte er daher auf und die beiden Älteren wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu. "Das ist nicht das Problem, otouto", murmelte Seto und erntete einen verärgerten Blick. "Und was ist dann das Problem? Etwa, dass er uns zum Abschied umarmt hat? Vielleicht ist er das einfach so gewöhnt. Und so schlimm war das nun auch wieder nicht. Ich finde ihn jedenfalls nett. Wenn du nicht umarmt werden möchtest, dann sag ihm das, aber rede nicht schlecht über ihn, wenn er nicht da ist. Das zeugt von schlechten Manieren." Mokuba funkelte seinen Bruder böse an. Er verstand dessen offensichtlich völlig grundlose Abneigung wirklich nicht. Ryuuji hatte ihm doch nichts getan, also was in aller Welt störte ihn nur so an ihrem zukünftigen Bruder? So voreingenommen war Seto doch sonst nicht. "Es ist schon reichlich spät. Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht, Vater. Gute Nacht, Seto." Mit diesen Worten stand der Fünfzehnjährige auf, rauschte mit hoch erhobenem Kopf aus dem Wohnzimmer und warf die Tür seines Zimmers so laut ins Schloss, dass Seto und Gozaburo gleichzeitig eine Braue hoben. Der Achtzehnjährige seufzte. Er hatte seinen kleinen Bruder ganz sicher nicht verärgern wollen. Dennoch, auch wenn es Mokuba nicht gefiel und er es nicht verstand, er selbst würde sich so weit wie möglich von Ryuuji fernhalten, denn der Siebzehnjährige kratzte auf eine Weise an seiner Selbstbeherrschung, die Seto selbst fremd war. Immer wieder musste er an die seltsamen, undeutbaren Blicke aus den grünen Katzenaugen seines zukünftigen Stiefbruders denken. Auch wenn er es sich nicht gerne eingestand – diese Blicke hatten ihm Schauer über den Körper gejagt, von denen Seto nicht wusste, ob sie ihm angenehm oder unangenehm waren. "Ich denke, ich sollte jetzt auch schlafen gehen. Gute Nacht, Vater", murmelte der Achtzehnjährige und stand auf. Gozaburo nickte und erhob sich ebenfalls. "Das wünsche ich Dir auch, Seto", antwortete er und sein Ältester verließ das Wohnzimmer und ging schweigend die Treppen nach oben. Vor Mokubas Zimmertür blieb Seto unschlüssig stehen. Sollte er versuchen, jetzt noch mit seinem Bruder zu sprechen? Nach kurzem Überlegen schüttelte er den Kopf und ließ seine Hand, die er zum Klopfen erhoben hatte, unverrichteter Dinge wieder sinken. Nein, das machte jetzt keinen Sinn. Wenn Mokuba böse auf ihn war, war es das Beste, ihm etwas Zeit zu geben, um sich wieder zu beruhigen. Morgen. Ich werde morgen mit ihm reden, nahm Seto sich vor und seufzte abgrundtief. "Gute Nacht, otouto", murmelte er leise und ging hinüber in sein eigenes Zimmer, um sich schlafen zu legen. Mokuba saß in seinem Zimmer auf dem Bett und zerknüllte eines seiner Kissen zwischen seinen Händen. Er hatte die Worte seines großen Bruders durchaus gehört, aber er war im Augenblick nicht in der Stimmung, um ihm zu antworten oder gar mit ihm zu sprechen. Dazu war er viel zu aufgebracht. Nicht nur, dass sein Vater Seto ganz offenbar mehr vertraute als ihm – immerhin hatten die beiden ja wohl ohne sein Wissen über Ryuuji gesprochen und es nicht für nötig gehalten, ihn einzuweihen –; nein, sie redeten auch noch über seinen neuen Bruder, obwohl sie ihn beide kein bisschen kannten. Und besonders die Tatsache, dass der sonst so auf Fairness bedachte Seto sich offenbar schon jetzt darauf freute, dass Ryuuji in sechs Monaten wieder für ein halbes Jahr zu seinem Vater nach Amerika fliegen würde, störte ihn. Was war denn an Ryuujis Verhalten so schlimm gewesen? Sicher, er hatte sich nicht besonders japanisch benommen und auch seine Kleidung war nicht unbedingt dem Anlass entsprechend gewesen, aber war das wirklich ein Grund, ihn nicht zu mögen? Er hatte doch erklärt, dass er gleich vom Flughafen aus zum Restaurant gekommen war – offenbar in dem Versuch, sich nicht allzu sehr zu verspäten. Konnten Seto und sein Vater ihm wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass er sich nicht umgezogen hatte? Grübelnd kaute Mokuba auf seiner Unterlippe herum. Oder lag die Abneigung seines Bruders wirklich an Ryuujis Umarmung? Sicher, damit hatte der Siebzehnjährige auch ihn völlig überrumpelt, aber so schlimm war es doch nun auch wieder nicht gewesen. Der Fünfzehnjährige schloss die Augen und rief sich das Gefühl wieder in Erinnerung, das er gehabt hatte, als Ryuuji ihn für einen Moment an sich gedrückt hatte. Sicher, im ersten Moment war er überrascht gewesen. Danach aber war es eigentlich sogar recht angenehm gewesen, denn es hatte ihn daran erinnert, dass sein großer Bruder und auch sein Vater ihn oft umarmt hatten, als er noch jünger gewesen war. Die beiden wuschelten ihm zwar heute noch hin und wieder durch die Haare, aber das war einfach nicht dasselbe. Nachdenklich legte Mokuba seine Stirn in Falten. Es musste ungefähr drei Jahre her sein, dass er das letzte Mal von einem der beiden – es war Seto gewesen, wenn er sich recht erinnerte – kurz in den Arm genommen worden war. Seufzend ließ sich Mokuba nach hinten fallen, stopfte das Kissen unter seinen Kopf und zog sich seine Bettdecke bis unters Kinn. Vielleicht, grübelte er, würde sich das ja ändern, wenn sein Vater und Yukiko erst einmal verheiratet waren. Mit einem leichten Lächeln und dem Vorsatz, Yuugi und Ryou am nächsten Tag ausführlich zu erzählen, wie der heutige Abend gelaufen war, schlief der Fünfzehnjährige schließlich ein. oOo "Darf ich reinkommen, Ryuuji?" Das Klopfen und die leise Stimme seiner Mutter vor seiner Zimmertür rissen den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken. "Come in", antworte er, ohne sich umzudrehen. Yukiko betrat das Zimmer ihres Sohnes und schloss die Tür leise hinter sich. Sie ließ ihren Blick kurz durch den für einen Jungen seines Alters unnatürlich ordentlichen Raum schweifen, bevor ihre Augen an ihrem Sohn hängen blieben. Er saß auf der Fensterbank, hatte die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen. Seinen Kopf hatte er auf seine Knie gestützt und sein Blick war aus dem Fenster gerichtet. "Was ist, Mum?", erkundigte er sich, ohne seine Mutter anzusehen. "So, wie es vorhin geklungen hat, habe ich meine Worte nicht gemeint", sagte Yukiko leise und Ryuuji seufzte. "Schon okay. Das weiß ich doch", gab er zurück und spürte im nächsten Moment, wie seine Mutter ihm zärtlich über die schwarzen Haare streichelte. "Sie sind ziemlich lang geworden", stellte sie dabei fest und lächelte leicht. "Offenbar hat dein Vater dich immer noch nicht dazu bewegen können, sie dir abschneiden zu lassen." Ryuuji schüttelte den Kopf. "Nö. Wieso auch? Ich mag meine Haare so, wie sie sind." Sie sehen aus wie Deine, Mum, fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht laut aus. "Dad hat mir zwar angedroht, mich zum Friseur zu schleppen, aber als ich ihm gesagt hab, dass ich mir dann ne Dauerwelle machen lasse, hat er Ruhe gegeben", erzählte er stattdessen und grinste bei der Erinnerung an das Gesicht seines Vaters. Das war wirklich zum Schießen gewesen. "Und er hat einfach so klein beigegeben?", hakte Yukiko schmunzelnd nach und ihr Sohn schüttelte erneut den Kopf. "Nicht sofort. Er hat mir gedroht, er würde sie mir notfalls selbst schneiden – nachts, wenn ich schlafe –, falls ich nicht freiwillig zum Friseur gehe. Da hab ich ihm gesagt, dass ich ihn wegen Körperverletzung verklage, wenn er sich das wagt. Danach war das Thema vom Tisch. Das war vor knapp zwei Monaten. Ich glaub, Dad bereut immer noch, mir mit dem Jurastudium so in den Ohren gelegen zu haben", erwiderte er und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als seine Mutter leise zu lachen begann. Das hat mir gefehlt, dachte Ryuuji und blinzelte kurz, um die Feuchtigkeit aus seinen Augen zu vertreiben. Yukiko atmete mehrmals tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Sie war eigentlich nicht hierhergekommen, um mit ihrem Sohn über seinen Vater zu sprechen. Nein, ihr lag etwas vollkommen Anderes auf dem Herzen. "Sag, Ryuuji, was denkst du über Gozaburo und seine Söhne?", fragte sie leise und hielt unwillkürlich den Atem an. Ryuuji ließ sich einen Augenblick Zeit, um über ihre Frage nachzudenken. "Liebst Du ihn?", wollte er dann wissen und sah seine Mutter prüfend an. Yukiko stieß den angehaltenen Atem aus und nickte ernst. "Ja, das tue ich. Ich war sehr, sehr glücklich, als er mich gebeten hat, seine Frau zu werden", antwortete sie und Ryuuji lächelte leicht. "Das sieht man. Du strahlst richtig, wenn du von ihm sprichst", stellte er fest und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, als sie errötete. "Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, er ist ein netter Mensch – zumindest, soweit ich das nach den paar Stunden heute beurteilen kann. Und er hat nicht nur Geschmack, sondern auch verdammtes Glück, so eine tolle Frau wie dich zu kriegen", fuhr Ryuuji fort und lehnte seinen Kopf gegen das Holz des Fensterrahmens. "Und was seine Söhne betrifft: Mokuba ist wirklich niedlich. Den hätte ich echt knuddeln können." Dass er das zum Abschied auch getan hatte – bei Mokuba ebenso wie bei Seto – verschwieg er lieber. Er wusste, dass seine Mutter diese Vertraulichkeiten bei Fremden nicht besonders schätzte. "Ich glaub, mit ihm werd ich mich prima verstehen. Kam mir vor, als wäre er mindestens so aufgedreht wie ich." Bei diesen Worten grinste der Siebzehnjährige seine Mutter an. "Ich wollte zwar eigentlich nie Geschwister, aber mit so nem süßen kleinen Bruder wie ihm kann ich gut leben, denke ich", fügte er hinzu und Yukiko legte fragend den Kopf schief. "Und was ist mit Seto?", wollte sie willen und ihr Sohn seufzte. "Seto?" Ryuuji wandte den Blick wieder aus dem Fenster und dachte nach. Ihm war die mangelnde Begeisterung des Brünetten über sein Auftauchen ebenso wenig entgangen wie seine offensichtliche Weigerung, mehr als das Nötigste mit ihm zu reden. "Hm, Seto ... Ich glaub, der wird mehr Probleme mit mir haben als Mokuba. Ich hatte nicht den Eindruck, als würde er mich mögen. Aber vielleicht ist das auch nach ein paar Stunden zu viel verlangt. Immerhin kennen wir uns kaum. Das wird sicher anders, wenn wir uns erst besser kennen." Ryuuji hoffte inständig, seine Mutter möge ihm das abkaufen, was er gesagt hatte. Sein zukünftiger älterer Stiefbruder hatte auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als würde er seine einmal gefasste Meinung so schnell wieder ändern. Und was Seto über ihn gedacht hatte, war ihm praktisch ins Gesicht geschrieben gewesen. Oft genug hatte er diesen Blick, der förmlich ›elender Halbjapaner‹ geschrien hatte, schon gesehen. Schade, dass er solche Vorurteile hat, aber wahrscheinlich nicht zu ändern, dachte Ryuuji und seufzte innerlich, bevor sich wieder ein Grinsen auf seine Lippen schlich. Den allerersten Gedanken, der ihm bei Setos Anblick durch den Kopf gegangen war, würde er besser für sich behalten. Dass seine Mutter wusste, dass er auf Jungs stand, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch wissen musste, dass einer ihrer zukünftigen Stiefsöhne ihrem leiblichen Sohn mehr als nur ein bisschen gefallen hatte. Das war nun wirklich kein Thema, das man ausgerechnet mit seiner Mutter besprach. Yukiko seufzte leise. "Gozaburo sagte bereits, dass Seto ein etwas schwieriger Mensch ist. Er hat seine Mutter sehr früh verloren und ihr Tod war sehr schmerzhaft für ihn, deshalb ist er so verschlossen. Er hat sie sehr geliebt", murmelte sie und Ryuuji nickte. "Dann versteh ich das. Er ist wohl kaum besonders begeistert davon, jetzt plötzlich ne neue Familie aufs Auge gedrückt zu kriegen – und das auch noch so kurzfristig. Ging ja alles ziemlich schnell bei euch", gab er zurück, stand von der Fensterbank auf und drückte seine Mutter kurz. "Wir werden schon klarkommen, Mum. Ich geb mir Mühe, brav zu sein.", sagte er und zwinkerte ihr zu. Yukiko legte skeptisch den Kopf schief, lächelte aber dann. "Du bist wirklich unmöglich, Ryuuji", erwiderte sie und der Angesprochene fing an zu lachen. "Komisch, das sagen alle. Warum bloß?", fragte er gespielt nachdenklich, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Seine Mutter seufzte ebenso gespielt, doch dann fiel ihr etwas ein. "Ich habe vorgestern Deine neue Schuluniform abgeholt. Warte, ich hole sie eben." Mit diesen Worten ließ sie ihren Sohn stehen und verschwand aus seinem Zimmer. Ryuuji lehnte sich rücklings an die Fensterbank und seufzte abgrundtief. Er hatte vollkommen vergessen gehabt, dass Schuluniformen in Japan Pflicht waren. Na toll. Hoffentlich haben die inzwischen die Farbe geändert. Dieses Braun letztes Jahr war echt verdammt hässlich, dachte er und atmete erleichtert auf, als seine Mutter mit etwas Blauem über dem Arm wieder hereinkam. Schwarz wäre ihm zwar lieber gewesen, aber Blau tat es zur Not auch. "Wenigstens ist das Ding nicht wieder braun", entfuhr es ihm und Yukiko schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht. Durch den Umzug, der uns bevorsteht, wirst du für das letzte halbe Jahr die gleiche Schule besuchen wie Seto. Ich habe dich schon angemeldet und auch alle deine Zeugnisse vorgelegt", erklärte sie und ohne sein bewusstes Zutun legte sich ein Grinsen auf Ryuujis Lippen. In ein paar Wochen würde er achtzehn werden, also war die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Klasse oder zumindest in einer der Parallelklassen seines baldigen Stiefbruders landen würde, recht hoch. "Na, das wird sicher lustig", grinste Ryuuji und seine Mutter warf ihm einen fragenden Blick zu, bekam aber keine Antwort. "Am besten stehst Du morgen etwas früher auf, damit ich dich vor der Arbeit noch hinfahren kann. Schließlich musst du noch einen Einstufungstest machen", murmelte Yukiko und drückte ihrem Sohn die Uniform in die Hand, damit er sie anprobieren konnte. "Passt perfekt, Mum", stellte Ryuuji ein paar Minuten später fest. "Aber wenn du vorhast, mich morgen schon in der Schülerfolteranstalt – entschuldige, ich wollte natürlich Schule sagen – abzuliefern, dann sollte ich jetzt langsam schlafen gehen, meinst du nicht auch?", fragte er dann, drückte seiner Mutter noch einen letzten Kuss auf die Wange und schob sie mit einem "Gute Nacht, Mum" aus seinem Zimmer. Er schloss die Tür hinter ihr, zog sich um und krabbelte in sein Bett. Na, dann bin ich doch mal gespannt, was Seto davon hält, wenn er mich schon so schnell wiedersieht. Ob er schon weiß, dass ich auf die gleiche Schule gehen werde wie er?', sinnierte er und rief sich die blauen Augen und das unleugbar attraktive Gesicht seines künftigen älteren Stiefbruders wieder vor Augen. Bis morgen, ›Brüderchen‹, war Ryuujis letzter bewusster Gedanke, bevor er einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)